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Handlungsspielräume der UdSSR in der Entstehung des Ost-West-Gegensatzes 1945 bis 1950 | APuZ 25/1983 | bpb.de

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APuZ 25/1983 War der Kalte Krieg unvermeidlich? Handlungsspielräume in der Entstehung des Ost-West-Gegensatzes 1945 bis 1950 Handlungsspielräume der UdSSR in der Entstehung des Ost-West-Gegensatzes 1945— 1950 Handlungsspielräume der UdSSR in der Entstehung des Ost-West-Gegensatzes 1945 bis 1950 Handlungsspielräume der USA in der Entstehung des Ost-West-Gegensatzes 1945— 1950 Handlungsspielräume der USA in der Entstehung des Ost-West-Gegensatzes 1945 bis 1950

Handlungsspielräume der UdSSR in der Entstehung des Ost-West-Gegensatzes 1945 bis 1950

Alexander Fischer

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Zusammenfassung

Der Handlungsspielraum der marxistisch-leninistischen Historiographie bei der Erörterung der Entstehungsgeschichte des „Kalten Krieges“ am Ende des Zweiten Weltkrieges ist eng: Unter dem Zwang der unumstößlichen Prämisse stehend, daß die sowjetische Außenpolitik stets den gemeinsamen Beschlüssen der sogenannten Anti-Hitler-Koalition gefolgt sei, wird dem führenden Gegenspieler im „Kalten Krieg", den USA, die Alleinverantwortung für den Ausbruch dieses Konflikts zugeschoben. Der Ost-West-Konflikt ist in dieser Leseart ein typisches Produkt des kapitalistischen Systems, während die Rolle der Sowjetunion allein darin bestanden haben soll, den „realen Sozialismus" nicht zum willenlosen Spielball imperialistischer Politik werden zu lassen. Demgegenüber bleibt festzuhalten, daß an der Entstehung und Unvermeidbarkeit des „Kalten Krieges" die dynamische Grundkonzeption der sowjetischen Außenpolitik für den westlichen Rest Europas maßgeblichen Anteil hat. Unter der Voraussetzung, daß das militärische Engagement der USA nicht von Dauer sein würde und sowohl Großbritannien als auch Frankreich eine nachhaltige bzw. entscheidende Schwächung ihrer Großmachtposition erfahren hatten, wurde in Moskau die „Konzeption eines sozialistischen Europas" entwickelt. Sie beruhte auf der Überzeugung, daß die UdSSR imstande und als siegreiche Großmacht auch berechtigt sei, das Machtvakuum in Europa auszufüllen und so schrittweise ihren Einfluß sowie den Sozialismus sowjetischer Prägung auf den gesamten Kontinent auszudehnen. Die expansionistische Europa-Konzeption Moskaus wurde erst fallengelassen und durch eine auf den Aufbau eines in sich festgefügten, der absoluten Kontrolle der Moskauer Zentralgewalt unterstehenden Satelittensystems ausgerichtete Hegemonialpolitik ersetzt, als die Westmächte im Jahre 1947 mit Truman-Doktrin und Marshall-Plan Widerstand entgegensetzten. Von diesem Zeitpunkt an war die Aufteilung Europas in zwei große antagonistische Interessensphären nicht mehr ernstlich zu verhindern.

Das Thema dieser Sektion wird von einem Begriff — „Kalter Krieg" — geprägt, der sowohl in der politischen Publizistik als auch in der historischen Literatur von Ost und West Verwendung findet. Dieser scheinbare Gleichklang sollte nicht über die unterschiedlichen historisch-politischen Implikationen hinwegtäuschen, die hier und da mit dieser Formulierung verbunden werden. Von der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft wird Wert auf die Feststellung gelegt, daß dieser Terminus „keine wissenschaftliche, marxistisch-leninistische Kategorie" darstellt, sondern „von der bürgerlichen Presse" in den USA im Jahre 1947 fast gleichzeitig mit der Verkündung der Truman-Doktrin, dem in östlicher Version „offiziellen staatspolitischen Beginn des . kalten Krieges'“, aufgebracht worden sei. Die Übernahme dieses Schlagwortes in den marxistisch-leninistischen Begriffsapparat beruht nach Aussage des DDR-Historikers Rüdiger Horn allein darauf, „daß er eine außerordentlich schnelle, gedrängte und all-gemeinverständliche Reduktion auf das Wesen der imperialistischen Politik und ihre doktrinären Erscheinungsformen der letzten dreißig Jahre möglich macht"

Es versteht sich von selbst, daß im Geltungsbereich des Marxismus-Leninismus der Begriff „Kalter Krieg" — nach Horn ein spontan entstandener Begriff „für eine bewußt erzeugte Politik“ — nicht als wertneutrale Kategorie behandelt, sondern „mit klassenmäßigen Vorzeichen" versehen wird. Das bedeutet, daß seine internationale Anwendung „untrennbar mit der jeweiligen Auffassung über seine Ursprünge, verbunden" ist. Der diesbezügliche Handlungsspielraum der marxistisch-leninistischen Historiographie und Publizistik ist eng: Unter dem Zwang der unumstößlichen Prämisse, daß die sowjetische Außenpolitik stets „den Prinzipien der friedlichen Koexistenz und den gemeinsamen Beschlüssen der Antihitlerkoalition" gefolgt sei, wird dem führenden westlichen Gegenspieler im Ost-West-Konflikt, den Vereinigten Staaten von Amerika, die Alleinverantwortung für den Ausbruch des „Kalten Krieges" zugeschoben

Mit der Behauptung, der „Kalte Krieg" sei ein „spezifischer Ausdruck imperialistischer Aggressionspolitik" und ein „Produkt des kapitalistischen Systems nach dem Zweiten Weltkrieg" kurzum: ein Ergebnis der „aggressiven, konterrevolutionären und antikommunistischen Grundnatur" des Imperialismus wird in der östlichen Historiographie und Publizistik nicht nur eine Version der Vergangenheit formuliert, auf deren Basis die westliche Politik der Gegenwart zur Rechenschaft gezogen werden kann sondern auch der Eindruck erweckt, als seien die Handlungsspielräume der osteuropäischen Weltmacht UdSSR, von der hier die Rede sein soll, während des entstehenden Ost-West-Gegensatzes in geradezu beängstigender Weise eingeengt worden. Die Rolle der Sowjetunion und der sogenannten sozialistischen Staatengemeinschaft habe, so ist in einschlägigen Publikationen allenthalben nachzulesen, allein darin bestanden, den „realen Sozialismus" nicht zum willenlosen Spielball „imperialistischer Politik" werden zu lassen und zu verhindern, sich „bedingungslos irgendeinem politischen Diktat des Westens" auszusetzen

Von dieser sowjetischen Selbstrechtfertigung ist ebensowenig zu halten wie von der amerikanischen Selbstanklage „revisionistischer" Art in den sechziger Jahren, die bei der Diskussion um Entstehung und Verlauf des „Kalten Krieges“ die politische Konzeption Moskaus nahezu ausblendete oder „in kritikloser Repetition" sowjetamtlicher Darstellungen beschrieb Unter Berücksichtigung des tiefgreifenden Wandels im internationalen System als Ergebnis des Zweiten Weltkrieges und den damit verbundenen veränderten Bedingungen, denen sich die UdSSR in den internationalen Beziehungen am Ende des Krieges und in den ersten Nachkriegsjahren gegenübersah, bleibt demgegenüber festzuhalten

I.

Wer den Ursachen des Ost-West-Gegensatzes nachgeht, der wird jenes Bündnis samt seiner Brüchigkeit nicht übersehen dürfen, aus dem diese Auseinandersetzung erwuchs: die , Anti-Hitler-Koalition". Sie ist in der Rückschau nicht nur als „unnatürliches” und „seltsames" Bündnis, sondern sogar als „antagonistische Kooperation" bezeichnet worden Der letztere Terminus erinnert nachdrücklich an eine fundamentale Schwäche dieses aus der Not geborenen Zweckverbandes: Das — kurzfristig gemeinsame — Ziel, die Ausschaltung „der gierigsten und räuberischsten Imperialisten unter allen Imperialisten der Welt" hatte ideologische und machtpolitische Gegensätze zwischen der Führungsmacht der Kommunistischen Internationale und den angelsächsischen Demokratien zurücktreten lassen; infolgedessen war es nur natürlich, wenn im Jahre 1945 nach den Siegen über Deutschland und Japan die latent vorhandenen Divergenzen wieder sichtbar wurden.

Der allmähliche Zerfall der „Anti-Hitler-Koalition" ließ die beteiligten Mächte nicht nur der Tatsache inne werden, „daß die Allianz außerstande war, die Probleme des Friedens einvernehmlich zu regeln“. Mit dieser Einsicht wuchs auch die Vorstellung, in einem „nahezu ausweglosen Konflikt" zu stehen: Während man im Westen davon überzeugt war, „daß die Welt einer tödlichen Bedrohung des Friedens und der Freiheit gegenüberste-he", als deren Quelle „der kommunistische Totalitarismus in Gestalt des Sowjetreiches" ausgemacht wurde, war die sowjetische Politik von der These beherrscht, „daß das . imperialistische und antidemokratische Lager'unter Führung der USA die Vorbereitung eines neuen imperialistischen Krieges'betreibe und sich durch . Unterstützung reaktionärer und antidemokratischer profaschistischer Regime und Bewegungen'dem . Kampf gegen Sozialismus und Demokratie'verschrieben habe“ Hier wird deutlich, daß es sich bei der Konkurrenz-und Konfliktsituation im Verlaufe der Entstehung des Ost-West-Gegensatzes nicht nur um eine vorübergehende machtpolitische Komplikation, sondern vielmehr um einen Zusammenstoß historisch grundverschiedener Welten handelte, der „zur Gattung der ganz oder partiell ideologisch bestimmten Kämpfe von Staaten oder Staatsgruppen“ (Nolte) gehörte. Zupackende Interpreten scheuten sich nicht, diesen Konflikt in einen Zusammenhang mit den „großen, geschichtsentscheidenden Glaubenskämpfen]" zu rükken

Von sowjetischer Seite sind keine vertrauensbildenden Maßnahmen eingeleitet worden, um den entstehenden Konflikt zu entschärfen. Entsprechend ihrer ideologischen Grundüberzeugung ist in der Moskauer Führungsspitze schon während der Dauer der „AntiHitler-Koalition“ zu keiner Zeit die Schärfe der Widersprüche zwischen „Sozialismus“ und „Imperialismus" unterschätzt worden. Zudem blieb das tiefe Mißtrauen gegenüber den westlichen Bündnispartnern ebenso bewahrt wie die Überzeugung von der ideologischen Frontstellung der Sowjetunion gegen „die kapitalistische Welt“ Mit der Auffassung von der Unausweichlichkeit des Konflikts mit den „imperialistischen" Mächten, die z. B. in der Wahlrede Stalins vom 9. Februar 1946 betont wurde war nicht die Vorstellung von einem sofortigen, aber eben unabwendbaren Zusammenstoß verbunden: In fünfzehn bis zwanzig Jahren, so präzisierte Stalin seine diesbezüglichen Vorstellungen in einem Gespräch mit jugoslawischen Kommunisten im April 1945, werde sich die Sowjetunion von den Schäden des Krieges erholt haben und dann werde es „von neuem losgehen"

II.

Vor dem Hintergrund zeitweilig verdeckter, aber fortbestehender grundsätzlicher Differenzen begann sich die künftige Belastung der internationalen Beziehungen in Form des „Kalten Krieges" in dem Moment abzuzeichnen, als in Moskau — offenbar im Herbst 1943 — über die Frage entschieden wurde, wie die in ihrem Status als Weltmacht inzwischen unumstrittene UdSSR ihre sicherheits-und wirtschaftspolitischen Interessen in eine mit westlichen Auffassungen zu vereinbarende und nach Kriegsende zu schaffende internationale Ordnung einbringen könne. Alle erkennbaren Anzeichen sprechen dafür, daß sich der für die diesbezügliche Planung der sowjetischen Außenpolitik mitverantwortliche M. M. Litwinow, Identifikationsfigur der Politik der „kollektiven Sicherheit" in den dreißiger Jahren und als ehemaliger Botschafter in Washington einer der wenigen sowjetischen Kenner der amerikanischen Szene, mit seiner Auffassung von der Unverzichtbarkeit der Unterstützung der außenpolitischen Interessen und Absichten der UdSSR durch die angelsächsischen Mächte nicht durchsetzen konnte

Dem ideologisch geprägten Sicherheitsdenken des vor allem von Molotow, Wyschinskij und Dekanosow beeinflußten Stalin genügte der Zuwachs an territorialen Kriegsgewinnen und Annexionen (Ostpolen, das Baltikum, Teile Finnlands, Bessarabien, die Karpato-Ukraine, der südliche Teil der Insel Sachalin einschließlich der umliegenen Inseln, Port Arthur, die südlichen Kurilen) nicht. Die von ihm für erforderlich gehaltene weitere Stärkung der Macht des Sowjetstaates lief im Endeffekt auf einen politisch und gesellschaftlich homogenen Gürtel von — am So-zialismus sowjetischer Prägung orientierten — Staaten hinaus, für dessen Errichtung die Rote Armee in allen von ihr befreiten Ländern maßgeblichen Anteil hatte Diese unerbittliche „Befreiungsmission der Sowjet-streitkräfte" in Europa, insbesondere in Ostmittel-und Südosteuropa, ließ noch vor Beendigung des Zweiten Weltkrieges deutlich werden, daß die Sowjetunion zwar davor zurückschreckte, den weltweit gesteckten Rahmen der „Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken" durch die Einverleibung weiterer fremder Länder auszufüllen. Sie setzte jedoch alles daran, um die Bildung „befreundeter" Regierungen sicherzustellen, die nach außen den Anschein von Unabhängigkeit und breiter Unterstützung in der Bevölkerung erwecken sollten, im Kern ihrer Existenz aber von der Roten Armee sowie von den Kadern der Kommunistischen Parteien abhängig waren Nicht ohne Grund wurde bei einer Bilanz der Politischen Hauptverwaltung der Roten Armee (GlawPURKKA) „über die politische Lage" in den Ländern bzw. Besatzungszonen Südost-und Mitteleuropas sowie des Iran, in denen sich damals sowjetische Truppen befanden, im September 1945 davon gesprochen, daß die Situation in diesen Ländern „durch tiefgreifende soziale und politische Umgestaltungen im Geiste der Demokratie, durch das ständige Wachstum der politischen Aktivität und Organisiertheit der breiten Volksmassen sowie durch die Verstärkung der Rolle und des Einflusses der antifaschistischen politischen Parteien gekennzeichnet" sei

III.

Herausragendes Beispiel für eine Politik, die — in der Sprache der GlawPURKKA — darauf hinauslief, „Prestige und Einfluß" der UdSSR in den von ihr befreiten oder beset- ten Ländern zu festigen, war Polen. Aus wahl-taktischen Überlegungen im besonderen Blickfeld des amerikanischen Präsidenten gelegen, wurde um seine äußere und innere Gestaltung zwischen der Sowjetunion und den westlichen Alliierten so intensiv gerungen, daß die „polnische Frage" im Zeitraum zwischen der Entdeckung der Massengräber von Katyn im April 1943 und den Gesprächen zwischen Stalin und Roosevelts Sonderbotschafter Hopkins im späten Frühjahr 1945 zum Barometer für den Fortbestand der „Anti-HitlerKoalition" wurde

Es ist erwiesen, daß insbesondere das Verhältnis zwischen Moskau und seinem britischen Bündnispartner durch Stalins Entscheidung, die Truppen der Roten Armee ausgerechnet in dem Moment Gewehr bei Fuß verharren zu lassen, als der — auch im Vertrauen auf sowjetische Unterstützung begonnene — Warschauer Aufstand im August 1944 das energische Eingreifen von Truppen der „Weißrussischen Front" Marschall Rokossowskijs erfordert hätte, eine beträchtliche Belastung erfuhr Die sicherheitspolitisch motivierte sowjetische Forderung nach einer „freundschaftlich gesinnten“ Regierung in Warschau ließ aufgrund „von Stalins extrem enger Definition von Freundschaft“ sowie durch die eigenmächtige, gegen die Bitten und Mahnungen des amerikanischen Präsidenten von Moskau initiierte Etablierung einer Provisorischen Polnischen Regierung kaum Möglichkeiten für eine einvernehmliche Regelung der „polnischen Frage" offen Mit dem — bei Kriegsende noch geheimgehaltenen — Abschluß eines Abkommens über die polnische Staatsgrenze zwischen dem kommunistisch beherrschten „Provisorischen Komitee der Nationalen Befreiung" und der Regierung der UdSSR vom 27. Juli 1944 in dem ohne Zustimmung der Westmächte über Ostpreußen und Danzig verfügt und die Durchsetzung der Oder-Neiße-Linie als polnisehe Westgrenze beschlossen wurde, trat eine politische Linie Moskaus hervor, die nichts von internationalen Vereinbarungen im Rahmen der „Anti-Hitler-Koalition" oder der Organisation der Vereinten Nationen hielt, sondern auf die normative Kraft der Roten Armee und der unter ihrem Schutz agierenden kommunistischen Funktionäre setzte.

IV.

Maßgebliche Bedeutung für die Entstehung und die Unvermeidbarkeit des „Kalten Krieges" hat die dynamische Grundkonzeption der sowjetischen Außenpolitik für den westlichen Rest Europas. Die während des Zweiten Weltkrieges zu beobachtende restriktive Politik Stalins gegenüber Frankreich hat ebenso wie seine ablehnende Haltung gegenüber Konföderationen und Allianzen zwischen europäischen Staaten frühzeitig die Meinung aufkommen lassen, daß die Europapolitik Moskaus darauf abzielte, zunächst einmal „die Einflußsphäre der Sowjetunion in Ost-, Ost-mittel-und Südosteuropa so weit wie möglich auszudehnen, um einen maximalen strategischen und politischen Gewinn zu erzielen", darüber hinaus jedoch Resteuropa militärisch und politisch ohnmächtig zu halten, um dort keinerlei Machtzentren aufkommen zu lassen Seit kurzem ist nachgewiesen, daß diese These wesentlich erweitert werden muß: Die sowjetische Nachkriegspolitik ist demnach im wesentlichen von der „Konzeption eines sozialistischen Europas" bestimmt worden. Darunter sind — so der im Exil lebende tschechoslowakische Historiker Karel Kaplan — „die Vorstellungen Stalins über den allmählichen Sieg der Revolution in Europa und die Erweiterung des sowjetischen Einflusses auf den gesamten Kontinent" zu verstehen

Unter der Voraussetzung konzipiert, daß das militärische Engagement der USA nicht von Dauer sein würde und sowohl Großbritannien als auch Frankreich eine nachhaltige bzw. entscheidende Schwächung ihrer Großmacht-Position erfahren hatten, ging die sowjetische Führung davon aus, daß die UdSSR imstande und als siegreiche Großmacht auch berechtigt sei, das Machtvakuum in Europa auszufüllen „und so schrittweise ihren Einfluß und den Sozialismus auf den gesamten Kontinent auszudehnen“. Stalin kalkulierte offenbar damit, „daß zusammen mit der allgemeinen Verlagerung Europas nach links soziale Krisen in den westlichen Staaten die Voraussetzungen für ein machtpolitisches Übergewicht der Kommunisten, insbesondere in Italien, Frankreich und Deutschland, bilden würden" Im Vertrauen auf den beträchtlichen politischen Einfluß der kommunistischen Parteien in Frankreich und Italien sowie auf den Führungsanspruch der deutschen Kommunisten, die in vermeintlicher Ermangelung einer sozialdemokratischen oder „bürgerlichen" Alternative die politische Führung und Erziehung der deutschen Nation zu übernehmen beabsichtigten, scheint in Moskau die Vorstellung geherrscht zu haben, den größeren und wesentlichen Teil Europas „auf friedlichem Wege" in die sowjetische Einflußsphäre integrieren zu können. Es muß dahingestellt bleiben, ob Stalin nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges für kurze Zeit bereit gewesen ist, einen „britischen Weg" zur „Verwirklichung des Sozialismus in Europa" als gleichrangig mit dem sowjetischen anzuerkennen und Großbritannien eine eigenständige Position im internationalen Kräftefeld zuzubilligen

V.

Nachdem in den Reden von Churchill in Fulton und von Byrnes in Stuttgart Vorbehalte gegenüber der sowjetischen Europapolitik laut und mit der Truman-Doktrin Gegenmaßnahmen eingeleitet wurden, gab aus Moskauer Sicht offenbar der Marshall-Plan der sowjetischen Führungsspitze die letzte Gewißheit, sich auf eine völlig veränderte Situation einstellen zu müssen. Nunmehr mit den USA als dauerhaftem Faktor in der europäischen Politik konfrontiert, verschoben sich die Voraussetzungen für die Stalin’sche „Konzeption eines sozialistischen Europa" grundlegend: In Moskau mußte seitdem davon ausgegangen werden, daß die von den Verwüstungen des Krieges verschont gebliebene und damit ungebrochene Wirtschaftskraft der überseeischen Weltmacht imstande sein würde, „die Ursachen der erwarteten sozialen Krisen und Unruhen in den westeuropäischen Ländern zu beseitigen"

Ohne das langfristige Ziel, die „Konzeption eines sozialistischen Europa", aufzugeben, reagierte die Moskauer Führung auf die amerikanische Politik der „Eindämmung" mit einer politischen und organisatorischen Straffung ihres ostmittel-und südosteuropäischen Einflußbereiches. Ein erstes Anzeichen dafür war die Bildung des Kommunistischen Informationsbüros („Kominform") im September 1947. Die vordringliche Aufgabe dieses von der vorbehaltlosen Anerkennung der führenden Rolle der KPdSU geprägten „Nachkriegszentrums der kommunistischen Bewegung" (Kaplan) bestand darin, in der osteuropäischen Einflußzone der UdSSR „eine Steuerung der kommunistischen Bewegungen, ihre Disziplinierung und Aktivierung mit dem Ziel [zu] ermöglichen, die totale Konformität zu erreichen“

Der mit dem Ziel der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Blockbildung in Gang gesetzte Umformungsprozeß stoppte nationalkommunistische Tendenzen in Ostmittel-und Südosteuropa und führte im Endeffekt dazu, „daß die verfassungsmäßigen Organe dieser Staaten die Entscheidung über das Schicksal ihrer Länder verloren und sich in ein Instrument der sowjetischen Machtpolitik verwandelten". Die Durchsetzung des sowjetischen Modells und der damit verbundene Versuch der Vereinheitlichung der gesellschaftlichen Strukturen in diesen Ländern wurde mit stalinistischen Methoden nach leninistischen Grundsätzen vollzogen, die noch heute für die sogenannte sozialistische Staatengemeinschaft gültig sind: Zu nennen wären hier u. a. Führungsanspruch und Machtmonopol der Kommunisten, die Verstaatlichung der Industrie, die Kollektivierung der Landwirtschaft sowie der forcierte Ausbau der schwerindustriellen Produktion

Die auf dem Gründungskongreß des Kominform gegebenen Anstöße für einen Gleich- schaltungsprozeß hin zu einem „Ostblock", dessen Grundlage die These von der Spaltung der Welt in zwei Lager war, wurden von den „Moskowitern" unter den kommunistischen Parteiführern in Ostmittel-und Südosteuropa bereitwillig aufgenommen. Die Ausschaltung der organisierten Opposition und die Errichtung des monolithischen Regimes der kommunistischen Parteien ist daraufhin vor allem in Ungarn und Bulgarien entschlossen vorangetrieben worden, während sich Polen und Rumänien nur zögernd anschlossen und die den Ereignissen zunächst hinterherhinkende Tschechoslowakei den in anderen „Volksdemokratien" rasch vorankommenden Gleichschaltungsprozeß erst nach dem Februar 1948 „in raschem Tempo und mit großer Effizienz" nachvollzog

VI.

Ohne auf das Sonderproblem der offenen „deutschen Frage" und auf neue Entwicklungen in Asien, längere Zeit ein „Nebenkriegsschauplatz" des Ost-West-Konflikts, eingehen zu können, bleibt zum Schluß im Blick auf die Ausgangsfrage festzuhalten: Abgesehen von — entweder nicht weiterverfolgten oder gescheiterten — Möglichkeiten im Vorfeld des „Kalten Krieges" (Abstimmung der sowjetisehen Interessen mit den angelsächsischen Mächten nach den Vorstellungen Litwinows Nationalkomitee „Freies Deutschland" bewaffneter Aufstand in Deutschland gegen Hitler die der Moskauer Politik zumindest kurzfristig eine andere Richtung hätten geben können, gab es für die UdSSR aufgrund der zielgerichteten Politik Stalins keine Alternative zum „Kalten Krieg", wie er sich in den ersten Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges entwickelte.

Bemerkenswert bleibt, daß die expansionistische Europa-Konzeption Moskaus erst in dem Moment fallengelassen und durch eine auf „den Aufbau eines in sich festgefügten, der absoluten Kontrolle der Moskauer Zentralgewalt unterstehenden Satellitensystems" ausgerichtete Hegemonialpolitik ersetzt wurde, als die Westmächte der Stalin'schen „Strategie der sukzessiven Expansion" (Geiling) Widerstand entgegensetzten. Von diesem Zeitpunkt an war die Aufteilung Europas in zwei große antagonistische Interessensphären nicht mehr ernstlich zu verhindern: Der Teil des Kontinents, der dem direkten sowjetischen Zugriff preisgegeben war, vermochte sich aus eigener Kraft politisch nicht länger zu behaupten, und westlich des „Eisernen Vorhangs" wurde die Konsolidierung der politischen und ökonomischen Verhältnisse „nur unter der Voraussetzung eines entschiedenen amerikanischen Einsatzes" möglich

In den internationalen Beziehungen ergaben sich erst in dem Moment wieder Handlungsspielräume, als im März 1953 mit Stalin der Protagonist einer „maximalistischen Sicherheitspolitik" (Weingartner) der UdSSR von der politischen Bühne verschwand Bis zu diesem Zeitpunkt jedoch gab es von der Moskauer Warte aus keinen Anlaß, nach Alternativen zum „Kalten Krieg" Ausschau zu halten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Rüdiger Horn, Begriff und Wesen des „Kalten Krieges". Eine zeitgeschichtliche Studie, in: Gegen Imperialismus und bürgerliche Ideologie. Gewidmet dem 60. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, Jena 1977, S. 120II.

  2. Ebd., S. 125.

  3. Ebd., S. 122 ff.

  4. Ebd., S. 123.

  5. Ebd., S. 125.

  6. Vgl. die Überlegungen . britischer Historiker zu diesem Problem: D. C. Watt, Churchill und der Kalte Krieg, in: Schweizer Monatshefte, 61. Jg„ 1981, H. 11 (Sonderbeilage), S. 2.

  7. Rüdiger Horn, a. a. O. (Anm. 1), S. 123.

  8. Vgl. Dietrich Geyer, Von der Kriegskoalition zum Kalten Krieg, in: Osteuropa-Handbuch: Sowjetunion, Außenpolitik I: 1917- 1955, Köln/Wien 1972, S. 345.

  9. Vgl. ebd., S. 346 ff.

  10. Vgl. Norbert Wiggershaus, Von Potsdam zum Pleven-Plan. Deutschland in der internationalen Konfrontation 1945— 1950, in: Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945— 1956, Bd. 1, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, München/Wien 1982, S. 10.

  11. So J. W. Stalin in einer Rede anläßlich des 24. Jahrestages der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ am 6. November 1941 in Moskau: J. Stalin, über den Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion, Berlin (Ost) 1952, S. 28.

  12. Dietrich Geyer, a. a. O. (Anm. 8), S. 369 ff.

  13. Vgl. Richard Löwenthal, Der andere Krieg um Deutschland, in: „DIE ZEIT vom 13. Juni 1975, S. 12.

  14. Vgl. Geschichte der sowjetischen Außenpolitik, l. Teil: 1917— 1945, Berlin (Ost) 1969, S. 475; dazu Norbert Wiggershaus, a. a. O. (Anm. 10), S. 11.

  15. J. Stalin, Rede in einer Wahlversammlung der Wähler des Stalin-Wahlkreises der Stadt Moskau am 9. Februar 1946, Berlin (Ost) o. J. [1946], S. 4.

  16. Milovan Djilas, Der Krieg der Partisanen. Memoiren 1941— 1945, Wien/München/Zürich/Innsbruck 19782, S. 559; vgl. dazu Edgar Snow, So fing es an. Erfahrungen mit neuen Zeiten, Stuttgart 1977, S. 391.

  17. Vgl. Vojtech Mastny, Moskaus Weg zum Kalten Krieg. Von der Kriegsallianz zur sowjetischen Vormachtstellung in Osteuropa, München/Wien 1980, S. 264 ff.; dazu Edgar Snow, a. a. O. (Anm. S 387 ff

  18. Vojtech Mastny, a. a. O. (Anm. 17), S. 269.

  19. Vgl. Jörg K. Hoensch, Sowjetische Osteuropa-Politik 1945— 1975, Kronberg/Ts. 1977, S. 12; dazu Norbert Wiggershaus, a. a. O. (Anm. 10), S. 16.

  20. So der Titel eines Sammelbandes, der die Rolle der Roten Armee im Kampf gegen Deutschland und Japan während des Zweiten Weltkrieges aus sowjetischer Sicht kommentiert: A. A. Gretschko (Hrsg.), Die Befreiungsmission der Sowjetstreitkräfte im Zweiten Weltkrieg, Berlin (Ost) 1973.

  21. Vgl. Jörg K. Hoensch, a. a. O. (Anm. 19), S. 11 ff.

  22. K. L. Selesnjow, Zur Hilfe Georgi Dimitroffs für die Propaganda der Politorgane der Roten Armee in der faschistischen Wehrmacht, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 14. Jg., 1972, H. 5, S. 803.

  23. Manfred Görtemaker, Die unheilige Allianz. Die Geschichte der Entspannungspolitik 1943— 1979, München 1979, S. 18f.

  24. Vgl. Llewellyn Woodward, British Foreign Policy in the Second World War, Vol. III, London 1971, S. 215 ff.; dazu W. Averell Harriman/Elie Abel, In geheimer Mission. Als Sonderbeauftragter Roosevelts bei Churchill und Stalin 1941— 1946, Stuttgart 1979, S. 269 ff.

  25. Antony Polonsky (Ed.), The Great Powers and the Polish Question 1941— 1945. A Documentary Study in Cold War Origins, London 1976, S. 46f.

  26. Alexander Uschakow, Das Erbe Stalins in den deutsch-polnischen Beziehungen, Köln o. J., S. 14 ff.

  27. Martin Geiling, Außenpolitik und Nuklearstrategie. Eine Analyse des konzeptionellen Wandels der amerikanischen Sicherheitspolitik gegenüber der Sowjetunion (1945— 1963), Köln/Wien 1975, S. 10.

  28. Karel Kaplan, Der kurze Marsch. Kommunistische Machtübernahme in der Tschechoslowakei 1945— 1948, München/Wien 1981, S. 90f.

  29. Ebd., S. 91.

  30. Vgl. Alexander Fischer, Sowjetische Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg 1941— 1945, Stuttgart 1975, S. 88.

  31. Karel Kaplan, a. a. O. (Anm. 28), S. 91.

  32. Ebd., S. 101; vgl. dazu Othmar Nikola Häberl, Die Sowjetunion und der Marshall-Plan, in: Ekkehart Krippendorff (Ed.), The Role of the United States in the Reconstruction of Italy and West Germany. 1943— 1949, Berlin 1981, S. 332 ff.

  33. Jörg K. Hoensch, a. a. O. (Anm. 19), S. 48.

  34. Karel Kaplan, a. a. O. (Anm. 28), S. 102.

  35. Vgl. Jörg K. Hoensch, a. a. O. (Anm. 19), S. 49f.; und Kaplan, S. 104 ff.

  36. Vojtech Mastny, a. a. O. (Anm. 17), S. 269f.

  37. Alexander Fischer, a. a. O. (Anm. 30), S. 53ff.

  38. Ebd., S. 138.

  39. Martin Geiling, a. a. O. (Anm. 27), S. 16.

  40. Vgl. Ernst Nolte, Deutschland und der Kalte Krieg, München/Zürich 1974, S. 346f.

Weitere Inhalte

Alexander Fischer, Dr. phil., geb. 1933; Professor für Zeitgeschichte Osteuropas an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt a. M.; Mitglied des Wissenschaftlichen Direktoriums des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln. Veröffentlichungen u. a.: Russische Sozialdemokratie und bewaffneter Aufstand im Jahre 1905, Wiesbaden 1967; Teheran — Jalta — Potsdam. Die sowjetischen Protokolle von den Kriegskonferenzen der „Großen Drei" (Hrsg.), Köln 1973; Sowjetische Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg 1941— 1945, Stuttgart 1975; Deutschland — Rußland — Amerika. Festschrift für Fritz T. Epstein zum 80. Geburtstag (Hrsg. u. a.), Wiesbaden 1978.