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Individualität, Pluralismus und Konsens in der westlichen Demokratie. Überlegungen zur Zukunftsgestaltung im modernen amerikanischen Konservatismus | APuZ 37-38/1986 | bpb.de

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APuZ 37-38/1986 Außenpolitische Grundlinien der Regierung Reagan Die „neue Agenda“ politischer Diskussion in den USA Das amerikanische Parteiensystem im Wandel Individualität, Pluralismus und Konsens in der westlichen Demokratie. Überlegungen zur Zukunftsgestaltung im modernen amerikanischen Konservatismus

Individualität, Pluralismus und Konsens in der westlichen Demokratie. Überlegungen zur Zukunftsgestaltung im modernen amerikanischen Konservatismus

Horst Mewes

/ 28 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Was bedeutet Konservatismus in den USA heute? Aktuelle Beiträge zur Diskussion verdeutlichen, inwieweit die Spannungen zwischen der amerikanischen Tradition des Individualismus, des gesellschaftlichen Pluralismus und des in der Demokratie erforderlichen Wertekonsenses auch dem Konservatismus zu schaffen machen. Einerseits scheint Befürwortung des radikalen Wirtschaftsindividualismus die politische Diskussion zu beherrschen; andererseits sorgen sich konservative Autoren um den gesellschaftlich und politisch unverantwortlichen hedonistischen Individualismus der Konsumgesellschaft. Dabei geht es um die zentrale Frage bezüglich der gesellschaftlichen und kulturellen Vorbedingungen eines verantwortlichen Individualismus, also eines Wertekonsensus als Grundbedingung für den rechtverstandenen Individualismus. Die Spannungen zwischen radikalem Individualismus und die Sorge um das „public good“ und der „civic morality", die in der Demokratie nicht einfach einer politischen Zentralgewalt überlassen werden dürfen, sind auch beherrschendes Thema der amerikanischen konservativen Debatte. Als den gesellschaftlich verantwortlichen Individualismus wiederherstellenden Wertekonsens, der sich gleichzeitig mit der amerikanischen Tradition vereinbaren läßt, wird zunehmend ein auf „religiösen“ Glauben basierender Fortschrittsoptimismus angeboten.

I. Konservatismus und liberale Demokratie in der amerikanischen Gesellschaft

Die Administration Ronald Reagans kann sich insofern als politisch erfolgreich bezeichnen, als sie den weitverbreiteten Pessimismus, den Verlust an Selbstvertrauen, das Gefühl außenpolitischer Ohnmacht und die wirtschaftliche Stagflation der siebziger Jahre überwunden hat, und dies trotz der andauernden gewaltigen Haushalts-und Außenhandelsdefizite und der problematischen Beziehungen zur UdSSR 1).

Eine andere Frage ist, ob die Wahl Ronald Reagans im Jahr 1980 als Ausdruck und als Beginn einer Wende zum Konservatismus bei den Mittelschichtwählern gesehen werden kann. Zur Beantwortung dieser Frage gehört auch eine einigermaßen klare Vorstellung davon, was „konservativ“ in den USA heute bedeutet oder bedeuten kann. Um das Demokratieverständnis, die Grundprinzipien und gesellschaftlichen Ziele des derzeitigen amerikanischen Konservatismus zu erhellen, wird im folgenden ein Teil der der Reagan-Administration politisch nahestehenden und nicht ausschließlich an Akademiker gerichteten konservativen sozialphilosophischen Literatur dargestellt. Unsere kurze Untersuchung macht deutlich, daß es weder in der theoretischen Diskussion noch innerhalb der Wählergruppen, die die Reagan-Administration unterstützen, eine Übereinstimmung über Sinn und Bedeutung des Konservatismus gibt. Dies sollte nicht überraschen. Der intellektuell und gesellschaftlich vorherrschende Pluralismus hat längst auch das konservative Lager eingeholt. Zwar vermag der Präsident als politische Integrationsfigur konservative Wähler und Interessengruppen trotz zahlreicher Widersprüche zusammenzuhalten. Dennoch gibt es bisher keine einheitliche Definition von Inhalt und Zielen des Konservatismus, obwohl es ein erklärtes Ziel der Neokonservativen gewesen war, zum ersten Mal im 20. Jahrhundert eine ernst zu nehmende Doktrin eines amerikanischen Konservatismus zu formulieren Wie sich dies auf die konservative Politik in der Zeit nach Reagan auswirken wird, läßt sich schon allein deshalb nicht vorhersagen, weil bisher noch keine echte Diskussion zwischen Liberaldemokratie und Konservatismus über die Grundsätze einer zukünftigen amerikanischen Politik stattgefunden hat

Es ist unbestritten, daß der republikanische Präsidentschaftskandidat Reagan die Wahl von 1980 hauptsächlich aufgrund eines starken Votums gegen den unglückseligen Präsidenten Carter gewann. Dieser verkörperte fast sämtliche Schwächen, Anfälligkeiten und Niederlagen der jüngsten amerikanischen Vergangenheit in einer verunsicherten, von liberaldemokratischen Vorstellungen geprägten Gesellschaft. Bekanntlich beruhte Reagans politische Einzigartigkeit jedoch nicht darauf, daß er — im Gegensatz zu Präsident Carter — deutliche außenpolitische Stärke und Führungskraft sowie innenpolitisch eine Epoche wirtschaftlichen Wachstums und sinkender Inflationsraten einzuleiten versprach. Vielmehr betrachtet es Präsident Reagan bis heute als Herausforderung, die Liberaldemokratie der Demokratischen Partei als Hauptursache sämtlicher amerikanischer Probleme der letzten Jahrzehnte zu brandmarken. Dabei muß hervorgehoben werden, daß der Sieg Reagans im November 1980 das Ende eines langen, sich über Jahrzehnte erstrekkenden Zerfalls und Niedergangs der Liberal-demokratie und der Demokratischen Partei und damit gleichzeitig eine Schwächung ihrer Regierungsform — der Präsidialdemokratie — markierte. Mindestens seit der Spaltung der Demokratischen Partei in eine „Neue Linke“ und „Alte Linke“ bis zur Kandidatur George McGoverns für das Präsidentenamt 1972 war in akademischen und politischen Kreisen von der Krise, oder sogar vom Ende des „liberalism" die Rede Mit dem Stichwort der Antrittsrede vom Januar 1981, „government is not the solution to our problem, government is the problem“, griff Reagan jedoch explizit die Grundlagen der Regierungsform, nämlich der Präsidialdemokratie an, die die progressiven Liberaldemokraten im Laufe des 20. Jahrhunderts als notwendige politische Reaktion auf den modernen Industriekapitalismus herausgebildet hatten

Mindestens seit Woodrow Wilson und Theodore Roosevelt in der Präsidentenwahl von 1912 war es die erklärte Absicht der Präsidialdemokratie, die individuelle Freiheit der Mehrheit der Bürger auf nationaler Ebene insbesondere im wirtschaftlichen Bereich vor der wirtschaftlichen Machtkonzentration der Großkonzerne zu schützen. Der ökonomische Gleichheitsanspruch der Mehrheit sollte hauptsächlich durch das das nationale Gemeinwohl repräsentierende Präsidalamt gegenüber den im Kongreß vertretenen Partikularinteressen verteidigt werden Nach Ansicht Reagans und seiner Anhänger ist jedoch die mittlerweile mächtig angewachsene Bundesregierung selber zum Hauptfeind des Wirtschaftsindividualismus avanciert. Diese Entwicklung war nicht so sehr das Resultat des von F. D. Roosevelt während der Weltwirtschaftskrise eingeführten und von Reagan nie geänderten sozialen Sicherungssystems, sondern der Sozialpläne der „great society“, die unter Präsident Johnson Mitte der sechziger Jahre entwickelt wurden.

Hinter Präsident Reagan steht heute eine Vielzahl konservativer Gruppierungen, die sich bisher wahlpolitisch zwar zusammenhalten ließen, deren Widersprüche und Konflikte jedoch immer deutlicher werden. Diese konservative Wählerschaft setzt sich aus den folgenden Hauptrichtungen zusammen: Erstens den traditionellen Republikanern, die nochmals unterteilt werden können in eine kleine Gruppe des in der Vergangenheit einflußreichen Finanz-und Industriebürgertums der Ostküste sowie in die kleinstädtischen Mittelschichten des Mittleren Westens und Westens, die traditionelle Werte wie Religion, Patriotismus, Familienleben und „small business“ verkörpern.

Zweitens den Neokonservativen, die meist als ehemalige „liberals" eine politische Autoritätskrise und eine von der Neuen Linken verursachte allgemeine Kulturkrise der amerikanischen liberalen Gesellschaft wahrnehmen. Neokonservative unterstützen deutlicher als andere konservative Gruppen eine aktive, das Gemeinwohl im traditionellen Sinne fördernde Bundesregierung. Dies schon allein deswegen, weil Neokonservative meist eine starke, deutlich antikommunistisch orientierte Außenpolitik vertreten.

Drittens den Wirtschaftskonservativen, die sich als Liberale im Sinne des 19. Jahrhunderts verstehen und ausschließlich für eine zeitgenössische Version des „Nachtwächterstaats“ werben.

Viertens der „Neuen Rechten,“ die seit Ende der siebziger Jahre von den verschiedenen protestantischen Bibelfundamentalisten, populistischen, d. h. antielitären und antiliberalen Kulturfundamentalisten und ethnischen Gruppen europäischer Abstammung gebildet wird.

Die Neue Rechte, die zutreffend als Zusammenschluß neuer „Mittelschichtradikalen“ bezeichnet wurde, besteht demnach aus religiös und kulturell verunsicherten, von den sozialen und säkular-humanistischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte entfremdeten Wählern, die insbesondere auf lokaler Ebene aktiv in Kontroversen über das Bildungssystem, die Kulturpolitik, Frauenemanzipation, Minderheitenrechte, Abtreibung usw. eingreifen und traditionelle amerikanische Werte wie Familie, Religion und Patriotismus verteidigen. Bei den Anhängern der Neuen Rechten handelt es sich unter anderem auch um ehemalige George Wallace-Protestwähler der Demokratischen Partei. Diese sind ins konservative Lager abgewandert, weil sie sich von dem „upper class“ -Gehabe der Neuen Linken übergangen fühlten. Damit ist die konservative Reagan-Koalition zumindest für die Teile der weißen Mittelschicht und unteren Mittelschicht zur populistischen Protestpartei geworden, die davon überzeugt sind, daß sie die Rechnung für die „Sozialexperimente“ der Liberaldemokraten seit Präsident Johnsons „Great Society“ -Programmen Mitte der sechziger Jahre bezahlen mußten.

Innerhalb dieser verschiedenen Richtungen des Konservatismus herrscht jedoch keine Überein-stimmung über die konservativen Grundthemen des Individualismus, der allgemeinen individuel45 len Verantwortung für das Gemeinwohl auf nationaler Ebene und über die Rolle einer „öffentlichen Moral“ (public morality) als notwendiger Grundlage der Demokratie im Zeitalter eines stark ausgeprägten sozialökonomischen und kulturellen Pluralismus

Insgesamt besteht die an die moderne Liberaldemokratie gerichtete Herausforderung des derzeitigen Konservatismus im wesentlichen aus den folgenden, eng zusammenhängenden Behauptungen oder Thesen:

Erstens: Ein stark ausgeprägter Individualismus ist die notwendige Grundlage nicht nur der modernen kapitalistischen Wirtschaft, sondern auch der Demokratie. Der Verlust der Eigenverantwortung des Einzelbürgers und die zunehmende Abhängigkeit vom Staat zerstören gleichzeitig wirtschaftlichen Erfolg und die für die Volkssouveränität lebensnotwendige individuelle Selbständigkeit. Folglich ist auch das Gemeinwohl nur als Resultat der Übereinstimmung freier Individuen denkbar. Mit dieser These greift der Konservatismus auf eine der wesentlichen Grundüberzeugungen des amerikanischen Demokratieverständnisses zurück, das mindestens seit der Unabhängigkeitserklärung von 1776 ein Hauptelement der amerikanischen politischen Tradition ist. In diesem Punkt stimmt die Liberaldemokratie fast völlig mit dem Konservatismus überein.

Zweitens: Der Individualismus benötigt jedoch zu seiner Verwirklichung und Erhaltung eine von der Gesellschaft der Individuen geteilte öffentliche Moral (public morality), die, wie die Gründungsväter es formulierten, den „wachsamen und männlichen Geist“ (vigilant and manly spirit) des freiheitsliebenden Bürgers gleichzeitig herausbildet, unterstützt und fördert. Nur eine solche öffentliche Moral, basierend auf Protestantismus, Erziehung in der Familie, Schulbildung sowie Patriotismus, kann ein Abgleiten des Individualismus in zerstörerischen Egoismus und Anarchie verhindern. Aber diese hedonistische Version des Individualismus herrscht nach Ansicht vieler Konservativer heute vor, und zwar infolge von liberaldemokratischer Politik. Eine Rückkehr zum „alten“ Individualismus benötigt demzufolge auch die Rückkehr zur protestantischen Ethik des Frühkapitalismus oder des vorkapitalistischen Agrarstaats.

Drittens: Diese Kombination von Individualismus und einer diesen prägenden öffentlichen Moral, von wachsamem politischem Geist und gemeinsamer Lebenstradition bildet den ursprünglichen „american way of life“. Dieser war die eigentliche Ursache und der Garant von materiellem Fortschritt im modernen Sinne des Wortes. Auch dieser Fortschrittsglaube ist ein wesentlicher Teil des konservativen Credos. Sogar die Mehrzahl der Bibelfundamentalisten teilt diese Auffassung. Konservatismus heißt Zuversicht in einen beständigen wirtschaftlichen, technologischen und gesellschaftlichen Fortschritt, der im Rückblick die Geschichte der USA als eine Art „Sondermission“ auszeichnet. Der Konservative versteht sich somit als Revolutionär. Fortschritt als sich ewig wandelnder historischer Prozeß sei aber zuletzt auch deshalb unerläßlich, weil er durch seine Herausforderungen den traditionellen Individualismus und seine öffentliche Moral am Leben erhält.

Die Liberaldemokratie wurde von den Konservativen beschuldigt, im Laufe der letzten Jahrzehnte einen von dieser Tradition stark abweichenden Kurs verfolgt und damit die Grundlagen der amerikanischen Demokratie gefährdet zu haben. Dieser Kurs sei demnach der. eigentliche Grund für die zahlreichen Krisen der jüngsten Vergangenheit. Der konservativen Kritik zufolge hatte der falsche Kurs der Liberaldemokraten zwei Merkmale: Erstens wurde das Verantwortungsbewußtsein und die Selbständigkeit des Einzelbürgers durch stetig wachsende Staatstätigkeit — insbesondere in den Bereichen der Wirtschaft und des Sozialen — unterminiert. Zweitens wurde die traditionelle öffentliche Moral durch eine Politik der Unterstützung von Minderheiten-und Individualrechten ersetzt, die sich letztlich auf eine die gesamte öffentliche Moral zerstörende Privatmoral stützte. Damit förderte die Liberaldemokratie nach dem Urteil der Konservativen nicht nur den individuellen Hedonismus, sondern sie gefährdete auch die Grundlagen für jeden weiteren amerikanischen wirtschaftlichen und technologischen Fortschritt

Nun beweisen jedoch vielfältige konservative Diskussionsbeiträge über die Grundlagen der Demokratie, inwiefern diese vereinfachende Gegenüberstellung von Liberaldemokratie und Konservatismus nicht nur Probleme aufdeckt, sondern auch verdeckt. Diese konservative Kritik der Liberaldemokratie ignoriert nämlich, inwieweit auch die Liberaldemokratie praktische Versuche für eine Lösung von Problemen unternommen hat, die der traditionellen Doktrin vom Individualismus innewohnen. Diese Probleme können wie folgt zusammengefaßt werden: Erstens: Was den Individualismus betrifft, so ist die problematische Beziehung zwischen „Eigentumsindividualismus“ und „politischem Individualismus“ oder zwischen wirtschaftlicher und politischer Freiheit von Anfang an ein Grundproblem der Naturrechtstheorie und der Liberaldemokratie gewesen. Eigentumsindividualismus resultiert, trotz des Ideals der Chancengleichheit, in Ungleichheit; politischer Individualismus beschränkt sich notwendigerweise auf eine Gleichheit vor dem Gesetz.

Zweitens: Was die öffentliche Moral des Individualismus betrifft, so treten Probleme auf, sobald die Interpretation dieser öffentlichen Moral nicht mit den Grundrechten einzelner Individuen oder dem religiösen und kulturellen Pluralismus der modernen Gesellschaft vereinbar ist.

Drittens: Was den Zusammenhang zwischen traditionellem Individualismus und materiellen Fortschritt betrifft, ist die Frage, ob nicht viele der aufgrund dieses Fortschritts entstehenden ökonomischen Gegebenheiten den alten Individualismus unterminieren anstatt ihn zu fördern.

Im folgenden gehen wir anhand der konservativen Auseinandersetzung näher auf die Probleme des Individualismus und des Konsenses über die öffentliche Moral in der amerikanischen Gesellschaft ein.

II. Probleme des Individualismus

Die Verteidigung des Individualismus steht im Mittelpunkt der konservativen Politik und ihrer theoretischen Rechtfertigungsversuche. Wie bereits angedeutet, gehört jedoch auch die Diskussion über die „traditionelle Moral“ zum Thema des Individualismus, weil dieser im konservativen Selbstverständnis eine gewisse öffentliche oder gemeinschaftliche Moral zur Unterstützung benötigt. Irving Kristol, ein Neokonservativer, hat völlig recht mit seiner Behauptung, daß „Amerikaner gleichzeitig individualistisch und gemeinschaftsorientiert“ sind

Wichtig ist allerdings die Tatsache, daß in der heutigen Diskussion von mindestens zwei Varianten des Individualismus die Rede ist. Zunächst einmal wird der traditionelle Eigentums-oder Wirtschaftsindividualismus gegen „big government“ verteidigt. Diese Form des Individualismus spielt zweifelsohne eine Hauptrolle in der Politik der Reagan-Administration. Dabei muß unterstrichen werden, daß Reagan als konservativer Populist gleichzeitig die allgemeine politische Verantwortung für die Gesundheit und das Wachstum der Gesamtwirtschaft beibehält und sich in diesem Punkt nicht von der Liberaldemokratie unterscheidet. Zusätzlich wird der traditionelle Individualismus jedoch auch noch gegen eine moderne Version des Individualismus, nämlich die „neulinke Version“ der Liberaldemokratie, verteidigt. Während die Verteidigung des Wirtschaftsindividualismus im extremen Fall die Rolle von Staat und politischem Konsensus fast völlig ignoriert, unterstreicht die konservative Kritik des heutigen hedonistischen, angeblich liberaldemokratischen Individualismus demgegenüber die Notwendigkeit einer „public philosophy“, der „community“ und des Wertekonsens für die amerikanische Gesellschaft.

Die Verteidigung des traditionellen Individualismus (Schlagwort: weniger Staat) einerseits und die Kritik des hedonistischen Individualismus (Schlagwort: mehr Macht und Kompetenz [authority] für öffentliche Instanzen) andererseits sind nicht ohne weiteres vereinbar. Dieser potentielle Widerspruch unter den Konservativen weist auf die allgemeine Schwierigkeit hin, die der heutige amerikanische Konservatismus mit dem Konzept und dem Stellenwert des „citizenship“, der politischen Partizipation und des politischen Verantwortungsbewußtseins der individuellen Bürger insbesondere auf nationaler Ebene hat.

Darüber hinaus stellen sich zumindest einige Neokonservative wie Daniel Bell die Frage, ob diese unterschiedlichen Formen des Individualismus nicht selbst vom kapitalistischen Gesellschaftssystem in seinen verschiedenen Entwicklungsstadien hervorgebracht wurden Damit kehrt Bell zu der Frage zurück, ob es nicht der Kapitalismus ist, der die größte Gefahr und Herausforderung für den Individualismus darstellt. Ein Rückblick auf die Progressivisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts verdeutlicht die Grenzen der konservativen Perspektive: Während die Progressivisten und später die Liberaldemokraten als ihre Nachfolger den traditionellen Individualismus dadurch zu verteidigen gedachten, daß sie mit dem Aufbau einer starken Bundesregierung ein Gegengewicht zur Wirtschaftsmacht der Kapitalmonopole schufen, wollen es die heutigen Konservativen mit dem Abbau dieser Regierung versuchen. Dabei übersehen sie die Möglichkeit, daß mittlerweile beide Mächte, nämlich multinationale Konzerne und eine starke Bundesregierung, gemeinsam eine Gefahr für ein echtes Fortleben des traditionellen Individualismus darstellen.

Der extreme Wirtschaftsindividualismus Ein extremer Wirtschaftsindividualismus wird in deutlicher Form von einem Autor vertreten, der zu Anfang der ersten Reagan-Administration großen Anklang in Washington fand. In seinem Buch „Wealth and Poverty“ verteidigt George Gilder einen unpolitischen, an den Sozialdarwinismus des 19. Jahrhunderts erinnernden Individualismus, der in dieser Form öffentlich von keiner konservativen Partei vertreten werden könnte 11).

Der Titel des Buches deutet schon an, daß es Gilder nicht hauptsächlich um politische Demokratie oder Bürgerrechte geht, sondern um das Prinzip des materiellen Fortschritts. Und dieser ist, Gilder zufolge, „unvermeidlich elitär“ Kapitalismus als materieller Fortschritt basiert auf der Innovationskraft, der kühnen, schöpferischen Initiative einzelner. Der Wagemut des einzelnen Unternehmers oder Investors, der ohne vorherige Absatz-garantien neue Produkte auf den freien Markt bringt, ist der Inbegriff des schöpferischen „Gebens“, das das eigentliche Wesen des Kapitalismus ausmacht. Gilder teilt dementsprechend ganz konsequent die Mitglieder der kapitalistischen Gesellschaft in zwei ungleiche Gruppen: die einzelnen, wenigen Schöpferischen (für das Angebot an Gütern im’Kapitalismus verantwortlich), und die große „Masse“, die nur zur Nachfrage nach diesen Gütern fähig ist.

Gilder zufolge können „demokratische Massen nicht schöpferisch oder genial sein. Sie können nur reagieren. Sie bejahen oder verneinen lediglich die schöpferischen Angebote der Unternehmer in Wirtschaft und Politik.“ Öffentliche Meinung (public opinion) ist nur Nachfrage, nie Angebot. Dementsprechend ist demokratische Politik, die Politik der „unschöpferischen“ Massen, letztendlich selbstzerstörerisch, insofern sie ausschließlich Forderungen stellt, das Angebot der geforderten Güter aber nicht selbst garantieren kann. Jedenfalls prallen die Ideale demokratischen Fortschritts mit den Voraussetzungen des materiellen Fortschritts zusammen: „Gleichheit, bürokratische Rationalität, Berechenbarkeit, sexuelle Befreiung, politischer Populismus und das

Streben nach Genuß und Vergnügen sind schlicht unvereinbar mit der Disziplin und den Investitionen des wirtschaftlichen und technologischen Fortschritts.“ Das heißt aber, daß die nachfrageorientierte, demokratische Politik zur ökonomischen und politischen Stagnation führt:...... entstanden aus dem liberalen Bestreben, dem Volkswillen zu folgen und den Druck der Armut zu lindern, endet die nachfrageorientierte Politik in Arbeitslosigkeit und der Abhängigkeit der einzelnen von einer stark regulierten Wirtschaftsordnung und einer geschichteten hierarchischen Ordnungspolitik“

Gilders Neuformulierung des Sozialdarwinismus des späten 19. Jahrhunderts ist selbstverständlich wegen ihrer deutlich antidemokratischen Tendenzen in dieser Form für die heutige konservative Politik unakzeptabel. Der Populist Reagan muß seine Wirtschaftspolitik demokratisch begründen: Die Begünstigungen der Erfolgreichen werden somit als dem allgemeinen Wirtschaftswachstum förderlich dargestellt, das letztendlich allen Bürgern helfen wird. Die Verantwortung des Politikers, des Präsidenten, für die Gesamtwirtschaft bleibt bestehen: Demokratische Politik wird nicht nur als Racheakt der Schwachen betrachtet. In der bunten Koalition des heutigen Konservatismus würde Gilder höchstens bei einer verschwindend kleinen Anzahl extremer Liberaler Anklang finden können. Auch als Theoretiker der „angebotsorientierten“ Ökonomen ist er allzu unpolitisch, und dies ganz abgesehen davon, ob seine Vorstellungen von Kreativität im heutigen Zeitalter der Organisationen und Interdependenzen zutreffen.

Gemeinschaftsorientierter Individualismus Eine grundverschiedene Betrachtungsweise des Individualismus im demokratischen Industriekapitalismus findet man bei dem katholischen konservativen Sozialphilosophen Michael Novak, der ebenfalls eine gewisse Rolle in der Politik der USA spielt Novak widerspricht zunächst einmal der unter den zahlreichen Kritikern des Kapitalismus gängigen Meinung, daß extremer Eigentumsindividualismus die Grundlage des kapitalistischen Systems bildet. Nach Ansicht von Novak sind ein „gemeinschaftsorientierter Individualismus“ sowie starke, dem Kapitalismus inhärente Tendenzen zur Kooperation und Interdependenz das Fundament dieses Gesellschaftssystems. Nicht das Individuum, sondern die Familie ist die kleinste Zelle im System: Der Mensch bleibt auch im Kapitalismus ein soziales Wesen. Darüber hin-aus unterstreicht Novak allgemeine, wechselseitige Abhängigkeiten, die Förderung von Kooperation nicht nur auf lokaler, sondern auch auf globaler, zwischenstaatlicher Ebene, die Begünstigung von durch Arbeitsteilung geförderte Zusammenarbeit usw. als notwendige und meist außer acht gelassene Aspekte des demokratischen Kapitalismus. Da der extreme Individualismus auch im Kapitalismus eher die Ausnahme als die Regel ist, ist Novak zufolge auch das berühmte Entfremdungsphänomen im Kapitalismus übertrieben worden.

Vor diesem Hintergrund eines in zahlreichen sozialen Gruppen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten eingebetteten Individualismus kann Novak die pluralistische Gesellschaft und die freie Marktwirtschaft ohne inneren Widerspruch als Vorraussetzungen der individuellen Freiheit anpreisen. Er lehnt eine einheitliche, auf christlichem Glauben basierende, gesetzlich geschützte öffentliche Moral ab. Er unterscheidet zwischen einem „praktischen, zivilen (oder bürgerlichen) Glauben“, der dem politischen und gesamtgesellschaftlichen System zugrunde liegt, und einem religiösen Glauben, der privat bleiben sollte. Trotzdem kann Novak auch religiöse Gründe für sein soziales Ideal anbieten, nämlich das Konzept der christlichen „caritas“ Für Novak ist es fast selbstverständlich, daß menschlicher Egoismus, auch wenn es sich um ein „aufgeklärtes Konzept des Eigeninteresses“ — wie z. B. das der freien Marktwirtschaft — handelt, einer moralischen Begrenzung, einer idealistischen Richtungsorientierung bedarf. Der Kapitalismus geht nach Novak stets von der Sündhaftigkeit des Menschen aus; darin unterscheidet er sich von jeglichem Utopismus. Auch aus religiöser Perspektive ist der einzelne Mensch letztlich auf sich allein angewiesen. Einsamkeit lasse sich jedoch nicht durch gesellschaftliche Programme und Reformen, sondern nur im Glauben überwinden. Trotzdem sind für Novak Kulturpolitik sowie diejenigen Glaubenssätze und Grundrechte, die den demokratischen Kapitalismus unterstützen, der wichtigste Aspekt dieses Systems, ohne die die zahlreichen Kritiker dieses Systems den politischen Sieg davontragen könnten.

Die Kritik des hedonistischen Individualismus Das im Augenblick bekannteste Beispiel einer Kritik des derzeitigen hedonistischen Individualismus ist das Werk von Robert N. Bellah und Mitarbeitern Den Ausgangspunkt von Bellahs Untersuchung, die an Alexis de Toqueville anknüpft, bildet die Feststellung, daß der Individualismus im Mittelpunkt der amerikanischen Kultur steht Dieser Individualismus ist insofern problematisch, als die amerikanische Kultur „seit langem durch die akut ambivalente Beziehung zwischen Selbstbewußtsein und Gemeinschaft (community) charakterisiert“ wird. Das Verhältnis von Individuen, die sich für autonom halten und gleichzeitig vom bürgerlichen Republikanismus zur gesellschaftlichen Solidarität aufgefordert werden, sei das größte ungelöste Problem der amerikanischen Geschichte überhaupt Nach Ansicht von Bellah und Mitarbeitern hat der Individualismus in unserem Zeitalter ein derartig zerstörerisches Ausmaß erreicht, daß nur eine grundlegende Reform der politischen Kultur ein Abgleiten in Despotismus verhindern kann

Der heutige Individualismus ist nach Bellah von einem selbstgefälligen „Ich-Syndrom“ geprägt. Zumindest in der weißen Mittelschicht findet man zunehmend die Tendenz zur Isolierung des Individuums in dem Sinne, daß die Einzelperson sich insbesondere in schweren Lebenslagen kaum mehr auf traditionelle Lebensweisen, Religion oder gemeinschaftliche Sinngebung verläßt. Statt dessen versteht sich der radikale Individualist zunehmend als Überlebenskämpfer (survivor) in einer nur schwer verständlichen, unkontrollierbaren Welt, die dem Einzelmenschen weder politisch noch gesellschaftlich einen höheren Sinn zu vermitteln vermag. Der einzelne empfindet weder eine Bindung an traditionelle Religionen noch die staatsbürgerliche Verpflichtung zur Teilnahme am politischen Gemeinwesen. Durch diese Loslösung verliere der einzelne gleichzeitig Stärke, Halt und Kriterien für die Selbstdisziplin.

Ursache dieser problematischen Entwicklung ist, so Bellah, letztlich die industriekapitalistische Konsum-und Massengesellschaft, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die traditionellen amerikanischen Lebensweisen unumkehrbar veränderte. Dabei ist bei der amerikanischen Entwicklung besonders hervorzuheben, daß die Größenordnung und die pluralistische Vielfalt der kontinentalen amerikanischen Nation es dem Durchschnittsamerikaner ungemein erschweren, sich als Einzelbürger mit der Gesamtnation — oder genauer mit dem Gemeinwohl (public good) der Nation — zu identifizieren. Das traditionelle, vorkapitalistische Politikverständnis war auf die persönlichen Erfahrungen auf kommunaler Ebene begrenzt und basierte auf „voluntary Cooperation“ und der Herstellung von Harmonie durch persönliche Mitwirkung von sozial homogenen Bürgern. Die moderne nationale Politik besteht jedoch hauptsächlich aus dem Wettstreit unzähliger Einzelinteressen. Zähes Ringen und Feilschen, Übereinkünfte und Kompromisse wirken auf die harmoniebedürftigen Bürger abstoßend.

Die Mittelschichten wenden sich daher von der nationalen Politik als „dirty business“ ab und überlassen das Feld, wenn auch nur ungern, den professionellen Politikern. Nur noch Momente von patriotischem Nationalismus vermögen es, die ersehnte Einheit von persönlichem Identifizierungsbedürfnis und nationaler, sinnstiftender Zielstrebigkeit zu schaffen. Die Suche nach dem Gemeinwohl (public good) bleibt Bellah zufolge das unvollendete Trachten und Streben Amerikas

Bei Bellah und Mitarbeitern handelt es sich bezeichnenderweise meist um ehemalige Liberaldemokraten, die den derzeitigen Konsumindividualismus als Gefahr betrachten, und die alle amerikanischen Traditionen — vom Glauben bis zum Republikanischen Bürgersinn — bemühen wollen, um diesen Individualismus wieder einzudämmen und in ein religiös-politisches Gemeinwohl-Denken einzubetten. Dieses Anliegen erscheint ihnen „weder als liberal noch als konservativ“, sondern es wird als Grundlage für einen neuen Konsens, der über die alten politischen Dogmen hinausreicht, begriffen. Wie aber kann der Einzel-bürger im Kontext der nationalen Politik wieder einen Sinn für sein eigenes Leben entdecken? Die Autoren denken an eine Partizipation in nationalen, sozialen Bewegungen. Ihr Modell ist dabei das Beispiel der Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre, in welcher der einzelne auf kommunaler und nationaler Ebene persönlich teilnehmen konnte und auch auf nationaler Ebene ein Gefühl von Harmonie zwischen dem einzelnen und den nationalen Werten hergestellt wurde, weil die breite Bürgerrechtsbewegung an Grundwerte der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und Verfassung appellierte. Überraschenderweise erwähnen die Autoren dabei nicht die Vielzahl sich oft heftig befehdender Bürgerbewegungen der jüngsten Vergangenheit, wobei Initiativen für und gegen die Emanzipation der Frau, für und gegen das Recht auf Abtreibung usw. völlig entgegengesetzte Meinungen in öffentlichem Streit austrugen. Es bleibt also unklar, wie man heutzutage die Isolierung des Individualismus durch eine Orientierung auf das Gemeinwohl oder „public good“ überwinden kann. Bellah fordert mehr „commitment“, also Bindung, Verpflichtung an öffentliche, gemeinschaftliche Auf-gaben und Ziele. Führt dies in einer stark pluralistischen Gesellschaft jedoch automatisch zu einer den einzelnen stärkenden Harmonie zwischen nationalem Wohl und Einzelwohl?

Kapitalismus und Hedonismus Auch der bekannte neokonservative Soziologe Daniel Bell sorgt sich über den heutigen hedonistischen Individualismus und den Mangel an einer „public philosophy“, d. h. einem der Gesamt-nation richtungweisenden konsensfähigen politischen Zweck Ursache dieses Individualismus sei die moderne Konsumgesellschaft oder vielmehr die „kulturellen Widersprüche“ dieses Wirtschaftssystems. Woraus bestehen diese Widersprüche? Bell unterteilt das kapitalistische System in den ökonomischen, den politischen und den kulturellen Bereich. Jeder Bereich wird von einem ihm eigenen Prinzip regiert: der ökonomische Bereich vom Prinzip der Effizienz, der politische von den Prinzipien der Rechtsgleichheit, Bürger-rechte, Repräsentation und Partizipation, die Kultur von den Prinzipien der persönlichen Selbstentfaltung, des Egoismus, des Strebens nach Selbstverwirklichung und Genuß.

Der Frühkapitalismus sei durch eine Übereinstimmung zwischen den Prinzipien der verschiedenen Bereiche gekennzeichnet: Der protestantisch-puritanische Glauben, asketische Arbeitsmoral und individuelle Aufopferung unterstützten die vom Kapitalismus geforderte Effizienz und den Verzicht auf Konsum. Dies war die moralische Einstellung des Bürgertums der frühen repräsentativen Republik. Durch den Niedergang des Glaubens verlor der Kapitalismus seine öffentlich-moralische Rechtfertigungsgrundlage. Die Niederlage des Puritanismus sei dadurch verursacht worden, daß die Legitimation des sozialen Verhaltens Von der Religion auf die modernistische Kultur überging. Modernismus heißt hier Romantizismus: Spontanität und Begeisterung des schaffungsfreudigen Künstlers; die persönliche Selbstentfaltung wird zum gesellschaftlichen Ideal und verdrängt das Symbol des asketischen, pragmatisch-kalkulierenden Bürgers. Die Entfaltung eines individuellen „life-styles" verdrängt die Selbstverwirklichung durch Arbeit. Bell zufolge ersetzte diese romantische Moral nicht nur die protestantische Religion, sondern sie wurde gleichzeitig zum wichtigsten Motor des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels: Das Wirtschaftssystem mußte nun die neuen, kulturellen Bedürfnisse erfüllen.

Massenkonsum im modernen Kapitalismus, welcher auf einer allgegenwärtigen, den Luxus, den Genuß und die Selbstverwöhnung anpreisenden Massenwerbung basiert, ist die auf massendemokratische Verhältnisse angepaßte Mentalität der romantischen Künstleravantgarde 24). Damit hat aber der Kapitalismus außer dem persönlichen Hedonismus jegliche öffentlich-moralische Rechtfertigungsgrundlage verloren. Nach Bell „besitzt die westliche Gesellschaft weder eine , civitas‘, noch eine spontane Bereitschaft zur Aufopferung für ein öffentliches Ziel, noch besitzt sie eine politische Philosophie, die die Werte und Normen und Prioritäten der Gesellschaft rechtfertigt“. Man ehrt die Nation, deren Mitglied man ist, nicht mehr, statt dessen bereichert man sich auf Kosten des Gemeinwohls 25).

Neben diesem Widerspruch zwischen persönlicher Existenz und Öffentlichkeit besteht noch ein zweiter, der im Wirtschaftssystem begründet ist. Der Kapitalismus selbst benötigt zwei verschiedene, ja gegensätzliche moralische Orientierungen: Im Bereich der Produktion ist auch heute noch „Arbeitsmoral“ gefragt, im Bereich des für das Wirtschaftswachstum erforderlichen Massen-konsums setzt sich jedoch der Kult des hedonistischen Individualismus immer weiter durch. Für den Neokonservativen Bell können diese Widersprüche nur durch eine neue „public philosophy“ überbrückt oder gar beseitigt werden.

Was für Vorstellungen hat Bell von einer „public philosophy“ in einer Gesellschaft mit ungewöhnlich vielfältigen pluralistischen Interessen, die außerdem noch auf einem stark ausgeprägten Individualismus basiert? Allgemein gesagt fordert Bell eine Neuformulierung der Legitimitätsprinzipien, der gesellschaftlichen Grundwerte. Es geht ihm um eine Neuformulierung gesellschaftlicher Zielvorstellungen, um einen Konsens über die „guten Bedingungen“ für das Gesamtwohl, die die Gesellschaft herzustellen beabsichtigt. Es geht ihm schließlich um die Zielstrebigkeit der Nation, um ihre Entscheidungs-und Willensstärke (common will), um das Schicksal (destiny) der Nation, das heute im allgemeinen Hedonismus unterzugehen drohe 26).

Was bleibt nun aber noch als Möglichkeit, wenn man nicht willens ist, zur alten amerikanischen „manifest destiny“ des späten 19. Jahrhunderts zurückzukehren? Bell erwähnt einen „new social compact“, der sich auf folgende drei Elemente gründet: 1. Eine erneute Bekräftigung der amerikanischen Vergangenheit, um die Kontinuität wiederherzustellen, die zu Verpflichtungen in der Zukunft nötig ist; 2. eine Wahrnehmung der begrenzten Ressourcen und der Bedürfnisprioritäten; 3. eine Übereinstimmung über Gerechtigkeit und Fairness 27). Dabei betont Bell jedoch zugleich, daß in der heutigen, pluralistisch fragmentierten Gesellschaft nicht ein allgemeines Interesse, sondern nur Regeln, Rechte und Situationen die „public philosophy“ konstituieren können, die allen Personen trotz ihrer unterschiedlichen Interessenlagen dienen; denn der heutige „öffentliche Haushalt“ sei keine Gemeinschaft (community), sondern nur eine Arena, „in der keine normativen Regeln (außer dem , bargaining‘) bestehen, die das Gemeinwohl definieren“

III. Gemeinwohl, Konsens und demokratischer Pluralismus

Während die konservative Tagespolitik sich meist mit der Parole des Individualismus begnügt und dazu tendiert, das Problem des nationalen Konsenses und der Zielstrebigkeit der Gesamtnation — die „national destiny“ — überwiegend mit Hilfe außenpolitischer Manöver zu lösen, nimmt die Debatte über den „national purpose“ einen weitaus wichtigeren Platz in der konservativen Literatur ein. Nur wenige Konservative begnügen sich dabei mit dem extrem unpolitischen Individualismus Gilders, bei dem demokratische Politik letztendlich nur Ausdruck der Schwäche der un-schöpferischen Masse ist, deren Bedürfnisse sich in einer Politik der Nachfrage äußern. Für andere Konservative ist das Individuum vielmehr im Kontext der amerikanischen Nation, Geschichte, Tradition und Zukunftsorientierung das Problem. Die große Furcht dieser Konservativen ist die „Balkanisierung“ der amerikanischen Politik, also einer Stagnation aufgrund einer zunehmenden Zersplitterung von Interessengruppen, denen jegliche gemeinsamen Interessen und eine einheitliche nationale Zielstrebigkeit abhanden gekommen sind. Nur gemeinsame Ideale, so wird behauptet, können dieses Auseinanderdriften und diesen hedonistischen Egoismus beseitigen. Aus dieser Perspektive wird nicht nur der Individualismus, sondern auch der amerikanische Interessenpluralismus zum Problem. Die zentrale Frage ist somit, wie überhaupt in einer stark pluralistischen Gesellschaft, die auf einem materiellen Interessen-sowie auf einem ethnischen, religiösen und kulturellen Pluralismus basiert, sich ein Kon51 sens bilden kann, der auf eine nicht existierende Homogenität der Bevölkerung gegründet ist. Aber, so fragt man sich, was kann überhaupt in einer extrem individualistischen — und d. h. notwendigerweise dann auch extrem pluralistischen — Gesellschaft ein Konsens über ein „Gemeinwohl“ oder einen „national purpose“ konkret bedeuten? Die Diskussion unter den Konservativen, und nicht nur unter ihnen, geht daher um Gemeinwohlvorstellungen und die Wiederherstellung einer nationalen Einstimmigkeit, deren Fundament aber unklar ist. Was ist gemeint: Ein einheitliches Ziel der Alltagspolitik? Eine Übereinstimmung über die Grundwerte der Nation? Ein Konsens über die moralischen Voraussetzungen und gesellschaftlichen Bedingungen der Demokratie als Lebensweise? Eine Übereinstimmung über politische Verantwortung und Privatrechte aller Bürger? Einigkeit darüber, was das langfristige Ziel der Nation sein solle (Sonderschicksal)?

Das Problem des amerikanischen Pluralismus Am deutlichsten hat der bekannte Politologe Robert Dahl das Problem des amerikanischen Pluralismus als „Dilemma des Pluralismus“ beschrieben Dahl geht zunächst von der Notwendigkeit der positiven Beiträge, also der Erwünschtheit des Interessengruppen-Pluralismus in der modernen Demokratie aus. Eine Vielzahl von Interessengruppen trägt nicht nur dazu bei — wie schon die Gründerväter der USA, die Föderalisten argumentierten —, die Existenz einer großflächigen Republik mit heterogener Bevölkerung zu ermöglichen. Diese Interessengruppen leisten darüber hinaus einen wichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen und politischen Freiheit, indem sie „wechselseitige Kontrollen“ zwischen den vielfältigen Teilen der Gesellschaft in Kraft setzen und somit eine Machtkonzentration verhindern. Andererseits zeitigt der Pluralismus gewisse politische Nachteile, die sodann das „Dilemma“ hervorrufen: Erstens kann der Pluralismus dazu führen, politische Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zu stabilisieren. Zweitens kann er das allgemeine Bürgerbewußtsein deformieren, weil die Identifizierung des Einzelbürgers mit Interessengruppen zumeist stärker ist als die Identifizierung als Staatsbürger. Drittens können Gesetzgebungsprioritäten durch ungleichen Gruppeneinfluß verzerrt werden. Viertens schwächt die Interessengruppenpolitik die Einflußnahme auf und letztlich auch die Kontrolle der Tagespolitik durch die Bürger. Das Resultat ist politische Entfremdung und Apathie. Aufgrund des Dilemmas des Pluralismus in der heutigen Demokratie entsteht somit die zentrale Frage, wieviel Autonomie und wieviel Kontrolle die Einzelgruppen von Seiten einer demokratisch verantwortlichen Regierung erhalten sollten.

Wir gehen hier den Einzelheiten von Dahls Argumentation und seiner praktischen Vorschläge nicht nach. Von Interesse ist hauptsächlich, daß Dahl zufolge dieses Dilemma des Pluralismus in den USA im Vergleich zu anderen westlichen Demokratien bedeutend stärker ausgeprägt ist. Dies hat folgende Gründe: Das amerikanische politische und ökonomische System ist aufgrund des föderalistischen Aufbaus der Nation und des ausgeklügelten Systems der Gewaltenteilung und -Verschränkung weniger integrationsfähig und weitaus deutlicher fragmentiert als das der meisten anderen vergleichbaren westlichen Demokratien Außerdem fehlt die Integrationskraft von permanent organisierten nationalen Parteiorganisationen, weswegen Wahlen mehr Personal-als Parteiwahlen sind. Das Fehlen von einflußreichen Parteiorganisationen hat jedenfalls die Gründung und den politischen Aktivitätsgrad von Interessengruppen erhöht. Da die Verfassungsgründer aus Furcht vor der Möglichkeit der Machtkonzentration auf nationaler Ebene zusätzlich alles taten, um eine starke Einflußnahme permanenter Wähler-und Interessenmehrheiten auf die Regierung zu verhindern, ist es für Wählermehrheiten in den USA weitaus schwieriger, sich politisch durchzusetzen, als in den meisten westlichen Demokratien

Aus diesen und anderen Gründen entsteht in den USA auch unter den Konservativen der Gegenwart sehr leicht der Eindruck der „Balkanisierung“ der amerikanischen Nation und der Notwendigkeit, die Integrationsfähigkeit des nationalen politischen Systems durch „public philosophy“ oder Gemeinwohlideologien zu stärken. Für die politische Praxis hat dies zur Folge, daß auch ein den Individualismus preisender Konservatismus einen starken, führungsfähigen und als Integrationsfigur tauglichen Präsidenten benötigt. Durch die im Vergleich zu vielen anderen Demokratien verhältnismäßig starke ökonomische Ungleichheit wird die Notwendigkeit der Integration noch verstärkt. Diese relativ große Ungleichheit ist Dahl zufolge hauptsächlich das Resultat nicht von institutionellen und verfassungsrechtlichen Unterschieden gegenüber anderen Demokratien, sondern der Besonderheit der amerikanischen Ideologie des Individualismus. Demzufolge hat sich der Eindruck von ungefährer Chancengleichheit, der zur Zeit der Verfassungsgründung in der mit riesigen Flächen unbesiedelten Landes gesegneten Agrarnation entstand, auch im Zeitalter des Industriekapitalismus fortgesetzt und alle Ideologien einer radikaleren Umverteilung verdrängt Nach Ansicht von Dahl ist das Dilemma des Pluralismus (wieviel Autonomie und Kontrolle benötigen Interessengruppen?) in den USA heute auch nicht zuletzt deshalb so drängend, weil das Präsidentenamt als einzige integrationsfähige Regierungsinstanz des modernen Systems an Macht und Einfluß verloren hat. Der Grund dafür sei das „Dilemma“ des Präsidentenamts selbst: „Die Tendenz des Verfassungssystems, Wählermehrheiten zu übergehen; die relative Unabhängigkeit von Präsident und Kongreß; die Schwäche der politischen Parteien und die daraus resultierende Stärke der pressure-groups ermutigen die Präsidenten dazu, die festgesetzten Grenzen ihres Amtes durch Machtkonzentration im Präsidentenamt zu überschreiten und dessen politische Ressourcen außerhalb des Kontrollbereichs von Kongreß, Judikative und Wählern einzusetzen. Sobald jedoch die (zu erwartende, d. Verf.) Reaktion gegen diese exzessive Machtballung im Präsidentenamt einsetzt, verliert der Amtsinhaber generell an Wirkungskraft.“

Wir schließen daraus, daß die konservativen Argumente für mehr nationale Integration und Gemeinwohlorientierung sowie für „civic virtue“ zum großen Teil aus der Schwächung des Präsidentenamts während der letzten Jahrzehnte entstanden sind. Auch Präsident Reagan kann diesem Dilemma nicht entweichen. Einerseits verfolgt er eine Politik der Schwächung der Bundesregierung, andererseits benötigt diese Politik zu ihrem Erfolg ein starkes Präsidentenamt. Abgesehen davon benötigen gerade auch konservative Kräfte wie die „moral majority“ zur eventuellen Durchsetzung ihres christlichen Ethos als öffentliche Moral einen starken Präsidenten, schon allein deshalb, um die zu erwartende starke politische und gesellschaftliche Opposition zurückdrängen zu können.

Der Fortschrittsglaube als konsensfähiger Integrationsfaktor?

Für eine Reihe von Konservativen scheint sich eine konsensfähige Idee gefunden zu haben, die gleichzeitig den traditionellen Individualismus unterstützt und den USA eine neue gemeinschaftliche, nationale Zielstrebigkeit verleiht, die darüber hinaus Zukunftshoffnungen mit traditionellen amerikanischen Glaubenssätzen vereint. Gemeint ist der allgemeine Glaube an den Fortschritt. Hier stimmen der extreme Wirtschaftsindividualist Gilder, der konservative, gemeinschaftsorientierte Katholik Novak und der Neokonservative R. Nisbet überein: Das Ideal des materiellen und gesellschaftlichen Fortschritts, das von Anfang an Teil der Gründung der amerikanischen Republik gewesen war, ist angeblich fähig, trotz aller kultureller Unterschiede und Partikular-interessen den USA wieder das Gefühl eines Sonderschicksals und eines „national purpose“ zu verleihen. An diesem Punkt stimmt die Theorie am ehesten mit der Alltagspolitik überein; denn schon im Wahlkampf des Jahres 1980 versuchte Kandidat Reagan den lähmenden Pessimismus der siebziger Jahre durch einen neuen, d. h. erneuten amerikanischen Zukunftsoptimismus und ein neues Selbstvertrauen zu ersetzen. Notwendiges Fundament des Fortschritts ist aber das Wirtschaftswachstum. Optimistischer Fortschrittsglaube als Kennzeichen Amerikas, und nicht die Restauration der von der „moral majority“ geforderten christlichen Moral, wurde daher zum Kernpunkt konservativer Politik. Hat Reagan aber damit auch schon bewiesen, daß der Fortschrittsglaube als konsensfähiger Grundwert als solcher genügt, um den heutigen USA einen „national purpose“ zu verleihen?

Der Glaube an den Fortschritt als konservatives Credo beinhaltet zugleich, daß der Konservative sich als „realistischer Revolutionär“ versteht und den demokratischen Kapitalismus als einen permanenten Revolutionsprozeß betrachtet Andauernder wirtschaftlicher und technologischer Wandel und gesellschaftspolitische Anpassung an diesen Wandel sind das Grundgesetz dieses Revolutionsprozesses. Der Konservative „konserviert“ nur diesen Prozeß selbst und nicht etwa die sozioökonomischen Gegebenheiten irgendeines Stadiums dieses Prozesses. Sozialistische Versuche, diesen Prozeß im Namen der Gerechtigkeit und Gleichheit unter politische Kontrolle zu zwingen, und hedonistischer, unverantwortlicher Egoismus sind die beiden größten Gefahren für die Aufrechterhaltung dieses Wandlungsprozesses.

Man entdeckt allerdings sehr verschiedene Grundlagen für diesen optimistischen fortschritts-und zukunftsorientierten Konservatismus. Er kann einmal auf dem „religiösen Glauben“ basieren, der „die größten pragmatischen und historischen Wahrheiten beinhaltet, daß nämlich freie Menschen, die an die Zukunft glauben, sich behaupten und durchsetzen (prevail) werden“ Eine Folge dieses Glaubens ist die Ablehnung des einst populären Knappheitdenkens, das in den siebziger Jahren im Zuge der neuentdeckten Umweltkrise vorherrschte, sowie die Ablehnung der Idee einer voraussehbaren, planbaren rationalen Gesellschaft. Statt dessen zelebriert man die „Religion“ der Freiheit des kreativen Individuums, weil in einem gewissen Sinn alle schöpferischen Gedanken auf religiösem Glauben gründen. Die Logik der Kreativität bestimmt, daß Glaube vor dem Wissen kommt. Der entscheidende Aspekt allen Wandels und aller Kreativität ist aber der Zufall. Als Grundlage des Wandels und des menschlichen Fortschritts bezeichnet Gilder den Zufall als „Wirkung des Göttlichen“. Größte Fehlleistung eines Politikers wäre es, sein Volk „von der Vorsehung, der wunderbaren Fülle an Zufällen“ durch ein geschlossenes Plansystem abzuschneiden

Novak — auch konservativer, zukunftsorientierter Revolutionär — zelebriert dagegen den Zufall, (oder den Zufall als Kern der menschlichen Freiheit) nicht in dieser extremen Form. Im Einklang mit seiner Vorstellung eines „gemeinschaftsorientierten Individualismus“, den er als Grundlage des demokratischen Kapitalismus betrachtet, basiert die Erneuerungskraft und Kreativität der kapitalistischen Gesellschaft nicht auf purem Zufall, sondern auf eine „zum Vorschein kommende Wahrscheinlichkeit“ (emergent probability). Der Fortschrittsglaube gründet sich somit auf den Glauben an eine Welt, die „nicht logisch, geometrisch, ganz vorraussehbar“, die aber auch nicht „total verrückt, irrational und von Intelligenz undurchdringlich ist“, sondern die vielmehr auf Wahrscheinlichkeitskalkulationen reagiert Fortschritt wird ermöglicht von einer dem intelligenten Menschen offenen Zukunftswelt. Diese wiederum wird nur in einer offenen, pluralistischen Gesellschaft und einer von pragmatischer Moral kontrollierten freien Marktwirtschaft für den Menschen eröffnet.

Nisbet konstatiert in seiner politisch motivierten Arbeit über die Geschichte der Fortschrittsidee in der westlichen Kultur, daß der Glaube an den Fortschritt immer im Zentrum der westlichen Zivilisation gestanden habe, daß aber charakteristischerweise dieser Glaube im 20. Jahrhundert abhanden gekommen sei. Nach Nisbet bestand der Fortschrittsglaube traditionell aus fünf Grundsätzen: 1. einem Glauben an den Wert der Vergangenheit; 2.der Überzeugung von der Überlegenheit der westlichen Zivilisation; 3.der Anerkennung des Wertes von wirtschaftlichem und technologischem Wachstum; 4. einem Glauben an die Vernunft und auf Vernunft basierender wissenschaftlicher Erkenntnis; 5. einem Glauben an den wesentlichen Wert des menschlichen Lebens. Jeder dieser Grundsätze ist Nisbet zufolge gegen Ende des 20. Jahrhunderts für die westliche Zivilisation fragwürdig geworden. In der derzeitigen Atmosphäre des Irrationalismus und Solipsismus sieht Nisbet nur einen Hoffnungsschimmer, und zwar nicht in der Politik, sondern in dem „Anfang einer religiösen Erneuerung“ im Westen, hauptsächlich in den USA. Er sieht die Möglichkeit, ja sogar die Wahrscheinlichkeit einer großen religiösen Reformation Nicht durch Politik, die in der Bevölkerung immer mehr an Glaubwürdigkeit verliert, sondern aufgrund einer wiedergeborenen Religion kann der Fortschrittsglaube wiedererweckt werden. Denn nur tiefer religiöser Glaube kann den Glauben an die westliche Zivilisation unterstützen und ermöglichen. Nur die Religion kann die Heiligkeit des Lebens und des menschlichen Wissens herstellen, und beide sind die wichtigsten Vorraussetzungen für einen Glauben an den Fortschritt. Wie diese erhoffte religiöse Reformation aussehen könnte — ob es sich um eine christliche Reformation handeln würde oder um eine breitere ökumenische Bewegung, und welche Auswirkungen diese Reformation auf die heutige, pluralistische Grundlage der modernen Gesellschaft haben würde —, wird von Nisbet nicht erläutert. Zusammenfassend wollen wir noch einmal auf das Hauptproblem des gegenwärtigen amerikanischen Konservatismus und seiner Varianten hinweisen: Wie der konservative Politologe S. Huntington hervorhebt, benötigte die USA von Anfang an eine „national civic religion", das Amerikanische Credo, weil die Prinzipien der amerikanischen Politik lange vor der eigentlichen Herausbildung der nationalen Gesellschaft und des politischen Systems bestanden. Ein wesentlicher Aspekt dieses Credos ist aber bis zum heutigen Tag die Opposition gegen politische Machtkonzentration geblieben

Aus dieser Sicht hatten die USA — historisch betrachtet — immer schon ein schwaches politisches System. Die meisten konservativen Theoretiker sind sich dieser Erbschaft bewußt, besitzen aber auch keine stichhaltige Antwort auf die Frage, wie in der politischen und wirtschaftlichen Großmacht USA die Tradition des unpolitischen Individualismus mit dem unter den heutigen Umständen notwendigen hohen Bürgerbewußtsein und der „civic morality" zu vereinbaren ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe Irving Kristol, Reflections of a Neoconservative, New York 1983, Introduction, sowie Irving Kristol, Two Cheers for Capitalism, New York 1978.

  2. Liberaldemokratie wird im folgenden durchgängig als Übersetzung von den „liberals" der Demokratischen Partei gebraucht. Zum Thema der nicht stattfindenden Debatte zwischen „liberals“ und Konservativen siehe Robert Kuttner, What’s the Big Idea?, in: The New Republic, November 18, 1985. Siehe auch Linda J. Medcalf/Kenneth M. Dolbeare, Neopolitics, American Political Ideas in the 1980’s, New York 1985.

  3. Siehe Theodore Lowi, The End of Liberalism, New York 1969.

  4. President Reagan’s Inaugural Address, New York Times, January 21, 1981.

  5. Siehe Horst Mewes, Einführung in das politische System der USA, Heidelberg 1986.

  6. Siehe Kevin P. Phillips, Post-Conservative America, People, Politics and Ideology in a Time of Crisis, New York 1982. Siehe auch Peter Steinfels, The Neoconservatives, New York 1979.

  7. Siehe Robert Nisbet, History of the Idea of Progress, New York 1980.

  8. Irving Kristol, Reflections (Anm. 2), S. XIV.

  9. Daniel Bell, The Cultural Contradictions of-Capitalism, New York 1976.

  10. Ebd., S. 259.

  11. Ebd., S. 38.

  12. Ebd., S. 259.

  13. Ebd., S. 39.

  14. Siehe Michael Novak, The Spirit of Democratic Capitalism, New York 1982.

  15. Ebd., S. 353.

  16. Siehe Robert N. Bellah et al, Habits of the Heart, Individualism and Commitment in American Life, Berkeley 1985.

  17. Ebd., S. 142.

  18. Ebd., S. 256.

  19. Ebd., S. 294.

  20. Ebd., S. 252.

  21. Bell (Anm. 10).

  22. Ebd., S. 256.

  23. Siehe Robert Dahl, Dilemmas of Pluralist Democracy, New Haven 1982.

  24. Ebd., S. 189.

  25. Ebd., S. 190.

  26. Ebd., S. 175, 180.

  27. Ebd., S. 191.

  28. Novak (Anm. 16), S. 171 ff.

  29. Gilder (Anm. 11), S. 258.

  30. Ebd., S. 260, 261, 267.

  31. Novak (Anm. 16), S. 76.

  32. Nisbet (Anm. 8), S. 356.

  33. Siehe Samuel P. Huntington, American Politics. The Promise of Disharmony, Cambridge (Mass.) 1981, S. 223 ff.

Weitere Inhalte

Horst Mewes, Ph. D., geb. 1940; Studium der Politischen Theorie an der University of Chicago; seit 1970 Lehre der Politischen Theorie an der University of Colorado, Boulder; seit 1979 alljährlicher Lehrauftrag am Institut für Politikwissenschaft der Universität Tübingen. Veröffentlichungen u. a.: Die amerikanische Gesellschaft am Scheideweg, Stuttgart 1980; Wie mächtig ist der amerikanische Präsident?, Stuttgart 1980; Problems of Contemporary Aristotelianism, erscheint im Herbst 1986; Einführung in das politische System der USA, Heidelberg 1986.