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Die Krise des Parlamentarismus und Chancen zu ihrer Überwindung. | APuZ 6/1985 | bpb.de

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APuZ 6/1985 Die Krise des Parlamentarismus und Chancen zu ihrer Überwindung. Ist der Deutsche Bundestag seiner Aufgabe gerecht geworden? Viel Kritik und wenig Krise Wir haben noch keine Parlamentarismuskrise Ohne Basisdemokratie stirbt das Parlament Haben wir eine Krise des Parlaments?

Die Krise des Parlamentarismus und Chancen zu ihrer Überwindung.

Hildegard Hamm-Brücher

/ 19 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Es ist an der Zeit, sich über die Schwächen und Defizite unseres parlamentarischen Systems, über seine Funktionsfähigkeit als Kontroll-und Initiativinstanz und über die tieferen Ursachen seines Ansehensverlustes grundsätzliche Gedanken zu machen. Die Kritik entzündet sich dabei vor allem an vier neuralgischen Punkten, die zusammengenommen als Parlamentskrise charakterisiert werden: 1. Im politischen Kräftefeld verläuft die Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative nach wie vor eindeutig zuungunsten der Legislative. 2. Im Parlament gibt es so gut wie keine spontanen Debatten mehr. 3. Demzufolge verschlechtert sich das Erscheinungsbild der repräsentativen Demokratie, wie es sich im Debattenstil offenbart. 4. Der Parteien-und Alimentationsskandal hat schließlich zu einem aktuellen Ansehensund Vertrauensverlust der repräsentativen Demokratie geführt. Nach eigener Erfahrung liegt die Begründung für die nicht mehr ausreichende Funktionsfähigkeit des Parlaments als Kontroll-, Initiativ-und Diskussionsforum in der Ent-Persönlichung des Mandats des einzelnen und der Minimalisierung seiner parlamentarischen Mitwirkungsmöglichkeiten, womit die Verantwortung für das Parlamentsgeschehen anonymisiert und in den Fraktionen verkadert wurde. In einem Parlament der Fraktionen müssen wir deshalb heute sehr grundsätzlich darüber nachdenken, welche Funktionen das Mandat des einzelnen Abgeordneten (Art. 38 Abs. 1 GG) hat, und ausloten, was seine Ausübung zur Stärkung der parlamentarischen Arbeit erbringen könnte. Und nicht zuletzt: Wie läßt sich der Anspruch der Fraktionen mit dem Anrecht und den Pflichten des einzelnen Abgeordneten in Einklang bringen.

I. Zur Themenstellung

Wenn in der Öffentlichkeit vom Deutschen Bundestag die Rede ist, bekommen Abgeordnete, die ihm angehören, zumeist wenig Erbauliches zu hören. Kritik, Skepsis, Abneigung überwiegen. Entfremdung wird spürbar zwischen Wählern und Gewählten. „Ihr da oben" —, diese immer wiederholte Redensart signalisiert wenig Zutrauen.

Kein Abgeordneter, der sich sein Gespür als unmittelbare Bezugsperson zwischen Bürger und Parlament bewahrt hat, darf diesen offenkundigen Verlust an Ansehen und Vertrauen bagatellisieren. Und mehr noch: Er wird ihn um so stärker empfinden, als er selber von Zweifeln an dem gewissenhaften Vollzug seines Mandats geplagt und nur mehr schlecht als recht damit fertig wird. Unbehagen wird spürbar, eine Krise des Parlamentarismus wird diagnostiziert. Der Ruf nach Parlaments-reformen erschallt, eine Kommission wird gebildet. Was soll verändert, was erreicht werden?

Es ist also an der Zeit, sich grundsätzliche Gedanken zu machen über die Schwächen und Defizite unseres parlamentarischen Systems, über seine Funktionsfähigkeit als Kontroll-und Initiativinstanz und über die tieferen Ursachen seines Ansehensverlustes.

Beides — eine gründliche Bestandsaufnahme und eine sorgfältige Analyse — scheinen mir eine unabdingbare Voraussetzung für eine Überwindung der Krise zu sein! Wir müssen uns mit dem anfangs beschriebenen Unbehagen offen auseinandersetzen und der Parlamentarismuskritik stellen, bevor beides überhand nimmt und Reformen unter Druck von außen erzwungen werden.

Mit den folgenden Ausführungen möchte ich zu dieser Auseinandersetzung einen Beitrag leisten.

II. Bestandsaufnahme und Analyse

1. Demokratiegeschichtliche Hypotheken Wie vieles andere in unserer nicht erkämpften — erst 35jährigen — Demokratie ist auch das repräsentative Parlament nicht aus eigenen freiheitlichen Wurzeln gewachsen. Nur zögernd und niemals selbstbewußt und konsequent hat es sich von den Eierschalen obrigkeitsstaatlicher Strukturen befreit. Zudem ist es mit der Hypothek des Versagens und Scheiterns von Weimar belastet, mit der parlamentarischen Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz; die eine brutale Diktatur der Unfreiheit zur Folge hatte.

Die Väter unserer Verfassung wollten aus diesen Erfahrungen des Scheiterns Konsequenzen ziehen. So wurden im Grundgesetz die Struktur, die Aufgaben und die wichtigsten Verfahrensregeln des Bundestages im 3. Abschnitt niedergelegt und ihm der verheißungsvolle Art. 38 vorangestellt, dessen zwei-ter Satz folgendermaßen lautet: „Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen."

Zum vollständigen Verständnis der Bedeutung dieses Satzes müssen die Protokolle des Parlamentarischen Rates hinzugezogen werden. Aus ihnen geht hervor, daß die eben zitierte Fassung aus folgender Langfassung hervorgegangen ist: „Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes. Jeder Abgeordnete folgt bei Reden, Handlungen, Abstimmungen und Wahlen seiner Überzeugung und seinem Gewissen."

Das Protokoll vermerkt ausdrücklich, daß beide Fassungen sachlich das gleiche bedeuten, die am Ende beschlossene Fassung aber sprachlich besser klinge.

Der FDP-Abgeordnete Thomas Dehler bezeichnete dieses Verfassungsgebot als „eine wesentliche und daher unentbehrliche Grundlage" unseres politischen Lebens. Der CDU-Abgeordnete Dr. Süsterhenn sowie der SPD-Abgeordnete Dr. Katz u. a. wollten diese Bestimmung als eine Mahnung an alle Abgeordneten verstanden wissen, sich bei Reden, Handlungen, Abstimmungen und Wahlen an ihrer persönlichen Überzeugung zu orientieren. Insgesamt wurde von unseren Verfassungsvätern ausdrücklich und bewußt eine Aufwertung der Funktion des einzelnen Abgeordneten beabsichtigt, eine Aufwertung, die man als eine Konsequenz aus den bitteren Erfahrungen des Scheiterns des Weimarer parlamentarischen Systems und der Folge der totalen Gewissensunfreiheit im Dritten Reich verstanden wissen wollte.

Soviel zur Geschichte des Grundgesetzartikels 38 Abs. 1. Von den Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind, wird später die Rede sein.

Meine persönliche Betroffenheit und meine Besorgnisse über die heutigen Krisensymptome des Parlamentarismus resultieren aus diesen eben beschriebenen demokratie-geschichtlichen Zusammenhängen.

Ich zähle zu den älteren Politikern, die diese schicksalhaften Entwicklungen miterlebt haben und deshalb angesichts der akuten Krisen immer noch und immer wieder Ängste über den Bestand und die Belastbarkeit unserer Demokratie empfinden. Immer wieder frage ich mich, wie solche Krisen zu beurteilen sind — ob sie sozusagen normal und verkraftbar sind, oder ob sie neuerliches Versagen ankündigen?

Bonn ist zwar nicht Weimar — die Geschichte wiederholt sich bekanntlich nicht. Aber ohne Weimar gäbe es kein Bonn, und weil da, ist, müssen uns Anzeichen von zunehmender Parteien-und Parlamentsverdrossenheit hellhörig machen und an die düsteren Erfahrungen unserer eigenen Demokratiegeschichte gemahnen. So verstanden, müssen wir meines Erachtens an die Probleme herangehen, die ich im folgenden beschreiben möchte. 2. Krisensymptome Die Parlamentarismuskritik in der Öffentlichkeit, aber auch in den eigenen Reihen entzündet sich vor allem an vier neuralgischen Punkten, die zusammengenommen als Parlamentskrise charakterisiert werden. 1. Im politischen Kräftefeld verläuft die Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative nach wie vor eindeutig zuungunsten der Legislative. Weder vermag das Parlament seine Kontrollfunktion gegenüber Exekutive und Regierung ausreichend zu erfüllen, noch beschränkt sich die Verwaltung auf ihre Exekutivfunktion. Dieses Ungleichgewicht ist keine Theorie, sondern eine Erfahrung, die mir während meiner jahrzehntelangen politischen Berufstätigkeit in beiden Gewalten zur Gewißheit geworden ist: die eindeutige Überlegenheit der Exekutive und die selbstverschuldete Unterlegenheit der Legislative. 2. Im Parlament gibt es so gut wie keine spontanen Debatten mehr. Freie Wortmeldungen sind nicht möglich. Eine offene Parlamentsdebatte kann sich infolge ihrer im vorhinein verplanten Redner und der Reglementierung ihres Ablaufes kaum noch entfalten. -— Viele politische Probleme, die den Bürger bedrängen, erreichen das Forum ihrer Repräsentanten verspätet und sind dann bereits zur Parteiraison geronnen. Wie anders wäre der anhaltende Aufstieg der GRÜNEN zu erklären? 3. Demzufolge verschlechtert sich das Erscheinungsbild der repräsentativen Demokratie, wie es sich im Debattenstil offenbart. Der rüder werdende Redestil und der Schau-Charakter der Auseinandersetzungen tun ein übriges.

Dies alles wird dann noch — via Fernsehen — samt der gähnenden Leere des Plenarsaales in den Wohnstuben der Nation vorgeführt.

Der Bürger weiß: An vorgefaßten Entscheidungen ändert keine noch so heftige Debatte etwas. So degeneriert diese zur Proklamation und zum Schlagabtausch. Die politische Kultur verwildert — mit der Folge, daß Ansehen und Glaubwürdigkeit des Parlaments von immer mehr (vor allem jungen) Bürgern angezweifelt werden.

4. Zu einem aktuellen Ansehens-und Vertrauensverlust der repräsentativen Demokratie hat in jüngster Zeit schließlich der Partei-spenden- und Alimentations-Skandal geführt, der den Rücktritt des damaligen Parlaments-präsidenten zur Folge hatte und begründete Zweifel an der Wirksamkeit des gültigen Verhaltenskodex für Abgeordnete weckte. Seither ist der Ruf nach „Selbstreinigung", nach dem . Abgeordneten mit den gläsernen Taschen" sowie einer Verschärfung des „Verhaltenskodex" unüberhörbar.

Diese vier neuralgischen Punkte sind es vor allem, an denen die Parlamentarismuskritik einsetzt. 3. Das wachsende Unbehagen bei einzelnen Abgeordneten Der Vier-Punkte-Befund bedarf allerdings einer genaueren Analyse und Bewertung, bevor konkrete Folgerungen und Maßnahmen daraus abgeleitet werden können. Hierzu wird es eines langwierigen und mühsamen Prozesses der Klärung und Einsicht bedürfen, der von Schwierigkeiten und Widerständen begleitet sein wird.

Die Schwierigkeiten beginnen mit der Frage, wie ein solcher Prozeß in Gang gesetzt werden soll und von wem, wer für ihn verantwortlich ist und auf welche Weise die Abgeordneten daran beteiligt werden sollen. — Widerstände werden sich immer dort auftun, wo die derzeitigen Machtverhältnisse vorteilhaft sind. In der Exekutive natürlich und im Regierungslager, aber auch in den Fraktionen, die unter Berufung auf Art. 21 Grundgesetz („Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung mit") die eigentlichen Machtzen-, tren des Parlamentsgeschehens sind.

Nun will ihnen das im Ernst niemand streitig machen! Dennoch können nach den bisherigen Erfahrungen Initiativen zur Parlamentsreform nicht von einzelnen Fraktionen ausgehen. Damit würden sie parteipolitisiert und wären von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Nein, Initiatoren und Träger von Reformprozessen müssen Abgeordnete aus allen Fraktionen sein, die sich in Sachen Parlamentsreform als „Vertreter des ganzen Volkes" verstehen und von deren Notwendigkeit überzeugt sind.

Diese Zusammenhänge werden immer mehr Abgeordneten bewußt. Sie sorgen sich über die wachsende Kritik am Parlament in seiner derzeitigen Erscheinungsform, sie leiden unter der zunehmenden Spannung, einerseits Zielscheibe dieser Kritik zu sein und andererseits als einzelne nichts daran ändern zu können. Sie wissen, wie äußerst begrenzt — oder nicht existent — ihre persönlichen Mitgestaltungsrechte in Form eines individuellen Rede-, Kontroll-, Initiativ-und Informationsrechtes sind und sie verspüren ihre Ohnmacht gegenüber der übermächtigen Exekutive und den Gängelbändern der Geschäfts-ordnungen. Dürftige Büroausstattungen und unzulängliche Hilfsmittel erschweren zusätzlich eine gewissenhafte Ausübung ihres Mandats.

So ist es zu erklären, daß sich seit etwa Jahresfrist Abgeordnete aus allen Fraktionen zusammengefunden und Vorstellungen und Vorschläge für eine Parlamentsreform entwickelt haben.

Das eigentliche Novum an dieser überfraktionellen „Initiative Parlamentsreform", an der sich fluktuierend etwa 110 — das sind 20 bis 25 Prozent — der Abgeordneten beteiligen, ist, daß sie nicht nur über Partei-und Fraktionsgrenzen hinausgreift, sondern daß sie auch andere als die bisher gewohnten Arbeitsstrukturen erprobt. Politisch formuliert: In einem Parlament mit festgefügten Fraktionsblöcken wird das — im Grundgesetz ausdrücklich vorgesehene — Mandat des einzelnen wiederentdeckt. 4. Gedanken über das Mandat des einzelnen, bezogen auf Art. 38 Abs. 1 GG In meiner jahrzehntelangen parlamentarischen Tätigkeit, in deren Verlauf ich über zwölf Jahre auch Regierungsverantwortung trug, habe ich mir wieder und wieder Gedanken gemacht über die Möglichkeiten und Grenzen meiner persönlichen Mitwirkung und Verantwortung am Parlamentsgeschehen. Was erfordert das eigentlich von mir, das Grundgesetz gewissenhaft zu beachten, Vertreterin des ganzen Volkes zu sein und zugleich loyales Mitglied meiner Fraktion und Partei? Läßt sich das überhaupt miteinander vereinbaren? Und wenn ja, welche Spannungen und Konflikte sind damit programmiert? Bewußt und wiederholt habe ich mich im Laufe der Jahre in Debatten oder bei parlamentarischen Entscheidungen auf die Lang-fassung des Art. 38 Abs. 1 GG berufen und damit wenig ermutigende Erfahrungen gemacht. Genau gesagt: Es waren entmutigende Erfahrungen. Ebenso ist es anderen Abgeordneten ergangen, die das gleiche versuchten.

Es läßt sich klar feststellen, daß in dem Maße, in dem im Laufe der Jahrzehnte die Stellung der Fraktionen als Schaltstellen und damit als Machtzentren des parlamentarischen Geschehens gestärkt wurden, die Wirkungsmöglichkeiten des einzelnen Abgeordneten und seine persönliche Mitverantwortung abgenommen haben. Bewußt zugespitzt lautet meine These: In der Ent-Persönlichung des Mandats des einzelnen und der Minimalisierung seiner parlamentarischen Wirkungsmöglichkeiten liegt meiner Erfahrung nach die Begründung für die nicht mehr ausreichende Funktionsfähigkeit des Parlaments als Kontroll-, Initiativ-und Diskussionsforum. Mit dieser Entpersönlichung des Mandats wurde die Verantwortung für das Parlaments-geschehen anonymisiert und in den Fraktionen verkadert. Der seinem Gewissen verantwortliche Vertreter des ganzen Volkes kann nicht wirksam werden, weil ihm dazu (fast) alle Voraussetzungen fehlen: seine individuellen Rede-, Kontroll-, Initiativrechte, seine organisatorische und materielle Ausstattung und nicht zuletzt eine angemessene Unabhängigkeit von den „Weisungen und Aufträgen" seiner Partei und Fraktion. Der Grundgesetz-artikel 38 Abs. 1 — obgleich konstitutiv — kommt weder in der Geschäftsordnung des Bundestages noch in den Ordnungen der Fraktionen vor.

Eine Klärung möglicher Konsequenzen für bestimmte parlamentarische Rechte des einzelnen Abgeordneten wurde bisher vermieden. Eine Gewichtung, eine faire Güterabwägung zwischen dem Mandat des einzelnen in einem Parlament und der Fraktionen wurde nicht versucht.

Wohlgemerkt und um Mißverständnissen vorzubeugen: Ich denke keineswegs an eine Dogmatisierung des Grundgesetzartikels 38 Abs. 1 und der Rechte, die daraus für den einzelnen Abgeordneten abgeleitet werden können. Ich plädiere nicht für ein Parlament von Einzelkämpfern. Jeder Abgeordnete ist zuerst Mitglied seiner Fraktion. Er verdankt sein Mandat seiner Partei. Die Loyalität soll und kann nicht in Frage gestellt werden. Dabei darf aber die persönliche Mitverantwortung des einzelnen für die Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Geschehens nicht außer Kraft gesetzt werden. Sie ist — wie die Väter des Grundgesetzes formulierten — „unerläßliche und daher unverzichtbare Voraussetzung" des politischen Lebens in einer freiheitlichen Staats-und Gesellschaftsform.

Ohne dieses Selbstverständnis für die Mitverantwortung des einzelnen in einem Parlament der Fraktionen verkümmert die Gewissenhaftigkeit, auf die das Grundgesetz den Abgeordneten verpflichtet, und müßte schließlich die repräsentative Demokratie verkümmern. In meinem Debattenbeitrag am 20. September 1984 habe ich dieses ganz tief-sitzende, tabuisierte Dilemma unserer eigenen Parlamentsordnung folgendermaßen formuliert: „Wenn wir in der Öffentlichkeit das hohe Lied von der persönlichen Verantwortung und Initiative des einzelnen Bürgers zur Stärkung der freiheitlichen Demokratie singen, dann sollten wir in unseren eigenen vier Wänden mit gutem Beispiel vorangehen.

So wie wir wissen, daß der verplante, der reglementierte, der verbürokratisierte Bürger ein unfreier Bürger wird, so wissen wir auch, daß der verplante, der verbürokratisierte, der reglementierte Abgeordnete ein unfreier Abgeordneter sein wird. Das dürfen wir nicht zulassen...

Deshalb plädiere ich nachdrücklich für eine tabufreie Diskussion der Problematik der Anwendung des Grundgesetzartikels 38 Abs. 1 im Spannungsfeld eines Parlaments, das von Fraktionen beherrscht wird.

III. Ansätze zur Überwindung der Krise des Parlaments

1. Vorschläge zur Parlamentsreform Es ist gut und wichtig zu wissen, daß ich mit solcherlei unbequemen, ja gelegentlich als ketzerisch empfundenen Überlegungen nicht alleinstehe. Die „Überlegungen und Vorschläge zur Parlamentsreform", die von 110 Abgeordneten mitunterschrieben im April 1984 dem damaligen Bundestagspräsidenten Rainer Barzel zugeleitet wurden, sind der erste Schritt hierzu:

I. Vorbemerkung

Abgeordnete aus allen Fraktionen machen sich verstärkt Gedanken über die Bedeutung des Arti-

kels 38. 1 GG für die parlamentarische Arbeit. Sie gehen davon aus, daß mit dieser Bestimmung begründet wird — eine persönliche Mitverantwortung des Abgeordneten für das Ansehen und die Glaubwürdigkeit des Parlaments in der Öffentlichkeit, — eine persönliche Mitverantwortung für das Gesetzgebungsverfahren, bei der politischen Willensbildung und bei der Kontrolle der Regierung und Exekutive sowie — eine persönliche Verantwortung für die Gewissenhaftigkeit des Verhaltens als „Vertreter des ganzen Volkes" bei „Reden und Handlungen, Wahlen und Abstimmungen". Auf dieser Grundlage hat sich ein zunächst kleiner Kreis von Abgeordneten erste grundsätzliche Gedanken gemacht. Dabeiging es vor allem darum, ob und wie eine innerparlamentarische Diskussion über diesen wichtigen und unerschlossenen Fragenkomplex in Gang gesetzt werden kann. Daraus entstanden die hier vorgelegten, durchaus vorläufigen Vorschläge, die von den unterzeichneten Abgeordneten unterstützt werden. Die Unterzeichner bitten den Herrn Bundestagspräsidenten, diese Initiative und weitere vorliegende Anregungen zum Anlaß zu nehmen, um noch vor der Sommerpause eine Plenardebatte über das Selbstverständnis unserer parlamentarischen Arbeit anzusetzen. Die Unterzeichneten stehen selbstverständlich gern zu Gesprächen über die beigefügten Vorschläge und das weitere Vorgehen zur Verfügung.

II. Überlegungen zur Parlamentsretorm unter besonderer Berücksichtigung des Artikels 38. 1 GG

Aus den Protokollen des Parlamentarischen Rates geht eindeutig hervor, daß die Väter des Grundgesetzes mit dem Artikel 38. 1 mehr beabsichtigt haben, als eine gelegentliche kollektive Freistellung des einzelnen Abgeordneten vom „Fraktionszwang". Die zur Auslegung gültige Fassung, die nur redaktionell zur heutigen Fassung gestrafft wurde, lautet:

„Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes. Jeder Abgeordnete folgt bei Reden, Handlungen, Abstimmungen und Wahlen seiner Überzeugung und seinem Gewissen."

Dieses Verfassungsgebot findet weder in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages und der Fraktionen noch in den Abläufen der Parlamentsarbeit bisher eine befriedigende Berücksichtigung. Deshalb muß eine allseits als notwendig erachtete Parlamentsreform diesem fundamentalen Verfassungsauftrag, der zudem am Anfang des Grundgesetzabschnittes über den Bundestag steht, ausdrücklich Rechnung tragen.

Hierzu werden im folgenden Vorschläge zur Diskussion gestellt.

A. Belebung des individuellen Rederechts 1. Rededauer bei Plenardebatten — Zwischen den formellen, von den Fraktionen geplanten Rederunden mit vorbestimmten Rednern sollen „offene" Debattenrunden eingeführt werden. Dafür soll ein bestimmter Anteil der geplanten Debattenzeit freigehalten werden (mindestens 30 %). Die Redezeit bei solchen „offenen" Debattenrunden soll bis zu zehn Minuten betragen; für die Reihenfolge der Redner soll § 28 GOBT (Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, d. Red.) gelten. — Redner, die einen Beitrag von fünf Minuten Dauer (Kurzbeitrag) anmelden, können vor anderen Rednern zu Wort kommen. Bei mehreren Kurzbeiträgen wird nach § 28 GOBT verfahren. — Anteilsmäßige Begrenzung des Rederechts der Exekutive bei allen Kontrolldebatten (z. B. Haushalt, Aussprache zu Regierungserklärungen etc.). 2. Zwischenfragen — Der Präsident kann (soll?) Rednern, die kurze Redezeiten haben und die Zwischenfragen zulassen, diese und ihre Antworten nicht auf die Rede-zeit anrechnen.

B. Verbesserung des Kontrollrechts Das Fragerecht des Abgeordneten ist ein entscheidendes Instrument der Regierungskontrolle. Mit dem Fragerecht korrespondiert die Antwortpflicht. 1. Fragestunde Einmal im Monat soll eine Fragestunde mit den Kabinettsmitgliedern stattfinden. Die Fragesteller sollen dazu einen Tag vorher nur die Themen nennen, zu denen sie Fragen stellen wollen, über Auswahl und Reihenfolge der Fragesteller entscheidet das Los. Zusatzfragen werden wie in der normalen Fragestunde gehandhabt.

2. . Politische Stunde'

Auf Verlangen einer Fraktion oder fünf vom Hundert der Abgeordneten kann in Sitzungswochen nach einer Kabinettsitzung eine . Politische Stunde'beantragt werden, zu der die Bundesregierung — noch vor einer Information der Presse — kurz über Kabinettsbeschlüsse oder andere Entscheidungen und Empfehlungen Auskunft gibt. Daran schließt sich eine Fragezeit nach der Regelung der Fragestunde für Zusatzfragen und auf Antrag eine Debatte nach der Regelung der . Aktuellen Stunde'gemäß § 106, Anlage 5 der GOBT an.

3. Jeder Abgeordnete hat Anspruch auf ausreichende Informationen der Regierung über Angelegenheiten, die innerhalb der Regierung entschieden und die für seine Mitwirkung an der Kontrollbefugnis des Parlamentes notwendig sind. Solche Informationen dürfen — ausgenommen Fragen der Staatssicherheit — nicht aus subjektivem Ermessen von Regierungsmitgliedern gegenüber dem , am Kontrollrecht beteiligten Abgeordneten geheimgehalten werden. Einzelheiten sollen in der Geheimschutzordnung des Parlaments geregelt werden.

4. Staatssekretäre, politische Beamte, Sonderbeauftragte etc. sollen vor ihrer Ernennung im zuständigen Ausschuß in einer . Anhörung" befragt werden können. Das Organisationsrecht der Bundesregierung bleibt unberührt.

C. Persönliche Initiativrechte 1. Der Wortlaut des Artikels 38. 1 GG soll in der Geschäftsordnung des Bundestages und in den Fraktionsgeschäftsordnungen in seiner ausführlichen Fassung ausdrücklich erwähnt werden. Daraus ergeben sich bestimmte Individualrechte des Abgeordneten.

2. Die vereinfachte Ermöglichung von Einzel-und Gruppeninitiativen (z. B. Einzelantragsrechte in bestimmten Fällen, Anforderungsrecht von „Kurzberichten", die als Drucksachen veröffentlicht werden müssen) soll eingeführt werden. Erweitertes Recht in Debatten, persönliche Erklärungen abzugeben.

3. Eventuelle Verpflichtung des neugewählten Parlaments auf das Grundgesetz. D. Verbesserte Transparenz des Gesetzgebungsverfahrens 1. Ausbau von Anhörungsverfahren Auf Verlangen eines Viertels der Mitglieder eines Ausschusses sollen erweiterte Anhörungsmöglichkeiten (evtl, auch durch schriftliche Stellungnahmen) eingeführt werden, an der sich Bürger oder Gruppen (analog USA) mündlich oder schriftlich beteiligen können. Es wäre denkbar, diese erweiterte Anhörung als zweiten Teil einer (normalen) öffentlichen Anhörung zu veranstalten und dafür eine bestimmte Zeit zu vereinbaren, in der sich interessierte Bürger oder Gruppen melden können (evtl. Auswahl der Bürger durch Losentscheid).

2. Erwägenswert erscheint die Möglichkeit „teilöffentlicher Sitzungen". Z. B. könnten Gesetzesberatungen von besonderem öffentlichen Interesse nach der ersten Lesung und/oder nach Abschluß der Ausschußberatungen in öffentlicher Sitzung debattiert werden. Das gleiche gilt für wichtige Grundsatzfragen, die sich nicht zur Plenardebatte eignen, aber durchaus von öffentlichem Interesse sind.

E. Stärkung der Position der Legislative gegenüber der Exekutive 1. Verbesserung der technischen und personellen Ausstattung des Abgeordneten.

2. Verbesserte Ausstattung des Parlaments insgesamt zur Stärkung der Kontrollinstanz gegenüber der Exekutive.

3. Durch eine bessere Gestaltung der Bundestags-drucksachen, insbesondere der Gesetzentwürfe, durch moderne Drucktechniken (z. B. Hervorhebung, Verwendung von Farben, Gegenüberstellen von geltenden und geänderten Texten) sollen diese nicht nur besser, sondern zum Teil überhaupt erst lesbar gemacht werden. 2. Die Selbstverständnisdebatte und ihr Ergebnis Die angeregte Selbstverständnisdebatte’ fand am 20. September 1984 statt; 45 Abgeordnete haben sich daran beteiligt. Folgender Entschließungsantrag wurde einstimmig angenommen:

Der Deutsche Bundestag hält es im Anschluß an die Debatte vom 20. September 1984 für erforderlich, seine Arbeitsweise und öffentliche Wirksamkeit als unmittelbar vom Volk gewähltem Verfassungsorgan zu verbessern. Zugleich soll die Stellung der einzelnen Abgeordneten, wie sie sich aus Artikel 38 Abs. 1 Satz 2 GG ergibt, gestärkt werden. Er begrüßt die Initiative des Bundestagspräsidenten, die Stellung des Deutschen Bundestages im Verhältnis zu anderen Verfassungsorganen und Institutionen deutlich zu machen.

Es soll insbesondere erreicht werden — eine lebendigere und offenere Gestaltung von Plenardebatten, — ein verstärktes und wirksameres Kontrollrecht des Parlaments, z. B. durch eine Verbesserung des Frage-und Informationsrechtes, eine aktuellere Befassung des Parlaments mit Kabinettsentscheidungen usw., — weitere Maßnahmen zur Verbesserung der Wirkungsmöglichkeiten und zur Stärkung des Ansehens des Parlaments und seiner Abgeordneten. Hierzu gehören auch weitere Vorschläge zur Verbesserung der Arbeitsmöglichkeiten des einzelnen Abgeordneten.

Der Deutsche Bundestag schlägt die Einsetzung einer vom Präsidenten geleiteten Ad-hoc-Kommission „Parlamentsreform" vor. Diese Kommission soll bis zum Frühjahr 1985 die vorliegenden Initiativen und Vorschläge prüfen und daraus konkrete Vorschläge zur Verbesserung der parlamentarischen Arbeit entwickeln.

Die Ad-hoc-Kommission hat bis Weihnachten viermal getagt.

Für die Anfangserfolge haben wir dem damaligen Bundestagspräsidenten Rainer Barzel viel zu verdanken. Ohne sein Verständnis hätte weder die sechsstündige sogenannte Selbstverständnisdebatte stattgefunden, noch hätte der oben erwähnte Entschließungsantrag auf Einsetzung einer Ad-hoc-Kommission zur Parlamentsreform eine Chance gehabt, einstimmig angenommen zu werden. Trotz dieser Anfangserfolge ist heute schon abzusehen, daß die eigentlichen Schwierigkeiten und Hindernisse, die einer Reform entgegenstehen, noch vor uns liegen. Widerstand gegen weiterführende Reformen beginnt sich zu rühren. Die sonstige Arbeitsüberlastung erschwert der kleinen Kerngruppe der Reformer, sich verstärkt auf diese Aufgabe zu konzentrieren. Dennoch sind wir zuversichtlich, daß auch der neue Bundestagspräsident, Philipp Jenninger, unserer Initiative das gleiche Wohlwollen entgegenbringen wird wie sein Vorgänger.

Bei allen unseren Bemühungen ist uns wohl bewußt, daß eine stärkere Berücksichtigung des Mandats des einzelnen in Anwendung des Grundgesetzes weder die notwendige Ordnung und Entscheidungsfähigkeit des Parlaments beeinträchtigen darf, noch die Beachtung seiner Spielregeln.

Unsere Initiative begründen wir vor allem aus der Erkenntnis, daß die offenkundigen Defizite nicht „per ordre de mufti" — sozusagen durch Knopfdruck auf die Geschäftsordnungen —! abgestellt werden können, sondern allein durch die Einsicht und Mitwirkung möglichst vieler Abgeordneter aus allen Fraktionen.

Nicht den Aufstand wollen wir proben, wohl aber die gewissenhafte Wahrnehmung unseB rer Rechte und Pflichten. Es kommt uns darauf an, das Grundgesetz in eigener Sache genauso gewissenhaft zu respektieren, wie wir es von allen Bürgern erwarten und verlangen. 3. Parlamentsreform „von unten"

Die „Initiative Parlamentsreform" hat sich außerdem vorgenommen, auch die Interessen der wachsenden Zahl von Abgeordneten, die mit ihren Wirkungsmöglichkeiten nicht zufrieden sind, ohne sich mit unseren bisherigen Vorschlägen zu identifizieren, in der Reformkommission mitzuvertreten.

Zu diesem Ziele haben wir eine noch nicht abgeschlossene „Fragebogen-Aktion" an alle Abgeordneten eingeleitet. Damit wollen wir deutlicher als bisher Aufschluß erhalten über die Vorstellungen des einzelnen Abgeordneten, über seine Situation und seine Vorstellungen zur Parlamentsreform.

Dieser Versuch der Erkundung ist uns deshalb so wichtig, weil es letztlich von der Reformbereitschaft des einzelnen Abgeordneten und von seinem Engagement abhängen wird, ob eine Parlamentsreform nur auf dem Papier stehen oder ob sie in den Alltag der Parlamentsarbeit eingehen und das Selbstverständnis des Parlamentariers für seine Aufgaben und Verantwortlichkeiten neu prägen wird. Natürlich wird es dabei von ihm abhängen, ob und in welchem Umfang er von seinem Mandat als einzelner Gebrauch machen will (oder auch nicht). 4. Der „Fall Barzel" und seine Folgen Als die Initiative vor Jahresfrist begann, ihre Vorschläge zu erarbeiten, gab es noch keinen „Fall Barzel“. Mit ihm wurde ein weiteres Problem der Parlamentsreform offenkundig: Unsere Regelungen für die Offenlegung von Nebentätigkeiten und Nebeneinnahmen von Abgeordneten — wie sie in den Parlamenten anderer Demokratien selbstverständlich sind — reichen nicht aus, um mögliche Interessen-konflikte auszuschließen — oder sie zumindest strikt einzugrenzen.

Unsere Vorschläge hierzu seien im Rahmen dieses Aufsatzes nur der Vollständigkeit halber erwähnt, aber nicht weiter vertieft.

Noch vor dem Rücktritt des damaligen Bundestagspräsidenten haben 80 Kollegen dem Präsidium des Bundestages folgende Vorschläge zugeleitet: „Die Unterzeichner fordern Präsidium und Ältestenrat des Deutschen Bundestages auf, im Interesse des öffentlichen Ansehens des Parlaments und der Abgeordneten umgehend Vorschläge zur Präzisierung des Verhaltenskodex für Abgeordnete und seiner Verbotsbestimmungen für Scheinverträge vorzulegen.

Hierzu wird u. a. angeregt, daß alle Abgeordneten (ähnlich wie bei Steuererklärungen) alljährlich über ihre Nebentätigkeiten und Einkünfte schriftlich Auskunft geben müssen. Die vertrauliche Überprüfung soll durch ein hierfür zu bestellendes Gremium erfolgen. Nach Überprüfung werden die Unterlagen vernichtet."

IV. Ausblick

Wie wird es weitergehen? Wird alles beim alten bleiben oder werden die Anstößigkeit der Skandale und Affären und die Anstöße der Abgeordneten-Initiative dazu beitragen, der schleichenden und akuten Krise des repräsentativen Parlamentarismus entgegenzuwirken — sie schließlich zu überwinden?

Ich bin mir — zusammen mit anderen „Reformern", die sich verstärkt und vertieft am Grundgesetzartikel 38 Abs. 1 orientieren — der Schwierigkeiten und Hindernisse, die vor uns liegen, wohl bewußt. Dennoch soll unser Ansatz weiterverfolgt werden.

Es gehört zu meinen unerschütterlichen liberalen Überzeugungen und auch zu meinen Lebenserfahrungen, daß sich in krisenhaften Situationen nur wenig durch äußerliche Korrekturen (hier zum Beispiel Änderung der Sitzungsfolge des Parlaments, Redeordnung etc.) reformieren läßt. Vielmehr bedarf es der Bereitschaft des einzelnen, selber zur Veränderung beizutragen, damit einzelne Schritte schließlich zu echter und dauerhafter Parlamentsreform führen.

Deshalb müssen wir sehr grundsätzlich darüber nachdenken, welche Funktionen das Mandat des einzelnen in einem Parlament der Fraktionen hat, und ausloten, was seine Ausübung zur Stärkung der parlamentarischen Arbeit erbringen könnte. Und nicht zu-9 letzt: Wie läßt sich der Anspruch der Fraktionen mit dem Anrecht und den Pflichten des einzelnen Abgeordneten in Einklang bringen, ja im Interesse des Parlaments versöhnen und verstärken?

Was heißt es zum Beispiel, Vertreter des ganzen Volkes zu sein?

— Ist das nur ein Sonntagsspruch wie viele andere?'

— Oder soll es heißen, daß der Abgeordnete nicht nur Funktionär seiner Partei und Fraktion ist, vielmehr mitverantwortlich für die Funktionsfähigkeit des Parlaments?

— Resultiert daraus nicht auch eine persönliche Mitverantwortung für den Zustand des Parlaments, seine Schwächen, Defizite, für seinen Ansehensschwund?

— Resultiert daraus nicht eine Mitverantwortung für den Zustand unserer Demokratie insgesamt?

— Und käme ein neues Selbstverständnis nicht letztlich dem Ansehen der Parteien zugute?

Oder was heißt es, daß der Abgeordnete in „Reden und Handlungen“ seinen Überzeugungen und seinem Gewissen zu folgen hat?

— Resultieren daraus nur bestimmte individuelle Grundrechte, zum Beispiel Rederecht, Initiativrecht, verbessertes Informations-und Kontrollrecht?

— Oder kämen solche Rechte nicht vor allem der Funktionsfähigkeit, dem Ansehen und der Glaubwürdigkeit des Parlaments zugute?

Ob, wann und in welchem Umfang der einzelne Abgeordnete von seinen parlamentarischen Möglichkeiten Gebrauch macht, bleibt seiner persönlichen „Gewissenhaftigkeit" überlassen. Wenn er aber davon Gebrauch macht, dann darf dies nicht nur um den Preis des Makels, ein . Außenseiter“, ein „Dissident", ein „Rebell" zu sein, möglich werden.

Natürlich hat der Abgeordnete Norbert Lammert Recht: Zivilcourage läßt sich nicht durch eine Geschäftsordnungsbestimmung einführen. Aber — wie bei anderen im Grundgesetz garantierten Grundrechten auch — die Wahrnehmung des Mandats des einzelnen in einem Parlament der Fraktionen muß klar geregelt sein, sie muß eine praktikable Auslegung erfahren und in der täglichen Parlamentsarbeit anwendbar sein.

Ich bin überzeugt, daß nur durch eine Aufwertung und Stärkung des Mandats des einzelnen unsere repräsentative Demokratie insgesamt funktionsfähiger und glaubwürdiger würde. Dies muß das erklärte Ziel einer Parlamentsreform sein, die sich nicht in Änderungen der Geschäftsordnung erschöpft, sondern einen Ausweg aus der anfangs beschriebenen Krise eröffnet.

Erst dann, und nur dann werden wir dem Auftrag unseres Grundgesetzes gerecht werden, wenn der Artikel 38 Abs. 1 GG in praxi zu „einer wesentlichen und unentbehrlichen Grundlage" unserer parlamentarischen Arbeit geworden ist.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Hildegard Hamm-Brücher, Dr. phil., geb. 1921; von 1967 bis 1969 Staatssekretär im Hessischen Kultusministerium; von 1969 bis 1972 Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft; von 1976 bis 1982 Staatsminister im Auswärtigen Amt; Mitglied des Deutschen Bundestages seit 1976 (FDP-Fraktion); Autorin/Herausgeberin zahlreicher Bücher, Aufsätze, Untersuchungen und Abhandlungen.