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Wir haben noch keine Parlamentarismuskrise | APuZ 6/1985 | bpb.de

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APuZ 6/1985 Die Krise des Parlamentarismus und Chancen zu ihrer Überwindung. Ist der Deutsche Bundestag seiner Aufgabe gerecht geworden? Viel Kritik und wenig Krise Wir haben noch keine Parlamentarismuskrise Ohne Basisdemokratie stirbt das Parlament Haben wir eine Krise des Parlaments?

Wir haben noch keine Parlamentarismuskrise

Friedrich Schäfer

/ 15 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Deutsche Bundestag ist ein anerkannt fleißiges Parlament, und doch leidet sein Ansehen. Er ist ein staatsleitendes Organ, das in einem Spannungsverhältnis mit der von ihm geschaffenen Bundesregierung die Politik gestaltet. Das Ergebnis einer politischen Entwicklung, eines Willensbildungsprozesses ist der Gesetzesbeschluß. Er muß sich unter Einbeziehung des Bürgers offen vollziehen. Der Bundestag muß politisch führen und dadurch für den Bürger deutlich machen, wohin die Entwicklung gehen wird.

Die Erkenntnis ist weit verbreitet, daß der Deutsche Bundestag ein fleißiges Arbeitsparlament ist, daß aber sein Ansehen in der Öffentlichkeit Not gelitten hat. Insbesondere aus diesem Grunde hat sich der Bundestag in einer ausführlichen Debatte am 20. September 1984 mit der „Stellung und Arbeit des Deutschen Bundestages" beschäftigt. Diese Debatte wurde allerdings dem Thema nicht gerecht, denn die meisten Redner befaßten sich mit der Arbeit und den Arbeitsbedingungen des Bundestages als des Gesetzgebungsorgans. Zur Frage der Stellung des Bundestages als staatsleitendes Organ wurde wenig, fast nichts gesagt; mit der politischen Führungsaufgabe des Parlaments in der parlamentarischen Demokratie beschäftigten sich die Abgeordneten nicht. Entsprechend war die Rede von einer „Betriebsversammlung“; man befaßte sich vorwiegend mit sich selbst, nicht aber mit der politischen Führungsaufgabe des Bundestages.

über die Stellung des Deutschen Bundestages im Verfassungsgefüge habe ich in dieser Zeitschrift am November 1980 bereits folgendes geschrieben 1): „Unsere Verfassung, das Grundgesetz, hat die Stellung des Bundestages im Gesamtgefüge der staatlichen Organe richtig gestaltet. Wie das Parlament seiner Aufgabe gerecht wird, bestimmt es selbst. Während am Anfang, beim Neuaufbau der Bundesrepublik Deutschland, die Notwendigkeit bestand, grundlegende Gesetze zu verabschieden, hat sich das Schwergewicht dahingehend verschoben, zukünftige Entwicklungen verstärkt zusammen mit dem Bürger zu gestalten. Eine Veränderung der Aufgabenstellung ist eingetreten, eine intensivere Einbeziehung der Öffentlichkeit in den Willensbildungsprozeß des Parlaments ist erforderlich. Gerade auch bei wichtigen Gesetzen, die in Zukunft zu beraten sein werden, sollte dem interessierten Bürger der Einblick in die Überlegungen des Bundestages ermöglicht werden. Der Bundestag muß den veränderten Verhältnissen entsprechend darangehen, seine Arbeitsmethoden zu ändern. Nicht nu. die Sitzungen in Bonn sind erforderlich, daneben ist gleichrangig der Dialog mit dem Bürger zu führen. Für unsere politische Zukunft ist es von entscheidender Bedeutung, daß das Parlament nicht nur technisch funktioniert, sondern daß es als das wichtigste demokratisch legitimierte Organ im Staate vom Bürger angenommen wird.“

Bereits 1867 hat der Engländer Walter Bagehot in seinem Werk „The English Constitution" die Aufgabe des Parlamentes so beschrieben: a) Herrschaftsbestellung, b) Artikulation der im Volke bestehenden Auffassungen, c) Information des Bürgers durch das Parlament und — erst als letzte Aufgabe — d) die Gesetzgebung.

Dem Parlament obliegt demnach die politische Führung, alle anderen Aufgaben sind nur Ausfluß dieser Pflicht. Man spricht daher von der staatsleitenden Aufgabe des Parlaments. In Erkenntnis dieser Tatsache hat die Reichsregierung im Jahre 1931 in politisch stürmischer Zeit in der Begründung des Entwurfs eines Reichswahlgesetzes ausgeführt: „In der parlamentarischen Demokratie ist es Aufgabe des Parlamentes, politisch zu führen". Da es aber gerade an dieser politischen Führung in jenen Jahren fehlte, kam es damals zur Staatskrise und zum Umsturz.

Die Parteien als die Träger des politischen Gestaltungswillens befassen sich mit den gesellschaftspolitischen Entwicklungen, sie stellen ihre politischen Zielvorstellungen auf und fassen sie in Grundsatzprogrammen zusammen. Die Antworten auf die aktuellen Fragen geben sie in ihren Wahlprogrammen. In den Wahlkämpfen werben sie dafür, vom Bürger den Auftrag zu erhalten, ihr Programm in die Tat umzusetzen. Die siegreiche Partei oder Parteiengruppierung wählt den Bundeskanzler. Dieser bildet die Bundesregierung, die mit einer Regierungserklärung ihr Programm für die Wahlperiode vorstellt. Die Ressortminister ergänzen dieses durch Programme für ihren Geschäftsbereich. Mit der Bundesregierung hat sich der Bundestag seinen wichtigsten Partner geschaffen, der insoweit von seiner Wahl abhängig ist und jederzeit durch Wahl durch den Bundestag ausgewechselt werden kann. „Parlamentarische Regierungs-B form bedingt weder, daß die Regierung zu einem Vollzugsausschuß des Parlamentes, noch daß das Parlament zu einem Instrument in der Hand der Regierung wird. Das System entfaltet seine besonderen Vorzüge, wenn eine gesunde Spannung erhalten bleibt" (Ernst Friesenhahn, 1957).

Die politische Langzeitführung und Planung ist eine wichtige Aufgabe des Bundestages. Annemarie Renger, die Vizepräsidentin des Bundestages, hat in einem Beitrag „Notwendigkeit und Formen einer parlamentarischen Planungsbegleitung" am Beispiel der Kernenergie die Notwendigkeit der parlaments-begleitenden Führung dargestellt: Der Bundestag handelte richtig, indem er die Enquöte-Kommission „Zukünfige Kernenergie-politik" bildete.

Der Bürger hat nämlich einen Anspruch darauf, vom Parlament zu erfahren, wohin die Entwicklung geht, er muß sich darauf einstellen können. Dies gilt für viele zukunftsträchtige Entwicklungen. So weiß der Bürger z. B. zur Zeit nicht, welche Belastungen und welche Möglichkeiten auf ihn als Autofahrer zukommen. Soll er ein neues Auto kaufen, soll er warten? Die Industrie kann ihre Dispositionen nicht treffen, solange die zukünftige Entwicklung nicht durch den Bundestag deutlich gemacht wird. Es ist ein Zeichen der Führungsschwäche des Bundestages, daß der Gesetzentwurf über die Befreiung von der Kraftfahrzeugsteuer bei abgasarmen Autos nicht von ihm, sondern vom Bundesrat kam.

Die Enquöte-Kommission Verfassungsreform sagt in ihrem Schlußbericht: „Planung beschränkt sich nicht mehr auf die Vorbereitung der politischen Entscheidungen. Sie trägt vielmehr auch den Charakter einer . Vor-verfügung'über die Entscheidungen des Parlaments im Bereich der Gesetzgebung und des Budgetrechts. Es erscheint daher gerechtfertigt und geboten, das Parlament über das bestehende Recht auf Information und nachträgliche Kontrolle hinaus an den Planungsentscheidungen zu beteiligen, um einem drohenden Funktionsverlust des Parlaments entgegenzuwirken. Aus diesen Gründen legte die Kommission von Anfang an auf die verfassungsmäßige Verankerung der Parlamentsbeteiligung großen Wert... So darf das Parlament weder . Herr der Planung'noch bloßer . Notar'von Regierungsplanungen sein:... das würde die Pflicht der Regierung zur Planungsinitiative in Frage stellen; das andere würde der Regierung ein unerwünschtes Übergewicht über das Parlament geben .. . Die Geschäftsordnung des Bundestages gibt mit dem § 56 die Möglichkeit, Enqute-Kommissionen „zur Vorbereitung von Entscheidungen über umfangreiche und bedeutende Sachkomplexe" einzusetzen. Von dieser Möglichkeit hat der Bundestag wiederholt Gebrauch gemacht — er sollte es öfters tun. Besonders notwendig ist aber, daß der jeweilige Schlußbericht der Kommission im Plenum des Bundestages behandelt wird und daß der Bundestag durch Entschließungen langfristig die Richtung der einzuschlagenden Politik bestimmt. Als Bürger, als Beobachter, hat man manches Mal den Eindruck, daß der Bundeskanzler nach Artikel 65 GG nicht nur für die Regierung die Richtlinien der Politik bestimmt, sondern daß er dies auch für die Mehrheit des Parlamentes, also für die die Regierung tragenden Fraktionen tut. Das würde zu einer Fehlentwicklung führen, denn der Bundeskanzler trägt für seine Richtlinien gegenüber dem Parlament die Verantwortung, also muß das Parlament frei sein in der Beurteilung der Regierungspolitik. Politische Auseinandersetzungen zwischen der Bundesregierung und den sie tragenden Fraktionen finden weder im Bundestag, noch sonst in der Öffentlichkeit statt; sie vollziehen sich im ständigen Gedankenaustausch zwischen Regierung und Fraktion. Es ist daher insbesondere Aufgabe der Opposition, diese öffentliche Auseinandersetzung in Gang zu bringen. Große Anfragen, Anträge, die im Plenum behandelt werden, geben die Möglichkeit, eigene politische Vorstellungen zu entwickeln, mit denen die Regierungsfraktionen und die Bundesregierung sich beschäftigen müssen. Die Opposition soll nicht nur auf Vorschläge der Bundesregierung reagieren, sie soll agieren, sie soll die Regierung zwingen, sich mit den Vorstellungen der Opposition auseinanderzusetzen. Eine geeignete Form, Sachargumente auszutauschen, ist die Aktuelle Stunde. Gerade der Umstand, daß am Schluß der Kurzdebatte kein Sachbeschluß stehen kann, macht sie so wertvoll. Hier sollten die in der Bevölkerung bestehenden Auffassungen vorgetragen wer-den. Bei der Aktuellen Stunde steht der Bundestag am Anfang, ja sogar noch vor einem Willensbildungsprozeß; deshalb sollte hier die Fraktionssolidarität keinen Abgeordneten hindern, seine Meinung vorzutragen.

In der Debatte des Bundestages müssen alle wichtigen Fragen behandelt werden, ehe sich der Bundestag mit einem Gesetzentwurf befaßt. Dies kann in Form der Großen Anfrage des Antrages, der Debatte einer Regierungserklärung oder durch eine Aktuelle Stunde geschehen, denn der Gesetzesbeschluß ist der vorläufige Schlußpunkt unter eine Diskussion, die die Öffentlichkeit bewegt hat; vielleicht ist er auch nur ein Meilenstein auf dem Wege der politischen Entwicklung. Die vor der Gesetzesinitiative geführte Debatte muß den Bürger, sei es einzeln, sei es durch die Gewerkschaften, die Wirtschaftsverbände, Interessengruppen oder Bürgerinitiativen einbeziehen; der ständige Dialog mit dem Bürger muß geführt werden. Die Parteien müssen dementsprechend ihrem Auftrag und ihrem Selbstverständnis gemäß Träger des Gespräches sein; ihre wichtigsten Repräsentanten sind dabei die Abgeordneten. Wenn Pläne der Bundesregierung generell auf Widerstand stoßen, so liegt es an der Opposition, die Auseinandersetzung im Volke zu führen. Die Opposition knüpft dabei in der Regel an ihre früheren Erklärungen und insbesondere an ihren Wahlkampf an. Auf diese Weise werden die Vertreter der Regierungsfraktionen gezwungen, ihre Bonner Abgeschiedenheit zu verlassen und sich dem Bürger zu stellen. Alle Seiten profitieren von solchen Auseinandersetzungen.

Der Abgeordnete gehört also nicht nur ins Plenum des Bundestages, in seine Ausschüsse und seine Fraktion, er gehört in den Wahlkreis. Dort kennt man ihn, dort wird er an Versprechungen und Darstellungen erinnert, die wiederum für die Willensbildung im Bundestag unentbehrlich sind. Hier, im Gespräch mit dem Bürger, wird dem Abgeordneten hautnah die Wirkung von politischen Entscheidungen deutlich gemacht.

Die Abgeordneten des Bundestages brauchen mehr Zeit für die Arbeit im Wahlkreis, die nur sie allein leisten können. Sie sind gewählt, sie wirken an der Nahtstelle zwischen dem Staat und dem Bürger. Dies fängt mit regelmäßigen Besuchen und Aussprachen in den Schulen an, führt zu Gesprächen mit Betriebsräten, mit Gewerkschaften, mit Handwerkskammern und mit Industrie-und Handelskammern, in Volkshochschulen und zu vielen Begegnungen mit Bürgerinitiativen und mit den anderen Parteien. Dabei darf der Abgeordnete allerdings nie der Bevölkerung nach dem Munde reden; denn die Bürger wollen wissen, woran sie mit dem Abgeordneten und der von ihm vertretenen Politik sind. Der einzelne Bürger will sich auf das Wort des Abgeordneten verlassen können. Da sich bekanntlich Vertrauen von Mensch zu Mensch entwickelt, ist es für unseren Staat notwendig, daß solches Vertrauen zwischen Bürger und Abgeordnetem wachsen und sich auch auf das Parlament übertragen kann.

Der Bundestag muß daher auch seinen zeitlichen Arbeitsplan verändern, damit die Abgeordneten dieser vorrangigen, nur durch sie zu leistenden Aufgabe nachkommen können.

Natürlich weiß der Bürger, daß der Abgeordnete in Bonn zu wirken hat, aber er braucht den Abgeordneten ganz unmittelbar, er braucht seinen Rat, in vielen Fällen seine Hilfe. Aus langjähriger Erfahrung weiß ich, wie oft und wie nachhaltig man helfen kann.

Da das Ansehen des Bundestages wegen des oft ruppigen Umganges der Abgeordneten untereinander leidet, ist es um so notwendiger, daß die verschiedenen Abgeordneten eines Wahlkreises sich respektieren und dies auch öffentlich deutlich machen. Ich habe bei vielen festlichen Veranstaltungen auch die Grüße der von mir namentlich genannten Kollegen der anderen Partei überbracht und dafür immer Beifall bekommen. Die Abgeordneten sollen sich um eine Sache verkämpfen, aber sie sollen sich nicht schlecht machen; das bringt keine Pluspunkte, sondern erzeugt abstoßende Widerwärtigkeit.

Alles in allem: Der Abgeordnete muß ein politisches Haus führen, das nicht nur seinen Parteifreunden offensteht, sondern in dem man sich zu einem Gedankenaustausch trifft, wo man Rat und Hilfe erwarten kann.

Bei der Debatte des Bundestages wurde von verschiedenen Rednern gefordert, daß die Bundesregierung ihre Beschlüsse nicht in erster Linie der Presse, sondern dem Bundestag vortragen soll. Ein solches Verlangen ist begründet. Der Bundestag ist aber kein Adressat, der lediglich Erklärungen gleich welcher Art zur Kenntnis nimmt, ohne dazu Stellung zu nehmen. Es kann daher nicht beim Bericht der Bundesregierung sein Bewenden haben, sondern es muß ausreichend Gelegenheit zur Aussprache gegeben werden. Entweder bewegen sich dabei die Beschlüsse der Bundesre27 gierung im Rahmen früherer Debatten des Bundestages, dann mag auch die Opposition in der Lage sein, unmittelbar nach dem Bericht eine erste Stellungnahme abzugeben. Ist dies aber nicht der Fall, dann ist die Bundesregierung gegenüber dem Parlament in einer überlegenen Position, die auf ihrem Informationsvorsprung beruht. Läßt die Bundesregierung — und dies geschieht häufig — durch die Parlamentarischen Staatssekretäre vor der Kabinettssitzung die Ausschüsse ihrer Fraktionen unterrichten, so ist die Opposition gegenüber der durch ihre Fraktionen unterstützten Bundesregierung zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage, eine sachgerechte Debatte zu führen. Notwendig ist also, daß nicht nur die Regierungsfraktionen, sondern alle Fraktionen vor einer Kabinettssitzung über die Tagesordnung der Kabinettssitzung und über die einzelnen Vorlagen mit den erforderlichen Unterlagen rechtzeitig unterrichtet werden. Der frühere Versuch, die Berichterstattung der Bundesregierung über Kabinettssitzungen vor dem Bundestag einzuführen, ist bald wieder aufgegeben worden, da die Bundesregierung nicht bereit war, die Unterlagen für die Kabinettsitzung zur Verfügung zu stellen.

Bei der Beratung von Gesetzesvorlagen kommt es nicht darauf an, noch perfekter, noch technisch vollkommener zu arbeiten. Es kommt für die Stellung des obersten Verfassungsorganes allein darauf an, den Willensbildungsprozeß offenzulegen, ihn für jedermann nachvollziehbar zu machen.

Die Enqu 6te-Kommission Verfassungsreform hat dazu folgende Vorschläge gemacht: a) Der Bundestag erledigt Gesetzentwürfe in der Regel in zwei Beratungen. Drei Beratungen erfolgen nur bei verfassungsändernden Gesetzen und beim Haushaltsgesetz sowie bei anderen Gesetzentwürfen auf Verlangen eines Viertels der Mitglieder des Bundestages. Der Antrag kann bis zum Ende der zweiten Beratung gestellt werden.

b) In der ersten Beratung findet in der Regel eine allgemeine Aussprache als politische Richtlinie für die Sachberatung statt.

c) Die Fraktionen sollen bei Vorlagen von erheblicher Bedeutung die allgemeine Aussprache durch schriftliche Stellungnahmen vorbereiten, die allen Abgeordneten rechtzeitig vor der ersten Beratung zuzustellen sind.

d) Zwischen der ersten und der zweiten Beratung findet auf Verlangen von soviel Mitgliedern des Bundestages, wie einer Fraktionsstärke entspricht, eine gemeinsame Sitzung des federführenden und der mitberatenden Ausschüsse statt (Erweiterte Ausschußberatung). Stimmberechtigt sind alle Mitglieder derjenigen Ausschüsse, die zur Erweiterten Ausschußberatung zusammentreten.

e) Die Erweiterte Ausschußberatung ist öffentlich. Auf Antrag eines Zehntels der Mitglieder oder auf Antrag der Bundesregierung kann mit Zweidrittelmehrheit die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden.

f) Die Erweiterte Ausschußberatung findet in Räumen statt, die im Hinblick auf Sitzanordnung und Ausstattung den Erfordernissen von politischer Debatte, detaillierter Einzel-beratung und Beteiligung der Öffentlichkeit Rechnung tragen.

g) Am Schluß der zweiten Beratung wird über die Annahme oder Ablehnung des Gesetzentwurfs abgestimmt. Der Präsident stellt von Amts wegen die Beschlußfähigkeit fest. Sind drei Beratungen vorgeschrieben oder beantragt, so erfolgt diese Feststellung vor der Schlußabstimmung in der dritten Beratung.

Dazu ist zu sagen: Der Bundestag ist durch die nach der geltenden Geschäftsordnung durchzuführende zweite Beratung von Gesetzentwürfen ohne sichtbaren Erfolg belastet. An der Aussprache im Plenum beteiligen sich nämlich in der Regel nur diejenigen Abgeordneten der Ausschüsse, die sich mit der Vorlage befaßt haben. Die gähnende Leere im Plenum aber schadet dem Ansehen des Bundestages. Es sollten daher in Zukunft nur zwei statt drei Beratungen durchgeführt werden.

Dann stellte sich der Gesetzgebungsgang wie folgt dar: Bei allen wichtigen Gesetzesvorlagen muß eine erste Beratung im Plenum erfolgen; unmittelbare Überweisung an die Ausschüsse muß die Ausnahme sein. In der ersten Beratung findet nur eine allgemeine Aussprache statt, die ohne Sachbeschluß endet. Es sind daher alle Auffassungen und Aspekte vorzutragen; die verschiedenen im Volke bestehenden Ansichten müssen sich hier wiederfinden. Ansonsten besteht die Gefahr, daß wichtige Gruppen der Bevölkerung sich durch die bestehenden Parteien und Fraktionen im Bundestag als nicht vertreten betrachten. Das ganze Bündel von Meinungen sollte dann in die Ausschußberatungen überwiesen werden. Ausgewogene endgültige Stellungnahmen der Fraktionen kann es in diesem Stadium vor den Ausschußberatungen noch nicht geben.

In den Ausschüssen sollten bei allen wichtigen Gesetzen öffentliche Anhörungen durch-B geführt werden. Dabei ist wichtig, daß hier die Vertreter der verschiedenen Auffassungen ihre Standpunkte darlegen können. Das ganze Spektrum der Meinungen muß hier präsent gemacht werden; es darf keine bedeutende Gruppe geben, die sich aus dem Verfahren ausgeschlossen fühlt.

Die Ausschüsse sollten dann zunächst intern über den gesamten Sachverhalt beraten und die Gesetzesvorlage formulieren. Unter Leitung des federführenden Ausschusses tagen dann in einer erweiterten öffentlichen Ausschußsitzung alle Ausschüsse gemeinsam, die sich mit der Vorlage befaßt hatten. Zu diesem Zeitpunkt ist der Willensbildungsprozeß in den Fraktionen nahezu abgeschlossen. Es muß aber noch Raum bleiben, die in der öffentlichen Debatte des erweiterten Ausschusses vorgetragenen Argumente zu prüfen. Bei der Beratung im erweiterten Ausschuß müßte deutlich werden, warum Auffassungen, die in der ersten Beratung oder im Anhörungstermin vorgetragen wurden, beim empfohlenen Gesetzesbeschluß unberücksichtigt bleiben mußten.

Der so vorbereitete Gesetzesentwurf ginge dann mit einer Beschlußempfehlung und mit einer schriftlichen Begründung an das Plenum. Erfahrungsgemäß bewegt sich im Stadium der Abstimmung nicht mehr viel. Die Fraktionen werden durch ihre Sprecher öffentlich vortragen, warum sie für oder warum sie gegen den empfohlenen Gesetzesentwurf sind. Da die Mehrheit des Plenums auch in den Ausschüssen über die Mehrheit verfügt, kommen von ihr kaum Abänderungsanträge. Anträge von der Opposition haben wenig Aussicht, angenommen zu werden. Gerade deshalb und ob des öffentlichen Eindrucks willen, kann die Verabschiedung eines Gesetzes durch den Bundestag nur erfolgen, wenn dieser beschlußfähig ist, d. h. es muß vom Präsidenten offiziell festgestellt werden, daß mindestens die Hälfte der Abgeordneten im Saale anwesend ist. Dies erscheint notwendig, weil Gesetze zu erlassen, Recht zu setzen, ein eminent bedeutender Vorgang und Ausdruck der Machtstellung des Bundestages ist („Die Bundesgesetze werden vom Bundestage beschlossen" [Art. 77 Abs. 1 GGJ). Nur der Bundestag kann einen solchen Gesetzesbeschluß fassen, er sollte dies nur mit repräsentativer Mehrheit tun.

Der Bundestag sollte darüber hinaus kein wichtiges Gesetz verabschieden, ohne sich darum zu kümmern, ob mit dem Gesetz das angestrebte politische Ziel erreicht wird oder ob weitere Maßnahmen notwendig sind. Zur Zeit bestehen 24 gesetzliche Verpflichtungen der Bundesregierung zur regelmäßigen Berichterstattung, so z. B. zur Erstattung des Jahreswirtschaftsberichtes, des Rentenanpassungsberichtes, des Agrarberichtes und des Unfallschutzberichtes. Darüber hinaus beschließt der Bundestag bei der Verabschiedung wichtiger Gesetze häufig, daß die Bundesregierung nach Ablauf von einigen Jahren einen Bericht über die mit dem Gesetz gemachten Erfahrungen vorzulegen habe. Dieses Verfahren ist gut, denn auf diesem Wege geht dem Bundestag eine Fülle von Material zu. So sind in die Berichte die einschlägigen Gerichtsurteile, die vielen Stellungnahmen und Kritiken der interessierten Wirtschaftsund Bevölkerungskreise eingearbeitet, wichtige Zeitungskommentare werden ausgewertet, die Petitionen der Bürger an den Bundestag, die Berichte der Länder und der kommunalen Spitzenverbände werden aufgenommen. Allerdings werden diese Berichte gewöhnlich nur von wenigen Abgeordneten studiert, sie wandern in die Archive. Der Bundestag muß sich daher eine Einrichtung schaffen, die diese Berichte auswertet und für die praktische Arbeit nutzbar macht, denn diese bilden gute Unterlagen, um durch Große Anfragen ein Sachgebiet politisch zu überprüfen.

Die Kontrolle der von der Verwaltung erlassenen Rechtsakte erfolgt wirkungsvoll entsprechend unserem Rechtsstaatsprinzip durch die Gerichte („Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen.“ [Art. 19 Abs. 4 GG]); nach Art. 93 Abs. 1 Ziff. 4 a GG kann jedermann mit der Verfassungsbeschwerde das Bundesverfassungsgericht anrufen, mit der Behauptung, durch die öffentliche Gewalt in einem Grundrecht verletzt zu sein. Die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Verwaltung ist also Sache der Gerichte. Darüber hinaus bedarf es der Kontrolle, ob mit den Haushaltsmitteln des Bundes sparsam und wirtschaftlich gearbeitet wurde. Diese Kontrolle kann der Bundestag nicht selbst im einzelnen durchführen, sie ist Sache des Bundesrechnungshofes. Daß der Präsident des Bundesrechnungshofes bis heute durch die Bundesregierung ernannt wird, die er zu kontrollieren hat, ist ein Anachronismus. Der Preußische König hat als Souverän den Rechnungshof eingerichtet, um die ihm unter-29 stehende Verwaltung zu kontrollieren. Für den Souverän Volk handelt der Bundestag, er kontrolliert die Bundesregierung, deshalb muß der Bundesrechnungshof zum Hilfsorgan des Bundestages gemacht werden. Der Präsident des Bundesrechnungshofes und sein Stellvertreter müssen in Zukunft vom Bundestag gewählt werden, und zwar mit Zweidrittelmehrheit; nur dadurch bekommt er die notwendige Unabhängigkeit und nur dadurch wird die Opposition in der Regel den Vizepräsidenten des Rechnungshofes als einen Mann ihres Vertrauens durchsetzen können. — Als Hilfsorgan des Bundestages sollte der Präsident des Bundesrechnungshofes das Recht und die Pflicht haben, dem Bundestag unmittelbar Berichte vorzulegen. Wie der Wehrbeauftragte sollte er im Plenum das Wort ergreifen können. Der Bundestag wiederum sollte mit einem Viertel seiner Mitglieder die Prüfung bestimmter Gebiete und bestimmter Vorgänge durch den Bundesrechnungshof verlangen können.

Wir haben noch keine Krise des Parlamentarismus. Der Wille, Fehlentwicklungen zu erkennen, ist vorhanden. Ebenso sind die Möglichkeiten gegeben, daß der Bundestag sich seiner politischen Führungsaufgabe selbst bewußt wird und sich demgemäß verhält. Nicht mehr Sitzungen in Bonn sind erforderlich, nicht mehr Perfektionsmus bei der Gesetzgebung ist gefragt. Notwendig ist es, die langfristige Führung der Politik durch den Bundestag entscheidend zu gestalten, notwendig ist der Dialog mit dem Bürger, die Offenlegung des politischen Willensbildungsprozesse.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Friedrich Schäfer, Vorschläge zu einer Parlamentsreform. Anregungen für den 9. Deutschen Bundestag, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung DAS PARLAMENT, B 44/80, S. 15— 24.

  2. Jekewitz/Meltzer/Zeh (Hrsg.), Politik als gelebte Verfassung. Festschrift für Friedrich Schäfer, Bonn 1980, S. 87.

  3. Enquöte-Kommission für Verfassungsreform, Schlußbericht vom 1. Dezember 1976, Veröffentlichungen des Bundestages „Zur Sache", (1976) 3 und (1977) 2.

Weitere Inhalte

Friedrich Schäfer, Dr. jur., geb. 1915; Honorarprofessor an der Universität zu Köln und der Universität Tübingen; von 1967 bis 1969 Staatssekretär im Bundesministerium für Angelegenheiten des Bundesrates und der Länder; von 1957 bis 1967 und von 1969 bis 1980 Mitglied des Deutschen Bundestages; seit 1969 stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion; von 1969 bis 1976 Vorsitzender des Innenausschusses; von 1971 bis 1976 Vorsitzender der Enquete-Kommission Verfassungsreform. Neben zahlreichen Einzelveröffentlichungen: Der Bundestag. Eine Darstellung seiner Aufgabe und seiner Arbeitsweise, verbunden mit Vorschlägen zur Parlamentsreform, Opladen 19824.