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Vom . Pazifismus'der dreißiger Jahre. Der Aktivismus deutscher Intellektueller im Exil (1933— 1945) | APuZ 40-41/1983 | bpb.de

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APuZ 40-41/1983 Leseförderung als Aufgabe der Erwachsenenbildung Vom . Pazifismus'der dreißiger Jahre. Der Aktivismus deutscher Intellektueller im Exil (1933— 1945) Geschichte und politische Bildung

Vom . Pazifismus'der dreißiger Jahre. Der Aktivismus deutscher Intellektueller im Exil (1933— 1945)

Thomas Koebner

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Intellektuellen, die vor Hitler ins Exil fliehen mußten, entwickelten in den dreißiger Jahren ein „geistespolitisches Programm“ mit der Forderung eines „militanten Humanismus". Viele Wege der Opposition eröffneten sich den Exilanten nicht — außer der Möglichkeit des Appells. Dieser richtete sich einmal an die Deutschen, die im Land zurückgeblieben waren: Dabei wollten Hie Emigranten bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, sogar noch später glauben, daß das deutsche Volk nur allzu bereit wäre, sich gegen seine Unterdrücker zu erheben. Der Appell richtete sich zum andern an die Asyl gewährenden Staaten, insbesondere die westlichen Demokratien, die gegen Hitler-Deutschland energischeren Widerstand leisten sollten. Da Hitler für die Exilanten den Krieg bedeutete, sie aber mit großem Nachdruck den Frieden wollten, lehnten sie die Appeasement-Politik als ungeeignetes Instrument der Friedenssicherung’ ab. Dies geschah nicht etwa, weil sich das Exil gegen den Pazifismus ausgesprochen hätte, ganz im Gegenteil, sondern weil es zu erkennen meinte, daß sich hinter der Politik der Beschwichtigung und Nachgiebigkeit gegenüber dem Dritten Reich Ignoranz, Isolationismus und sogar Sympathie mit den Nazis verbergen. Dementsprechend plädierten viele Emigranten für übernationale Neuordnungen des . Völkerlebens', daher wandten sie sich auch gegen das Prinzip der Nichteinmischung, der Souveränität der Staaten als kriegsträchtiger Quelle egoistischer Interessen. Abschließend werden Bedenken dagegen vorgebracht, im politischen Tagesstreit auf die inzwischen historisch ferngerückten politischen Positionen des Exils ohne weiteres Bezug zu nehmen.

Wir Flüchtlinge durchschauen Hitlers Pläne. Doch während wir ihn durchschauen, müssen wir... zuschauen. Wir dürfen hier bloß Zuschauer sein. Tragisch-lähmender jeden Tag, meldet sich die Pein der Wissenden, aber zum Stummsein Verurteilten — im fremden Land.

Alfred Kerr, 1937, Tagebuch:

Ich kam nach England

I. Das „geistespolitische Programm"

Man kann aus der Geschichte lernen; aber es wiederholt sich wohl nichts so, wie es einmal geschehen ist. Heinz Abosch hat auf die „konservative Mentalität“ vieler, auch linksstehender Politiker und Beobachter in Deutschland am Ende der Weimarer Republik aufmerksam gemacht — eine „konservative Mentalität“, die verhindert hat, die neue, spezifische . Qualität'des Nationalsozialismus genau zu sehen und ernstlich gewarnt zu sein So zeigt die Reaktion der Verfolgten und Geflohenen, des intellektuellen Exils, in den ersten Jahren nach 1933 vor allem die Züge schockhafter Ungläubigkeit (die in gewissem Sinne bis heute begreiflich bleibt). Die emigrierten Autoren verfallen oft auf traditionelle Schablonen der Satire und bewegen sich in alten Denk-Gleisen der Preußen-Kritik, der Agententheorie usw. Das fassungslose Staunen über diese neuen Herren kippt immer wieder in (sozial) deklassierende Polemik um (auch das ist verständlich, wenn man sich die Anlässe des . Ärgernisses“ vor Augen hält). Von der „Diktatur des Hausknechts" (Alfred Kerr), vom . Anstreicher" (Bertolt Brecht), vom „Reich der Verkrachten“ (Heinrich Mann), von der aktuellen „Rückbildung der menschlichen Gattung" (Leopold Schwarzschild) ist da die Rede, selbst die Formel . Faschist und Päderast', der Vorwurf der Homosexualität geistern umher (gegen solche infame Redeweisen wehren sich einige, zum Beispiel Klaus Mann). Je länger das Dritte Reich dauert — allen Erwartungen zum Trotz leider kein . Spuk', der nach zwei Jahren von der Erdoberfläche verschwunden ist —, desto mehr verstärkt sich die Tendenz der Exilanten, dieses Phänomen unter einem höheren Blickwinkel zu sehen, das Unbegreifliche, das eigentlich 'nicht sein soll und darf, als „Reich der niederen Dämonen" (Ernst Niekisch) zu betrachten.

Aus dem banalen Verbrechen wird allmählich ein unheimlich Böses. Das solcherart theologisierte Deutungsmodell — Joseph Roth oder Friedrich Wilhelm Foerster sprechen sogar von der Wiederkehr des Antichrist — ist in der Nachkriegszeit in Westdeutschland recht lange wirksam geblieben.

„Man bekommt den Eindruck, daß doppelt starke Kinnladen zum Eintritt in das Rassen-reich berechtigen, daß aber die tierische Fresse alle Symptome des Verfolgungswahns aufweisen muß, damit einer zu Ehren aufsteigt. Der Rassenstaat ist nichts weiter als die Auslese der Minderwertigen. Seht euch alle an, die im Reiche der Verkrachten den Kopf hochtragen und die Andern zertreten dürfen! Deutschland holt jetzt seine Bestien und seine Verrückten hervor.“ Diese Beschreibung des Zustands in Deutschland nach 1933 — zugleich ein Exempel für das Deklassierungs-Paradigma — aus der Sicht Heinrich Manns mißt natürlich die Erscheinungsweise des Nazis an den propagierten Selbstbildern.

Dazu fühlen sich viele Autoren zu Recht verlockt. Doch Heinrich Mann, dem Autor des Untertan, ist klar, daß Opposition über diese Stufe des Reflexes auf den kaum glaublichen Erfolg des Nationalsozialismus hinaussteigen muß. Zunächst scheint das, was vor dem Über-fall in die Fremde gerettet wird, ein leichtes Gepäck zu sein: die Freiheit des Geistes, die vom „Haß" der „nationalen Revolution" verfolgt wird, die Wahrheit, die im Widerspruch zur Propagandalüge behauptet werden will. Heinrich Mann weist sich und seinesgleichen anfangs nur eine verzweifelt bescheiden wirkende Aufgabe zu: „Wir können uns nur in Geduld fassen (...). Ich wahre meine persönliche Aufrichtigkeit und wache über ein paar Funken der Wahrheit, die in keinem Fall nur deutsch ist (.. .)." Die Geschichte scheint zurückgedreht worden zu sein. Wenn in Deutschland (und anderswo) eine . barbarische', . bestialische'Vorvergangenheit wieder ins Leben tritt, muß das in der Geschichte Erworbene: die Kultur als Gedächtnis, geschützt und gerettet werden. Wenn einst in der Weimarer Republik, im Bewußtsein, moderne Standpunkte erreicht zu haben, von Wahrheit und Gerechtigkeit noch relativistisch oder ironisch gesprochen worden ist — das Exil in der Opposition entdeckt die großen, einfachen Worte und Ideen wieder. Thomas Mann gesteht seinem Sohn Klaus Mann (in einem Brief vom 3. 12. 1936) nach der Lektüre von dessen Roman Mephisto: „Unsere Zeit hat das Böse wieder entdeckt (es hat sich ihr ja kräftig genug aufgedrängt und zu erkennen gegeben), und wenn sie über das Gute nicht ganz so wohl Bescheid weiß, so unterscheidet sie es doch mit stärkerem und schlichterem Gefühl, als skeptische Epochen, von jenem. Die größere Schlichtheit und Gefühlsstärke im Moralischen, der fast kindlich märchenhafte Blick auf Das Böse'ist das Neue und Zeitcharakteristische."

Als eine Chance der Vertreibung stellt sich etlichen Emigranten — zumindest in den ersten Jahren des Exils — die Möglichkeit der fundamentalen Besinnung und der Neugewichtung der Werte dar. Ein „Sinn der Emigration“ (Heinrich Mann) besteht, so erklären viele, in der Überwindung alter Zwiste und . Grenzstreitigkeiten', im Abwerfen unwichtig gewordener Loyalitäten (insbesondere zielt dies auf die beiden Arbeiterparteien SPD und KPD, deren interner Konflikt sie von massiver Gegenwehr gegen den Nationalsozialismus abgehalten hat). Heinrich Mann, der wegen seines nachdrücklichen Eintretens für Einigkeit unter den Geflüchteten zu der einflußreichsten und beachtetsten Stimme des Exils in den dreißiger Jahren wird, betont, deutsche Emigranten sollten nie vergessen, „daß sie Republikaner sind" und „zuerst die Republik verloren haben" Das Gemeinsame, Verbindende werde durch die neue Situation geschaffen: „Der Einzelne ist nicht zuerst Marxist, Jude, Hand-oder Kopfarbeiter: vor allem ist er Emigrant." Der Geistes-Aktivismus scheint dem Exil aufgetragen zu sein — wie der Widerstand in anderer Form den in Nazi-Deutschland Zurückgebliebenen. Solcher Logik der Counterbalance, des Ausgleichs staatlichen Terrors in Deutschland durch die Ideen der „Vernunft und der Menschlichkeit" im Exil, entspricht das „Bekenntnis zum übernationalen“ (Heinrich Mann), da doch die Nation von den Nationalisten okkupiert worden ist. Dem entspricht auch die Erinnerung an ein . anderes', ein . ewiges Deutschland'(der Dichter und Denker — um eine Kurzformel zur raschen Charakteristik dieses Komplexes zu gebrauchen), das nicht mit dem brutalen Machtstaat, der Diktatur, in Verbindung gebracht werden darf. Schließlich liegt es in der Konsequenz dieses Aktivismus, zur „Verteidigung der Kultur" aufzurufen, der auch der Erste Internationale Schriftsteller-Kongreß in Paris 1935 gilt. Globale Gesinnung in idealistischer Färbung kennzeichnet das Ethos des frühen Exils. Bewußt oder unwillentlich ist es an den Gegner, die Realität des Dritten Reiches, fixiert, riskiert es manchmal, sich in das polemische Feld, das Goebbels bereitstellt, hineinreißen zu lassen, formuliert jedenfalls tendenziell seinen Einspruch . kontradiktorisch', auch in begrifflichen Oppositionen. Erst allmählich löst sich die Argumentation des Exils aus dieser Bindung — und assimiliert sich, wie die Emigranten selbst, an andere Denkordnungen, Wertsysteme und gibt auf diese Weise die nach Jahren der Flucht gewonnene Distanz zum . Fall Deutschland'zu erkennen.

In der ersten Periode nach 1933 ist manchen Emigranten wohl bewußt, daß auch sie sich „Versagen" vorwerfen müssen. Sonst wäre es ja nicht zur Machtergreifung gekommen. Kurt Tucholsky fragt die Exilanten ingrimmig (in einem Brief an Arnold Zweig vom 15. 12. 1935), wie sie jetzt wohl den Nationalsozialismus von . draußen'bekämpfen wollen, da ihnen dies doch schon mißlungen ist, als sie noch im Lande selbst gewesen sind, unter-stützt durch Organisationen, relativ geschützt durch die Republik. Ernst Bloch, der scharfsichtige Philosoph, kritisiert wiederholt den flachen Rationalismus der politischen Aufklärung’ vor 1933, der die Menschen in ihrer leidvollen Not verfehlt, die Schicht ihrer Wünsche und Träume nicht erreicht, Emotionen ignoriert habe — die nun statt dessen die Nazis sehr wirkungsvoll ansprechen. Der Marxist Bloch meint die Aufklärung durch die Linke. Aber gilt diese Warnung nicht allgemein — die Warnung davor, nicht die „Massenphantasie unterernährt" zu lassen In Blochs Aufsatz „Originalgeschichte des Dritten Reichs" (1937) leuchtet sogar ein christlich-abendländischer Horizont auf — auch darin bezeichnend für den bewahrenden, . konservativen'Geistes-Aktivismus des Exils in den ersten Jahren nach der Vertreibung: „Derart ist der Nebel nicht ein und alles in den alten Träumen (seien es die politisch-chiliastischen, seien es die nur scheinbar individuellen der mystischen Knechtzerbrechung, Sohnwerdung, der Ladung mit immanenter Herrlichkeit). So paradox es daher klingen mag: ein großer Teil des revolutionären Stolzes kam erst durch die deutsche Mystik in die Welt, und christlich-humane Utopie spielte ihr vor.“ Klaus Mann faßt seine Bedenken gegen die „kämpferische Taktik" in der Weimarer Zeit und das puritanische, eindimensionale Menschenbild, das ihr zugrundeliegt, auf dem Pariser Kongreß in folgende Worte: „Es muß ein Versagen vorliegen — auf unserer Seite. Wir müssen abgestoßen haben, gerade dort, wo wir gewinnen wollten. Ich finde nur eine Antwort, nur eine Erklärung: Man hat den Begriff des Sozialismus, den Begriff der Zukunft, für die sich erst der Kampf lohnt, die zum Kampf begeistert, zu eng gefaßt. Man ist der europäischen Jugend etwas schuldig geblieben. (...) Die Linke (...) konzentrierte ihr Pathos, ihre Propaganda und ihre Prophetie viel zu ausschließlich auf das Wirtschaftliche." Aber diese Ausrichtung „beantwortet nicht alle Fragen", „wird nicht jeder Sehnsucht gerecht". Auch Klaus Mann (wie Bloch, wie Thomas Mann u. a.) verlangt ein neues „mehrals-materialistisches Pathos" das er im Hinblick auf Frankreich und die Sowjetunion im . sozialistischen Humanismus" eingelöst sieht, den er als Friedensbotschaft fast im Propheten-und Bibelton, als Oppositionslehre im Gegensatz zur üblen Nazipraxis feiert: „Wo jener vergewaltigt, wird er verbinden; wo je-ner vermischt, wird er rein halten (...) Wo jener grausam ist, wird er milde sein (...). Er wird ausrotten das Gift des Nationalismus und der Rassenvorurteile, mit dem der Faschismus seine Gläubigen nährt (. ..).“ Der sozialistische Humanismus begreift nach Klaus Mann in sich das ganze, „gespannte, lustvolle, reiche und problematische, gesegnete, schwierige und geheimnisvolle Leben" Die relative Abstraktheit dieses Konstrukts fällt ebenso auf wie seine Präzisierung durch die Bildung von . Antithesen'zum Nationalsozialismus, die religiöse Aufladung und Akzentuierung des Lebensbegriffs ebenso wie die Aussparung aller politisch gangbarer Wege, die zu diesem Ziel führen.

Wunschdenken — der Vorwurf ist berechtigt und trifft die praxisferne Philosophie (durch die Exilsituation abgenötigte Praxisferne) des aktivistischen „militanten Humanismus" der im Exil in den dreißiger Jahren weit verbreitet ist. „Noch vor drei Jahren sagte man einem deutschen Studenten weniger als Nichts, wenn man ihm das Wort Humanismus nannte; er lächelte nicht einmal ironisch. Heute bringt derselbe Student jeden auf den Richtblock, der dies Wort ausspricht; so viel Leben hat es wieder gewonnen. Oder er bewahrt, wenn er schon aufgewacht ist, diese vier Silben als Dynamit in der geheimsten Kammer seines Herzens." Diese Äußerung von Ludwig Marcuse markiert, in welcher Weise eingreifend sich das Exil die Effektivität der einfachen großen Worte des militanten Humanismus vorstellte.

Der militante Humanismus spricht auch von Kampf— diese Vokabel aus dem politischen Wortschatz der zwanziger Jahre findet sich häufig in der Publizistik der Emigranten —, meint mit Kampf aber nicht den Krieg. Kampf ist ein Ausdruck für radikales, das Leben einsetzendes Engagement (um das moderne Schlagwort zu nennen). So wird in Lion Feuchtwangers Nachruf auf Carl von Ossietzky der mutige Dulder, der höchst bewußt und entschieden nicht vor Hitler geflohen ist, um ihm als Gefangener , zur Last'zu fallen, gleichfalls zum Kämpfer: „So gewaltlos Ossietzky seinen Kampf führte, er wußte, daß es ein Kampf war (...): , Ich, der Pazifist, reihe mich ein in das große Heer, das für die Frei-heit kämpft." Zum Krieg heißt es schon bei Heinrich Mann 1934: „Die Emigration will keinen Krieg gegen ihr Land. Der leidenschaftlichste Wunsch, daß kein Krieg komme, ist gerade bei ihr. Das Gegenteil wird ihr nur unterschoben von einem Hitler in seinen Ausbrüchen von Wut oder Angst.“

Die Emigration hoffte vielmehr auf die Opposition in Deutschland selbst, wobei recht unklar bleibt, wer wie wann diesen Aufstand oder Umsturz leisten sollte. Klaus Manns Formulierung — „wenn die Stunde seines (Deutschlands) eigentlichen Erwachens endlich, endlich gekommen ist“ — läßt die Frage nach den Umständen dieses Erwachens völlig offen. Die Renaissance religiöser und demokratischer Traditionen im Denken des Exils soll aber nicht voreilig als unpolitisches Spiel disqualifiziert werden. Der Glaube an die Macht der Ideen, der Worte ist ja auch durch den Anblick dessen verstärkt worden, was sich in Deutschland ereignet: des Triumphs der Lügen, die dem deutschen Volk zugemutet werden, die aber schon bei leichter Prüfung durchschaubar sind — offenbar aber werden sie zu selten durchschaut. Doch der im Dritten Reich demonstrierte Einfluß der Demagogie und Propaganda macht plausibel, daß die Emigranten es wagten, den Widerspruch durch Rede und Gegenpropaganda zu versuchen und sogar hofften, sie würden mit Verstand und Gefühl gehört werden. Schließlich sind auch die im engeren Sinne politischen Kalküle des Exils nicht aufgegangen: Die Idee einer Einheitsfront gegen Hitler-Deutschland, das Experiment der Volksfront haben sich nicht oder nur vorübergehend verwirklichen lassen. Die vor 1933 durch heftige, aggressive Fehden bewirkte Spaltung zwischen den politischen Fraktionen war auch im Exil nicht so ohne weiteres zu überbrükken, das durch Jahre gewachsene gegenseitige Mißtrauen (etwa zwischen der Exil-SPD und der Exil-KPD) nicht auszuräumen.

Zu den wenigen gemeinsamen Aktionen gesellte sich also als programmatische Klammer das Konzept des Geistes-Aktivismus — auch oder gerade, weil die Einlösung so unbegründeter Hoffnungen auf eine Verwandlung und Rettung Deutschlands von innen her nicht absehbar war. Und doch ist diese Hoffnung gleichsam ein Stabilisierungsfaktor der intellektuellen Gegenwehr gegen den Nationalsozialismus bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs, ja noch bis in die ersten Kriegsjahre hinein: Dies bezeugen etwa die politischen Reden Paul Tillichs, die er über die „Stimme Amerikas“ an deutsche Hörer richtete. Solange an den (weit überschätzten) Widerstand im Lande geglaubt wurde, so lange bestand auch die These vom Unterschied zwischen deutscher Nation und Nazitum, zwischen dem Volk, geknechtet, aber bereit zum Aufstand gegen seine Unterdrücker, und dem ausbeutenden Terror-Regime der Nazis — die sich, wie Ernst Bloch es ausdrückt, das deutsche Volk vorgeschnallt hätten „wie ein Mörder eine Geisel“ Noch 1938, in seiner Rede vor amerikanischem Publikum: „Vom kommenden Sieg der Demokratie“, zweifelt Thomas Mann nicht daran, daß der äußere Krieg für Nazi-Deutschland „sofort“ auch den Bürgerkrieg im Lande selbst auslösen würde: Der Faschismus würde im offenen Krieg „den starken Anteil, den Lüge und Vortäuschung an seinem . totalen'Staat haben, rasch augenfällig werden lassen, die niedergehaltenen Kräfte menschlicher Freiheit würden durch den ersten Rückschlag, den die Tyrannei erlitte, unfehlbar entbunden werden“ Mit dieser Meinung sekundiert er stillschweigend der These seines Bruders Heinrich und Vieler anderer, auch und gerade kommunistischer Emigranten, die sich nicht wie Herbert Wehner an Ort und Stelle vom Mißlingen oder der Partikularität des Widerstands in Deutschland überzeugt hatten. Heinrich Mann fordert, mehr noch: beschwört 1936, daß die Deutschen im Lande selber ihren . Krieg'für die Freiheit führen sollen: „Kaum, daß sie losschlagen, schon wird der Abenteurer keinen Befürworter mehr haben (...). Er wird erst recht niemand finden, der herbeieilt und für ihn die Haut wagt (...). Die Deutschen müssen nur losschlagen, ein Aufatmen ohnegleichen geht alsbald durch die Welt.“

In den Kriegsjahren kam dieser Glaube an die zwei Deutschland dann ins Wanken, zumal in Anbetracht der Tatsache, daß der Krieg so lange dauerte und das deutsche Volk dem Regime offenbar die Treue hielt. Die intellektuelle Verteidigung gegen Deutschland nach 1939 galt nicht nur dem Regime, in zunehmendem Maße auch dem ganzen Volk. Spekulationen über den deutschen Nationalcharakter identifizierten in ihm nun auch eine faschistische Komponente — wie Thomas Mann in seinem Roman Doktor Faustus — oder glichen ihn dem alten Feindbild vom grausamen, kampflüsternen . Hunnen'an, anknüpfend an englische Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg. So verfuhr etwa Lord Vansittart (und der nach ihm benannte Vansittartismus). Damit war der Kollektivschuld-These die Tür geöffnet.

II. Der Anti-Isolationismus der Emigranten und das Übel der Neutralität

Solange sich die Exilanten mit Deutschland als ihrem Land identifizierten, so lange auch fürchteten sie den Krieg zwischen den Nationen, den faschistischen und den anderen Staaten, als eher „verbotene" Lösung (H. Mann) denn als ultima ratio. Die Loyalität des Exils, Deutschland gegenüber empfunden und ausgedrückt, ließ den militanten Humanismus zugleich . pazifistisch'votieren. Pazifistisch ist hier nicht in dem Sinne eines grundsätzlichen Gewaltverzichts zu verstehen, denn es geht ja dem Exil gerade darum, sich gegen die Gewalt des Dritten Reichs zur Wehr zu setzen und die Sache der Gerechtigkeit einzuklagen, sondern in dem Sinne, daß eher der Bürgerkrieg, die Erhebung in Deutschland selbst, als die Wiederholung eines Weltkriegs erwartet wird.

Im September 1938, in dem das Münchener Abkommen zwischen Hitler, Chamberlain und Daladier nach den Begegnungen in Berchtesgaden und Bad Godesberg den Kriegsfall gerade noch verhindert, wenn auch dabei ein erheblicher Teil der Tschechoslowakei dem Dritten Reich geopfert wird, summiert Hermann Budzislawski, Redakteur der „Neuen Weltbühne", der neben dem „Neuen Tagebuch" von Leopold Schwarzschild wohl bedeutendsten politisch-kulturellen Exil-Zeitschrift, die Versäumnisse und die Perspektiven der politischen Gegenwehr gegen Nazi-Deutschland: Er konstatiert erstens — und Ende der dreißiger Jahre ist dies ein Gemein-platz der Exil-Kommentare —, das große Versäumnis, daß eine „Weltkoalition gegen Hitler“ schon zu Beginn des Dritten Reichs hätte gebildet werden müssen und nicht gebildet worden ist. Er betont zweitens, daß sich nur noch die Alternative: Umschwung in Deutschland oder europäischer Krieg, stellt „Es wäre töricht, würde die deutsche Opposition auf den Krieg spekulieren, und sie tut es nicht, hat es nie getan. Im Gegenteil, sie hat alles versucht und versucht auch heute alles, dieses barbarische Unheil, das ganz Europa und in besonderem Maße das deutsche Volk träfe, mit allen Kräften zu verhüten. Die Bomben treffen Fascisten und Antifascisten, und sie würden unser aller Heimat verwüsten (gemeint ist Deutschland). Ja, der Krieg würde Hitler stürzen — aber (...) die friedliche Beseitigung dieses Regimes brächte uns unermeßliche Vorteile. Ein Reich könnte wieder erstehen, auf dem nicht die schreckliche Hypothek der Kriegsschuld lastete, und die der Kriegsschulden."

Die Rückkehr in ein über Jahre hin von Terror und endlich von Bomben verunstaltetes Land fällt den Emigranten sehr schwer. Viele erwerben nach der Flucht vor deutschen Truppen, die sie den europäischen Kontinent zu verlassen zwingt, neue Staatsbürgerschaften — wenn sie nicht vorher sterben, verhaftet und in Konzentrationslager überführt werden oder ihrem Leben selbst ein Ende setzen. Viele finden nach 1945 nicht mehr oder nur zögernd zurück. Selbst manche kommunistische Exilanten spüren die Fremdheit im Vaterland, obwohl sie doch an der Differenzierung von Nationalsozialisten und der . Mehrheit der Deutschen'bis zum Schluß festhalten: Brechts Arbeitsjournal enthält einige Aufzeichnungen über die Beunruhigung des Heimgekehrten in Ostberlin — angesichts der jungen Deutschen, die nun sein Publikum bilden. Den Krieg also fürchteten die Emigranten vor allem. Und in dieser Furcht zeigte sich ihr Realitätssinn. Krieg bedeutete für sie Hitler — auch dies ist allgemeines Urteil schon vom ersten Tag der Flucht an. Denn gegen sie selbst war bereits der . Krieg'eröffnet worden. Der Nationalsozialismus in seiner selbsternannten chauvinistischen Rächer-funktion (um die . Schmach'des Friedens von Versailles von 1919 fortzuwischen), in seinem . fanatischen'Rassismus und extremen Haß auf realitätsfälschende Feindbilder (Bolschewisten oder Juden), in seinen wahnhaften Ansprüchen, z. B. auf neuen Lebensraum, in seinen verstiegenen Größenideen usw. enthüllte ihnen, den Verfolgten, unzweideutig die Mechanik eines auf den Krieg zusteuernden Systems. Kriegsgefahr und Nationalsozialismus verschmolzen im Blick der Exilanten in eins. Sie erkannten — und wurden dadurch in Paris oder London zu unbeliebten Mahnern —, daß der Faschismus durch Kriegsdrohungen die Demokratien erpreßte. Sie bedauerten, insbesondere in der . Vorkriegszeit'seit 1936, daß sich die anderen Staaten erpressen ließen. Kulminationspunkt dieser zumal von England befolgten Appeasement-Politik war eben das Münchener Abkommen vom September 1938, das auf Kosten der republikanischen Tschechoslowakei ging — einem der bis dahin politisch freizügigsten und daher geschätztesten Exilländer. Zuvor war ja schon, so meinten die Emigranten, diese Politik auf Kosten des unterdrückten deutschen und nach 1936 auch des spanischen Volkes gegangen, das sich während des Bürgerkriegs im Namen der rechtmäßigen Republik gegen den Putschisten Franco zur Wehr setzte.

Etliche Emigranten meinten ferner zu erkennen, daß weniger der . Pazifismus'als vielmehr ganz andere Motive die am Ende sowieso erfolglose Beschwichtigungsstrategie der englischen Regierung, das „untätige Zusehen" (Thomas Mann) der Demokratien angesichts der nationalsozialistischen Rechtsverstöße und Vertragsbrüche bestimmten. Die Zustimmung zur Abrüstung war in England Mitte des Jahrzehnts außerordentlich stark. Arthur Koestler notiert noch im zweiten Teil seiner Autobiographie, in „The Invisible Writing” (Die Geheimschrift), daß eine Friedensresolution in England 1935 elf Millionen Unterschriften, mehr als die Hälfte aller Wählerstimmen, erhalten habe Doch die Emigranten empörte, daß offenbar nicht Friedenswille, sondern Vorstellungslosigkeit und eine kaum verhehlte Sympathie der Machtelite mit dem Nationalsozialismus, endlich die Annahme, daß das Dritte Reich ein Bollwerk gegen den Bolschewismus sei, bei diesen isolationistischen Entscheidungen ausschlaggebend gewesen waren.

Wie scharf die Urteile über diese Formen des Verhandelns mit dem Gegner Nationalsozialismus ausgefallen sind, mag etwa eine Aussage des sonst so bedächtigen Thomas Mann veranschaulichen. Seine zornig-spöttische Glossierung des Appeasements trägt den Titel „Dieser Friede": „Die psychologische Bereitschaft Europas für die faschistische Infiltration in politischer, moralischer und intellektueller Beziehung habe ich nicht unterschätzt. Was ich allerdings (...) unterschätzt habe, war die Schnelligkeit, mit der der Prozeß sich vollziehen sollte (.. .)." Und er fährt später fort: „Nie war der Friede nur durch den Verrat, durch Preisgabe der Ehre" zu retten Ernst Bloch, schon in New York und in Berührung mit amerikanischen Einstellungen, wägt ab, daß der Isolationismus zwar . Abscheu gegen den Nazi" gestatte, ihn, den Nazi, aber zugleich ermutige: „Nichts ist menschlicher, als daß ein Volk sich für fremde Angelegenheiten nicht in den Krieg treiben läßt (...), Aber der Isolationismus als Prinzip ist etwas anderes als Pazifismus, denn er enthält in sich die kalte Schulter. Er macht aus der geographischen Entfernung eine astronomische, aus dem Frieden der Distanz eine Brutalität, aus dem Pazifismus Ermutigung zum Krieg, eine umgekehrte Kriegshetze." Daß den aufgerufenen Demokratien die möglichen Folgen der Intervention vielleicht als unannehmbar erschienen sein mögen, gesteht Klaus Mann ein, noch empfindlicher für dieses Problem, als Bloch es im zitierten Text ist. In seiner Flugschrift „An die Schriftsteller im Dritten Reich“ (1939) ermahnt Mann die Deutschen zur Rebellion: „In sich selber haben die Deutschen ihren Feind zu suchen, nirgends sonst“ Ein französischer Schriftsteller habe ihm, Klaus Mann, von Begegnungen in Berlin erzählt, von „Intellektuellen und Proletariern“, die gegen Hitler seien: „Sie hoffen, der Krieg werde kommen, mit ihm die Niederlage — und das Ende Hitlers. Ein junger Deutscher, leidenschaftlicher Anti-Nazi, erklärte dem französischen Dichter:, Wir warten auf unser Sedan. Aber das ist entsetzlich! Und übrigens, welch phantastische Naivität: einem französischen Patrioten mitzuteilen, die Jugend Frankreichs werde auf die Schlachtfelder müssen, Paris und Nizza sollten bombardiert werden — damit sich die Deutschen ihres Hitlers entledigen!" Andererseits merkt Mans Sperber in seiner Autobiographie an, daß auch die Emigranten als lästige Warner, als „Überbringer einer schlechten Botschaft“, selbst in den Verdacht gerieten, „an dem Unglück mitschuldig zu sein" von dem sie berichten: Flüchtlinge erwecken den Anschein, Kriegshetzer zu sein. Der bedeutende Theaterkritiker und politische Publizist Alfred Kerr, der 1936 in England ankommt und dort bleibt, protokolliert in seinem nachgelassenen Tagebuch „Ich kam nach England" sehr genau, wie bedrückend es für ihn ist, der Untätigkeit dieser dominierenden westlichen Demokratie als Gast im Lande, fast zum Stummsein verurteilt, zusehen zu müssen. Für ihn heißt neutral bleiben bei der Konfrontation mit dem Dritten Reich: „Deserteur sein" Mit betroffenem Unwillen stellt er bei vielen „englischen Halbfascisten der besitzenden Klasse" fest, die erst allmählich patriotischen Gefühlen weiche: Jeh bin übrigen seiner (Ludwig Renn) Ansicht: daß ein bedingungsloser Pazifismus -un möglich gemacht ist — von den Mächten der protzenden Fäulnis. Ein Schmerz über dies grausige Dilemma bohrt nagt in jedem und von uns. Nicht zuletzt in jedem, einen der Sohn zu verlieren hat." Doch Kerrs Aufzeichnungen formulieren 1939 nach Kriegsausbruch auch den „Dank an England": „September 1939. Zurück in London. Die fällige Zeitungsnachricht: . Hitler hat Polen angefallen; französisch-englisches Ultimatum an Berlin'. Endlich! Also Krieg. Daß man ein Unglück herbeiwünschen kann — weil ein anderes Unglück noch grausiger wäre! Schuld hat der Zuchthäusler, den Deutschland ... nicht nur erduldet hat, auch geduldet hat. Ist sondern beides zu trennen?" Hier wird der Zweifel sichtbar, daß aus Deutschland selbst noch Hilfe zu erwarten sei.

Alles dulden heißt für Kerr, mitschuldig zu werden. Hat für ihn und für andere Emigranten der Kriegsausbruch die Fronten in großer Schärfe erhellt und ambivalente Gefühle hervorgerufen, so ist doch die Zeit davor bei den wenigsten durch fatalistisches Warten auf den scheinbar unvermeindlichen Krieg ausgefüllt. Vielmehr herrscht die Auffassung vor, daß der Nationalsozialismus bei jedem ernsten Widerstand zurückweichen werde. Für Heinrich Mann ist das selbstbewußte, Göring überlegene Verhalten Georgi Dimitroffs beim Reichtagsbrandprozeß vor dem Leipziger Gericht ein solches Beispiel. Für Ernst Bloch ist der „faschistische Nimbus“ im spanischen Bürgerkrieg in den ersten verlorenen Schlachten entzaubert worden. Hinter den Drohgebärden Nazis verberge sich Angst, der sie entlarven sich bei energischer Gegenwehr als leere Gestik, meinen die einen; andere nehmen die fatale Dynamik dieses Unwesens „permanenter Explosion" ernster. Ernst Bloch rät: „Die Faust unter die Nase und das Bestiarium weicht zurück (.. .)."

Sich von den Nazis nicht einschüchtern zu lassen und mit den schlechten Absichten der Gegenseite rechnen — so lautet die Devise des Exils in den dreißiger Jahren, die nach dem Urteil der Emigranten von den Demokratien zu wenig beachtet und befolgt worden ist. Die deutsche Opposition extra treibt muros nicht zum Krieg, aber fordert Kampf und Widerstand, verlangt Beweise der Entschlossenheit, internationale Bündnisse gegen Nazi-Deutschland und attackiert die „Nicht-Interventionskomödie"

(Thomas Mann). Sie beklagte bei dem, was sich damals als Pazifismus gerierte, die Wirklichkeitsfremdheit. Nicht son den wahren Friedenswünschen, -dern den Illusionen über den Gegner sei die Steigerung der Kriegsgefahr zu verdanken. Der pazifistische Pädagoge (und rigorose Preußenhasser) Friedrich Wilhelm Foerster meint damals, daß die Bereitschaft zur „gerechten Abwehr im Völkerleben" keineswegs zum Kriege führen müsse und empfiehlt den Demokratien kräftig aufzurüsten. Der Gegner solle nur Furcht vor seiner gewissen Niederlage bekommen. Diese frühe Formulierung einer Art Abschreckungstheorie gewinnt ihre eigenartige Schärfe durch die Dämonisierung des oder Entmenschlichung Gegners und die Konzentration auf Hitler: „, I 1 causer soll dabei herauskommen? faut avec Hitler'. Was Man plaudert doch nicht mit den Dämonen. Hitler ist der Besessene eines weltgeschichtlichen Wahns, er ist die Lava aus dem deutschen Vulkan, die langsam vor-schreitend zu den Dörfern herunterwallt. Wollen Sie, werte combattants, mit der Lava reden, ob sie nicht besser anhalte oder umkehre?"

Diese Formeln militärischer und „geistiger Defensive“ (Friedrich Wilhelm Foerster) erhellen, wie nachdrücklich sich die Emigranten in die Angelegenheiten ihrer Asylländer eingemischt und wie sehr sie ebensolche Einmischung in die inneren Verhältnisse des Dritten Reichs gefordert haben. Auch in der Tradition des deutschen Pazifismus vor 1933 ist das Prinzip der non-resistance durchaus nicht selbstverständlich. Der Aufruf zum Widerstand, zum „Wehrt Euch!" (Heinrich Mann) gewinnt nun eine außenpolitische Dimension. Der Anti-Isolationismus des Exils greift so tief, daß in zahlreichen politischen Schriften der Emigranten der Verzicht auf das Prinzip der Souveränität selbstherrlicher Staaten propagiert wird. Die Überlegungen des politischen Denkers (nicht des Romanciers) Hermann Broch kreisen um die Idee der relativierten Hoheitsrechte der Nationen. Diese Idee ist bei ihm und weiteren Autoren auf der einen Seite mit dem Konzept eines „Parlaments der Nationen", eines „Weltbunds für den Frieden“, einer „universalen Volksfront" (Heinrich Mann) oder eines wirksamer arbeitenden Völkerbunds verbunden: einer Organisation, der vielleicht sogar die militärische Exekutivgewalt übertragen werden könnte, auf der anderen Seite mit dem Konzept einer wehrhaften, ja vielleicht sogar „totalen Demokratie" (Hermann Broch), die die Übertretung von Gesetzen zum Schutz der Menschenwürde mit Strafsanktionen ahndet. Durch solche . verfassunggebenden'und juristischen Überlegungen zu einer besseren Regelung der Welt versuchten einige Autoren aus dem Eindruck der Schwäche zu lernen, den die traditionellen Demokratien auch nach ihrem Urteil in den zwanziger und dreißiger Jahren erweckt hatten. Ihre Korrekturen signalisierten, daß die Ära der National-staatlichkeit, der seinerzeit oft als anarchistisch verstandenen Konkurrenz zwischen den Ländern, an ihr Ende gekommen zu sein schien. Im Exil formte sich ein neues überstaatliches, übernationales Ethos, das der 30

Nachkriegszeit überliefert wurde. Bedroht durch den Verfolger Nationalsozialismus, entwickelten die Emigranten eine politische Philosophie, die Hoffnung auf globale Sicherheitsnetze, Föderationen der Völker, Großformen der Kontrolle, Demokratien, die zur rigiden Verteidigung der Humanität bereit und fähig seien, und auch auf den internationalen Sozialismus setzte. Zugleich wurde die Politik der Neutralität als Verkleidung einer verderblichen Apathie diskreditiert — allerdings im Hinblick darauf, daß die Rechtspositionen klar verteilt zu sein schienen: hier die Sache der Gerechtigkeit, dort das erwiesene Verbrechen. Nicht so selten redete man vom Kreuzzug gegen die Faschisten (schon bevor dies General Eisenhower tat). Gustav Regler zum Beispiel nannte seinen Roman über den Spanienkrieg The Great Crusade, Stefan Heym sein Buch über den Vorstoß der amerikanischen Truppen an der Westfront The Crusaders. Einige Exilanten wagten dagegen schon in den vierziger Jahren zu differenzieren. Der Exkommunist Arthur Koestler sprach sogar vom Kampf einer Halbwahrheit gegen die Lüge. Dies war ein Zeichen: Der Krieg und der Nachkrieg, zumal der Ost-West-Konflikt, verwirrten die Lage, die den Emigranten vor 1939 vergleichsweise noch als eindeutig galt. Ihre Erfahrungen und Erkenntnisse waren schon bald von der Geschichte überholt. Dieser Umstand erschwert deren Übertragbarkeit — auch auf die Situation heute. Und es vertieft die Tragik des Exils, daß die Standorte dieser Intellektuellen der Gegenwart nicht unmittelbar verständlich sind. Sich im politischen Tagesstreit auf sie zu berufen oder gegen sie Stellung zu nehmen, führt ohne die Mühe der Annäherung zu fragwürdigen Analogieschlüssen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. H. Abosch, Die Linke und das NS-Phänomen, in: In. Koebner (Hrsg.), Weimars Ende, Frankfurt/M. 1982, S. 21-33.

  2. K. Mann, in: W. Klein (Hrsg.), Paris 1935. Erster nternationaler Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur. Reden und Dokumente, Berlin (Ost) 1982, S. 157.

  3. H. Mann, Im Reiche der Verkrachten, in: Die neue Weltbühne, (1933), S. 1018.

  4. H. Mann, über die erniedrigte Intelligenz (zuerst veröffentlicht 1933), in: Verteidigung der Kultur. Antifaschistische Streitschriften und Essays, Hamburg 1960, S. 320.

  5. L. Marcuse, Idee und Propaganda, in: Die neue Weltbühne, (1934), S. 272— 276.

  6. K. Mann, Briefe und Antworten, Bd. 1„ München 1975, S. 274.

  7. H. Mann und ein junger Deutscher, Der Sinn dieser Emigration, Paris 1934, S. 13.

  8. Ebd., S. 14.

  9. E. Bloch, Vom Hasard zur Katastrophe. Politische Aufsätze 1934— 1939, Frankfurt/M. 1972, S. 314.

  10. Ebd. S. 315.

  11. K Mann, a. a. O. (Anm. 2), S. 153.

  12. Ebd., S. 155.

  13. Ebd., S. 156.

  14. Ebd., S. 157.

  15. Th. Mann, Achtung Europa! (zuerst veröffentlicht 1935), in: H. Bürgin (Hrsg.), Politische Schriften und Reden, Frankfurt/M. 1968. Bd. 2, S. 324; auch L. Marcuse, Der Fall Humanismus, in: Das Neue Tagebuch, (1935), S. 681— 693.

  16. L. Marcuse, a. a. O. (Anm. 15), S. 693.

  17. L. Feuchtwanger, Der Realist, in: Die neue Welt-bühne, (1938), S. 579.

  18. H. Mann, Der Sinn dieser Emigration, a. a. O. (Anm. 7), S. 42.

  19. Th. Mann, Politische Schriften, Bd. 3, a. a. 0. (Anm. 15), S. 29.

  20. H. Mann, Der Weg der Arbeiter, in: ders., Politische Essays, Frankfurt/M. 1970, S. 175.

  21. H. Budzislawski, Am Kreuzweg, in: Die neue Weltbühne, (1938), S. 1143— 1151, hier: S. 1147.

  22. Ebd., S. 1150.

  23. A. Koestler, Die Geheimschrift, Wien u. a., S. 196. Zur Situation in England vgl. G. Schmidt, England in der Krise. Grundzüge und Grundlagen der kritischen Appeasement-Politik (1930— 1937), Opladen 1981.

  24. Th. Mann, Politische Schriften, a. a. O. (Anm. 15), S. 38.

  25. Ebd., S. 45.

  26. E. Bloch, a. a. O. (Anm. 9), S. 393.

  27. K. Mann, Die Heimsuchung des europäischen Geistes. Aufsätze, München 1973, S. 105.

  28. M. Sperber, Bis man mir Scherben auf die Augen legt. All das Vergangene, München 1977, 1982, S. 79.

  29. A. Kerr, Ich kam nach England. Ein Tagebuch aus dem Nachlaß, hrsg. v. W. Huder und Th. Koebner, Bonn 1979, S. 148.

  30. Ebd., S. 176.

  31. Ebd., S. 187.

  32. Ebd., S. 197.

  33. E. Bloch, a. a. O. (Anm. 9), S. 186.

  34. $) Ebd., S. 220.

  35. F. W. Foerster. Europa und die deutsche Frage, Luzern 1937, S. 433.

  36. Ebd., S. 443.

  37. Zum Pazifismus in Deutschland vgl. F. -K. Scheer, Die deutsche Friedensgesellschaft (1892 bis 1933). Organisation, Ideologie, politische Ziele. Ein Beitrag zur Geschichte des Pazifismus in Deutschland, Frankfurt/M. 1981.

  38. H. Broch, Politische Schriften. Kommentierte Werkausgabe, hrsg. v. P. M. Lützler, Bd. 11, Frankfurt/M. 1978.

Weitere Inhalte

Thomas Koebner, Dr. phil., geb. 1941; Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie in München; Professor für Neuere deutsche Literatur (mit dem Schwerpunkt Medienwissenschaft) an der Philipps-Universität Marburg. Veröffentlichungen u. a.: Hermann Broch, 1965; (Hrsg.) Tendenzen der deutschen Literatur seit 1945, 1971; (Hrsg.) Weimars Ende. Prognosen und Diagnosen in der deutschen Literatur und Publizistik 1930— 1933, 1982; (Hrsg.) Zwischen den Weltkriegen. Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 20, 1983; Mitherausgeber des Jahrbuchs für Exilforschung, zahlreiche Studien zur Literatur des 18. und 20. Jahrhunderts, zur Theater-und Filmgeschichte.