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Bevölkerungsentwicklung und Auswirkungen auf die Rentenversicherung | APuZ 18/1989 | bpb.de

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APuZ 18/1989 Die Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland Immigration, Geburtenentwicklung und Wirtschaft Diskurs über Bevölkerungsfragen und Familienpolitik Bevölkerungsentwicklung und Auswirkungen auf die Rentenversicherung

Bevölkerungsentwicklung und Auswirkungen auf die Rentenversicherung

Rudolf Kolb

/ 15 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der vorliegende Beitrag zeigt, daß es aufgrund der Bevölkerungsentwicklung langfristig — auch bei vergleichsweise günstiger wirtschaftlicher Entwicklung — zu einem deutlichen Belastungsanstieg der Aktiven-einkommen kommen wird. Die Hauptlast der Entwicklung wird die gesetzliche Rentenversicherung zu tragen haben. Das vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger vorgestellte Konzept zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung macht aber deutlich, daß die Rentenversicherung auch im Fall einer ungünstigen Wirtschaftsentwicklung trotz der problematischen demographischen Entwicklung finanzierbar bleibt, ohne Änderung der Grundprinzipien und ohne Systemwechsel. Die im vorliegenden Entwurf eines Rentenreformgesetzes 1992 vorgesehenen Maßnahmen zielen in ihrer Gesamtheit in die richtige Richtung. Der Belastungsanstieg wird gebremst. Allerdings ist die vorgesehene Neuregelung des Bundcsanteils sowie die beabsichtigte Übertragung von Leistungen für Zeiten der Kindererziehung auf die Rentenversicherung unbefriedigend.

I. Einleitung

Schaubild 1: Bevölkerungspyramiden für die Jahre 1988, 2015 und 2040

Seit Jahren wird von vielen Seiten auf die einschneidenden Konsequenzen der künftigen Bevölkerungsentwicklung der Bundesrepublik Deutschland für ihre sozialen Sicherungssysteme hingewiesen. Die Folgen für die gesetzliche Rentenversicherung (gRV) als das mit Abstand bedeutendste Alters-sicherungssystem stehen dabei im Vordergrund. Die Wichtigkeit der Ergänzung der demographischen Betrachtungsweise um wirtschaftliche Aspekte bedarf der dringenden Verdeutlichung. Die Standpunkte der Rentenversicherung wurden dazu im Gutachten der Kommission des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger dargelegt. Vor diesem Hintergrund sind die im Entwurf eines Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung unterbreiteten Maßnahmen einzuschätzen.

II. Die demographische Entwicklung und ihre Folgen

Schaubild 2: Die Entwicklung des Rentenfall-, des Rentner-und des Eckrentnerquotienten

Zur Abschätzung der Folgen der demographischen Entwicklung für die gRV muß auf Modellrechnungen zurückgegriffen werden. Die Annahmen derartiger Rechnungen sind bei der Einschätzung der Ergebnisse zu beachten.

Die künftige Bevölkerungsentwicklung hängt entscheidend von der Entwicklung der Lebenserwartung, der Geburtenhäufigkeiten und der Wanderungssalden ab. Wird ein ausgeglichener Wanderungssaldo, etwa gleichbleibende Geburtenhäufigkeiten und eine weitere Verlängerung der Lebenserwartung unterstellt, kommt es für die Rentenversicherung zu sehr bedeutsamen Verschiebungen des Bevölkerungsaufbaues.

Der Anteil der potentiellen Altersrentner (60 Jahre und älter) wird kontinuierlich von gegenwärtig etwa 20 Prozent auf fast 40 Prozent bis zum Jahr 2030 steigen, gleichzeitig wird der Anteil der potentiellen Erwerbstätigen (20 bis unter 60 Jahre) von gegenwärtig fast 60 Prozent auf gut 45 Prozent der Gesamtbevölkerung im Jahr 2030 zurückgehen.

Der demographische Altersquotient, definiert als das Verhältnis der Personen im Alter von 60 Jahren und mehr zu den Personen im Alter von 20 bis 59 Jahren, wird dabei zwar zunächst nur allmählich zunehmen. Ab der Jahrtausendwende wird er bis 2030 jedoch auf einen Wert von über 80 Prozent ansteigen. Während gegenwärtig auf 100 potentielle Beitragszahler rund 36 potentielle Altersrentner entfallen, werden es daher im Jahr 2030 voraussichtlich mehr als 80 Personen sein.

Wie dramatisch diese Veränderungen langfristig ausfallen, läßt sich deutlich an Schaubild 1 ablesen. Es zeigt den Altersaufbau der Bevölkerung für die Jahre 2015 und 2040 und im Vergleich dazu den aus dem Jahr 1988. Der Prozeß der fortschreitenden Alterung der Bevölkerung ist augenfällig. Diese Überalterung ist der allgemeine Ausdruck einer schrumpfenden Bevölkerung. Langfristig entstehen für das im Umlageverfahren finanzierte Alterssicherungssystem der gRV aus der stetig abnehmenden Geburtsjahrgangsstärke unvermeidbar tiefgreifende finanzielle Folgen. Denn zu jedem Zeitpunkt entstammen die zu versorgenden „Alten“ Geburtsjahrgängen, die stärker besetzt waren als jene Geburtsjahrgänge, denen die als Beitragszahler in Betracht kommenden „Jungen“ entstammen.

Für die Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung kommt es allerdings nicht unmittelbar auf die Anzahl der Personen im Renten-und Erwerbs-alter an, sondern auf das Verhältnis von tatsächlichen Rentenbeziehern und tatsächlichen Beitrags-zahlem. Um diese Relation zu ermitteln, müssen die rein demographischen Rechnungen um solche ergänzt werden, die zum einen den Rentenzugang und den Rentenwegfall und zum anderen den Kreis ihrer als Beitragszahler Versicherten betreffen. Werden diese rentenspezifischen Sachverhalte in die Vorausrechnungen integriert, ist noch deutlicher als zuvor zu erkennen, daß die Rentenversicherung langfristig mit schwerwiegenden Problemen konfrontiert sein wird.

Unter den Annahmen gleichbleibender Erwerbs-quoten wird die Anzahl der Beitragszahler bis zum Jahr 2030 kontinuierlich von etwa 23 Mio. auf 14 Mio. zurückgehen, die Zahl der Rentenfälle hingegen von etwa 13 Mio. auf rund 20 Mio. und die der Rentner von etwa 11 Mio. auf knapp 17 Mio. zunehmen. Anders ausgedrückt: Auf der einen Seite sinkt die Anzahl der Beitragszahler um fast die Hälfte, auf der anderen steigt die Anzahl der Renten bzw. Rentner um etwa die Hälfte.

Während somit gegenwärtig auf 100 Beitragszahler rund 57 zu zahlende Renten (Rentenfallquotient) bzw. 49 Rentner (Rentnerquotient) entfallen, werden im Jahr 2030 auf 100 Beitragszahler rund 143 zu zahlende Renten bzw. 119 Rentner kommen (Schaubild 2). Das ist das 2, 5fache an Renten oder das 2, 4fache an Rentnern pro Beitragszahler.

Damit wird deutlich, daß auf die Rentenversicherung, bedingt durch die demographische Entwicklung, Probleme zukommen, die sich nicht durch kurzfristige Überbrückungsmaßnahmen bewältigen lassen.

Diese schwerwiegenden Probleme werden sich allerdings erst nach der Jahrtausendwende einstellen; der Handlungsbedarf besteht aber schon heute, weil die gRV nur durch Maßnahmen mit langfristigen Auswirkungen gestaltbar ist.

III. Die Entwicklung der Rentenversicherung bei geltendem Recht im gesamtwirtschaftlichen Kontext

Schaubild 3: Die Entwicklung des Beitragssatzes zur Rentenversicherung bei geltendem Recht und mit Kommissionsvorschlägen für unterschiedliche Szenarien

Die rein demographische Betrachtungsweise gibt aber kein abschließendes Bild. Zur Beurteilung von Reformmaßnahmen müssen auch die gesamtwirtschaftlichen Aspekte einbezogen werden. Denn die Zusammenhänge zwischen Rentenversicherung und Volkswirtschaft sind evident. Hier nur einige Hinweise auf die Bedeutung der wirtschaftlichen Entwicklung für die Rentenversicherung: — Die Beschäftigtenentwicklung zählt zu den wichtigsten Bestimmungsfaktoren der Rentenfinanzen. Arbeitsnachfrage und -angebot folgen aber ökonomischen Entscheidungsgesetzen; die Demographie übt auf sie einen nur mittelbaren Einfluß aus. — Das Arbeitseinkommen ist nicht nur mit Beiträgen zur Rentenversicherung belastet. Es muß die Gesamtheit aller sich durch die demographische Entwicklung ergebenden Be-und Entlastungen in allen Bereichen der sozialen Sicherung und der Gebietskörperschaften gesehen werden; schließlich müssen alle Leistungen aus den Einkommen finanziert werden. — Die Lage auf dem Arbeitsmarkt spiegelt sich direkt im Rentenzugang wider, sowohl bei den Früh-als auch bei den Altersrenten. Die wirtschaftliche Entwicklung beeinflußt somit unmittelbar auch das Rentenzugangsverhalten.

Daher vergab der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR) bereits 1985 ein Gutachten an die Prognos AG, das sich explizit mit den gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen und der Entwicklung der Rentenversicherung vor dem Hintergrund einer schrumpfenden Bevölkerung auseinandersetzt. Die dort getroffenen Annahmen zur Bevölkerungsentwicklung gelten im wesentlichen auch heute noch. Die Annahmen zur Außenwanderung werden von den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig gemacht: Zuwanderungen unter günstigen und Abwanderungen unter weniger günstigen ökonomischen Rahmendaten.

Auch wenn man die erheblichen Unsicherheiten einer Projektion der ökonomischen Entwicklung über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten bedenkt, so haben doch die daraus gewonnenen Ergebnisse eine hohe Qualität. Unter der Annahme, daß das geltende Recht der sozialen Sicherung und die bestehenden staatlichen Aufgabenbereiche im großen und ganzen unverändert fortbestehen, wird der Handlungsbedarf durch die Ergebnisse eines eher optimistischen (oberen) und eines eher pessimistischen (unteren) Szenarios plastisch beschrieben. Ohne hier auf die volkswirtschaftlichen Globaldaten eingehen zu können, soll an einige zentrale Ergebnisse aus diesem Gutachten erinnert werden, die die Entwicklung der Rentenversicherung und deren Folgen kennzeichnen.

Sowohl unter optimistischen als auch unter pessimistischen Rahmenbedingungen ist längerfristig bis zum Jahr 2015 und erst recht langfristig bis zum Jahr 2030 mit einem starken Belastungsanstieg bei den Bruttoarbeitsentgelten zu rechnen. Maßgebend dafür ist der überproportionale Anstieg der Sozialbeiträge, speziell derjenige der Rentenversicherungsbeiträge.

Im Jahr 1984 lag die volkswirtschaftliche Netto(einkommens) quote, die den netto verbleibenden Teil der Bruttoarbeitsentgelte der Arbeitnehmer mißt, noch bei 68 Prozent. Sie wird unter Status-quo-B Bedingungen im Jahr 2040 im oberen Szenario nur noch bei knapp 61 Prozent und im unteren Szenario bei knapp 53 Prozent liegen. Die Nettoquote würde folglich im oberen Szenario über den gesamten Zeitraum der Vorausberechnung hinweg um mehr als sieben Prozentpunkte, im unteren Szenario sogar um mehr als 15 Prozentpunkte sinken, wobei sich der Rückgang jeweils am stärksten im Zeitraum von 2015 bis 2030 vollzieht. Anders ausgedrückt: Die volkswirtschaftliche Abgabenquote, die den Anteil der Lohnsteuern und Sozialabgaben der Arbeitnehmer an ihren Bruttoentgelten mißt, wird im Jahr 2030 im oberen Szenario bei fast 40 Prozent und im unteren Szenario bei gut 45 Prozent liegen. Dennoch wachsen in beiden Szenarien die Bruttoeinkommen je Arbeitnehmer so stark, daß sie die steigende Abgabenbelastung überkompensieren. Die durchschnittlichen realen Nettoentgelte je Arbeitnehmer werden auch in Zukunft ansteigen; sie könnten aber deutlich stärker zunehmen, fiele der Anstieg der Abgabenbelastung nicht so groß aus.

Werden die Abgaben in ihre Komponenten zerlegt, so wird offenkundig, was den Anstieg verursacht. Da die Lohnsteuerbelastung nur unterdurchschnittlich steigt, verbleiben die Sozialbeiträge der Arbeitnehmer als Verursacher. Für die Arbeitslosenversicherung wird infolge der erwarteten Besserung der Lage auf dem Arbeitsmarkt mit einer finanziellen Entlastung gerechnet. Der Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung wird im oberen Szenario von 4, 6 Prozent im Jahr 1984 bereits bis zum Jahr 2000 auf 1, 5 Prozent zurückgehen, wegen der schlechteren Beschäftigungssituation im unteren Szenario erst bis zum Jahr 2015 auf nur 2, 5 Prozent. Für die gesetzliche Krankenversicherung wird dagegen ein Anstieg der durchschnittlichen Beitrags-sätze ausgewiesen. Dieser fällt jedoch im oberen Szenario moderat aus: Er steigt von 11, 4 Prozent im Jahr 1984 auf 12, 8 Prozent bis zum Jahr 2000. Auf diesem Niveau verharrt er in der Folgezeit bei leichten Schwankungen. Im unteren Szenario steigen allerdings die Beitragssätze über den gesamten Modellzeitraum hinweg stetig an, und zwar auf über 20 Prozent bis zum Jahr 2040.

Obwohl also auch die Beitragssätze zur Krankenversicherung zunehmen, ist zu erkennen, daß der überwiegende Teil des Belastungsanstiegs auf das Anwachsen der Beiträge zur Rentenversicherung zurückzuführen ist. Bei aller gebotenen Vorsicht gegenüber so weitreichenden Modellrechnungen ist zu erkennen: Selbst unter den günstigen Bedingungen des oberen Szenarios würde der Beitragssatz zur Rentenversicherung von gegenwärtig 18, 7 Prozent auf 27, 1 Prozent im Zeitraum bis 2015 und auf 36, 7 Prozent bis zum Jahr 2030 ansteigen. Im unteren Szenario wäre sogar ein Anstieg des Beitrags-satzesbis 2015 auf 29, 6 Prozent und bis 2030 gar auf 41, 7 Prozent nicht ausgeschlossen.

Daß die Beitragsbelastung am stärksten von der gesetzlichen Rentenversicherung in die Höhe getrieben wird, wird jedoch nicht allein an den beschriebenen Veränderungen der demographischen Altersstruktur, sondern auch durch den Rückgang des Finanzierungsanteils des Bundes an der Rentenversicherung sowie durch den Anstieg des Nettorentenniveaus verursacht.

Die Beibehaltung des derzeit geltenden Rechts, also die Anbindung des Bundeszuschusses an die Entgeltentwicklung, würde dazu führen, daß der Anteil des Bundeszuschusses an der Finanzierung der Rentenausgaben langfristig von 17, 3 Prozent in 1988 auf etwa 11 Prozent bis 13 Prozent im Jahr 2015 und danach absinkt. Da weder die Entwicklung der Rentenausgaben noch die der Beitragszahler Berücksichtigung finden, führt die Verschlechterung des Bevölkerungsaufbaues zu keiner Anpassung in der Höhe des Bundeszuschusses. Die zurückgehende Beteiligung des Bundes muß mit höheren Versicherungsbeiträgen erkauft werden.

Aber auch die Bruttoanpassung der Renten fordert ihren Beitrag. Das Nettorentenniveau würde sich bei geltendem Recht von etwa 72 Prozent im Jahr 1988 auf gut 76 Prozent bis 2030 im oberen und 82 Prozent im unteren Szenario — wegen der dort noch stärker steigenden Abgabenbelastung der Beschäftigteneinkommen — erhöhen.

Die Sozialleistungen der Gebietskörperschaften nehmen im Vergleich zu denjenigen der Sozialversicherung nur unterdurchschnittlich zu. Beispielsweise werden die Ausgaben für Kriegsfolgelasten demographisch bedingt auslaufen. Ferner wirkt sich die rückläufige Anzahl von Leistungsberechtigten dämpfend auf die Wachstumsraten für Leistungen bei den Ausgaben für Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe und Kindergeld aus. Das trägt dazu bei, daß die Steuerlastquote unter Status-quo-Bedingungen in beiden Szenarien weniger stark ansteigt als die Sozialbeitragsquote.

Allerdings entwickeln sich die verschiedenen Sozialleistungen der Gebietskörperschaften sehr unterschiedlich. Dadurch kommt es zu erheblichen Strukturverschiebungen. So weisen die Aufwendungen für öffentliche Pensionen Steigerungsraten auf, die erheblich über denen der sonstigen sozialen Leistungen der Gebietskörperschaften liegen. Die Folge ist, daß sich der Anteil der Pensionszahlungen am Gesamtvolumen der sozialen Leistungen der Gebietskörperschaften langfristig in etwa verdoppelt. Die Leistungsschwerpunkte verschieben sich damit auch bei den Gebietskörperschaften gravierend in Richtung auf die Alterssicherung.

Hierdurch wird in besonderer Weise deutlich, daß die Probleme, die sich aus der demographischen Entwicklung ergeben, nicht allein die Rentenversicherung, sondern auch andere Bereiche der gesetzlichen Alterssicherung betreffen. Maßnahmen zur Stabilisierung der Rentenversicherung verlangen vergleichbare Anpassungen in anderen Bereichen der gesetzlichen Alterssicherung.

Unter Einbeziehung der ökonomischen Entwicklung, die die sich aus der Demographie ergebenden Probleme entschärfen oder verschärfen können, zeigen die hohen Werte der im geltenden Recht erforderlich werdenden Rentenversicherungsbeitragssätze an, daß umfassende und nicht nur punktuelle Maßnahmen notwendig sind, um die Leistungsfähigkeit der Rentenversicherung zu gewährleisten. Daß dies unter Wahrung der Grundprinzipien des bestehenden Rentenversicherungssystems möglich ist, sei anhand der Auswirkungen der Vorschläge der VDR-Kommission demonstriert.

IV. Die ReformVorschläge der VDR-Kommission

Nach den Vorschlägen der Kommission des VDR sollte die Anpassung der gRV an die sich abzeichnenden demographischen und ökonomischen Veränderungen ausgewogen erfolgen und von allen an der gRV Beteiligten solidarisch getragen werden. Dazu hat sie ein Maßnahmenbündel vorgeschlagen, das folgende Bestandteile umfaßt: — Übergang zu einer Anpassungsformel, die die gleichgewichtige Entwicklung von verfügbaren Entgelten und Renten durch die Stabilisierung des Netto-Standard-Rentenniveaus gewährleistet, — Anhebung des Bundesanteils auf 20 Prozent der Rentenausgaben mit anschließender Fortschreibung entsprechend der Entwicklung von Renten-ausgaben und Beitragssatz, — Bemessung der Rentenversicherungsbeiträge für Lohnersatzleistungen nach dem vorausgegangenen individuellen Bruttoentgelt, — Neuregelung der beitragslosen Zeiten, — Veränderung im Rentenzugangsverhalten: Möglichkeiten eines flexibleren Übergangs vom Erwerbsleben in den Ruhestand und Bedingungen einer Verlängerung der Lebensarbeitszeit.

Auch im Hinblick auf die angestrebte ausgewogene Verteilung der Belastungen hat die Kommission darüber hinaus auf die dringende Notwendigkeit einer Harmonisierung der gesetzlichen Alterssicherungssysteme hingewiesen.

Werden die Auswirkungen der vorgeschlagenen Reformmaßnahmen wiederum innerhalb der beiden Szenarien des Prognos-Gutachtens untersucht, so ergeben sich im Vergleich zum geltenden Recht (Status-quo) erhebliche Reduzierungen im Anstieg des Beitragssatzes zur Rentenversicherung, wie aus Schaubild 3 zu ersehen ist. Der unter Status-quo-Bedingungen im oberen Szenario bis zum Jahr 2015 auf 27, 1 Prozent ansteigende Beitragssatz wird auf 21, 4 Prozent herabgedrückt. Die Begrenzungswirkung liegt hier bei 5, 7 Prozentpunkten und damit bei etwa einem Drittel des Anstiegs, der sich bei geltendem Recht ergeben würde. Im unteren Szenario würde der Beitragssatz statt auf 29, 6 Prozent um 6 Prozentpunkte weniger auf 23, 6 Prozent ansteigen. Der nach geltendem Recht errechnete Anstieg wird in diesem Fall etwa um die Hälfte vermindert.

Auf sehr lange Sicht, im Zeitraum nach dem Jahr 2015, fallen die Entlastungswirkungen noch deutlicher aus. Zu dem Zeitpunkt, in dem die Belastung aufgrund der demographischen Entwicklung etwa ihren Höhepunkt erreichen wird, kann im oberen Szenario der Beitragssatz durch die Maßnahmen um etwa zehn Prozentpunkte niedriger liegen als ohne diese; d. h. er beträgt im Jahr 2030 dann 26, 6 Prozent statt 36, 7 Prozent. Im unteren Szenario ergibt sich sogar eine Entlastung um 13 Prozentpunkte; der Beitragssatz erreicht eine Höhe von 28, 8 Prozentim Vergleich zu 41, 7 Prozent nach geltendem Recht.

Ferner kommt es, und das ist von besonderer Bedeutung, zu einer gesamtwirtschaftlichen Erhöhung der Netto(einkommens) quote der Arbeitnehmer und damit zu einer Verringerung der Abgabenlast bei den Aktiveneinkommen. Die Entlastungen von Rentenversicherungsbeiträgen werden also weder durch steigende sonstige Sozialbeiträge noch durch höhere Lohnsteuerbelastungen aufgezehrt.

Die Nettoquote steigt bereits bis 2015 im oberen Szenario um 0, 7 und im unteren Szenario um 1, 0 Prozentpunkte, jeweils gemessen an der Status-quo-Entwicklung. Wegen der größeren Beitragssatzverminderung fallen die Entlastungswirkungen im darüber hinausgehenden Zeitraum noch deutli-eher aus. Im oberen Szenario steigt die Nettoquote bis 2030 um 1, 7, im unteren Szenario um 2, 3 Prozentpunkte. Diese Entlastungen gelten im volkswirtschaftlichen Durchschnitt. Sozialversicherungspflichtige Arbeitnehmer mit Einkommen unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze ziehen aus einem Sinken des Beitragssatzes zur Rentenversicherung einen größeren Vorteil als diejenigen, die höhere Einkommen haben. Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung wird durch das vorgeschlagene Maßnahmenbündel nachhaltig positiv beeinflußt. Dabei ist es um so erfreulicher, daß die wirtschaftlichen Rückwirkungen unter weniger günstigen ökonomischen Rahmendaten nach Prognos stärker ausfallen als unter eher günstigen. Die initiierten Folgen eröffnen in vielen Bereichen neue Verteilungsspielräume und erleichtern dadurch die Übernahme von Belastungen aus erforderlichen Anpassungen.

Obwohl die Demographie für die Rentenversicherung eine erhebliche Herausforderung darstellt, kann das Fortbestehen der gRV gesichert werden, ohne ihre bewährten Grundprinzipien in Frage stellen zu müssen. Trotz aller Vorbehalte, die zwangsläufig allen derart weit in die Zukunft reichenden Vorausschauen entgegenzubringen sind, ist festzuhalten, daß geeignete Anpassungsstrategien vorhanden sind, die gerade auf sehr lange Sicht eine nachhaltige Problemlösung ermöglichen.

V. Entwurf zum Rentenreformgesetz 1992

Nunmehr liegt ein von den Regierungsparteien und der SPD-Opposition gemeinsam getragener Entwurf zum Rentenreformgesetz 1992 vor. Er enthält folgende Neuregelungen: -Nettoanpassung der Renten ab 1992, -Anhebung des Bundeszuschusses 1990/91 und ab 1992 Fortschreibung gemäß der Entgelte und des Beitragssatzes, — Anhebung der Beiträge für Lohnersatzleistungen ab 1995 auf 80 Prozent der Bemessungsentgelte, • — Anhebung der Altersgrenzen vom Jahr 2001 an bei gleichzeitiger Flexibilisierung, — modifizierte Ausdehnung der Rente nach Mindesteinkommen, — Neuordnung der Anrechnung und Bewertung beitragsloser und beitragsgeminderter Zeiten sowie

— Gewährung zweier zusätzlicher Kindererziehungsjahre für Geburten ab 1992.

Grundsätzlich wird dieser — von einer breiten parlamentarischen Mehrheit getragene — Entwurf von den Rentenversicherungsträgern begrüßt. Er orientiert sich in wichtigen Teilbereichen an den von der VDR-Kommission unterbreiteten Vorschlägen. Die vorgesehenen, finanzwirksamen Maßnahmen tragen zu der langfristig erforderlichen finanziellen Konsolidierung und Stabilität der Rentenversicherung bei.

Modellrechnungen des VDR zeigen, daß unter Berücksichtigung des Reformentwurfes im Jahr 2000 Beitragssätze zur gRV erreicht werden, die zwischen 20, 2 Prozent und 20, 6 Prozent (je nach Beschäftigtenentwicklung) liegen. Im Vergleich zur Status-quo-Entwicklung bedeutet dies, daß der Anstieg des Beitragssatzes um rund 2 Prozentpunkte gebremst wird.

Für das Jahr 2010 ergeben sich unter Berücksichtigung der Maßnahmen Beitragssätze zwischen 21, 2 Prozent und 22 Prozent. Die Minderung des Beitragssatzanstieges gegenüber geltendem Recht liegt zwischen 3, 2 und 3, 9 Prozentpunkten. Auch hier wird erkennbar, daß die Konsolidierungswirkungen unter vergleichsweise ungünstiger Arbeitsmarktentwicklung stärker einzuschätzen sind als unter günstigeren Umständen.

Außer der finanziellen Gesamtwirkung ist im Sinne der Belastungsverteilung der Umfang der einzelnen Maßnahmen zum Gesamtergebnis von Interesse. Werden die Entlastungswirkungen in Beitragssatzpunkten gemessen, zeigt sich für eine mittlere Beschäftigtenvariante: Die Nettoanpassung trägt mit rund 1, 1 Beitragssatzpunkten für das Jahr 2000 und etwa zwei Punkten für das Jahr 2010 am stärksten zur Entlastung gegenüber der Status-quo-Entwicklung bei, gefolgt von dem Bundesanteil mit 0, 6 (Jahr 2000) bzw. knapp 0, 9 (Jahr 2010) Punkten. Die Anhebung der Beiträge für Lohnersatzleistungen erbringt einen Einspareffekt von jeweils etwa 0, 3 Punkten in den Jahren 2000 und 2010. Demgegenüber führt die modifizierte Ausdehnung der Rente nach Mindesteinkommen zu einem zusätzlichen Ausgabeneffekt in Höhe von fast 0, 2 Beitragssatzpunkten im Jahr 2000 und 0, 25 Punkten im Jahr 2010. Die Anhebung der Altersgrenzen wird erst sukzessive ab 2001 finanzwirksam werden; der Einspareffekt liegt im Jahr 2010 bei 0. 2 Beitragssatzpunkten.

Daraus leiten sich die folgenden Belastungen für Beitragszahler, Rentner und Bund ab: Für das Jahr 2010 betrachtet, tragen die Beitragszahler mit rund 47 Prozent fast die Hälfte, die Rentner mit 34 Prozent etwa ein Drittel, der Bund jedoch mit 14 Prozent nur ein Siebtel der Gesamtbelastung. Andere Zweige der Sozialversicherung sind mit rund fünf Prozent beteiligt. Die von den Rentenversicherungsträgern geforderte ausgewogene Verteilung der Lasten wird also nicht erreicht. Die Lasten werden zugunsten des Bundes vor allen Dingen auf die Versicherten und wesentlich stärker auf die Rentner als auf die Steuerzahler abgewälzt.

Trotz der im Grundsatz bestehenden Übereinstimmung stehen die Rentenversicherungsträger allerdings einzelnen Maßnahmen des vorliegenden Entwurfs zum Rentenreformgesetz 1992 mit großer Skepsis gegenüber. Das betrifft vor allem — die unzulängliche Erhöhung und Dynamisierung des Bundesanteils, — die Übertragung der Kosten von Kindererziehungsleistungen als Maßnahmen des Familienlastenausgleichs auf die Versicherten in der gRV, — die Festschreibung der Schwankungsreserve auf einem zu niedrigen Niveau mit der Gefahr fortwährender Liquiditätsengpässe und — die Ausgestaltung der Bundesgarantie als bloße zwischenzeitliche Liquiditätshilfe, die zurückzahlbar ist.

Die Kommission des VDR hatte vorgeschlagen, den Bundesanteil auf 20 Prozent der Rentenausgaben anzuheben und gemäß der Entwicklung der Rentenausgaben sowie der des Beitragssatzes fort-zuschreiben. Die statt dessen im vorliegenden Gesetzentwurf vorgesehenen Maßnahmen bewirken lediglich, daß der Anteil des Bundes an den Rentenausgaben nicht erhöht, sondern in etwa stabilisiert wird. Dagegen hätte ein deutlich wachsender Bundesanteil drei entscheidende Vorteile: — Beitragszahler, Rentner und Bund würden jeweils gleichmäßig an der Finanzierung der absehbaren Mehrbelastungen beteiligt. — In langfristiger Sicht würden die Bundesmittel den Anteil der nicht beitragsgedeckten (sogenannten versicherungsfremden) Leistungen an den Rentenausgaben.der sich je nach Abgrenzung zwischen einem Viertel und einem Drittel der Rentenausgaben bewegt, damit immer noch nicht erreichen. — Der höhere Bundeszuschuß würde sich bei einer vergleichsweise ungünstigen wirtschaftlichen Entwicklung positiv auf die Einkommens-und Beschäftigungssituation auswirken.

Entgegen der bisherigen Finanzierungspraxis werden die Kosten der Anerkennung der Kindererziehungszeiten der Rentenversicherung übertragen. Trotz der dafür zum Ausgleich vorgesehenen einmaligen Erhöhung der Bundesmittel wird diese geplante Neuregelung abgelehnt:

-Sie führt erstens zu einem nicht sachgerechten Ergebnis. Die rentenrechtliche Anerkennung von Kindererziehungszeiten ist Aufgabe des allgemeinen Familienlastenausgleichs — was unbestritten ist. Die Finanzierung ist folglich aus Steuermitteln vorzunehmen.

-Die Überwälzung dieses Finanzierungsrisikos auf die Versicherten macht sich spätestens dann systemwidrig bemerkbar, wenn die Kosten deutlich ansteigen werden. Langfristig ist eine Ausweitung dieser Zeiten oder deren Höherbewertung nicht auszuschließen. Die dann entstehenden Mehrkosten müßten die Beitragszahlerder Rentenversicherung tragen. — Schließlich überzeichnet diese Kostenverlagerung die tatsächliche Entwicklung des Bundesanteils. Wird der sich im Jahr 2000 für Kindererziehungszeiten auf 2, 2 Prozent der Rentenausgaben belaufende Betrag aus dem Bundesanteil eliminiert, verbleibt ein Finanzierungsanteil des Bundes, der zwischen 17, 2 Prozent und 17, 7 Prozent der Rentenausgaben (je nach Beschäftigtenentwicklung) liegt. Folglich beträgt der Bundesanteil nicht rund 20 Prozent, sondern nur rund 17, 5 Prozent der Rentenausgaben.

VI. Schlußbemerkung

Unter den Bedingungen des geltenden Leistungsrechts und der gegenwärtigen Finanzierungsregelungen kommt es langfristig, auch bei vergleichsweise günstiger wirtschaftlicher Entwicklung, zu einem deutlichen Belastungsanstieg der Aktiveneinkommen.

Die Hauptlast der Entwicklung wird die gesetzliche Rentenversicherung zu tragen haben. Vor diesem Hintergrund hat der Verband Deutscher Renten-versicherungsträger ein Konzept zur Reform der gesetzlichen Alterssicherung vorgelegt. Es zeigt, daß die Rentenversicherung auch im Fall einer ungünstigen Wirtschaftsentwicklung trotz der problematischen demographischen Entwicklung finanzierbar bleibt. Die anstehenden demographischen Probleme können dementsprechend ohne Änderung der Grundprinzipien und ohne Systemwechsel bewältigt werden.

Die Regierungsparteien und die SPD-Opposition stimmen in dieser Einschätzung mit den Rentenversicherungsträgern überein. Die im vorliegenden Entwurf eines Rentenreformgesetzes 1992 vorgesehenen Maßnahmen zielen in ihrer Gesamtheit in die richtige Richtung. Der Beitragssatzanstieg wird gebremst, es kommt zu einer deutlichen Entlastung gegenüber der sonst vorgezeichneten Status-quo-Entwicklung.

Unbefriedigend ist die vorgesehene Neuregelung des Bundesanteils sowie die beabsichtigte Übertragung von Leistungen für Zeiten der Kindererziehung auf die Rentenversicherung. Eine deutlich höhere als die im Reformentwurf vorgesehene Bundesbeteiligung sowie eine andere Fortschreibungspraxis wären gesamtwirtschaftlich vorteilhafter und sachgerechter.

Die Anrechnung von Kindererziehungszeiten ist aus ordnungspolitischer Sicht dem Familienlastenausgleich und damit eindeutig dem Aufgabenbereich des Staates zuzurechnen. Für deren Finanzierung ist ausschließlich der Bund und nicht die Rentenversicherung zuständig.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Rudolf Kolb, Dr. rer. oec., geb. 1928; Erster Direktor und Geschäftsführer des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger. Veröffentlichungen u. a.: Mitarbeit am Kommentar des VDR und an dem Buch „Rehabilitationsrecht, Kommentar“; zahlreiche Aufsätze in Fachzeitschriften.