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Zur Moral der Wirtschaftsordnung | APuZ 52-53/1989 | bpb.de

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APuZ 52-53/1989 Gerechtigkeit Philosophische Analyse eines umstrittenen Begriffs Wirtschaft und Gerechtigkeit Zur Moral der Wirtschaftsordnung Zur Funktion des Unternehmergewinns in der Marktwirtschaft Artikel 1

Zur Moral der Wirtschaftsordnung

Bruno Molitor

/ 27 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Das Paradigma, das dem Beitrag zugrunde liegt, berücksichtigt die Tatsache, daß dem wirtschaftlichen Verhalten keine ethischen Maximen gleichsam von außen übergestülpt werden können. Was an Nonnen zu begründen und durchzusetzen ist. wird vielmehr aus den Tatbeständen einer Gesellschaftswirtschaft, ihren Zielsetzungen und Funktionserfordernissen, abgeleitet. Wenn von Moral der Wirtschaftsordnung gesprochen wird, dann geht es um zwei Fragestellungen: zum einen, was eine bestimmte Wirtschaftsordnung an moralischem Verhalten voraussetzt, zum anderen, was sie ihrerseits unter ethischem Aspekt bewirkt. In beiden Fällen muß man das „Sachgerüst“ einer Wirtschaftsordnung kennen, ehe ethische Forderungen oder Urteile überhaupt sinnvoll werden können. So befaßt sich der Beitrag zunächst mit der Notwendigkeit einer Wirtschaftsordnung und ihren Funktionserfordernissen. In der weiteren Analyse steht der Typ der Marktwirtschaftsordnung im Vordergrund: Es wird aufgezeigt, was er an institutionellen Rahmenbedingungen und Wettbewerbsregeln voraussetzt und worin letztlich seine sozialethische Begründung liegt. Im Zentrum steht das Muster der „UnsichtbareHand-Lenkung“, das traditionell den Ethikern Schwierigkeiten zu bereiten pflegt. Ein besonderer Abschnitt geht dem Phänomen des „abweichenden Verhaltens“ nach. Der Beitrag schließt mit einem „ethischen Experiment“ aus der jüngeren Wirtschaftsordnungsgeschichte, das wieder aktuelle Bedeutung erlangen könnte.

I. Notwendigkeit einer Wirtschaftsordnung

Jede Volkswirtschaft bedarf einer Ordnung: Es gibt Millionen von Wirtschaftseinheiten, sei es als Unternehmen, sei es als Haushalte; sie sind in der Regel keine Selbstversorger, sondern auf Interaktion, sei es im Faktorangebot bzw. in der Faktor-nachfrage, sei es in der Gütemachfrage bzw, im Güterangebot, angewiesen. Diese Interaktionen machen das aus. was wir „Gesellschaftswirtschaft“ nennen. Aber das Beziehungsnetz bedarf der Organisation. Daß die Interaktionen sich nicht nur ad hoc. punktuell oder gar chaotisch vollziehen, darüber bestimmt die Wirtschaftsordnung.

Ordnung in diesem Sinne hat nichts mit einem philosophisch abgeleiteten „Ordo“ zu tun. Sie folgt den Zielsetzungen und funktionalen Erfordernissen einer Gesellschaftswirtschaft. Wenn von Moral der Wirtschaftsordnung gesprochen wird, geht es um zwei Aspekte: zum einen darum, was eine bestimmte Wirtschaftsordnung an moralischem Verhalten voraussetzt, und zum anderen, was sie ihrerseits in ethischer Hinsicht bewirkt. Für beide Aspekte liegt auf der Hand, daß man das „Sachgerüst“ Wirtschaft kennen muß. ehe ethische Anforderungen oder Urteile überhaupt sinnvoll werden können.

Die Wirtschaftsordnung darf nicht einfach mit staatlicher Aktivität gleichgesetzt werden. Sie kann „spontan“ wachsen oder gewachsen sein und auf Vereinbarungen der Betroffenen beruhen; erst als dritte Möglichkeit kommen staatliche Satzungen in Betracht, wobei wiederum danach zu unterscheiden ist, ob es sich um eine Kodifizierung (und möglicherweise Ergänzung) dessen handelt, was sich in der gesellschaftswirtschaftlichen Entwicklung ohnehin an spontaner Ordnung herausgebildet hat bzw. abzeichnet, oder ob der Versuch gemacht wird, Ordnung zu „konstruieren“.

Wenn von der Notwendigkeit einer Wirtschaftsordnung gesprochen wird, so sind im einzelnen drei Funktionserfordernisse anzuführen: — Zum einen muß das Verhalten („Pläne“) der Millionen Wirtschaftseinheiten aufeinander abgestimmt sein, sollen zum Beispiel nachhaltige Überschußnachfragen bzw. Überschußangebote vermieden werden. Diese Koordinationsfunktion bezieht sich jedoch nicht nur auf das gegenwärtige Verhalten, sondern ebenso auf die Pläne für die Zukunft (Terminmärkte). Und da immer schon „Produktionsstämme“ (und Konsumstrukturen) gegeben sind, hat die Abstimmung — neben der horizontalen — auch eine zentrale vertikale Dimension. — Eng mit dem Koordinationserfordernis verbunden ist das für alles Wirtschaften grundlegende Problem der Dateninformation. Rationales Verhalten setzt einen Mechanismus der Gewinnung, Speicherung und Rückkoppelung der jeweils einschlägigen Daten und ihrer Veränderung in der Periodenfolge voraus. In der Erfüllung der Informationsfunktion reduziert die Wirtschaftsordnung zentrale Risiken des Wirtschaftens. — Der Effizienzgrad einer Gesellschaftswirtschaft hängt jedoch nicht nur von Koordination und Information ab. Die Wirtschaftsordnung hat es nicht zuletzt mit einer allgemeinen Motivationsfunktion zu tun, und zwar mit den Anreizen.

— daß vorhandene Faktormengen und -qualitäten überhaupt zum Einsatz kommen;

— daß sie rational eingesetzt werden (optimale Allokation, Produktionsoptimum)

— und daß die Ressourcen ihrerseits durch Investition und Innovation zu verbessern bzw. zu vermehren (technischer Fortschritt. Arbeitnehmerqualifikation) sind.

Indes, der wirtschaftliche Effizienzgrad (etwa gemessen als Pro-Kopf-Einkommen und seine Entwicklung) ist. vergleicht man die unterschiedlichen Ordnungstypen (Marktwirtschaft. Zentralverwaltungswirtschaft). nicht alles. Es kommt immer auch auf den Freiheitsgrad an.den die Ordnung in ihrer Funktionserfüllung (Verhaltensrestriktionen) den einzelnen Wirtschaftseinheiten beläßt bzw. sichert. Selbst wenn die modernen Zentralverwaltungswirtschaften (in der Sowjetunion und anderswo) in ihrem wirtschaftlichen Effizienzgrad nicht so zurückblieben. wie das Theorie und Praxis nur allzu deutlich als systemimmanent aufzeigen, muß dieser Ordnungstyp, jedenfalls in der abendländischen „Tradition von Freiheit und Vernunft“ schon aus ethischen Gründen abgelehnt werden, weil er zen-Der Aufsatz ist Teil einer größeren Untersuchung, die als „Wirtschaftsethik“ im Verlag Beck-Vahlen erscheinen wird. trale individuelle Freiheitsrechte, und zwar der Haushalte wie der Unternehmen, im Prinzip ausschaltet. Wirtschaftliche Freiheiten sind nicht weni-ger integraler Bestandteil der personalen Freiheit als die Freiheit, seine Meinung zu äußern oder seinen Glauben auszuüben.

II. Der Typ der Marktwirtschaftsordnung

In der Marktwirtschaftsordnung wird die Koordinationsfunktion durch ein System freispielender Preise auf interdependenten Märkten wahrgenommen. Gleichzeitig dienen die flexiblen Preise als das zentrale ökonomische Informationsinstrument, das nicht nur selbständig unzählbare Einzeldaten verarbeitet, sondern sich ebenso durch eine unüberbietbare Flexibilität (Rückkoppelung) auszeichnet.

Auch in der Marktwirtschaft wird „geplant“. Nur sind hier nicht staatliche Behörden, sondern die Einzelwirtschaften, also Haushalte und Unternehmen. die dominierenden „Planungsträger“. Ebenso wenig kann die Rede davon sein, daß eine Marktwirtschaft der „Lenkung“ entbehrte — das mag lediglich so scheinen, weil mit dem Lenkungsbegriff üblicherweise behördliche Aktionen assoziiert werden. Die marktwirtschaftliche Lenkung erfolgt über einen selbsttätigen Regelmechanismus, nämlich den der Marktpreise, und das auf eine nachgerade seismographische Weise auch im Zeitverlauf („innere Koordination“).

Freilich handelt es sich um eine Ex-post-Koordination. Gegebene bzw. erwartete Preise gehen als Determinanten in die Pläne der Einzelwirtschaften ein. Aber die Preise ihrerseits sind das Ergebnis der jeweiligen Angebots-Nachfrage-Relation auf dem betreffenden Markt. Ob sich die Erwartungsgrößen der Pläne erfüllen, entscheidet sich also ex post, nachdem der Markt gesprochen hat. Das Ergebnis trägt jedoch keinen endgültigen Charakter. Ergibt sich zum Beispiel aufgrund eines Nachfrageüberhanges ein höherer Stückpreis als erwartet, kommt es zu Plananpassungen: Die Unternehmen werden zur Angebotssteigerung das betreffende Gut in größeren Mengen produzieren und gegebenenfalls die Produktionskapazitäten erweitern, um eine nachhaltig überhängende Nachfrage zu bedienen. So sorgt der anfängliche Preisanstieg im Zeitverlauf gleichsam selbst für seine Überwindung. Bei preismäßiger Wirtschaftslenkung befindet sich die Wirtschaft, ohne Kommando von oben, stets auf dem Weg zu einem Gleichgewicht („Fließgleichgewicht“).

Was die Anreizfunktion in der Marktwirtschaftsordnung betrifft, so folgt sie aus der spontanen Einkommensdifferenzierung, wie sie nach Stückpreis-höhe und Absatzmenge auf den Märkten zustande-kommt. Der Produzent, der bei gleichem Preis das bessere Gut oder bei gleicher Qualität das Gut billiger anbietet, macht das Geschäft. Der gleiche Mechanismus bestimmt im Prinzip auch über die Differenzierung der Faktoreinkommen. Für das Angebot unmittelbarer Dienstleistungen liegt das auf der Hand. Aber auch da, wo die Faktorleistung in die Produktion eines Gutes eingeht, das seinerseits auf dem Markt abgesetzt wird, also auch im Fall des Faktorentgeltes als eines „abgeleiteten“ Einkommens, richtet sich dessen Höhe nach dem jeweiligen produktiven Beitrag zum Güterumsatz („Wertgrenzprodukt“). Ausschlaggebend bleibt ebenfalls hier das Markturteil, also die Kaufentscheidung der Abnehmer.

Der spezifische Vorzug der Marktwirtschaftsordnung liegt in der Verbindung von hohem Freiheitsgrad des einzelwirtschaftlichen Verhaltens und hohem allgemeinen Versorgungsgrad durch permanente Produktivitätssteigerung: Die gegebenen Produktionsfaktoren kommen zum jeweils optimalen Einsatz, aber in der Periodenfolge werden auch die Ressourcen ihrerseits durch Innovation und Investition angereichert. Hinzukommt ein hoher Effizienzgrad dieses Ordnungstyps: Das bedeutet, daß die Lebenssituation und die Entfaltungsmöglichkeiten gerade der breiten Masse der Wirtschaftsbürger gefördert werden, und das auch, wenn die Bevölkerungszahl zunimmt — feudale oder neofeudale „Klassen“ (Nomenklatura) stehen sich bei einer anderen Wirtschaftsordnung besser.

Die organisatorische Veranstaltung der Marktwirtschaft ist auf einen eindeutigen Richtpunkt hin orientiert. Was immer die Produzenten entdecken und anbieten, die letzte Entscheidung über Erfolg und Mißerfolg ruht beim Abnehmer und das heißt am Ende: bei der Masse der Verbraucher, die förmlich in einem tagtäglichen Plebiszit jeweils jene Angebote auszeichnen, die ihre Präferenzen am besten treffen.

Hier liegt die zentrale sozialethische Begründung für eine Marktwirtschaftsordnung. Sie ist ihrer Anlage nach konsumentenorientiert. Mißt man die Zielerfüllung der Wirtschaft daran, daß die Produktion der Masse der Verbraucher und ihren Präferenzen dient, so ist die marktwirtschaftliche Organisationstechnik ein unüberbietbar zweckmäßiges Instrument, um den Wirtschaftsprozeß gemeinwohlorientiert zu regulieren. Im Vergleich zu den Produzenten, die das Absatzrisiko tragen, fällt hier den Konsumenten der leichtere Part zu, während es sich in den Zentralverwaltungswirtschaften genau umgekehrt verhält (Zuteilung des nach Zentralplan Produzierten, Versorgungslücken, Warteschlangen). Es ist mithin nicht allein der Freiheitsgrad und der immanente Motor zur Produktivitätssteigerung, die die Marktwirtschaft auszeichnen. Dieser Ordnungstyp hat seinen moralischen Charakter darin, daß er dem Konsumenteninteresse den Vorzug einräumt und selbsttätig dafür sorgt, daß Produktivitätssteigerungen an die privaten Haushalte „weitergegeben“ werden.

III. Anbieterwettbewerb

Zur Erfüllung dieses „Sozialversprechens“ reicht die Vorkehrung eines freispielenden Preissystems allein nicht aus; von Staatsinterventionen freie Preise bilden sich schließlich auch auf monopolisierten Märkten. Was hinzukommen muß, ist ein hoher Grad an Wettbewerb, der die Anbieter um die Konsumentengunst rivalisieren läßt und sie unter Aufbietung der unternehmerischen Qualitäten zu permanenter Leistungssteigerung anhält. Insofern entscheidet das Regulativ des Wettbewerbs über die tatsächliche Effizienz und den tatsächlichen Freiheitsgrad der Marktwirtschaftsordnung.

Im einzelnen hat der Wettbewerb einmal eine Kostenkontrollfunktion. Er hält die Kosten der Produktion in Grenzen und zwingt im unternehmerischen Eigeninteresse zum sparsamen Einsatz knapper Ressourcen. Der Produzent, der billiger anbietet, ist auf dem Markt erfolgreich; aber gleichzeitig bleibt dem Rivalen keine andere Wahl, als auch seinen Betrieb zu rationalisieren, will er nicht an Marktanteil verlieren. Es kommt zur Senkung der Produktionskosten, und das allgemein und in Permanenz.

Zur Frage steht jedoch nicht allein der rationelle Umgang mit einem gegebenen Produktionsapparat. Der Wettbewerb besitzt auch eine unmittelbare Fortschrittsfunktion; er wirkt wie ein „Entdekkungsverfahren" Die zu erwartenden Gewinne winken jenen Unternehmen, die jeweils aus dem Troß der traditionell Produzierenden ausbrechen und grundlegende Innovationen im Produktionsverfahren oder bei der Produktart bzw. Produktqualität entdecken und anwenden. Da aber kein Anbieter sicher sein kann, wie und mit welchem Erfolg die (auch potentiellen) Konkurrenten auf diesem Feld aktiv sind, gebietet es schon die unternehmerische Vorsicht, ebenfalls selbst, in welchem Ausmaß auch immer, in die Erforschung und Entwicklung von Neuerungen zu investieren, um gegen die Gefahr eines plötzlichen Wettbewerbsvorsprunges der Rivalen gewappnet zu sein. Demgegenüber hat der nach allen Seiten abgeschottete monopolistische Anbieter kaum Veranlassung, sich um Innovationen zu bemühen. So führt eine Wettbewerbs-wirtschaft, in größeren und kleineren Schüben, ständig intra-und intersektoral zur Umstrukturie-rung des Produktionsapparates, die den Ertrag der Faktorallokation erhöht. Alte Produktionsstämme werden laufend erneuert. Wettbewerb herrscht aber auch zwischen den Branchen um die knappen Kapitalbestände und Kapitalzuwächse.

Allerdings ist es mit Produktivitätssteigerungen allein nicht getan. Es kommt, wie wir gesehen haben, darauf an. daß sie ordnungskonform an die Konsumenten „weitergegeben“ werden. Auch das produktivste Unternehmen garantiert als solches noch keineswegs die Erfüllung dieses marktwirtschaftlichen Sozialversprechens. Hier stoßen wir auf eine dritte, nämlich die Entmachtungsfunktion des Wettbewerbs. Er sorgt dafür, daß die Pioniergewinne • nicht unbesehen wachsen und ewig dauern. Je nach dem Wettbewerbsgrad werden sie früher oder später „sozialisiert“, wobei das Tempo insbesondere davon abhängt, inwieweit Konkurrenten rechtlich (z. B. Patentgesetzgebung) und faktisch in der Lage sind, ihrerseits mit entsprechenden Neuerungen nachzuziehen. „Entmachtung“ bedeutet aber nicht minder, daß da, wo eine Mehrzahl von Anbietern in Konkurrenz steht, der Abnehmer vom einzelnen Produzenten unabhängig wird. Es bieten sich ihm in wechselnder Zusammensetzung Wahlchancen. Wettbewerb streut die relative Anbietermacht in einer Weise, die kein Staatseingriff je zu erreichen vermöchte.

Aus dem vorgeführten Funktionszusammenhang läßt sich als moralische Maxime ableiten, daß jedermann, der sich als Anbieter von Gütern oder Faktorleistungen im Wirtschaftssystem betätigen will, aus Ordnungsgründen sich dem Wettbewerb stellen muß und nicht versuchen darf, Wettbewerb auszuschalten bzw. sich auf den Märkten anderer als leistungswettbewerblicher Methoden zu bedienen. Die Versuchung dazu ist groß und permanent. Denn der Wettbewerb mag auf Seiten der einzelnen Wirtschaftseinheit als unangenehmer Druck empfunden werden, den man lieber abschütteln würde. Auch pflegen einem abweichenden, also sozial abträglichen Verhalten, gerade wenn sich die meisten anderen an die Wettbewerbsmaxime halten, individuell hohe Prämien zu winken, womit umso deutlicher wird, was die Masse der Verbraucher für ihren Nutzen einem funktionierenden Wettbewerb verdankt. So gesehen, ist der Wettbewerb kein „Na23 turgewächs“, sondern eine „Kulturpflanze“ Er muß gegen eine bewußte Selbstbeschränkung, auch wenn sie im gegenseitigen Einvernehmen der Anbieter erfolgt, geschützt werden.

Dazu wird man sich nicht allein auf moralische Appelle („moral suasion“) verlassen können. Es muß ein „unbeteiligter Dritter“ für Wettbewerbsregeln sorgen und sie notfalls mit legitimer Gewalt durchsetzen, und zwar auch im Zeitverlauf (Satzung und Sanktion). Und das kann in unseren Zeitläufen nur die staatliche Instanz sein, das heißt, das Parlament, das die einschlägigen Satzungen erläßt, und eine regierungsunabhängige Wettbewerbsbehörde („Kartellamt“), der ihre Durchführung obliegt.

Freilich will das Grundproblem richtig gesehen sein, von dem sich das, was „Wettbewerbspolitik“ soll und was sie begrenzt, herleitet. Einerseits bedarf es der Wirtschaftsfreiheiten und namentlich einer umfassenden Vertragsfreiheit, wenn es überhaupt zu Wettbewerb kommen soll; aber andererseits kann gerade diese Freiheit benutzt werden, um Wettbewerb zu beschränken oder auszuschalten. So darf die politische Satzungs-und Sanktionsaufgabe nicht zu einem Einfallstor dirigistischer und dazu möglicherweise noch parteiischer Bestrebungen werden. Vielmehr ist, was die Satzungstechnik anbelangt, eine grundsätzliche Unterscheidung zu beachten. Gefragt sind nicht sich repetierende, diskretionäre Staatseingriffe in die freie Entscheidung der Einzelwirtschaften, was nur vermeidbare Unsicherheit produzieren würde. Vielmehr geht es um allgemeine Regeln, die den Aktionsspielraum, auf den sich die Wirtschaftsfreiheiten erstrecken können, abstecken: An sie hat sich jedermann zu halten, der sich am System beteiligt. Dieser Restriktionstyp ist durch drei Merkmale gekennzeichnet: — Die Regulierungen zwingen nicht zum Handeln, sondern schließen definierte Verhaltensweisen aus.

— Sie sind abstrakt in dem Sinne, daß sie generell, also unabhängig davon vollziehbar sind, auf wen sie im einzelnen angewandt werden.

— Außerdem gelten die Regeln auf Dauer, was natürlich nicht Verbesserungen in der Zeit aufgrund der Erfahrung ausschließt; auch die Wettbewerbspolitik macht keine Ausnahme von der Tatsache. daß in „dynamischen“ Wirtschaften Rasten nur zu leicht Rosten bedeutet.

Inhaltlich beziehen sich die Wettbewerbsregeln auf den Ausschluß von „unlauterem“ Wettbewerb, Diskriminierung und Behinderung, auf das Verbot kartellarischer Absprachen und die „Kontrolle“ von wettbewerbsschädigenden Unternehmens-fusionen Nicht zuletzt aber ist das Staatsverhalten auch selbst angesprochen. Denn was nützt schließlich das beste Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen für den privaten Sektor, wenn die Regierung ihrerseits mit wettbewerbsverzerrenden Interventionen aufwartet oder, nicht zu vergessen, wenn öffentliche Unternehmen vom Wettbewerb „ausgenommen“ werden? Sollten heute noch irgendwo Anbietermonopole im Lehrbuchsinne vorhanden sein oder sich herausbilden, dann sind sie hier und nicht im autonomen privaten Sektor zu suchen.

Allerdings dürfen beim Wettbewerb als Steuerungs-und Antriebsmechanismus nicht die „Kosten" verschwiegen werden, ohne die. wie in anderen Fällen auch, die Vorteile der gesellschaftlichen Einrichtung nicht zu haben sind. Zum einen ist Konkurrenz Rivalität und nicht (unmittelbare) Solidarität. Im Gegenteil: Wo immer sich Anbieter solidarisieren, hat in aller Regel der Konsument die Zeche zu bezahlen.

Zum anderen muß es das Wettbewerbsinstitut beeinträchtigen, wenn im Gewinn nichts als ein „arbeitsloses“ Einkommen und an der Unternehmens-besteuerung kein anderer Makel gesehen wird als der, daß sie nicht hoch genug ausfiele. Ohne einen hinreichend differenzierten Gewinnanreiz kann der Wettbewerb nicht bestehen. Dabei gibt selbstverständlich der verfügbare Ertrag, also der Gewinn nach Steuern, den Ausschlag für das Verhalten. Staatliche Interventionen prämieren, wenn auch ungewollt, oft nichts anderes als Ausweichhandlungen. Unternehmerische Energien, die gewiß nicht im Übermaß vorhanden sind, werden zweckentfremdet, indem sie etwa auf die Steuerumgehung oder den Kampf mit dem „Behördenrisiko“ abgelenkt werden.

Und schließlich bedeutet Wettbewerb im Wirtschaftsleben nicht eine wohlige Ruhe des schon immer Gewohnten und Gleichen, sondern einen mehr oder minder starken Wandel. Produkte, Herstellungsverfahren und Produktionsstrukturen, die heute noch an der Spitze des Fortschrittes rangieren, können morgen schon wirtschaftlich veralten. Das erfordert Anpassungsfähigkeit und Mobilität auch des Produktionsfaktors Arbeit. Ohne sie kann der arbeitsanbietende private Haushalt nicht mit den Segnungen rechnen, die ihm die wettbewerbs-gesteuerte Marktwirtschaft als Konsumenten verspricht.

IV. Institutionelle Verankerung

Ein freispielendes Preissystem und Wettbewerb sind nicht denkbar ohne die Dispositionsfreiheit von Unternehmen und Haushalten, die das Erfolgs-und Einkommensstreben der Einzelwirtschaften in der „Überwindung“ der jeweiligen Knappheitsverhältnisse wirksam macht. Die Marktwirtschaft setzt im gleichen Zuge Freiheit voraus, wie sie Freiheitsspielräume eröffnet. Diese Dispositionsfreiheit ist nicht per se gegeben. Sie will im zähen gesellschaftswirtschaftlichen Prozeß durch besondere Vorkehrungen verankert sein. Unerläßliche institutionelle Voraussetzungen der Marktwirtschaftsordnung sind private Eigentumsrechte, auch und gerade an den Produktionsmitteln, der freie Zugang zu Gewerben bzw. Berufen und die Vertragsfreiheit.

Die Institution des Privateigentums („property rights“) regelt die Zuständigkeit von Personen in der Verfügung über knappe Güter und deren Nutzung und schließt den Zugriff von Nichtberechtigten aus. Erst dadurch werden die Wirtschaftsverhältnisse überhaupt kalkulierbar. Daneben bietet das Eigentumsinstitut die Möglichkeit, die Entscheidungs-und Handlungsfolgen individuell zuzurechnen (Haftung). Es hält überdies zum rationalen Umgang mit den knappen Ressourcen an und stimuliert zu seinem Teil die Neigung zu Angebotssteigerung und Innovation.

Privateigentum an den Produktionsmitteln bedeutet ordnungstheoretisch, daß von Zentralplänen unabhängige Unternehmer über sachliche Produktionsmittel verfügen, die sich im Vermögen von Privatpersonen befinden. Nicht vorausgesetzt ist dabei, — daß im Idealfall Unternehmerfunktion und Produktionsmittelbesitz in einer Person zusammenfallen müßten. Die unternehmerischen Qualifikationen sind, wie die Erfahrung lehrt, nicht an Besitz und Herkunft gebunden; — daß die personelle Verteilung des Produktivvermögens konzentriert sein müßte, etwa weil nur bestimmte Gruppen von Wirtschaftssubjekten zur rationalen Kapitalanlage in der Lage wären. De facto spielen heute „institutioneile Kapitalanleger“ in der Investitionsfinanzierung eine bedeutsame Rolle, und es gibt erprobte Wege, die auch dem kleinen Anleger, über die traditionellen Forderungsrechte aus einer Geldvermögensbildung hinaus, eine Unternehmensbeteiligung ermöglichen (z. B. Investmenttrusts); — daß es gesamtwirtschaftlich erstrebenswert wäre, die erzielten Gewinne stets im einzelnen Unternehmen zu belassen. Im Gegenteil können sich hier Gefahren für die Rationalität der Investitionsentscheidungen und zumal für eine volkswirtschaftlich optimale Kapitalverteilung ergeben. Ein verstärkter Druck zur Gewinnausschüttung, der bei breiter Anteilsstreuung entsteht — und damit die Begrenzung des Spielraumes zur betrieblichen Selbstfinanzierung —, vermag über die Funktion des Kapitalmarktes rationalisierend zu wirken (Zinspreislenkung).

Durch die institutionelle Sicherung der Gewerbe-und Berufsfreiheit soll der Zugang zu den gewinn-und einkommensgünstigen Märkten offengehalten und der Wettbewerbsgrad verstärkt werden. Das gilt auch unter internationalem Aspekt („offene“ Volkswirtschaft). Natürlich darf nur derjenige einen Betrieb eröffnen, der die einschlägigen Sicherheits-und Umweltschutzanforderungen zu erfüllen vermag. Ebenso muß es „Berufsordnungen“ zum Mindestqualifikationsnachweis geben, um das Publikum vor Scharlatanen und Kurpfuschern zu schützen. Man kann es zum Beispiel bei ärztlichen und juridischen Dienstleistungen, die der Laie schwer selbst zu beurteilen vermag, nicht darauf ankommen lassen, daß der Konsument erst durch Schäden an Leib oder Vermögen klug wird.

Der Rubicon zur Ordnungsinkonformität wird jedoch überschritten, wenn Gewerbe-und Berufsordnungen den Marktzutritt darüber hinaus beschränken, indem etwa in einer Region nur eine bestimmte Zahl von Warenhäusern zugelassen oder die Zahl der Ärzte und Rechtsanwälte nach dem Umfang der Wohnbevölkerung limitiert wird („Bedürfnisprüfungen“). Das liefe auf einen Naturschutzpark für die jeweils etablierten Anbieter und ihre Einkommensposition nach zünftlerischem Vorbild hinaus. Der Wettbewerb und das Neuerungstempo hätten das Nachsehen.

Es bleibt als dritte institutioneile Voraussetzung die Vertragsfreiheit, die förmlich das Transportband des marktwirtschaftlichen Verkehrs abgibt: Es steht im Belieben der Wirtschaftseinheit, ob, wann, mit wem, auf welche Zeit und mit welchem Inhalt sie mit anderen in Tauschbeziehung tritt. Die Vertrags-freiheit ist die unerläßliche Bedingung dafür, daß 'Transaküonsmöglichkeiten aufgespürt werden. Andererseits bedarf sie der rechtlichen Abstützung, um die Kosten bei der Abwicklung von Transaktionen, also namentlich die der zügigen Durchsetzung von Ansprüchen aus Verträgen, zu reduzieren.

Die Mutation der Vertragsfreiheit durch „Allgemeine Geschäftsbedingungen“ (Banken. Speditionen) und Vertragsstandardisierung kann der Rationalisierung der verwickelten Wirtschaftsbeziehungen zugute kommen. Allerdings müssen politische Vorkehrungen dafür sorgen, daß das „selbstgeschaffene Recht“ der Wirtschaft nicht zur einseitigen Risikoverlagerung auf den Abnehmer führt. Und mit der Vertragsstandardisierung, etwa in der Wohnungsvermietung, dürfen nicht von vomeherein individuelle Absprachen ausgeschlossen, also rechtlich nichtig sein, die den spezifischen Umständen des Einzelfalles im tatsächlichen Vertrag Rechnung zu tragen suchen (etwa in den Kündigungsfristen).

Neben den Wettbewerbsregeln liegt in den vorgeführten drei institutioneilen Vorkehrungen das begründet, was die Marktwirtschaftsordnung an Moral voraussetzt:

Das ist einmal die Respektierung der (gesetzmäßig erworbenen) Eigentumsrechte anderer, so wie man selbst seine Eigentumssphäre gesichert sehen will (Ausschluß von Diebstahl, Betrug usw.). Niemand kann befugt sein, eine „Korrektur“ der Eigentums-verteilung gleichsam auf eigene Faust zu unternehmen — es sei denn, er erwirbt Eigentum durch eigene Anstrengung. Die zuweilen zu hörende, offenbar beruhigend gemeinte Ausflucht, daß etwa der Diebstahl eines Firmenautos oder ein Bankeinbruch keinen „Armen“ trifft und der Schaden durch die einspringende Versicherung wettgemacht wird, ist ethisch nicht zu rechtfertigen. Und erst recht ist eine „politische" Verbrämung von Eigentumsdelikten unmoralisch; denn was soll von „politischen“ Zielen zu halten sein, die sich unsittlicher Mittel bedienen?

Umgekehrt gilt nicht minder, daß Eigentumsrechte nicht zur Schädigung anderer benutzt werden dürfen (etwa „Schikane“). So wie Eingriffe in die bestehende Eigentumsordnung die Sicherheit und Motivationsstruktur ökonomischer Handlungen in Mitleidenschaft ziehen, muß der Mißbrauch in der Ausübung von Eigentumsrechten die Legitimität der Ordnung aushöhlen.

Die Eigentumsgarantie richtet sich im modernen Rechtsstaat auch und nicht zuletzt gegen staatliche Instanzen. So wäre eine konfiskatorische Steuer ebenso unmoralisch wie eine „Enteignung“ ohne Restitution nach dem Verkehrswert, mag der Eingriff (etwa im Straßenbau) auch noch so sehr im öffentlichen Interesse liegen.

Ein besonderes Problem stellen mögliche „ Unvollständigkeiten“ in der Eigentumsordnung dar. Es kommt vor, daß politische Instanzen einer eindeutigen Regelung bestimmter Eigentumsrechte ausweichen, weil befürchtet wird, der (Wahl-) Unterstützung von Gesellschaftsgruppen verlustig zu gehen, die von der bisherigen Unbestimmtheit profitierten. Entscheidend ist indessen, daß es gewichtige Güter, wie die Reinheit der Luft, die Wasserqualität oder ein erträglicher Lärmpegel, gibt, die zwar zunehmend knapp werden, an denen jedoch aus technischen Gründen kein individuelles Eigentum bestehen kann. Das ist der ordnungspolitische Kem des Umweltproblems. Wird sonst durch das Verhalten einer Einzelwirtschaft ein Dritter in seinen Rechten geschädigt, kann der Betroffene schon selbst auf dem Rechtswege für Unterlassung und/oder für eine Restitution Sorge tragen. In Fällen wie dem Reinheitsgrad der Luft oder dem Lärmpegel indessen muß so etwas wie ein Eigentum des „Staates“ fingiert werden, der durch Satzung einschlägige negative externe Effekte verbietet bzw. begrenzte Emissionsrechte gegen Entgelt zuteilt (Umweltpolitik). Das gilt für den Haushaltssektor nicht minder wie für das Unternehmerverhalten. Schließlich kann aber auch die Wahrnehmung gegebener Eigentumsrechte durch hohe Transaktionskosten beeinträchtigt sein. Hier ist in erster Linie die Durchsichtigkeit und Verläßlichkeit der Rechtsordnung und die Zügigkeit in der Abwicklung von Gerichtsfällen angesprochen.

Die Gewerbe-und Berufsfreiheit hat ihr moralisches Pendant in der Gewissenhaftigkeit und Zuverlässigkeit bei der Anwendung und Weitergabe spezifischen Wissens, wie es sich in Produktionsmethoden oder der Qualität von Gütern und Dienstleistungen materialisiert. Ein mögliches Wissensgefälle hin zum beschäftigten Arbeitnehmer bzw. zum abnehmenden Kunden darf nicht in eine einseitige Risikoverlagerung oder Übervorteilung umgemünzt werden — bis hin zur Ausnutzung eines Informationsvorsprunges durch Insider im Börsen-und Beratergeschäft.

Sicherlich gibt es hier die Stützung der Moral durch staatliche Satzungen, etwa zum betrieblichen Gefahrenschutz und zur Haftung bei Konstruktions-, Fabrikations-und Instruktionsfehlern dem Abnehmer gegenüber (für die Bundesrepublik: § 823 BGB). Auch treibt der funktionierende Wettbewerb gerade nicht die Mühlen der Grenzmoral, sondern die der individuell oft beschwerlichen Qualitätssteigerung. Und gewiß haben Beschäftigte wie Abnehmer die Chance des Widerspruchs (durch Erfahrung, aufgrund externer Ratschläge oder indem sie sich selbst fachkundig machen) und die der Abwanderung freilich müssen etwa die Verbraucher die Informationshilfen, die ihnen durch einschlägige unabhängige Verbände und Publikationen reichlich geboten werden, auch nutzen. Gleichwohl bleibt „Gewissenhaftigkeit“ in der Gewerbe-und Berufsausübung eine genuin ethische Kategorie. Bei manchen Autoren erscheint „Moral“ zuweilen als eine Art Lückenbüßerin, die dort einspringen muß, wo staatliche Satzungen und andere Außenkontrollen (noch) nicht hinreichen. Hier dürfte jedoch eine Vermischung der Ebenen von Normbegründung und Normbefolgung vorliegen. Gewerbliche und berufliche Gewissenhaftigkeit ist aus guten Gründen als Norm stets geboten. Das individuelle Motiv, dieser Norm zu folgen, kann dagegen vielgestaltig sein und unter anderem auch darin bestehen, daß eine staatliche Satzung entsprechendes Fehlverhalten verbietet. Aber schließlich ist auch die Befolgung einer Satzung ihrerseits ein moralischer Akt.

Die Vertragsfreiheit endlich kann ihre gesamtwirtschaftlich positive Wirkung nur zeitigen, wenn mit ihr die Moral der Vertragstreue korrespondiert: Die einmal eingegangenen Verpflichtungen oder Versprechen müssen gehalten werden, auch wenn man nach Vertragsabschluß klüger geworden ist oder sich Daten verschieben. Änderung oder vorzeitige Auflösung eines Vertrages ist nur im gegenseitigen Einvernehmen der Partner statthaft. Wird diese Norm nicht eingehalten, verliert das ordnungspolitische Arrangement seinen sozialen Wert. Denn die Vertragstreue stabilisiert zu ihrem Teil die Verhaltenserwartungen; sie erst macht das Handeln anderer berechenbar und entlastet insoweit von Unsicherheit. Mit der Norm und ihrer Geltung wird der Zeithorizont für Handlungsplanungen erweitert. Das in ihr fundierte Vertrauen senkt die Transaktionskosten: Die Kooperationsbereitschaft nimmt zu; Ressourcen, die sonst zur Vorsorge für Unsicherheiten und Zwischenfälle mit Beschlag belegt wären, können für produktive Zwecke eingesetzt werden; der Kreis der Austauschbeziehungen kann sich weiter ausdehnen.

V. „Unsichtbare-Hand-Lenkung“

Wir können uns nun dem für die Begründung der Marktwirtschaftsordnung zentralen Paradigma der „Unsichtbare-Hand-Lenkung“ zuwenden, das traditionell die Opposition von Ethikem herausgefordert hat. Es besagt im Kern, daß, wenn die einzelnen Wirtschaftseinheiten ihr Verhalten (Pläne und Entscheidungen) am Markt jeweils an dem ausrichten, was ihnen in der gegebenen Situation als für sie am vorteilhaftesten erscheint, gleichzeitig auch der Allgemeinheit am besten gedient ist. Oder technisch gewendet: Nutzen-bzw. Gewinnmaximierung führt unter frei-vertraglichen Austauschbeziehungen zum gesamtwirtschaftlichen Optimum in Produktion und Einkommensverwendung, soweit in die Kostenrechnung und Preiskalkulation alle negativen Externalitäten (Drittwirkungen) eingegangen sind.

Als eigentlicher Stein des Anstoßes erscheint, daß die marktwirtschaftliche Ordnung vom Eigeninteresse der einzelnen Haushalte und Unternehmen ausgeht. Indessen vermag die Qualifizierung dieser Kategorie Mißverständnisse auszuräumen. Die Ordnungstheorie stellt allein auf das individuelle Handlungsziel, nämlich jeweils das Beste aus den Marktdaten herauszuholen, und das objektive Faktum ab, daß die Entscheidung unabhängig vom Kommando Dritter (Staat) erfolgt. Davon zu unterscheiden ist das Motiv, aus dem heraus sich jemand an den wirtschaftlichen Interaktionen beteiligt: Es kann subjektiv unterschiedlich, zum Beispiel auch altruistisch, orientiert sein. Jedenfalls ist die Gleichsetzung von „Interesse“ mit „Selbstsucht“ eine unhaltbare psychologische Verkürzung.

Aber auch das individuelle Handlungsziel seinerseits ist „gesellschaftlich“ beeinflußt und diszipliniert: durch die Marktdaten, in die immer schon die Präferenzen Dritter eingehen, und die absehbaren Aktionen und Reaktionen der anderen. Schließlich erhält der ordnungstheoretische Ausgangspunkt des Eigeninteresses aber auch Unterstützung von den anthroplogischen Fakten: Der (erwachsene und geistig gesunde) Einzelne vermag in Faktorangebot und Güternachfrage seine elementaren Bedürfnisse immer noch am besten zu beurteilen. Ein korrigierendes „wohlverstandenes Interesse“, das ihm zuweilen von Politikern und Parteien angesonnen wird, entpuppt sich nur zu oft als kontraproduktiv: Man denke etwa daran, in welche Sackgasse die Agrarpolitik die „Interessen“ der Landwirtschaft manövriert hat.

Des weiteren ist zu beachten, daß die Verfolgung des Eigeninteresses in der Wirtschaft nicht „umstandslos“ auch der Allgemeinheit dient: Es muß ein hoher Grad an Wettbewerb herrschen, der dafür sorgt, daß der Gleichgewichtspreis leistungsgerecht ausfällt; und es muß staatliche „Rahmenbedingungen“ geben, die Verhaltensregeln namentlich bezüglich der Vertragsbeziehungen aufstellen. Mit diesen Regulierungen werden bestimmte, ordnungsabträgliche Verhaltensweisen ausgeschlossen (Restriktionen). Man kann hier eigentlich nicht von Beschränkungen der Freiheit, sondern allenfalls der Willkür sprechen; denn in Wahrheit werden mit solchen Regulierungen im Gesellschaftsverband erst individuelle Freiheitsspielräume eröffnet bzw. gesichert.

Im übrigen bedeutet Marktwirtschaft keineswegs einen „Prozeß ohne Subjekt und Ziel“. Die Planungsträger sind die Einzelwirtschaften, und das Ziel, das der Marktprozeß selbsttätig realisiert, ist die Bedienung der Konsumentenpräferenzen. Schließlich kann auch keine Rede davon sein, daß die Marktwirtschaftsordnung überhaupt der Moral entbehren könnte Gewiß wird nicht verlangt, daß die Einzelwirtschaft in ihre Verhaltensmotivation so etwas wie den Dienst am „Gemeinwohl“ hineinnimmt (die Kategorie „Gemeinwohl“ dürfte schon definitorisch schwer zu fassen sein). Aber der Einzelne muß den Normen der Eigentums-, Gewerbe-bzw. Berufsausübungs-, Vertrags-und Wettbewerbsregeln gehorchen.

Man kann diese Regelbefolgungen als Moral der Gegenseitigkeit, der Reziprozität im einzelwirtschaftlichen Verhalten („do ut des“) zusammenfassen, zu der in gleicher Weise die Marktwirtschaft die Beteiligten anhält, wie diese Moral andererseits das Funktionieren des Ordnungstyps stützt. Gegenseitigkeit schließt aus der Sache heraus die Berücksichtigung der Präferenzen der Partner ein. Freilich müssen sie von deren Seite auch klar signalisiert werden.

Es ist der Vorteil dieses Moraltyps, daß sich die einzelnen in der Normeneinhaltung zu einem guten Teil wechselseitig kontrollieren und sanktionieren. Im Wege der Erfahrungsgeneralisierung verstärkt und trägt die Sollensvorstellung der Reziprozität sich selbst. Der Lernprozeß für Neulinge ist relativ kurz.

Andererseits wird man es nicht als einen Nachteil ansehen wollen, wenn sich die Moral der Gegenseitigkeit im Wirtschaftsverkehr so zu habitualisieren pflegt, daß sie in der Normalsituation des tagtäglichen Kaufes und Verkaufes kaum noch die Bewußtseinsschwelle überschreitet. Im Gegenteil muß die einschlägige Entlastung des individuellen Seelenhaushaltes, der ja nicht unbegrenzt dem Entscheidungsdruck offensteht, als ein gewichtiger Pluspunkt der Marktwirtschaftsordnung gebucht werden.

Ein „heroisches Ethos“ ist es freilich nicht, was die Marktwirtschaftsordnung voraussetzt. Am ehesten könnte man in diesem Zusammenhang noch an den Investor denken, der schwer kalkulierbare Risiken übernimmt; aber auch er setzt schließlich und endlich auf einen „Return“. Ein „heroisches“ Ethos jedoch, das Leistungen ohne Gegenleistungen erbringen oder erwarten läßt, müßte im tagtäglichen Wirtschaftsverkehr bald erlahmen. Zumindest setzt es voraus, daß zunächst einmal (oder durch andere) nach dem Gegenseitigkeitsprinzip die Mittel geschaffen werden, die ein „heroisches“ Verhalten erst ermöglichen.

Kritiker, die den Ordnungstyp der Marktwirtschaft schon darum suspekt finden, verwechseln wirtschaftliche Beziehungen mit anderen Bereichen menschlicher Lebensäußerung. In der Tat wird hier nicht verlangt, daß der Produzent den Abnehmer „glücklich machen“ will und dieser dem Anbieter „Dankbarkeit“ schuldet; es wird nicht verlangt, daß der Arbeitgeber den Beschäftigten „liebt“ oder der Händler den Konsumenten „selbstlos“ bedient. Es genügt, wenn die Beteiligten zu erkennen geben, was ihnen die jeweilige Leistung wert ist, und sich im übrigen an die Spielregeln des Marktes halten.

In der Welt des Tauschbaren, mit der „Wirtschaft“ allein sich befaßt, wäre der Imperativ eines „heroischen“ Ethos sogar abträglich. Denn mit ihm sind unausweichlich selektierende Gefühle und Zuwendungen verbunden, die just dort Ungleichheiten und Konflikte buchstäblich produzieren würden, wo es für die Funktionsfähigkeit — nämlich das Zustandekommen von Transaktionen — auf Gleichberechtigung, personale Unabhängigkeit und den sachbezogenen Ausgleich ankommt. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, daß die Frage „what does the economist economize?" mit „Nächstenliebe“ zu beantworten ist Sie ist in gleicher Weise so knapp und so wertvoll, daß die gesellschaftliche Organisation gut daran tut, mit ihr sparsam umzugehen und sie dort nicht vorauszusetzen, wo sie aus der Sache heraus nicht funktionserforderlich ist. Felder, auf denen die „heroische“ Moral ihren Ort hat und unentbehrlich ist, sind die Familie, der Freundeskreis, der Nächste in Not, die Caritas und die Fürsorge.

Es bleibt ein letzter Aspekt: Je komplexer eine Wirtschaft ist.desto bedeutsamer werden die „Unsichtbare-Hand-Lenkung“ und jene abstrakt-nüchternen Regeln, die die Moral der Gegenseitigkeit meint (wobei natürlich ein Mindestmaß an Gutwilligkeit oder allgemeinem Wohlwollen eingeschlossen ist). Darum präsentiert sich die Marktwirtschaft als der adäquate Ordnungstyp gerade für Großgesellschaften. Das Diktum, „große Zahlen“ seien der Moral hinderlich, trifft eben nicht auf alle Moral-muster zu.

Das Signum einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung ist Offenheit. Mit dieser Eigenschaft wird sie zu einem Mechanismus der selbsttätigen Lösung von-Konflikten, wie sie in der Gesellschaftswirtschaft an der Tagesordnung sind: — Wo eine Vielzahl von Anbietern in Konkurrenz steht, ist der Abnehmer unabhängig vom einzelnen Produzenten oder Faktoranbieter. Durch die Möglichkeit freier Ab-und Zuwanderung vermindert das Marktsystem das Konfliktpotential. — Der freie Tausch überbrückt Gegensätze. Natürlich strebt der Anbieter einen möglichst hohen Preis und der Abnehmer das Gegenteil an. Aber gerade die Anonymität des Marktes nimmt dem Ausgleich, der auf ihm schließlich zustande-kommt, den psychischen Stachel, und das auch darum, weil das Marktergebnis heute stets die Chance offenläßt, morgen unter veränderten Daten, etwa mit verbesserter Information, günstiger abzuschneiden. Würden demgegenüber die vielerlei Konflikte des täglichen Wirtschaftslebens auf die politische Bühne transportiert, wäre jedenfalls eine demokratische Regierungsform bald gesprengt. — Die Offenheit der Wettbewerbswirtschaft bietet dem offensichtlich unausrottbaren Reservoir an Regungen des Neides, der Habgier und der Besserwisserei in der Gesellschaft ein reibungsvermindemdes Ventil: Jedermann hat die Chance zu dem Versuch, gleichzuziehen, zu überholen oder es seinerseits besser zu machen, ohne daß er darum anderen in die Arme fallen müßte. Die Marktwirtschaft steht einer Vielzahl von Talenten, individuellen Zwecken und Lebensstilen offen. In ihr läßt sich auch asketisch leben und jede Art private Hilfstätigkeit üben; man muß es nur „wollen“ und gegen einen allfälligen Zeitgeist seine Unabhängigkeit zu wahren wissen.

VI. „Abweichendes“ Verhalten

Es ist gesagt worden, daß auf die Dauer nichts in der Wirtschaft „stimmt“, wenn nicht die Wirtschaftsordnung „stimmt“. Das ist richtig, soweit unter „Ordnung“ auch die vorgeführten moralischen Voraussetzungen einbezogen sind. Wird aber die Wirtschaftsordnung, einschließlich der staatlichen Rahmensatzungen, funktionsfähig gehalten, reduziert sich das ethisch schwierige Problem der Handlungsnebenwirkungen, die räumlich und zeitlich fern liegen können. Gerade in komplexen Wirtschaftsgesellschaften entlastet es das moralisch bewußte Verhalten, daß die einzelwirtschaftliche Entscheidung sich hier auf die marktwirtschaftliche Lenkung verlassen kann: Soweit die allgemeinen Regeln der Reziprozität beachtet werden und unbeschränkter Marktzutritt herrscht, sorgt der Koordinations-, Informations-und Anreizmechanismus des Marktes dafür, daß sich die positiven Externalitäten des Einzelverhaltens für die Gesamtwirtschaft maximieren.

Was als Problem bleibt, ist mögliches „abweichendes“ Verhalten (Trittbrett-oder Schwarzfahrerverhalten). Gerade wenn sich alle anderen kooperativ in dem Sinne verhalten, daß sie die Regeln der ordnungsgeforderten Moral beachten, kann einem Einzelnen der Versuch vorteilhaft erscheinen, in dem an sich schon guten gesellschaftswirtschaftlichen Zustand, an dem er teilhat, sich selbst durch Normüberschreitung noch besserzustellen. In der Versicherungstheorie spricht man denn auch von einem „Moral-Hazard-Verhalten“ Was ist von seiner faktischen Wahrscheinlichkeit (Häufigkeit) zu halten?

Zunächst einmal muß es dem, der die Moral der anderen auszunützen sucht, darum gehen, seine Normüberschreitung zu verbergen, zu kaschieren oder zu vernebeln. Das ist in wirtschaftlichen Dingen schon darum nicht gerade einfach, weil zu Transaktionen immer auch andere Beteiligte gehören. Aber selbst wenn — zumindest auf Zeit — Intransparenz vorliegen sollte, verursacht die „Geheimhaltung“ des Verstoßes dem Abweichler individuelle „Kosten“, die, bei rationellem Kalkül, dem erstrebten Sondervorteil gegengerechnet werden müßten.

Läßt sich der Moral-Hazard-Akt überhaupt oder auf die Dauer nicht verbergen, muß der Abweichler mit direkten Sanktionen der Beteiligten für den Vertrauensbruch rechnen. Sie können von Mißbilligungsäußerungen über Ausgrenzung von weiteren Geschäftsbeziehungen bis zu (legalen) Gegenmaßnahmen reichen. Dem Anreiz eines kurzfristigen Vorteils stehen also absehbare, zumindest längerfristige Nachteile gegenüber, die den Abweichler unmittelbar treffen. Mit dem „spontanen Austausch“ von Sanktionen geht ein Lernprozeß einher.der die Wahrscheinlichkeit namentlich von Wiederholungsfällen senkt.

Der ungünstigste Fall ergibt sich, wenn die übrigen Beteiligten damit reagieren, sich auch ihrerseits das Trittbrettfahrerverhalten zu eigen zu machen, also zur Grenzmoral und darüber hinaus abzusinken. Nun befindet sich der ursprüngliche Abweichler in einem echten Gefangenen-Dilemma. Da er auch seinerseits der Moral der übrigen nicht mehr vertrauen kann, steht er schließlich schlechter da, als wenn er sich von vornherein mit allen Beteiligten kooperativ verhalten hätte.

Indes, als Dritter im Bunde kommt die staatliche Instanz ins Spiel, die die ordnungsgebotenen Normen durch Satzung stützt und ihnen durch „organisierte“ Sanktionen Geltung verschafft. Sie kann durch unmittelbar Betroffene, aber auch durch Dritte, die vom Regelverstoß erfahren, angerufen oder ex officio tätig werden. Die allgemeine staatliche Sanktionsandrohung dürfte es nicht eben wahrscheinlich machen, daß im ökonomischen Be29 reich ein Gefangenen-Dilemma, das ja ein abweichendes Verhalten bei einer Vielzahl der Beteiligten voraussetzt, nachhaltige Wirklichkeit wird. Es sei denn, die einschlägigen gesetzlichen Satzungen sind unklar und widersprüchlich, oder die Rechtsprechung verfährt lax und nachgiebig, oder die Sanktionen sind in ihrer Stärke unverhältnismäßig gering, so daß sie keinen handfesten Gegenhalt gegen den Anreiz abweichenden Verhaltens bieten. Die vorgeführten Kalküle sind nicht dazu angetan, die Bedeutung von Moral im Wirtschaftsleben herabzusetzen. Sie streichen im Gegenteil das gegenseitigkeitsbewußte Verhalten und die mit ihm verbundene Vertrauensschaffung als hohes öffentliches Gut heraus, und das nicht nur für die Fälle, wo die Geheimhaltung eines abweichenden Verhaltens („kostengünstig“) tatsächlich möglich ist oder wo die Normmißachtung durch äußere Kontrolle nicht oder nur schwer nachweisbar ist.

Anzeichen dafür, daß die ordnungserforderliche Moral zu wünschen übrig läßt, können zum Beispiel eine Prozeßflut aus Verträgen, die offenbar der Vertrauensbasis entbehren, die Zunahme betrügerischer Bankrotte und nicht zuletzt die Häufung von Korruptionsfällen sein, bei denen zumeist die öffentliche Hand, vorzüglich in einem Konzessionsoder Subventionszusammenhang, mitbeteiligt ist.

VII. Ein ethisches Experiment

In der Bundesrepublik Deutschland verfügen wir über den seltenen Fall einer geradezu experimentellen ethischen Erfahrung, wie eine ordnungspolitische Zäsur die individuelle und öffentliche Moral berührt. Vor 1949 gab es eine Art „Lenkungswirtschaft“, die mit Preisstopps, Abgabesolls, Konsum-rationierung (Bezugsscheine), nahezu konfiskatorisehen Steuersätzen und massiven Devisenkontrollen arbeitete. Die einschlägigen Strafvorschriften waren drastisch. Und es fehlte nicht die publizistische Begleitmusik, die zum „moralischen“ Mittun, zu „Opfern“ und zur „Verantwortung gegenüber der Gesamtheit“ aufrief. Wer solches aus der Feme verfolgte, mochte den Eindruck haben, daß hier die Sittlichkeit dabei war, eine Schlacht zu gewinnen, und sich eine ausnehmende Solidarität Bahn brechen könnte.

Aber der Schein trog. Nie hat es — und das will für deutsche Verhältnisse etwas heißen — so viel Korruption. mehr Steuerhinterziehungen, zahlreichere ungeahndete Gesetzesverstöße, mehr Übervorteilungen auf schwarzen bzw. grauen Märkten und mehr unproduktive Profitmacherei gegeben („Bazarkapitalismus“).

Wechselseitige moralische Vorwürfe ganzer Berufsstände waren an der Tagesordnung. Einmal ging es gegen die Bauern, die die Knappheitssituation den Städtern gegenüber ausnutzten, dann gegen die Produzenten und Händler, die Waren zurückhielten oder nur an Bevorzugte abgaben, und schließlich gegen die Arbeiter, die bei den entwerteten Geldlöhnen verständlicherweise nicht das Beste gaben und vielfach auf Schwarzarbeit gegen Naturalentgelt auswichen.

Der staatliche Zwang vermochte da wenig auszurichten. Im Gegenteil, je zahlreicher die gesetzlichen Ver-und Gebote wurden, die die immer neuen Lücken in der Verhaltenssteuerung auszufüllen trachteten, desto weniger war das eigentlich Gewollte erzwingbar, desto eher wurde die Strafandrohung unwirksam. „Die einen wurden — um der schieren Selbsterhaltung willen — zum Rechtsbruch gezwungen, die anderen ließen sich zwingen, die nächsten schlossen sich freiwillig an, und je größer das Chaos wurde, desto größer wurde auch die Zahl derjenigen, die gute Gründe für sich in Anspruch nehmen oder mindestens vorschützen konnten.“ Mit anderen Worten: Das Niveau der moralischen Grenze sank. Wer sich treu an die angestammten Normen der Anständigkeit hielt, war der Dumme. Es konnte keine Rede davon sein, daß das Lenkungssystem über den Gewöhnungseffekt Aussicht gehabt hätte, sich mit der Zeit von selbst in einem Gleichgewichtszustand zu stabilisieren.

Mit der Währungsreform und dem Übergang zur Marktwirtschaftsordnung ging es nicht nur fast schlagartig mit der Sozialproduktentwicklung bergauf. Es endete auch die Strapazierung der Moral zur Ausbügelung wirtschaftlicher Lenkungsschwächen. Die Aktualität dieser Erfahrungen braucht wohl nicht betont zu werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. K. R. Popper, Woran glaubt der Westen?, in: A. Hunold (Hrsg.), Erziehung zur Freiheit, Erlenbach-Zürich 1959, S. 251.

  2. F. A. v. Hayek, Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, Kiel 1968.

  3. W. Röpke. Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart. Erlen-bach-Zürich 1942, S. 85 f.

  4. Für die schwierigen technischen Fragen dieser „Kontrolle“ vgl. B. Molitor, Reformbedarf in der Wettbewerbs-politik. in: ders.. Wirtschafts-und Sozialpolitik in der Demokratie, Hamburg 1986, S. 142 ff.

  5. Vgl. dazu A. O. Hirschman, Abwanderung und Widerspruch, Tübingen 1974.

  6. Für die Formulierung vgl. L. Althusser, Bemerkungen zu einer Kategorie „Prozeß ohne Subjekt und ohne Ende/Ziel", in: W. Oelmüller (Hrsg.), Weiterentwicklungen des Marxismus, Darmstadt 1977, S. 259 ff.

  7. K. E. Boulding, Volkswirtschaftslehre als Moral-Wissenschaft. in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts-und Gesellschaftspolitik, 16 (1971), S. 21.

  8. D. Robertson. What Does the Economist Economize?, in: Economic Commentaries, (1956), S. 147 ff.

  9. B. Molitor, Soziale Sicherung, München 1987, S. 21 ff.

  10. L. Miksch, Wirtschaftsmoral und Wirtschaftsordnung, in: Wirtschaftsverwaltung, 1 (1948) 14, S. 5.

Weitere Inhalte

Bruno Molitor, Dr. rer. pol., geb. 1927: Ordinarius für Volkswirtschaftslehre an der Universität Würzburg. Veröffentlichungen u. a.: Der Sozialstaat auf dem Prüfstand, Baden-Baden 1984; Wirtschafts-und Sozialpolitik in der Demokratie. Hamburg 1986; Soziale Sicherung, München 1987; Lohn-und Arbeitsmarkt-politik. München 1988; Wirtschaftspolitik, München 1988.