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Handlungsspielräume der UdSSR in der Entstehung des Ost-West-Gegensatzes 1945— 1950 | APuZ 25/1983 | bpb.de

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APuZ 25/1983 War der Kalte Krieg unvermeidlich? Handlungsspielräume in der Entstehung des Ost-West-Gegensatzes 1945 bis 1950 Handlungsspielräume der UdSSR in der Entstehung des Ost-West-Gegensatzes 1945— 1950 Handlungsspielräume der UdSSR in der Entstehung des Ost-West-Gegensatzes 1945 bis 1950 Handlungsspielräume der USA in der Entstehung des Ost-West-Gegensatzes 1945— 1950 Handlungsspielräume der USA in der Entstehung des Ost-West-Gegensatzes 1945 bis 1950

Handlungsspielräume der UdSSR in der Entstehung des Ost-West-Gegensatzes 1945— 1950

Andreas Hillgruber

/ 13 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Angesichts der schlechten Quellenlage auf sowjetischer Seite beruht das Ergebnis der Skizze auf dem Durchdenken der sich in den Jahren 1945— 1950 wandelnden Situation der Sowjetunion in der internationalen Szenerie. Prämissen dabei sind, daß Stalin der Alleinherrscher der Sowjetunion in dieser Zeit war, daß ihn reines Machtkalkül in der Außenpolitik leitete und daß es sein Ziel war, in längerfristiger Perspektive die Sowjetunion zu einer realen Weltmacht gleichrangig mit den USA werden zu lassen, um sie schließlich einzuholen und eines Tages überholen zu können. An einem Kalten Krieg war Stalin, von diesen Prämissen aus gedacht, nicht interessiert, da dieser hur die USA „alarmieren“ und damit sein Ziel gefährden konnte. Aber die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges erforderten unbedingt eine Verschiebung und „Umdrehung" des „Cordon Sanitaire" in Ostmitteleuropa mit Polen als Kern gegen den „Westen" und die Gewinnung einer festen Position für die Sowjetunion im besiegten Deutschland — dies selbst um den Preis, daß dadurch die Möglichkeit eines zunächst erhofften Rückzuges der USA aus Europa verschüttet wurde. In der Tat wurde die kompromißlose sowjetische Polenpolitik zur Auslösung der im Frühjahr 1947 von der amerikanischen Führung getroffenen Entscheidung, langfristig in Europa zu bleiben und — unter Einschluß Westdeutschlands — einen „West-Block“ zu formieren. Eine regionale Begrenzung der Ziele der Sowjetunion einerseits und der USA andererseits in Europa wäre für Stalin — im Blick auf den notwendigen längeren Anlauf zur Gewinnung des rüstungsmäßigen Ausgangspunktes für den Wettlauf mit den USA — wünschenswert und möglich gewesen, nicht hingegen für die USA da sie nicht in der Lage waren, den globalen Geltungsbereich ihrer Prinzipien zeitweilig auf die eigene Interessensphäre zu begrenzen und den Konflikt mit der Sowjetunion hintanzustellen. Somit besaß Stalin allenfalls innerhalb des Rahmens des unvermeidlichen Kalten Krieges in begrenztem Maße Optionen bei Einzelschritten in der konkreten Politik; es gab für ihn aber keine Alternative zum Kalten Krieg selbst.

In der folgenden Skizze wird aus der „Not", daß der internationalen freien Forschung kein Zugang zu solchen sowjetischen Quellen möglich ist, die verläßliche Aufschlüsse über Stalins Einschätzung der weltpolitischen Konstellation 1945 und ihrer Veränderungen in den Jahren bis 1950, über seine grundlegenden außenpolitischen Erwägungen und über die sich in seiner Sicht anbietenden Optionen und Alternativen bei seinen Entscheidungen geben könnten, eine „Tugend" gemacht. Es soll der Versuch gemacht werden, unter Beachtung von — gleich zu nennenden — Prämissen gleichsam in die Rolle Stalins einzutreten, um über ein Durchdenken der sich wandelnden Situation der Sowjetunion in der internationalen Szenerie jener Zeit einer Beantwortung der Leitfrage dieser Sektion so nahe wie bei der nun einmal auf absehbare Zeit nicht zu ändernden Quellenlage möglich zu kommen. Prämissen dieses Versuchs sind 1 ., daß Stalin aufgrund des Triumphes über Hitler-Deutschland — vielleicht mehr noch als in der Vorkriegszeit — der Alleinherrscher der Sowjetunion war, daß man folglich von einer zentralen, durch keinerlei . Pluralismus’ („Kollektive Führung" o. ä.) an der Führungsspitze gestörten Willensbildung (unter welchen Einzeleinflüssen subalterner Funktionäre auf Stalin auch immer) und von einer ausschließlichen Umsetzung dieses Willens in außenpolitische Entscheidungen der SoMit dem Sieg über Deutschland und Japan war der unmittelbare Zweifrontendruck (von Mitteleuropa und von Ostasien aus), unter dem sich Stalin seit der Weltwirtschaftskrise gesehen hatte, beseitigt. Diesem Positivum stand jedoch eine weiterhin bedrohliche Gesamtsituation gegenüber: Im Verlauf des Krieges war aus dem bisher größeren Kreis von („imperialistischen") Großmächten, mit denen sich die Sowjetunion seit ihrer Gründung konlrontiert gesehen hatte, die sich aber bis wjetunion ausgehen kann, 2 ., daß für Stalin die Ideologie des Marxismus-Leninismus nicht ein „Glaubens“ -Dogma, keine Richtschnur für sein — insbesondere — außenpolitisches Denken und Handeln, sondern ein Mittel zur Behauptung und Festigung seiner Herrschaft im Innern sowie — auf dem Wege über die von dieser Ideologie her begründete sozialrevolutionäre Umgestaltung (von „oben“; Sowjetisierung) — ein Instrument zur Unterwerfung und dauerhaften Sicherung der sowjetischen Herrschaft über die Satelliten-Staaten und -Völker war, mit anderen Worten: daß Machtkalkül, das Streben nach Machterhalt und Machtsteigerung der (primär auf militärischer Stärke und bürokratischem Apparat beruhenden) Sowjetunion Stalins Erwägungen und Entscheidungen bestimmten. (Kommunistischer , Wild-wuchs'war in seiner Sicht im eigenen Machtbereich wie in der nicht-sowjetischen Welt problematisch, konnte den eigenen Intentionen nur hinderlich sein.) Letztlich ging es Stalin darum, die infolge der enormen Kriegsverluste und -Schäden 1945 nur potentielle Welt-macht Sowjetunion zu einer realen Welt-macht — was angesichts der Ausgangstage und des gewaltigen Abstands nur längerfristig, nur in Etappen möglich war — gleichrangig mit der Weltmacht Amerika werden zu lassen, diese schließlich einzuholen und eines Tages zu überholen.

I. Die Ausgangssituation 1945

zu einem gewissen Grade gegeneinander hatten ausspielen lassen („etablierte" contra „revisionistische" Mächte und umgekehrt), ein wesentlich kleinerer Kreis übrig geblieben. Eine einzige Macht, die USA, war als wirklicher Sieger aus dem Kriege hervorgegangen. Sie war den noch verbliebenen Großmächten (Großbritannien, Frankreich) so weit überlegen, daß — entsprechender Wille dieser neuen, zudem (vorerst) durch das Monopol an Nuklearwaffen in einer weltpolitisch singulä7 ren Positipn befindlichen („imperialistischen") Supermacht vorausgesetzt — unter ihrer Führung ein relativ geschlossener West-„Block“ gebildet werden konnte, der die Sowjetunion wieder an zwei Fronten (von Westeuropa und von Japan/Ostasien) unter Druck setzen und bedrohen konnte.

An einen „heißen" Krieg gegen diesen „Block" war bei der Erschöpfung der eigenen Kräfte, nach den Millionenverlusten und angesichts der Verwüstung großer Teile der westlichen Sowjetunion im Kriege 1941 bis 1945 nicht zu denken. Tito, der im Konflikt um Triest im Mai 1945 einen neuen großen Krieg — Ost gegen West — riskieren wollte, erhielt von Stalin eine klare Absage. Eine längere „Atempause" wurde unbedingt benötigt. Um den Auf-und Ausbau der eigenen Militärmacht möglichst ungestört vonstatten gehen zu lassen, bestand kein Interesse an einem Kalten Krieg mit den USA (oder dem „Westen" insgesamt), da dies nur entsprechende Gegenanstrengungen hervorrufen mußte. Das somit naheliegende „Wohlverhalten" fand allerdings aufgrund der Erfahrungen der Vorkriegszeit und des Zweiten Weltkrieges seine Grenzen. Diese Erfahrungen führten zu drei (auch um den Preis einer . Alarmierung'des „Westens") unabweislichen Konsequenzen:

1. Im Interesse einer militärstrategisch notwendigen weiträumigeren Sicherung des sowjetischen Kerngebiets durfte eine Erneuerung des sogenannten „Cordon sanitaire", jenes Gürtels mittlerer und kleinerer, aus historischen wie politischen und ideologischen Gründen unvermeidbar antisowjetischer souveräner Staaten, von Finnland über die Baltischen Länder bis Rumänien mit Polen als Dreh-und Angelpunkt dieser Kombination nicht zugelassen werden; der „Cordon" mußte nach Westen verschoben und über eine Sowjetisierung gleichsam gegen Westen „umgedreht“ werden. 2. Es mußte durch eigene Präsenz und aktive Mitgestaltung der Nachkriegsordnung in Deutschland unter allen Umständen verhindert werden, daß dieses jemals wieder fähig würde oder von anderen Mächten (vor allem den USA) in die Lage versetzt werden könnte, einen neuen „ 22. Juni 1941" herbeizuführen, der die Sowjetunion an den Rand der Katastrophe gebracht hatte. Auch im Hinblick auf die eigene Rolle in der Deutschland-Politik besaß eine Lösung des Problems Polen inj sowjetischen Sinne eine Schlüsselfunktion. 3. In der Sicht Stalins hatte das Verhalten der Westmächte in mehreren kritischen, ja, in entscheidenden Augenblicken gezeigt, daß diese — unbeschadet der tatsächlich oder scheinbar dominierenden Priorität der Auseinandersetzung mit Hitler-Deutschland — die Sowjetunion nicht als gleichrangigen Partner, sondern als Objekt ihrer politischen Globalstrategie betrachteten (Münchener Abkommen 1938; Angriffspläne Großbritanniens und Frankreichs gegen die Sowjetunion im Winter 1939/40; Verzicht auf eine Zweite Front und effektive Hilfeleistung im Sommer und Herbst 1941, als die Sowjetunion um ihre Existenz kämpfte; Weigerung der USA im Januar 1945, der Sowjetunion einen Kredit zu großzügigen Konditionen zum Wiederaufbau der verwüsteten Gebiete Westrußlands zur Verfügung zu stellen; Ausschluß der Sowjetunion aus der Besetzung und Kontrolle Japans). Es war zu erwarten, daß nach Kriegsende diese Tendenz noch viel stärker heraustreten würde. Auch darum waren die unter 1. und 2. genannten Konsequenzen unabweislich, was immer daraus folgen mochte.

II. Die Phase Sommer 1945 bis Frühjahr 1947

Solange es offen war, ob sich die USA nicht doch, wie von Roosevelt in Jalta angekündigt, militärisch (d. h. vor allem mit ihren Land-streitkräften aus Zentraleuropa einschließlich Deutschlands) zurückziehen und sich als See-Luft-Macht auf die Sicherung des Atlantiks und allenfalls eines schmalen „Randes" Westeuropas beschränken würden, galt es in all den Gebieten politisch (relativ) zurückhaltend und flexibel zu bleiben, die nicht im engsten Sinne zum Sicherheitsbereich der Sowjetunion in Ostmitteleuropa gehörten, um durch solche Zurückhaltung und Flexibilität die Tendenz bei den Amerikanern zum Abzug aus Europa zu fördern. Dies traf’— in je unterschiedlicher Weise — für das sowjetische Verhalten in Ungarn, Osterreich, der Tschechoslowakei, Dänemark/Norwegen, Finnland und im Vierzonen-Deutschland zu, schließlich — im Mittleren Osten — nach längerem Schwanken auch in Iran und hinsichtlich der Stützpunkt-und für Revisionsforderungen an die Adresse der Türkei.

In dieser Phase brauchte von Stalin auch noch nicht entschieden zu werden, ob er eine westliche „Block" -Bildung als unvermeidlich betrachten und mit einer straffen „Block" -Bildüng im eigenen Bereich (einschließlich der bislang relativ locker gehaltenen Teile) beantworten sollte oder ob eine politische Strategie vorzuziehen sei, die auf einen Versuch der Interessentrennung zwischen den USA und den beiden verbliebenen europäischen Großmächten Großbritannien und Frankreich hinauslief. „Fatal“ (wenn man will: ein echtes Dilemma) für Stalins Spekulationen auf einen Rückzug der USA aus Europa in dieser Phase war, daß in Polen, auf das sich in besonderem Maße die Blicke der USA (und der europäischen Westmächte) richteten, eine Flexibilität wie z. B. in Ungarn nicht möglich war, weil in diesem eine politische und strategische Schlüsselstellung einnehmenden Land mehr noch als in jedem anderen ein Lockerlassen der Zügel mit einer Rückkehr „westlich" orientierter, antisowjetischer Kräfte an die

Führung und damit zumindest mit einer indirekten Bedrohung der Stellung der Sowjetunion in Deutschland (und damit in Zentral-europa insgesamt) gleichzusetzen war. Daran hatte auch die Westverschiebung Polens auf Kosten Deutschlands bis zur Oder-Neiße-Linie nichts geändert. In der Polen-Politik gab es für Stalin — nach „Katyn" und Warschauer Aufstand 1944 — weniger denn je eine Alternative, die den an sich erwünschten Effekt bei den USA (und den europäischen Westmächten) gebracht hätte. Die Hinauszögerung und schließlich die — in Stalins Sicht unvermeidbare — massive Manipulation der Wahlen in Polen im Januar 1947 bildeten folglich auch einen Meilenstein auf dem Wege zur Klärung der amerikanischen Europa-Politik im Sinne eines langfristigen Festhaltens und eines Ausbaus der 1945 gewonnenen Position (einschließlich Westdeutschlands). Sie erfolgte im Frühjahr 1947: Truman-Doktrin, MarshallPlan, Entscheidung zur Einbeziehung Westdeutschlands in den West-„Block" unter Spaltung des „Vierzonen-Deutschlands“ — statt zum Kompromiß mit der Sowjetunion — in der Vorgeschichte zur Moskauer Außenminister-Konferenz im März/April 1947.

III. Sommer 1947 bis Herbst 1950

Die Klärung der amerikanischen Europa-Politik ließ die Zurückhaltung und Flexibilität in den genannten Ländern (außerhalb der engsten sowjetischen Sicherheitszone) obsolet, ja, nunmehr als nicht ungefährlich erscheinen. Die auf eine „volksdemokratische" Umgestaltung („Sowjetisierung") dieses weiteren Sicherungsbereichs abzielende Entscheidung hatte wiederum zur Folge, daß sich die zunächst langsame Formierung des West-„Blocks" unter Führung der USA beschleunigte. Auch Einzelzüge Stalins wirkten ungewollt im gleichen Sinne. Sommer 1948: deutscher Weststaatsplan — Prager Coup — westalliierte Währungsreform in den deutschen Westzonen und Einbeziehung Westdeutschlands in den Marshall-Plan — Blockade Berlins — Einbeziehung der Berliner Westsektoren in Währungsreform und MarshallPlan; Sommer 1949: Nordatlantikpakt, Bildung der Bundesrepublik Deutschland — Proklamierung der DDR; Sommer 1950: Auslösung des Korea-Krieges — Pläne zur Einbeziehung des westdeutschen Wehrpotentials in den West-„Block" (um nur einige der her-ausragenden Entscheidungen in der Abfolge zu nennen, nachdem die Grundentscheidung gefallen war).

Auch der wohl von Stalin nicht erwartete schnelle Zusammenbruch des Regimes Tschiang Kai-shek in China und die Etablierung der chinesischen Kommunisten unter Mao (1949/50) beschleunigten das Tempo der Entscheidungen in Europa. Die durch den Koreakrieg und die Stützung Ho Tschi Minh's in Indochina auf den zweiten großen Schauplatz Ostasien abgelenkten USA sollten in Europa . gebremst’ werden. Die meisten Aktionen brachten für Stalin allerdings nur Teilerfolge, Verzögerungen der Vorhaben im Westen. Die Eröffnung des Korea-Krieges im Juni 1950 wurde sogar zum Bumerang: Sie ließ die bisher nur theoretische Diskussion um eine militärische Einbeziehung Westdeutschlands in den West-„Block" in ein konkretes Stadium treten und bei Stalin die Vision der gefährlichsten aller weltpolitischen Möglichkeiten für die Sowjetunion am Horizont auftauchen: eine Verbindung zwischen der amerikani9 sehen Nuklearmacht und einer erneuerten (west-) deutschen Wehrmacht.

Die bisherige . Antwort'auf die Formierung des West-„Blocks“ in Gestalt der Formierung des Ost-Blocks und die Gegenzüge und Ablenkungsmanöver vom Hauptschauplatz Europa reichten nicht mehr aus. Auch der Versuch einer (Wieder-) Belebung der Gegensätze zwischen den europäischen Westmächten und den USA durch propagandistische Einwirkung auf Frankreich genügte nicht mehr. Der Hebel mußte vielmehr bei der bislang zwischen „gesamtdeutschen“ Rücksichtnahmen und Bestrebungen zur Sowjetisierung der eigenen Besatzungszone hin-und herpendelnden Deutschland-Politik angesetzt werden. Unter fortlaufender Steigerung der Angebote bei den Vorschlägen zu einer Wiedervereinigung Deutschlands von Seiten der Führung der DDR an die Bundesrepublik bis schließlich (im März 1952) in der Stalin-Note zum Ausspielen des letzten Trumpfes (in dem Augenblick, als die Einbeziehung der Bundesrepublik in die EVG perfekt zu sein schien), auf der Basis eines (um die Oder-Neiße-Gebiete) verkleinerten, „neutralisierten" (d. h. aus den militärischen Blöcken in West und Ost . ausgeklammerten') wiedervereinigten Deutschlands diesem die Chance zur Übernahme einer — den veränderten Rahmenbedingungen entsprechenden — quasi-„Großmacht" -Rolle zu bieten, um die Spannungen innerhalb des „imperialistischen" „Lagers" zu vergrößern, suchte Stalin die Initiative zurückzugewinnen. Doch die Formierung des West-„Blocks" ließ sich auch jetzt nur noch verzögern, nicht durchkreuzen. Welche große Bedeutung allerdings dieser Zeitgewinn für die Sowjetunion — vor dem Hintergrund des sich seit 1949 abzeichnenden nuklearen Wettlaufs, der in ein die Fronten in Europa zur Erstarrung zwingendes „Patt“ einmündete — einmal haben sollte, war von Stalin Ende 1950 noch nicht zu übersehen und auch beim Tode Stalins im März 1953 noch nicht in vollem Maße erkennbar.

IV. War der Kalte Krieg unvermeidbar?

Geht man von Stalins drei Grunderfahrungen der Vorkriegszeit und des Zweiten Weltkrieges und den Konsequenzen aus, die er daraus für die sowjetische Außenpolitik der Nachkriegszeit zog, dann spitzt sich das Problem auf die Frage zu, ob sich die — aus den dargelegten Konsequenzen abgeleiteten — Ziele der Sowjetunion mit denen der USA (und Großbritanniens) vereinbaren ließen. Seit dem Stalingrad-Winter 1942/43 stand ja fest, daß die Sowjetunion nicht, wie die amerikanische und britische politische und militärische Führung 1941 und auch noch 1942 angenommen hatte, dem Ansturm Hitler-Deutschlands erliegen würde — mit der Folge, daß dann die USA und Großbritannien allein Europa (und Ostasien) „befreien" müßten, allerdings auch in der Lage sein würden, nach ihren Leitvorstellungen eine „Pax Americana" oder eine „Pax Americana et Britannica" im globalen Rahmen zu errichten. Vielmehr war es offenkundig geworden, daß die Sowjetunion einen ganz wesentlichen Beitrag zur Niederringung Hitler-Deutschlands leisten würde, so daß — wie mit der im Sommer 1943 eingeleiteten Umrüstung der USA auf absoluten Vorrang der See-und Luftrüstung zu erkennen war — sich die Anstrengungen der Amerikaner und Briten lediglich auf einen (relativ kleinen) Teil der Aufgabe der Niederringung Hitler-Deutschlands konzentrieren würden.

Die Schlußfolgerung, die Invasion des deutsch-beherrschten Europas mit den westalliierten Expeditionsstreitkräften in Frankreich (und nicht in Südosteuropa) zu vollziehen, implizierte, daß sich bei Kriegsende die von Osten herankämpfende Rote Armee und die Armeen der Westalliierten etwa in der Mitte Europas treffen würden. Formal betrachtet ließ sich über eine genaue Abgrenzung der durch die Vormarschräume der jeweiligen Armeen abgesteckten Interessen-sphären dann eine (einen Kalten Krieg ausschließende) Einigung erzielen, wenn sich Briten und Amerikaner über das Kriegsende hinaus auf die machtpolitische und strategische Abschirmung eines breiten „Brückenkopfes“ in „Westeuropa" (von Norwegen über einen — im einzelnen festzulegenden — Teil Mitteleuropas bis Italien und Griechenland) beschränkten, wie es ihren im engeren Sinne machtpolitischen Interessen und militärischen Möglichkeiten als See-Luft-Mächte mit Schwerpunkt auf der Sicherung des Atlantiks entsprach. Demgegenüber war es von vornherein nicht möglich, mit ihnen zu einem Arrangement im großen zu gelangen, wenn die USA (und Großbritannien) auf den mit globalem Geltungsanspruch vorgetragenen Prinzipien der „Atlantik-Charta" vom August 1941 beharrten. Da diese Prinzipien zum amerikanischen (und britischen) Selbstverständnis gehörten, konnten sie, wie G. Lundestad in seinem Beitrag mit Recht betont, auch dann nicht einfach aufgehoben und als für den in Frage stehenden „Fall" als nicht gültig außer Kraft gesetzt werden, wenn sich ein amerikanischer Präsident für ein weltpolitisches Arrangement mit der Sowjetunion auf der Grundlage vollkommen getrennter „Großräume“ oder „Interessensphären“ ausgesprochen und festgelegt hätte, daß die aus dem Selbstverständnis der USA herrührenden Prinzipien nur innerhalb des eigenen „Großraums" gelten, im sowjetischen „Großraum" hingegen die marxistisch-leninistischen Prinzipien allein bestimmend sein sollten.

Selbst die — von den USA niemals als bindend angesehene — „Prozent-Absprache zwischen Churchill und Stalin über den „Einfluß“ der jeweiligen Führungsmacht in den verschiedenen Ländern Südosteuropas vom Oktober 1944 war bekanntlich nicht „hundertprozentig". Sie ließ vielmehr den Konflikt, wenn auch in — so jedenfalls beabsichtigt — kanalisierter Form, potentiell fortbestehen. Stalin seinerseits war gewiß in der Lage, Absprachen über „Interessensphären", wenn dies im Interesse der Sowjetunion lag, voll zu respektieren, wie das Beispiel des sowjetischen Verhaltens beim Aufstand der griechischen Kommunisten gegen die Athener Regierung im Dezember 1944 zeigte. Jedoch besaß die theoretisch globale Spannweite der Geltung der marxistisch-leninistischen Doktrin in der Perzeption des „Westens" ein so starkes Eigengewicht, daß deren Reduktion zu einem Instrument der Herrschaft im eigenen Machtbereich bei Stalin entweder nicht „realisiert", in jedem Falle nicht als das „letzte Wort" betrachtet wurde. Das . Mischungs-Verhältnis von geglaubter Doktrin und deren manipulativem Einsatz, von ökonomischen und strategischen Interessen in der Außenpolitik eines Gegenspielers, wie es die stalinistische Sowjetunion darstellte, war ja — so wird man einräumen müssen — noch schwerer zu durchschauen, als es auch bei weniger hintergründig erscheinenden Gegenspielern der Fall zu sein pflegt.

Einmal unterstellt, es wäre 1945 oder 1946 zu einer „klaren" Trennung und einem Nebeneinander der Europa teilenden „Großräume" oder „Einflußsphären" der USA und der Sowjetunion gekommen — was auch unabhängig von den Intentionen Stalins und des amerikanischen Präsidenten angesichts der politischen Tradition der europäischen Nationen, nicht zuletzt der polnischen, kaum als „reibungsloser" Vorgang vorstellbar ist —, dann wäre die — dann ruhigere — Entwicklung im sowjetischen Machtbereich doch nur auf eine schnellere und ungestörtere Steigerung des Militärpotentials der Sowjetunion hinausgelaufen (wie es als eine Prämisse bei der Interpretation der Ziele Stalins eingangs genannt wurde), und der große Konflikt [Kalter — oder „heißer" (?) — Krieg] wäre nach Abschluß der Nachhol-und Aufholphase auf Seiten der Sowjetunion nur mit um so größerer Intensität in Gang gekommen.

Der Kalte Krieg, der unmittelbar aus dem Zweiten Weltkrieg aufgrund der sich ausschließenden (zunächst) regional begrenzten Ziele Stalins und der niemals ihren globalen Geltungsanspruch leugnenden Prinzipien der amerikanischen Politik hervorging, war ja nichts anderes als der Versuch der einen wie der anderen Seite, mit (fast) allen (vor allem diplomatisch-politischen, propagandistischen, ökonomischen und „nachrichtendienstlichen") Mitteln (also außer den militärischen Mitteln im direkten Einsatz, was Stellvertreterkriege auf Nebenschauplätzen nicht ausschloß) in die Machtsphären des Kontrahenten (vor allem) in Europa hinüberzugreifen und die sich allmählich herausbildende neue Balance zwischen den zunächst relativ locker gefügten, dann zunehmend verfestigten „Blöcken" zu eigenen Gunsten zu verschieben, nach Möglichkeit völlig in Richtung auf die Hegemonie (im Falle der USA) oder der totalen Herrschaft (im Falle der Sowjetunion) über den ganzen europäischen Kontinent umzustoßen, solange dies — vor allem vor dem Hintergrund des seit 1949 begonnenen nuklearen Wettlaufs der Rüstungen — noch möglich war.

Als Fazit bleibt festzuhalten: Für Stalin gab es — wahrscheinlich gegen seine ursprünglichen Intentionen — nur innerhalb des Rahmens des Kalten Krieges in begrenztem Maße Optionen oder Alternativen. Es gab sie nicht zum Kalten Krieg selbst.

Fussnoten

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Andreas Hillgruber, Dr. phil., geb. 1925; Studium der Geschichte, Germanistik und Pädagogik in Göttingen; 1968— 1972 ordentlicher Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg i. Br.; seit 1972 ordentlicher Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität zu Köln. Veröffentlichungen u. a.: Hitler, König Carol und Marschall Antonescu, 1954, 2. Aufl. 1965; Hitlers Strategie. Politik und Kriegführung 1940— 1941, 1965, 2. Aufl. 1982; Deutschlands Rolle in der Vorgeschichte der beiden Weltkriege, 1967, 2. Aufl. 1979; Bismarcks Außenpolitik, 1972, 2. Aufl. 1981; Deutsche Großmacht-und Weltpolitik im 19. und 20. Jahrhundert, 1977, 2. Aufl. 1979; Europa in der Weltpolitik der Nachkriegszeit (1945— 1963), 1979, 2. Aufl. 1981; Die gescheiterte Großmacht. Eine Skizze des Deutschen Reiches 1871— 1945, 1980, 3. Aufl. 1982; Der Zweite Weltkrieg 1939— 1945. Kriegsziele und Strategie der großen Mächte, 1982, 3. Aufl. 1983.