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Leseförderung als Aufgabe der Erwachsenenbildung | APuZ 40-41/1983 | bpb.de

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APuZ 40-41/1983 Leseförderung als Aufgabe der Erwachsenenbildung Vom . Pazifismus'der dreißiger Jahre. Der Aktivismus deutscher Intellektueller im Exil (1933— 1945) Geschichte und politische Bildung

Leseförderung als Aufgabe der Erwachsenenbildung

Helmut Mörchen

/ 16 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die ungewisse Zukunft der Kulturtechnik Lesen beschäftigt zunehmend alle die, die beruflich mit den gedruckten Medien zu tun haben. Eine Förderung des Lesens durch Fernsehbeiträge, also in dem Medium, das zum Rückgang des Lesens entscheidend mit beiträgt, kann — wenn überhaupt — nur begrenzt erfolgreich sein. Hier liegt ein wieder neu zu entdeckendes Arbeitsfeld der Volkshochschulen, deren traditionelle Literaturkurse vornehmlich die erreichen, die schon Leser sind. Eine Leseförderung für Nicht(mehr-) Leser muß den Rahmen herkömmlicher Bildungsveranstaltungen sprengen und in einer Form verlaufen, die den einzelnen bei auftretenden Schwierigkeiten nicht entmutigt. Eine Umfrage unter Schülern einer 10. Hauptschulklasse hat ergeben, daß Informations-und Unterhaltungsbedürfnis Hauptantriebe zum Lesen sind. Die Besonderheiten poetischer und fiktionaler Literatur gerieten spontan nicht ins Blickfeld der meisten Schüler. In Kursen zur Leseförderung müssen deshalb Texte gelesen werden, die das Niveau trivialer Massenliteratur überragen und trotzdem gern von den Teilnehmern gelesen werden. Welche Überlegungen bei der Auswahl von Texten für solche Kurse angestellt werden müssen, wird am Beispiel zweier erzählender Texte modellartig vorgeführt. Sodann werden methodische Hinweise zur Durchführung von Kursen zur Leseförderung gegeben.

Welche Zukunft hat das Lesen? Diese Frage beschäftigt Pädagogen und Publizisten, Verleger und Buchhändler und last not least die Verfasser gedruckter Texte seit einiger Zeit in zunehmendem Maße. Denn allenthalben hat sich die Einschätzung durchgesetzt, daß die Bereitschaft und die Fähigkeit zu lesen abnehmen. Ob dies so stimmt, mag dahingestellt bleiben. Daß früher breitere Publikums-kreise mehr gelesen haben als heute, darf jedoch bezweifelt werden: Rudolf Schendas These, daß im 19. Jahrhundert das „Volk ohne Buch“ gelebt habe, ist gut belegt.

Das Bewußtsein, daß das Lesen in einer Krise steckt, mag in dem unbehaglichen Gefühl gründen, daß das Fernsehen — nun noch erheblich verstärkt durch die Videörecorder — immer mehr die Freizeit bestimmt. Das Lesen gilt inzwischen als eine schutzbedürftige Kulturtechnik, für deren Erhaltung und Pflege auf nationaler Ebene eigens eine Gesellschaft gegründet wurde. Die Deutsche Lesegesellschaft e. V. hat sich zum Ziel gesetzt, daß möglichst viele „Nicht-bzw. Wenigleser" zu Buchlesern werden. Von den vielen Aktivitäten dieser Gesellschaft scheint das aus Israel importierte Modell des Leseklubs, der „traditionell nicht oder selten lesenden Gruppen, vor allem sozial benachteiligten Jugendlichen, den Weg zum Buch und zum Lesen“ eröffnen will besonders zukunftsträchtig zu sein. In diesen Klubs geht es um die Schaffung eines lesefreundlichen Milieus, das die Klubbesucher in ihren Elternhäusern nicht haben. In der Bundesrepublik gibt es inzwischen etwa zehn von der betreute Klubs.

Die spektakulärste Aktion der Deutschen Lesegesellschaft ist die in Verbindung mit der Bundesanstalt für Arbeit konzipierte achtteilige Fernsehserie „Anstiftung zum Lesen — ein Direktkurs auf Bücher", die 1982 zuerst im Westdeutschen Fernsehen ausgestrahlt worden ist. Daß man ausgerechnet in dem Medium für das Lesen wirbt, dessen Expansion für den Niedergang des Lesens entscheidend mit ursächlich ist, sahen wohl auch die Autoren der Serie als einen Schwachpunkt ihrer Bemühungen. Ob die Einbindung der Fernsehfilme in einen Medienverbund — es gibt ein Taschenbuch und ein Begleitheft zur Serie — diesen Widerspruch mildern konnte, muß sich erst noch erweisen; nur wenn die gewünschten Begleitveranstaltungen in Volkshochschulen angeboten und auch besucht werden, besteht für diese aufwendige Aktion eine Aussicht auf Erfolg.

Die pessimistischsten Thesen zur Wirkung des immer mehr dominierenden Fernsehens und zum gleichzeitigen Rückgang des Lesens formuliert Neil Postman in seinem Buch „Das Verschwinden der Kindheit" Postman konstatiert als Folge des TV-Konsums eine Nivellierung der Differenz zwischen Kindheit und Erwachsensein. Das Fernsehen zerstöre den bei der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft entstandenen Schonraum für Kinder (der Bürgerschicht), wenn es z. B. die Kleinen — wie einst im Mittelalter — ungeschützt und unaufgeklärt als Zuschauer an Kriegen, Hinrichtungen, sexuellen Gewalttaten teilnehmen lasse. Solche Erlebnisse ließen die Kinder zu früh „erwachsen" werden und verhinderten gleichzeitig den Reifeprozeß, der durchlaufen werden muß, um wirklich erwachsen zu werden. Das Fernsehen bewirke darüber hinaus eine demokratische Nivellierung auf niedrigstem Niveau, so daß schon ein weitgehender Entzug des Fernsehens bei kleinen Kindern heute eine entscheidende Voraussetzung dafür sei, daß ein Kind die Chance gewinnt, später einmal zur Elite seiner Gesellschaft zu gehören.

Ob Postmans Thesen richtig sind, kann hier nicht beurteilt werden. Die sehr plakativ illustrierte Einebnung des Gefälles zwischen Erwachsenen-und Kinderwelt läßt sich aber auch beim Lesen selbst gut beobachten: Die Schulen entlassen heute neben „mündigen“ Lesern eine große Schar von Nicht-Lesern, bzw. von Lesern, die bald zu Nicht-mehr-Lesern werden.

Boten Volkshochschulen früher „erwachsenen" Lesern literarische Kurse an, für deren Besuch die Fähigkeit zu lesen Voraussetzung war, so wächst der Erwachsenenbildung heute eine neue Aufgabe zu: die Kunst des Lesens, die in der Schulzeit nicht ausreichend erlernt werden konnte, nun im Rahmen der tertiären Bildung zu fördern.

Wie lassen sich die Nicht-(mehr-) Leser, die Zielgruppe einer Leseförderung innerhalb der Erwachsenenbildung sein sollen, beschreiben. In ihrer Mehrzahl gehören sie zur Unter-oder unteren Mittelschicht. Norbert Groeben und Brigitte Scheele beschreiben in ihren Ausführungen „Zur Psychologie des Nicht-Lesens" den Nicht-Leser als „gesellschafts-(ideologisch) angepaßt", „nicht sozial aufgeschlossen, sondern vielmehr darauf ausgerichtet (...), innerhalb der vorgefundenen gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen (subgroup) Grenzen sich durchzuschlagen“. Dem Nicht-Leser falle es schwer, eigene Positionen in Frage zu stellen, er sei nicht auf Unabhängigkeit bedacht und „ohne Zutrauen zu sich selbst bezüglich der Transparenz und Veränderbarkeit von (persönlicher wie sozialer) Umwelt". Groeben und Scheele ziehen aus ihren Untersuchungsergebnissen den Schluß, daß bei den Nicht-Lesern „die Lesemotivation nicht im Laufe des Lebens . verschüttet'wird, sondern durch eine auf Anpassung ausgerichtete Erziehung (Eltern, Grundschule, Lehre) zumindest bei der Mehrzahl der Berufsschüler überhaupt nicht aufgebaut wird, da die entsprechenden Einstellungs- und Motivationsstrukturen erst in den weiterführenden Schulen entwickelt wurden"

Solche Nicht-Leser zum Besuch einer lesefördernden Veranstaltung der Erwachsenenbildung zu motivieren, ist keine leichte Aufgabe. Daß die Veranstaltungen der deutschen Volkshochschulen ganz allgemein vor allem von denen besucht werden, die schon als Jugendliche in den Genuß einer guten Schulausbildung kamen, ist eine die deutsche Erwachsenenbildung ständig herausfordernde Tatsache. Das derzeit überwiegende Angebot der Weiterbildungseinrichtungen im Bereich Lesen und Literatur ist mittelschichtorientiert und richtet sich an bereits aktive Leser. Der epochen-, autor-oder themenbezogene Literaturkurs setzt literarische Bildung wenigstens ansatzweise voraus. Mit herkömmlichen, oft den Universitätsbetrieb schlecht imitierenden Literaturkursen erreicht man nur die Gruppe der bereits geübten Leser, und wenn ein Nicht-(mehr-) Leser in eine solche Veranstaltung gerät, werden Mißerfolgserlebnisse den vielleicht gerade (wieder) erweckten Impuls zum Lesen schnell wieder erstikken. Eine Leseförderung bei Nicht-(mehr-) Lesern wird keinen Erfolg haben, wenn in einer Gruppe einzelne mit großem Lesevorsprung der Mehrzahl der Teilnehmer den Mut nehmen. Da Lesen und Lernen eng verzahnt sind, kann man davon ausgehen, daß die überwiegende Mehrzahl der Nicht-(mehr-) Leser zur Gruppe der Lernungewohnten gehört, die „am ehesten zum Weiterlernen zu bewegen (sind), wenn sie es mit Menschen gemeinsam tun können, die ähnliche Milieuerfahrungen haben"

Wie groß die Motivationsschwierigkeiten im Bereich des Lesens sein können, verdeutlicht am plakativsten ein Sprung in ein anderes Gebiet. Wer keinen Sport treibt, wird schwerlich zu bewegen sein, als Leichtathlet oder Fußballer aktiv zu werden. Daß sich heute trotzdem viele Nichtsportler im Rahmen des Breitensports körperlich betätigen, gründet in einer sekundären Motivation: Nicht primär Lust am Sport, sondern Sorge um die Gesundheit treibt viele zum Fitnesstraining. Persönliche Betroffenheit ist das für die hier angeschnittene Fragestellung bedeutsame tertium comparationis.

Die stärkste Motivation zum Lesen entsteht durch Erfolge im Bereich des sozialen Lernens, die durch Lektüre gefördert wurden. An diese — durch die sozialwissenschaftliche Leserforschung bestätigte — Erfahrung knüpfen auch die Autoren der Fernsehserie . Anstiftung zum Lesen" an, wenn sie am Schluß jeder Folge eine prominente Persönlichkeit zu Wort kommen lassen: Georg Leber, Norbert Blüm, Helga Schuchardt u. a. berichten dem Zuschauer, welche Rolle Bücher bei ihrem Aufstieg gespielt haben.

Daß im Hinblick auf eine Karriere Sachliteratur im weitesten Sinn eine dominierende Bedeutung hat, liegt auf der Hand. Daß die ganze Serie sich (deshalb?) auf eine Einführung in das literarische Leben im Hinblick auf Sach-und Ratgeberliteratur beschränkt, wäre nicht zwingend gewesen. Außerdem zeigt die überwältigende Dominanz populärer Sachliteratur im Buchgeschäft, daß dieser Bereich nicht unbedingt vorrangig Förderung braucht Bei einer Umfrage nach Gründen und Anlässen für das Lesen von Reportagen, Lehrbüchern, Kochbüchern, Zeitungskommentaren, Gedichten, Sachbüchern, Gesetzen, Romanen und Parteibroschüren in einer 10. Haupt-schulklasse hat sich gezeigt, daß es den 21 befragten Schülerinnen und Schülern nicht schwer fiel, etwas zu den Texten zu sagen, zu denen man in erster Linie greift, um ein wie immer auch im einzelnen geartetes Informationsbedürfnis zu stillen. Daß man liest, um sich zu informieren, scheint in der Selbstreflexion auch ungeübter Leser so stark im Vordergrund zu stehen, daß in diese Richtung eine Verstärkung durch pädagogische Bemühungen wohl nicht erforderlich ist Auch die Differenzierung sehr unterschiedlicher Informationsbedürfnisse bereitete den Schülern keine Schwierigkeiten. Daß Neugier, Langeweile, das Bedürfnis nach Unterhaltung und Zeitvertreib Motive zur Lektüre einer Illustriertenreportage sein können, war fast allen bewußt Ebenso wurden die verschiedenen Informationsvermittlungstechniken im Lehrbuch (Vermittlung längerfristigen Wissens in systematischer Weise innerhalb des Schulunterrichts oder der Berufsausbildung), Sachbuch (Vermittlung längerfristigen Wissens auf unterhaltsame Weise innerhalb der Freizeit) und Kochbuch (kurzfristige Anleitung zu unmittelbar folgenden Handlungen) gut erkannt. Daß auch die Lektüre eines Gesetzes durch einen Laien in der Regel nur erfolgt, wenn jemand auf eigenes Handeln bezogen Spielräume bzw.deren Grenzen kennenlernen möchte, war ebenfalls fast allen klar.

Neben dem Informationsbedürfnis sahen die Schüler als zweiten, bezeichnenderweise minder bewerteten Hauptleseantrieb das Unterhaltungsbedürfnis an. „Entspannung" und . Zeitvertreib" in der Freizeit zwecks Erholung nach der Arbeit waren die zum Stichwort Roman am häufigsten genannten Schlagworte. Die Abwertung fiktionaler Lektüre prägt zahlreiche Schüleräußerungen. Die Charakterisierung der Romanlektüre als eine Beschäftigung, die zum Ziel habe, „Zeit tot zu schlagen", ergänzte ein Schüler durch das lapidare Bekenntnis: „Lese keine Romane“. Ein anderer bezeichnet das Lesen von Romanen als „billigen“ Zeitvertreib, wobei die Mehrdeutigkeit des Attributs „billig“ in der Stellungnahme auffällt. Ein dritter schließlich qualifiziert den Roman ebenfalls nicht eindeutig, auf jeden Fall aber ablehnend: „Es ist kein Sinn vorhanden." Drei Schülerinnen betonen, daß sich Romane — zumindest die ihrer Wahl — leichter läsen als andere Texte. Man brauche „keine Vorkenntnisse“ hebt eine hervor. Die zweite liest gern Romane, „weil man da auch nicht so viel zu überlegen braucht“. Die dritte schreibt ausführlicher als die anderen: „Wenn ich z. B. ein Sachbuch lese, sehe ich mir zwischendurch auch mal einen Roman an, weil mir Sachbücher oft unverständlich vorkommen. Um mich davon zu entspannen, lese ich einen Roman, der mich nicht zu sehr anstrengt.“

Information und Unterhaltung sind die beiden Bedürfnisse, die Schüler mit ihrer Lektüre befriedigen wollen. Mit Texten, die primär nicht informieren oder unterhalten, konnten sie deshalb ganz offensichtlich wenig anfangen. So verzichteten fünf Schüler auf ein Statement zur Textsorte Kommentar, und die übrigen griffen mehrheitlich daneben, indem sie den Kommentar mit der (informierenden) Nachricht verwechselten. Ein Beispiel: „Das Tagesgeschehen wird sachlich wiedergegeben. Er ist eine Informationsquelle.“ Immerhin vier erkannten aber doch, daß der Leser im Kommentar die Meinung eines Journalisten oder einer Zeitung finden kann. Noch größere Schwierigkeiten hatten die Schüler mit dem Gedicht. Neun mußten passen. „Ich lese keine Gedichte", stellte ein Schüler kurz und bündig fest. Drei andere kamen zu der Einsicht, daß anders als bei anderen Textsorten beim Gedicht nur der etwas zur Qualität der Lektüre sagen kann, der selber Gedichte liest. Beispiel: „Ich lese nie Gedichte und interessiere mich nicht dafür, darum weiß ich nicht, warum man Gedichte liest.“ Diese und zwei fast gleichlautende Antworten sind bemerkenswert vor dem Hintergrund, daß fast alle Schüler Einleuchtendes zum Lesen etwa von Gesetzen zu Papier bringen konnten, obwohl sie sicher nicht häufig Gesetze gelesen haben werden. Während Schüler sich vorstellen können, was ein Gesetz ist und wie es wirkt, bleibt Lyrik denen, die keine Gedichte lesen, vom Wesen her fremd. Nur ein Schüler fand zum Stichwort Gedicht eine die Dichotomie Information versus Unterhaltung sprengende Antwort: „Es regt zum eigenen Denken an. Man soll von sich selbst aus ein Problem behandeln. Das Gedicht gibt die Anleitung.“ Das Leseinteresse „nachdenken, deuten, werten“ ist sicher bei vielen Menschen nur latent vorhanden und muß deshalb geweckt und bewußt gemacht werden.

Daß gerade fiktionale, erzählende Literatur dem einzelnen für die Gestaltung seines Lebens bedeutsame Erfahrungen vermitteln kann, die ihm ohne Literatur verschlossen blieben, kann gar nicht genug betont werden. Erhard Schlutz hat die Funktion erzählender Literatur einprägsam in drei Punkten zusammengefaßt: „— Literatur zeigt Möglichkeiten, Erfahrungen zur Sprache zu bringen, oder auch die Verzweiflung darüber, sie kaum noch in Sprache fassen zu können.

— Literatur bringt gesellschaftliche und persönliche Bereiche in der Fiktion zusammen, die aufgrund von Arbeits-und Funktionsteilung, aufgrund der Abspaltung von Ge5 schichte und Zukunft dem einzelnen kaum noch erfahrbar erscheinen.

— Literatur integriert beim Lesen Tätigkeitsformen wie angespannte Arbeit und lustvolles Erleben, die für die meisten Menschen sonst grundverschiedenen Rollen zugeordnet werden."

Welche Bücher sind geeignet mit Lust und Interesse gelesen zu werden? Welche Themen lösen die Betroffenheit aus, die notwendig ist, um einen Leser — zumal nach einem vielleicht doch noch mühevollen Leseprozeß — zu dem Urteil kommen zu lassen: Die Lektüre dieses Buches hat sich für mich persönlich gelohnt. Die Beantwortung dieser Fragen ist nicht leicht. Auf Vorschläge aus der Mitte einer Gruppe zu hoffen, ist im Fall eines Kurses für Nicht-(mehr-) Leser kaum möglich. Die Auswahlentscheidung muß deshalb der Kursleiter treffen. Sie sollte einerseits nicht primär auf der Basis seines persönlichen Geschmacks und Problembewußtseins erfolgen, andererseits aber muß ein Veranstalter natürlich von dem für einen Kurs ausgewählten Lesestoff selbst überzeugt sein. In dieser Spannung empfiehlt sich ein behutsames Vorgehen. Von vornherein scheiden alle Bücher aus, die vom Thema oder ihrer literarischen Form her Vorkenntnisse verlangen. Weder Grass’ „Blechtrommel" noch Weiss'. Ästhetik des Widerstands" eignen sich für unsere Zwecke. Texte für ungeübte Leser müssen leicht verständlich und überschaubar sein. Allein Lesbarkeit und Unterhaltungswert eines Buches bieten bei wenig geübten Lesern die Chance, daß es zu Ende gelesen wird.

Literatur, deren Lektüre einem breiten Lese-publikum Spaß bereitet, ohne daß sie dem Bereich der Trivialliteratur zugerechnet werden muß, ist in der deutschsprachigen Literatur rar. Kurt Tucholskys stilsichere Prosa, Lion Feuchtwangers umfangreiches Romanwerk, die Kriminalromane Friedrich Dürrenmatts wären hier mit an erster Stelle zu nennen.

Wenn an dieser Stelle ein unbekannterer Autor vorgeschlagen wird, dann deshalb, um ganz aktuell an einen zur Zeit auffallenden modischen Trend anzuknüpfen: an die starke Nachfrage nach phantastischer Literatur. Tolkiens „Der Herr der Ringe" und Endes „Die unendliche Geschichte“, seit Monaten in der SPIEGEL-Bestsellerliste plaziert, sind die Flaggschiffe der auf den phantasy-Wellen segelnden Bücherflotte. Als Texte für einen Lesekurs für Anfänger sind diese beiden Bücher aber zu umfangreich; bei aller Lesbarkeit Seite für Seite: en detail bieten sie ein Gewirr sich zum Teil verknotender Handlungsstränge, die aufzudröseln nur der vermag, auf den der Bazillus des Schmökerns schon übergesprungen ist.

Da kommt die Wiederentdeckung Leo Perutz'(1884— 1957) gelegen, eines vor wenigen Jahren noch völlig vergessenen Schriftstellers, dessen vom Umfang her schmalen phantastischen Romane zu der kleinen Gruppe von Texten gehören, die die Lücke zwischen hoher Dichtung und trivialer Schemaliteratur schließt. Der Kritiker Friedrich Torberg hat für Perutz'Stillage die witzige und prägnante Formel gefunden, Perutz sei „als mögliches Resultat eines Fehltritts von Franz Kafka mit Agatha Christie zu definieren".

Wenn hier für einen Lesekurs die Lektüre von Perutz'Roman „Der Meister des Jüngsten Tages" empfohlen wird, dann geschieht dies nicht zuletzt auch im Hinblick auf die Demonstration der Macht der Phantasie in der Handlung dieses Romans — einer Phantasie, die sowohl zu zerstören wie zu befreien vermag und die Voraussetzung und Grund für jedes Seh-und Denkweisen des Alltags überschreitende Kunstwerk ist.

In Perutz'spannendem und humorvollen Roman treibt eine geheimnisvolle Handschrift aus dem 16. Jahrhundert fünf Menschen in den Tod, als letzten einen ganz auf die Vernunft setzenden Ingenieur, der sich um die Aufklärung der Todesfälle bemüht hat, um den Ich-Erzähler, einen österreichischen Ritt-meister, vor Mordverdacht zu bewahren. Daß Perutz nicht nur diesen Ich-Erzähler schuf, sondern zusätzlich einen Herausgeber erfand, der nach dem Tod des Ich-Erzählers dessen „unveröffentlichte Aufzeichnungen" mit dem Zusatz versah, daß dieser romanhafte Bericht eine abenteuerliche Phantasiegeschichte sei, mit der deren Verfasser seine Mitschuld bei einer Selbstmordaffäre vertuschen wollte, gibt Perutz die Gelegenheit, den Roman mit der Feststellung zu beschließen, daß der „Ursprung aller Kunst" in der . Auflehnung gegen das Schicksal und nicht mehr zu Ändernde“ liege.

Man kann Perutz'1923 zum erstenmal erschienenen Roman in einem Lesekurs mit Joseph Roths 1939 postum erschienener Erzählung „Die Legende vom heiligen Trinker" konfrontieren. So verschieden beide Texte auf den ersten Blick sind, so gibt es interessante Vergleichspunkte unterschiedlichen Rangs. Recht äußerlich ist der Hinweis, daß beide Erzählungen die Atmosphäre zweier europäischer Metropolen dicht vermitteln: Wien (PeB rutz) und Paris (Roth). Ins Zentrum führen Überlegungen zur Gattung beider Texte: Phantastischer Roman und Legende. In beiden Texten bleibt das Bewerten der Ereignisse (unaufklärbares Geheimnis oder rational beschreibbares Faktum; Wunder oder Zufall) dem Leser Vorbehalten. Besonders Roths Erzählung, hinter deren fast märchenhaft poetischem Ton sich das — autobiographische! — Elend eines völlig verarmten Trinkers versteckt, ist gut geeignet, den Lesern an einem einfachen und überschaubaren Text zu verdeutlichen, daß poetische Texte vielschichtig und mehrdeutig sein können und vom Leser eine aktive Mitwirkung beim Entschlüsseln ihrer „Geheimnisse“ verlangen.

Bei diesen stichwortartigen Bemerkungen zu zwei Büchern ging es nicht darum, gerade diese Texte für einen Lesekurs zu empfehlen. Es sollte lediglich einmal modellartig vorgeführt werden, welche Überlegungen bei einer Textauswahl angestellt werden müssen. Bei der Auswahl mehrerer Texte sollte im übrigen darauf geachtet werden, daß sich diese, in welcher Weise auch immer, gegenseitig beleuchten. Dies kann die Interpretationsarbeit sehr fördern und erleichtern.

Abschließend einige Hinweise zur Form, in der Leseförderung innerhalb von Einrichtungen der Erwachsenenbildung angeboten werden kann.

Die Lesefreizeit in einer Heimvolkshochschule scheint mir eine besonders für sozial und altersmäßig homogene Gruppen geeignete Veranstaltungsform zu sein. Bei einem einwöchigen Seminar sollte den Teilnehmern während der ersten Tage die meiste Zeit zur individuellen Lektüre zur Verfügung stehen. Höchstens zwei Stunden täglich sollten elementare Lesetechniken vermittelt werden. An kürzeren Übungstexten, die nichts mit dem im Mittelpunkt der Freizeit stehenden Lektüretext zu tun haben brauchen, können die Teilnehmer vom mehrfarbigen Markieren von Textstellen bis zu den Grundzügen der SQ 3R-Methode (s. u.) grundlegende Hilfen zu einem effektiveren Lesen kennenlernen und einüben. Die letzten Tage sollten ganz mit dem freien Gespräch über den bis dahin in den Freistunden von allen gelesenen Text verbracht werden.

Ein Lesekurs im Rahmen einer Volkshochschule, der sich in der üblichen Weise zweistündig pro Woche über einen längeren Zeitraum erstreckt, verlangt eine straffere Planung, damit die langen Pausen zwischen den einzelnen Sitzungen nicht zu den Zusammenhang zerstörenden . Löchern'werden. Hier kann eine modifizierte Anwendung der in der amerikanischen Hochschuldidaktitk entwikkelten SQ 3R-Methode (Survey, Question, Read, Recite, Review) zu die nächste Sitzung vorbereitenden Aufgaben für die einzelnen Kursteilnehmer führen. Zwischen der ersten und zweiten Sitzung sollen der oder die Texte ganz gelesen werden, wobei es nur darauf ankommt, daß die Teilnehmer einen ersten Überblick gewinnen. Während beim wissenschaftlichen Buch, auf das sich die SQ 3R-Methode primär richtet, ein solcher Überblick durch einen Blick auf die Kapitelüberschriften und ein Überfliegen des Vorworts und der zusammenfassenden Schlußbemerkung gewonnen werden kann, muß bei belletristischen Texten zumindest ein kursorisches überfliegen des ganzen Textes erfolgen. Aber auch am Ende eines sorgfältig . buchstabierenden'Lesens ungeübter Leser oder des lustvollen Verschlingens eines spannenden und unterhaltsamen Leser Buches hat ein einen ersten Eindruck von dem gerade gelesenen und noch kaum verarbeiteten Text.

Der zweite Schritt des Fragens geht bei belletristischen Büchern auch in eine andere Richtung als bei wissenschaftlichen Texten. Geht es dort darum, die Überschriften der einzelnen Kapitel in Fragen umzuformulieren, um die Thesen eines Gedankengebäudes Schritt für Schritt zu überprüfen, so sollte bei einem Roman der Leser versuchen, Eindrücke und Fragen nach dem ersten Lesen spontan zu fixieren. Nicht alle Teilnehmer eines Kurses werden dazu in der Lage sein; die Diskussion der ersten Stellungnahmen im Plenum des Kurses kann gerade auch für die anregend und lehrreich sein, die zu einer solchen spontanen Artikulation noch nicht bereit oder fähig sind.

In der nächsten Phase geht es um ein zweites, sorgfältiges Lesen des Textes. Um hier nicht die Teilnehmer von einer zu der anderen Woche zu überfordern, muß ein längerer Text unbedingt vom Kursleiter in geeignete Abschnitte unterteilt werden. Jeder Teilnehmer befaßt sich dann zu Hause mit einem Abschnitt seiner Wahl so gründlich, daß er im optimalen Fall in der nächsten Sitzung zu einer Wiedergabe dieses Abschnittes in der Lage ist. Ob dies in Form einer Inhaltsangabe oder mehr nacherzählend geschieht, ob ein Teilnehmer frei spricht oder einen vorbereiteten Text verliest, sollte nicht reglementiert, sondern vom einzelnen entschieden werden. In der fünften Phase gilt es, Rückblick auf das in den vorhergehenden Schritten Erarbeitete zu werfen. Nach einer ausführlichen, locker moderierten Diskussion über Inhalt und gegebenenfalls auch Form des Textes werden den Teilnehmern, die sich jetzt noch einmal ihre Aufzeichnungen nach der ersten Lektüre ansehen, möglicherweise Fortschritte des Verstehens deutlich.

Bei der Strukturierung eines Lesekurses in der angedeuteten Weise muß darauf geachtet werden, daß die gemeinsame Arbeit möglichst in jeder Phase kooperativ verläuft. Die wichtigste Aufgabe des Leiters ist es, die Teilnehmer anzuregen, sich zu einer Lektüre frei und unbefangen fragend, ablehend oder zustimmend zu äußern. Den Teilnehmern kann dies nur gelingen, wenn ihnen der Kursleiter als Gesprächspartner begegnet. Wichtig ist die Atmosphäre. Es ist schwer, einen Nicht-(mehr-) Leser zum Lesen in der Freizeit anzuregen, wenn ihm der äußere Rahmen eines Lesekurses an den Raum erinnert, in dem ihm das Lesen verleidet wurde: die Schule. Klubräume von Jugendzentren oder ähnlichen Stätten, separate Zimmer in Cafes, geeignete private Wohnräume sind deshalb den üblicherweise von den Volkshochschulen benutzten Klassenräumen in Schulgebäuden vorzuziehen. Nur innerhalb eines ungezwungenen und angenehmen Rahmens kann den Teilnehmern die Erfahrung vermittelt werden, „daß kollektive, von Unterrichtszwängen befreite Lektüre Spaß machen und zu neuen literarischen und sozialen Aktivitäten motivieren kann"

Fussnoten

Fußnoten

  1. G. Hohm, Leseclub — eine Möglichkeit für HSA-Lehrgänge, in: Informationsdienst der PädagogisChen Arbeitsstelle des Deutschen (1980) 1, S. 51. Volkshochschulverbandes,

  2. H. Pleticha/Deutsche Lesegesellschaft e. V. (Hrsg.), Anstiftung zum Lesen. Weiterkommen durch Bücher, Ravensburg 1982; K. Derichs-Kunstmann/M. Borchert, Informationen und Hinweise für Begleitveranstaltungen zur Serie Anstiftung zum Lesen, Mainz o. J.

  3. Frankfurt 1983.

  4. N. Groeben/B. Scheele, Zur Psychologie des Nicht-Lesers. Richtungen und Grenzen der Lese-motivation, in: Lesen und Leben, hrsg. von H. G. Goepfert (u. a.), Frankfurt a. M. 1975, S. 96.

  5. H. Tietgens, Einleitung in die Erwachsenenbildung, Darmstadt 1979, S. 144.

  6. E. Schlutz, Unzeitgemäße Literatur, in: Volkshochschule im Westen, (1982) 4, S. 175.

  7. P. Robinson, Effective Study Fourth Edition, New York 1970, S. 15— 52.

  8. H. Kroeger, Lesezirkel als Ort freier und kollektiver Leseerfahrungen, in: Der Deutschunterricht, 32 (1980) 5, S. 58.

Weitere Inhalte

Helmut Mörchen, Dr. phil., geb. 1945; Privatdozent für deutsche Sprache und Literatur sowie ihre Didaktik an der Universität Bonn; im Wintersemester 83/84 Lehrstuhlvertretung (Germanistik/Neuere Literaturwissenschaft) an der Universität-Gesamthochschule-Siegen. Veröffentlichungen: Schriftsteller in der Massengesellschaft. Zur politischen Essayistik und Publizistik Heinrich und Thomas Manns, Kurt Tucholskys und Ernst Jüngers während der Zwanziger Jahre, Stuttgart 1973; Zur Rezeption ausländischer Literatur in Übersetzungen innerhalb westdeutscher Lesebücher (Habil. -Schr.) Bonn 1983; Aufsätze zur nichtfiktionalen Prosaliteratur des 20. Jahrhunderts (Essay, Reportage, Parteiprogramm), zu Kurt Tucholsky und Heinrich Wolgast.