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Ist der Deutsche Bundestag seiner Aufgabe gerecht geworden? | APuZ 6/1985 | bpb.de

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APuZ 6/1985 Die Krise des Parlamentarismus und Chancen zu ihrer Überwindung. Ist der Deutsche Bundestag seiner Aufgabe gerecht geworden? Viel Kritik und wenig Krise Wir haben noch keine Parlamentarismuskrise Ohne Basisdemokratie stirbt das Parlament Haben wir eine Krise des Parlaments?

Ist der Deutsche Bundestag seiner Aufgabe gerecht geworden?

Hermann Höcherl

/ 12 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Seit Bestehen des Bundestages ist das Übergewicht der Bundesregierung (samt Verwaltung) gegenüber dem Bundestag für die Abgeordneten stets eine Quelle des Ärgers, während die Medien unablässig den leeren Bänken des Bundestagsplenums ihre Aufmerksamkeit widmen. Eine nähere Prüfung ergibt jedoch, daß hinter der ständigen Kritik am Parlament ein überholtes Verständnis von Parlamentarismus steht. Daß sich die GRÜNEN im Bundestag wie in zahlreichen Länder-und Kommunalparlamenten etablieren konnten, ist gerade ein Beweis für die Funktion des Parlaments: Arbeitet eine sich als Volkspartei verstehende Partei nicht flügeldeckend, legt sie den Keim für eine Konkurrenzpartei, so daß die fehlende Meinung im Parlament präsent wird. Gefordert sind heute vor allem Anpassung des Verfahrensganges bei der Gesetzgebung und das Bewußtsein der Parteien, daß fremdes Geld gewissermaßen Belastungen im Sinne von Grundschulden sein sollten, deren Annahmen und Verwendung sorgsam bedacht und durch die Öffentlichkeit kontrolliert sein muß. Mehr Spontaneität, eine Beteiligung von mehr Abgeordneten und weniger Leere im Plenum sind notwendig. Dies kann rasch verwirklicht werden, wenn erstens die Ausschüsse in der Regel öffentlich tagen, zweitens die Dritte Lesung im Bundestagsplenum grundsätzlich entfällt und drittens technische Vorlagen und einfache sonstige Beratungsgänge, auch Gesetze, durch die Ausschüsse ohne Zweite und Dritte Lesung im Plenum abschließend beraten werden können, wenn der Ältestenrat dies empfiehlt.

Schon die Fragestellung in dem von der Redaktion vorgegebenen Thema „Haben wir eine Krise des Parlamentarismus?" bedarf einer Korrektur, denn einen Parlamentarismus als solchen gibt es in der politischen Wirklichkeit nicht. Der Begriff ist eine gedankliche Schöpfung zur Beschreibung von recht komplizierten politischen Sachverhalten. Das gilt für alle „Ismen", die vorzugsweise bei den Deutschen kultiviert werden. Bescheiden ist demnach auch der Erkenntnisgehalt solcher Abstraktionen, auch wenn ihnen nicht jeglicher Wert abgesprochen werden soll.

Man wird deshalb die Frage nach der Krise des Parlamentarismus in schlichten Worten, die sich gerade im politischen Bereich als verbale Währung empfehlen, vielleicht so formulieren können: „Hat sich die demokratische Verfassung, die sich aus Wahlen hervorgegangener Volksvertretungen für die politische Willensbildung und Entscheidung bedient, bewährt?"

Um mich nicht im Uferlosen zu verlieren, enge ich die Frage weiter ein auf die Fassung: Ist der Deutsche Bundestag seiner Aufgabe, das Wohl des deutschen Volkes zu mehren und Schaden von ihm zu wenden, gerecht geworden? Ganz bewußt halte ich mich dabei an die Eigangsformel des Ministereides, der in einfachen Worten den Pflichtenkranz politischer Ethik beschreibt.

Es wäre ungerecht, die Frage nach der Bewährung unserer Volksvertretung an einzelnen Phasen der Nachkriegszeit oder gar an den mediatisierten Turbulenzen der jüngsten Zeit messen zu wollen. Uns stehen 40 Jahre Probezeit mit allen Aktiven und Passiven für die Bilanz zur Verfügung, denn nicht erst das Grundgesetz vom 13. Mai 1949 ist der Beginn der parlamentarischen Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland.

Schon wenige Monate nach der Kapitulation vom 8. Mai 1945 bildeten sich kleine und größere Parlamente auf Gemeinde-, Kreis-, Bezirks-und Landesebene. Dabei kommt es gar nicht so sehr auf die damals recht unterschiedlichen Mitbestimmungen der Besatzungsmächte, die sich Berufungen und Bestätigungen reservierten, an. Diese parlamentari11 sehen Körperschaften mündeten über ein geschlossenes System von Länderverfassungen in die Verfassungsordnung unseres Grundgesetzes ein, das sich mit Bedacht auf den anderen Teil Deutschlands auf die Bezeichnung „Grundgesetz" selbstbeschränkte, obwohl es nach Inhalt und Ordnungskraft schon heute eine Statik bewiesen hat, wie keine frühere verfassungsmäßige Ordnung. Wenn auch bis 1949, dem Inkrafttreten des Grundgesetzes, schon die Weichen gestellt und ein unglaubliches Teilstück des Wiederaufbaues vollbracht waren, hat der neugegründete Bund der elf deutschen Länder aus eigener Kompetenz nicht nur dem materiellen Wiederaufbau zusätzliche Kräfte aus dem Verbund verliehen, sondern in den sechs Jahren von 1949 bis 1955 vor allem die Rückführung des freien Teils Deutschlands in die Völkerfamilie mit vollen Rechten und Pflichten zustandegebracht. Ich überspringe hier die folgenden Jahre, ihre Koalitionen, das Auf und Ab der politischen Wetterlage und fahre fort mit der aktuellen Situation von heute.

Mit einem Export von 430 Milliarden DM, einem Exportüberschuß von 40 Milliarden DM und der geringsten Inflationsrate von 2, 4% seit 15 Jahren stehen wir in der Spitzengruppe der Weltwirtschaftsmächte. Noch vor den heute mit uns verbündeten Siegermächten Frankreich und Großbritannien sind wir der wichtigste Bündnispartner der westlichen Führungsmacht, den Vereinigten Staaten von Amerika. In der Europäischen Gemeinschaft sind wir ein Brückenpfeiler. Historische Völkerfeindschaften haben sich in solide Partnerschaften verwandelt, die nicht einmal mehr der bewährten/berüchtigten unverbindlichen Sonntagsreden bedürfen, weil sie, wie die französische Regierungssprecherin es erst kürzlich formulierte, zur unbestrittenen Selbstverständlichkeit geworden sind.

Wir haben in dem klassischen europäischen Krisengebiet, von dem alle großen Konflikte vor 1945 ihren völkerverschlingenden Ausgang nahmen, nicht nur den äußeren Frieden erhalten können. Auch den inneren Frieden haben wir zu bewahren gewußt und werden diesen auch weiterhin erhalten, wenn wir uns Realitätssinn genug bewahren, den Scharmützeln der gesellschaftlichen und politischen Kräfte nicht die überzogene Bedeutung zuzuordnen, die sie in der Verzerrung sensationshungriger Medienjünger erhalten, sondern sie in ihrer wirklichen Bedeutung einzuordnen. Die bürgerlichen Freiheiten haben in der Bundesrepublik einen fast exzessiven, in keinem vergleichbaren Land erreichten Rechtsschutz erhalten. Die freie Presse feiert Orgien. Das alles sind die Aktiven einer politischen Bilanz zum Stichtag 1. Januar 1985, an der alle Verfassungsorgane im Zusammenwirken ihren eigenständigen Anteil haben. Die entscheidende Verantwortung für diese erfreuliche Bilanz gebührt dabei dem Deutschen Bundestag im Zusammenwirken mit dem Bundesrat Diese Bilanz kann auch im internationalen Vergleich bestehen, was natürlich noch lange nicht heißt, daß alle Jahresbilanzen das gleiche freundliche Aussehen haben, wie die von mir aufgestellte Gesamtbilanz der ersten 35 Jahre.

Ein Parlament, das mehr als jede andere Institution der öffentlichen Kritik ausgesetzt ist, von der gerade bei uns als Volkssport ein aggressiver Gebrauch gemacht wird, vom Stammtisch angefangen bis zu den Stahlgewittern der Massenmedien, kann bei dieser Gewinn-und Verlustrechnung gar nicht so schlecht gewesen sein, wenn die biblische Erfolgsregel: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen" noch gilt.

Nimmt man diese biblische Erfolgsregel zum Maßstab, dann ist der Tisch in unserer Republik reichlich gedeckt. Breite Schichten unseres Volkes machen einen intensiven Gebrauch von dieser reichen Lebensausstattung; sie schwärmen als Touristen über die ganze Welt. Auf einem beispielhaften Straßennetz bewegt sich ein Millionenheer solider Mittelklassewagen. Ein dichtes Netz von Bildungseinrichtungen erfaßt jede Begabung bis in den letzten Winkel abgelegener grenznaher Provinzen. Dörfer und Städte bieten vor allem dem vergleichenden und deshalb geschärften Auge des Ausländers ein Bild harmonischer Ordnung. Das Ganze ist eingebunden in ein soziales Netz, das so dicht geknüpft ist, daß wir Schwierigkeiten mit seiner Finanzierung haben werden.

Die 518 Mitglieder des Bundestages scheinen in der 10. Folge der vierjährigen Legislaturperioden ganze Arbeit geleistet zu haben, die vom Ausland einmalige Anerkennung, wenn nicht Bewunderung findet. Dem hier geborenen und lebenden Bürger ist das zum kaum beachteten Alltag geworden, doch auf Gastarbeiter und Asylanten übt unser Land eine ungebrochene Anziehungskraft aus. Unter Lebensgefahr suchen Unterdrückte hinter dem Eisernen Vorhang den Weg zu uns.

Anhand der fast unbegrenzten Kommunikationsmöglichkeiten können wir die Effizienz parlamentarisch verfaßter Staaten im Vergleich zu Systemen sozialistischer Machart mit Pseudoparlamentsverfassung weltweit messen, im Nord-Süd-wie im Ost-West-Gefälle. Viele machen von den, wenn auch beschränkten Möglichkeiten, sich persönlich hinter dem benachbarten Eisernen Vorhang vom realen Sozialismus zu überzeugen, Gebrauch.

Wie erklärt sich angesichts dieser Szenerie das aufkeimende Krisengerede über ein Versagen des Parlamentarismus? Ist es das historisch erwiesene große Potential zum Selbst-mitleid, sind es die Wohlstandswirkungen, von denen schon im Volksmund gewarnt wird, oder eine innere Unsicherheit, erworben aus der schicksalsschweren Geschichte unseres Volkes, ist es der Generationswechsel, oder alles zusammen?

Im krassen Gegensatz zur Krisendebatte steht die sich immer erneuernde hohe freiwillige Wahlbeteiligung, durch die der Wähler in den zwei ersten Legislaturperioden den Bundestag von elf Parteien auf vier demokratisch verfaßte Fraktionen zurückgeschnitten hat. Im krassen Gegensatz zur Krisendebatte steht auch, daß radikale Gruppierungen, die sich nicht zum Grundgesetz bekennen, bis auf wenige Ausnahmen in den sechziger Jahren (NPD), nie die 5% Hürde zu Landes-und Bundesparlamenten überwunden haben.

Wie bereits dargelegt, sind die Jahresbilanzen des bundesdeutschen Geschehens von durchaus unterschiedlicher Qualität. Die wachsenden Schwierigkeiten, komplizierte nationale und international verzahnte Zusammenhänge zu durchschauen, mögen als Ausdruck von Hilflosigkeit Anlaß zu Mißmut geben. Die auf den Wettbewerb der Parteien ausgerichteten, in der Konfrontation von Regierungspartei(en) und Oppositionsparteien agierenden Parlamente übertreiben vor allem in den nach außen sichtbaren Aktivitäten nach Form und Inhalt ihre Wettbewerbsrolle, die von der Öffentlichkeit als leeres Gezänk empfunden werden.

Einer systemimmanenten Neigung nachgebend, fallen die Medien in den Chor der Kritik ein. Die leeren Abgeordnetenbänke, die, so hat man den Eindruck, vom Fernsehen fast genüßlich vorgeführt werden, bestärken den Eindruck der fehlenden Sinnhaftigkeit parlamentarischer Arbeit.

Der Normalbürger sieht dabei die politischen Vorgänge zunächst aus seiner unmittelbaren Interessenlage, wofür er keinen Vorwurf verdient. Da es in der Natur politischer Entscheidungen liegt, sich oft recht mühselig von Kompromiß zu Kompormiß fortzuschleppen, mischen sich unvermeidlich im Bewußtsein der Bürger die Vor-und Nachteile parlamentarischer Arbeit lotteriehaft. National und international eng verzahnte Zusammenhänge versperren dem Bürger den Blick für die Ratio der Sachzwänge; die unvermeidliche Behandlung der Probleme nach isolierten Sachbereichen versperrt den Blick auf die Auswirkungen auf Nachbarbereiche.

Hinzu kommt die zunehmende Fixierung auf Themen des flüchtigen Zeitgeistes wie atomare Bewaffnung, atomare Energie, Umwelt-fragen, die wegen ihrer weltweiten Implikationen und der Last unlösbarer Komplexität sich im Wunschdenken bizarrster Ausprägung finden. . •

Beschränkt man sich auf die unmittelbare Gegenwart, so bilden die sogenannten Pannen des Jahres 1984, beginnend mit Kießling, der Spendensteueramnestie, Buschhaus und Flick, breit ausgewalzt im Medienverbund, den Stein des Anstoßes.

Die überraschend erfolgreiche Grundströmung bundesdeutscher Politik, nämlich die enorme Reduzierung der Inflationsrate, die kräftige Rückführung der Staatsverschuldung, der sensationelle Ausfuhrüberschuß, eine stabile Mark, das gute Einvernehmen in EG und NATO, die Wiederaufnahme der Abrüstungsgespräche, das Stoppen der saisonbereinigten Zunahme der Arbeitslosigkeit sowie neuerdings wieder vorhandene volle Auftragsbücher, blieb unbemerkt.

Es ist nicht einmal gelungen, bei den beliebten, in Vorverurteilungsmanier zu Affären hochstilisierten und immer wieder variierten Spielarten Dichtung und Wahrheit zu trennen. Die Femegerichte der Medien nehmen vielmehr in grober Verletzung der Prärogative der Justiz das Urteil vorweg; die oft sehr späten Erkenntnisse der ordentlichen Gerichte haben keine Chance, noch die öffentliche Aufmerksamkeit zu erreichen oder gar zu korrigieren.

So ging in der Kießling-Affäre vollständig unter, daß der Minister sich gewöhnlich auf seine Mitarbeiter verlassen können muß. Bei der Steueramnestie hat die Öffentlichkeit kein Wort davon erfahren, daß die Nachzahlung der nicht abgeführten Steuern Bedingung für den Straferlaß war und daß in der Zwischenzeit das Oberste Finanzgericht in einer Entscheidung den Steuerpflichtigen Vertrauenschutz gewährte. Bei Buschhaus ging vollständig unter, daß alle politischen Gruppierungen unter dem Schock der damaligen Ölkrise standen und gemeinsam den Bau des Kohlekraftwerkes beschlossen. Schließlich wurde für Buschhaus ein anderes umwelt-schädliches Kohlekraftwerk stillgelegt, so daß die Summen der Umweltschäden erheblich reduziert wurden — trotz Inbetriebnahme des modernen neuen Kraftwerkes. Der Fall Flick ist bei den ordentlichen Gerichten anhängig, doch die Urteile sind längst von den Medien gefällt worden.

Was solche . Affären" allerdings mit einer Krise des Parlamentarismus zu tun haben sollen, bleibt unerfindlich. Damit ist nicht gesagt, daß nicht gewisse Änderungen vorgenommen werden sollten; denn keine menschliche Einrichtung ist vollkommen, und entsprechend läßt sich die Organisation unserer Volksvertretung sicher auch verbessern. Seit langem gibt es hierzu den Bericht einer Enquete-Kommission, die interessante Verbesserungsvorschläge erarbeitet hat, von denen einige schon umgesetzt wurden.

Ich selbst zähle jedoch nicht zu denen, die bei jedem Mißstand sofort nach dem Gesetzgeber verlangen. Vielmehr bin ich der Auffassung, daß Ideale nicht zu verwirklichen sind, daß die besten Gesetze von Menschen ausgeführt werden müssen und daß überall, wo Menschen am Werke sind, ihre Arbeit von all ihren Tugenden, aber auch all ihren Fehlern geprägt wird. Es gibt altehrwürdige Parlamente, die mit jahrhundertealten Formen und Regeln auch im Atomzeitalter gut zurechtkommen. Nach meiner 23jährigen Parlamentserfahrung würde ich allerdings dennoch, zwar nicht überstürzt und vom Einzelfall abhängig, einige Änderungen nach gründlicher Beratung Vorschlägen: a) Die größte Schwäche unseres Parlaments sehe ich in der kurzen Wahlperiode von vier Jahren. Vier Jahre ist eine knappe Frist Neu formierte Kabinette brauchen ein Jahr zur Einarbeitung und „Einschulung" durch ihre Bürokratie. Dann verbleiben knapp zwei Jahre Arbeitszeit die sogar noch unterbrochen werden können, wenn Landtagswahlen in den jeweiligen Heimatbundesländern die Minister fordern. Wir haben schon Bundesländer, die von der vierjährigen Periode auf fünf Jahre umgestiegen sind (z. B. Nordrhein-Westfalen); alle haben an Stabilität zugenommen. Noch besser als diese starre zeitliche Lösung wäre m. E. die englische Lösung, wonach der Premierminister in einem Zeitraum von fünf Jahren Neuwahlen ansetzen, aber auch die fünf Jahre aussitzen kann; Perfektionisten, die wir sind, dürften allerdings für solche Optionen nicht begabt sein.

b) Überflüssig wie ein Kropf sind die soge-nannten Ersten Lesungen, die der Mattscheibe soviel Gelegenheit geben, die leeren Stühle ihrer gutbezahlten Volksvertreter zu höhnen. Ein Hauptausschuß in nicht öffentlicher Sitzung kann vielleicht sachgerechter als ein zu 5 v. H. besetztes Plenum die Verweisung an die Ausschüsse dekretieren. Er sollte aber auch die Befugnis haben, als Ausnahme eine erste Lesung an das Plenum zu verweisen.

c) Unter keinen Umständen darf an den nichtöffentlichen Ausschußsitzungen gerührt werden. Sie sind ein wahrer Segen unserer Ordnung. Daß mehr als 90 v. H. unserer Gesetze einstimmig verabschiedet werden, wie dies in kommunalen Parlamenten selbstverständlich ist, ist viel zu wenig bekannt, wenn nicht überhaupt geheime Bundessache.

d) Bisher gab es einen einzigen Fall von nachgewiesener Abgeordnetenbestechung. Der CDU-Abgeordnete Steiner gestand, für seine Pro-Stimme bei der Abstimmung über das konstruktive Mißtrauen gegen Willy Brandt am 27. April 1972 50 000, — DM erhalten zu haben. Trotz öffentlicher Selbstbeschuldigung Steiners, die Summe von Karl Wienand, dem SPD-Fraktionsgeschäftsführer erhalten zu haben, konnte die Untersuchung nicht klären, ob die Bestechungssumme von der SPD stammte.

Damit sind wir beim Thema Untersuchungsausschüsse. Aktualisiert meine ich, daß es unserer Rechtskultur nicht dienlich sein kann, daß sich juristische Amateure mit Dingen befassen, die bei ordentlichen Gerichten anhängig und gut aufgehoben sind. Hier muß die Justiz den Vortritt haben. Ab Zulassung einer schwerwiegenden Anklage sollte der Ehren-rat des Bundestages die Möglichkeit haben, den Abgeordneten zu suspendieren mit dem Recht, sein Stimmrecht einem Kollegen seiner Wahl zu übertragen, da der Wähler die Vertretung des Wahlkreises beanspruchen kann.

e) Die Untersuchungsausschüsse sollten sich überdies eine neue Geschäftsordnung geben, streng nach der Norm der Strafprozeßordnung. Ein Berufsrichter hohen Ranges als Vorsitzender wäre ein wichtiger Beitrag, diesen Ausschüssen größere Anerkennung zu verschaffen.

f) Die aus dem angelsächsischen Parlaments-bereich entliehenen Anhörungsveranstaltungen sind ein psychologischer Wahnsinn. Da werden 30 Abgeordneten aus unterschiedlichsten Berufen etwa 20 bis 30 hochkarätige Experten aus einem ganz speziellen Sachgebiet vorgeführt. Es ist eine gesicherte Erfahrung, daß nur ganz wenige Menschen in der Lage sind, tagelang Informationen aufzunehmen, noch weniger sie zu verarbeiten.

Man könnte dieses Problem einfach dadurch mildern, daß man jeden Experten verpflichtet, seine Meinung den Ausschußmitgliedern zwei Wochen vor der Anhörung in einer Kurzfassung vorzulegen, und den Ausschußmitgliedern das Recht einräumen, das vollständige Gutachten innerhalb der Zweiwochenfrist anzufordern, da erfahrungsgemäß nur wenige Mitglieder eines Ausschusses ein echtes Interesse an den jeweiligen Fragen haben.

g) Es gibt keinen Fraktionszwang; dies behaupten wider besseres Wissen alle Fraktionen. Der Bundestag wäre gut beraten, jeder offiziellen Tagesordnung eine Stunde anzufügen, in der . Abweichler" in fünf-bis zehnminütigen Beiträgen ihre persönliche, vom Grundgesetz geschützte Meinung vortragen können.

h) Meine weiteren Anregungen richten sich an die Parteien und betreffen ihre Nominierungspraxis. Den Klagen über die Überbesetzung der Parlamente durch Angehörige des öffentlichen Dienstes, die sich unerwarteten Beförderungen gegenübersehen, sowie durch Funktionäre der Parteien aus allen nur denkbaren Verbänden, könnte dadurch abgeholfen werden, daß sich die Parteien, aus eigener, rechtlich nicht zu verordnender Disziplin, entschließen, für einen großen Teil ihrer Kandidaten kommunale Praxis zu verlangen. Der parteinotwendige Ausgleich mit Prominenten aller Grade kann leicht über die Landeslisten geschehen.

i) Das größte Übel unseres Parlaments scheint mir darin zu liegen, daß die Abgeordneten, wenn auch durch großzügig bemessene Ferien dotiert, das ganze Jahr über tagen und sich damit zu Berufspolitikern promovieren. Eine Frühjahrs-und Herbstsaison muß genügen. Die unerträgliche Gesetzesflut kann nicht einmal von der Verwaltung verarbeitet werden, geschweige denn sich im Bewußtsein des Bürgers ansiedeln. Eine Gesetzgebungspause wäre ein Segen für alle.

j) Der unbegreiflichen Gesetzesflut kann aber auch noch mit anderen Mitteln begegnet werden. Zwar muß bereits heute bei jeder neuen Gesetzesinitiative die Dringlichkeit einer neuen Regelung und der finanzielle Aufwand dargelegt werden, doch sind diese Kautelen, gut gemeint bei ihrer Normierung, mittlerweile zur Schablone erstarrt.

Eine Wiederbelebung dieses Begründungszwanges für neue Gesetze muß daher in seinen Konditionen verschärft werden. So glaube ich, daß nur ein nachgewiesenes dringendes Bedürfnis eine legislative Aktivität rechtfertigen kann. Auch die finanziellen Folgekosten bedürfen einer höheren Konkretisierung. Man kann diesem Mangel einfach ab-helfen, wenn die Urheber der Gesetzgebung gezwungen werden, nach angemessener Frist in Erfüllung einer Beweislast die in Aussicht gestellten Verbesserungen nachzuweisen.

Das gleiche gilt für die finanziellen Folgekosten.

Deshalb sollten die Gesetzesvorhaben unter einen Aufhebungsvorbehalt gestellt werden.

k) Wir wären gut beraten, unsere Gesetzgebung angesichts der so unheimlich raschen Situationsveränderungen zeitlich zu befristen.

Nach Ablauf der Frist sollte ein Überprüfungstermin stattfinden.

1) Wir waren ohne ausreichende Begründung stolz darauf, daß wir unseren parlamentarischen Betrieb der Medienöffentlichkeit geöffnet haben. Ältere Demokratien mit besserer medienmäßigen Ausstattung haben sich diesem Trend aus guten Gründen bisher nicht angeschlossen bzw. bewegen sich erst neuerdings zaghaft in diese Richtung. Ein großer Teil der angeblichen Krise dieses Parlamentarismus läßt sich auf diese exzessive Prostitution an die Massenmedien erklären, die an einer schlechten Außendarstellung nicht unschuldig sind.

Zwar gäbe es zu diesem Reizthema wie zu allen gemachten Vorschlägen noch eine Menge auszuführen, festzuhalten bleibt, daß bei den gewählten Beispielen und Vorschlägen dargelegt werden sollte, daß es bei der vordringlichen Kontinuität durchaus Möglichkeiten gibt, Verbesserungen anzubringen, ohne die im Grunde gelungene Ordnung zu gefährden.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Hermann Höcherl, geb. 1912; Studium der Rechte in Berlin, Aix-en-Provence und München; Staatsanwalt, Rechtsanwalt sowie Amtsgerichtsrat; Mitglied des Deutschen Bundestages von 1953 bis 1976 (CDU/CSU-Fraktion); von 1961 bis 1965 Bundesminister des Innern; von 1965 bis 1969 Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten; nach dem Ausscheiden aus dem Bundestag tätig als Rechtsanwalt