Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Europäische Perspektiven nach der deutschen Einigung | APuZ 52-53/1990 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 52-53/1990 Artikel 1 Artikel 2 Politische Utopie, oder: Die Aktualität des Möglichkeitsdenkens Politikwissenschaft in Deutschland Ihre Geschichte, Bedeutung und Wirkung Politische Bildung seit 1945 Konzeptionen, Kontroversen, Perspektiven Europäische Perspektiven nach der deutschen Einigung

Europäische Perspektiven nach der deutschen Einigung

Imanuel Geiss

/ 20 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die plötzliche Einigung Deutschlands durch den Zusammenbruch des Kommunismus eröffnet neue Chancen zur Reorganisierung Europas auf breiterer und föderalistischer Grundlage. Erforderlich sind Hilfsaktionen für den europäischen Osten und Aufarbeitung von Altlasten des vergangenen Kalten Krieges, auch ideologischer Kontroversen, durch Mobilisierung der neuen historischen Perspektiven, die sich mit der Einigung Europas ergeben. Neue historische Perspektiven erfordern auch die bessere Einordnung der deutschen Nationalgeschichte, und zwar sowohl in die Geschichte anderer Nationalstaaten als auch Europas insgesamt. Die Aussicht auf einen halbwegs befriedeten Kontinent darf jedoch nicht in Selbstzufriedenheit führen: Nach dem Verschwinden des Ost-West-Konflikts wird sich nachdrücklich die Hauptkonfliktachse der Welt nach Nord-Süd drehen, wie die Annexion Kuwaits durch Saddam Hussein und die entschlossene westliche Reaktion darauf mit brutaler Promptheit demonstriert hat.

I. Der Zerfall des Kommunismus

Der katastrophale Kollaps des Kommunismus im revolutionären Wendejahr 1989/90 hat endgültig den Ost-West-Konflikt beendet, weil es keinen kommunistischen „Osten“ mehr gibt, der sich noch länger mit dem „Westen“ messen möchte oder könnte. Der ideologische „Wettkampf der Systeme“ zwischen West und Ost ist vorbei, da der ehemals kommunistische „Osten“ selbst „Westen“ werden möchte. Die Selbstdemontage des Kommunismus macht auch vor der UdSSR nicht mehr halt — von den Rändern (den baltischen, kaukasischen und zentralasiatischen Republiken) bis zur Zentrale Moskau selbst. Nach allen historischen Erfahrungen ist die Auflösung des fast perfekten Zwangsstaates eine der großen Veränderungen, die bisher nie ohne entsprechende Gewaltanwendung ablief 1).

Schadenfreude oder ideologische Häme wären ein schlechter Ratgeber, denn die Konsequenzen gewaltiger Konvulsionen, wie sie sich schon im Süden der UdSSR ankündigten, bedeuteten eine Katastrophe für die gesamte Menschheit, in den Dimensionen vergleichbar mit einem Dritten Weltkrieg: Hungerkatastrophen, Flüchtlingsströme, Zerstörung, Verwahrlosung oder Sabotierung hochempfindlicher Industrieanlagen in Bürgerkriegen könnten nicht nur menschliche, sondern auch ökologische Katastrophen auslösen, die vor keiner Staats-oder Systemgrenze halt machen würden. Vielmehr ist jetzt rasche und effektive Hilfe für den „Kranken Mann an der Moskwa“ eine globale Notwendigkeit, um buchstäblich Not zu wenden, auch im wohlverstandenen Selbstinteresse aller nichtkommunistischen Länder. Wir können uns keine selbstzerstörerische Null-Summen-Mentalität mehr leisten: Ein Verlust beim ehemaligen Gegner im Ost-West-Konflikt ist auch unser aller Schaden.

Überleben zu humanen Bedingungen erfordert jetzt eine umfassende internationale Hilfsaktion ohne Rücksicht auf Systemgrenzen und Ressentiments aus der Vergangenheit, um der drohenden Katastrophe in der UdSSR nach Möglichkeit entgegenzuarbeiten. Das wäre keine edle Caritas, sondern aufgeklärtes Selbstinteresse. Denn anders als es Marx einst meinte, zeigt der einst „fortschrittliche“ exkommunistische Osten der industriellen Welt ihre Zukunft: Vielleicht nirgendwo sind die Umweltzerstörungen durch eine rabiate Industrialisierung so weit fortgeschritten wie im exkommunistischen Ostmitteleuropa, in der noch kommunistischen Sowjetunion und in der Volksrepublik China.

In Wirklichkeit hatte der kommunistische Osten schon längst die ökologische Souveränität verloren. Politisch, finanziell und technisch unfähig, auch nur ein lebensnotwendiges Minimum zum Schutz der Umwelt und damit der eigenen Bevölkerung aus eigener Kraft aufzubringen, ist er selbst zum Sicherheitsrisiko Nr. 1 der Menschheit aufgestiegen, wie schon Tschernobyl bewies. Anläufe zur Sanierung der Umwelt waren unter dem Regime des totalitären Kommunismus blockiert — schon durch das Verbot, Umweltzerstörungen im eigenen Land öffentlich zu machen: Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte.

Der Verlust der ökologischen Souveränität zieht auch den Verlust der ökonomischen und finanziellen Souveränität nach sich, unvermeidlich und unerbittlich: Der ökonomische und finanzielle Bankrott des regierenden Kommunismus schreit geradezu nach einem allgemeinen Kassensturz. Er ist Voraussetzung zu tiefgreifenden Strukturreformen, ohne die jede noch so gutgemeinte Hilfe als Akt aufgeklärten Selbstinteresses versinken würde im Sumpf kommunistischer Mißwirtschaft. Anders wären globale Hilfsmaßnahmen, gleichsam ein globaler Super-Marshallplan, gar nicht denkbar. Kein Steuerzahler wäre bereit, sein gutes Geld in ein Faß ohne Boden zu werfen. Dabei sind Hilfe und Veränderung dringend notwendig. Die katastrophale Überalterung und Verrottung umweit-und gesundheitsgefährdender Industrieanlagen — in der DDR nach einem damals noch gültigen quasi-offiziellen Bericht der PDS an den Ostberliner Runden Tisch vom Februar 1990 37 Prozent aller Arbeitsplätze — läßt sich nicht anders als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Umwelt begreifen. Tschernobyl ist nur ein extremer Einzelfall. Die Vernichtung ganzer Landschaften durch Braunkohleabbau in der Tschechoslowakei und DDR als Resultat einer selbstmörderischen Autarkiepolitik nd die Verpestung der Atmosphäre durch Verheizen minderwertiger Kohle mit verheerenden ökologischen Folgeschäden (Waldsterben) können die internationale Öffentlichkeit nicht gleichgültig lassen — eben wegen der Grenzenlosigkeit schwerer Umweltzerstörung und ihrer Nachwirkungen.

Im Kleinen exerziert derzeit Jugoslawien diese Problematik schon vor: im Konflikt zwischen dem westlich orientierten, am höchsten industrialisierten, effizientesten und wohlhabendsten Bundesstaat Slowenien und dem rückständigen, kommunistisch-orthodoxen Serbien So wie im Kleinen die Spannung zwischen angestrebter (sozialistischer oder wie auch immer genannter) Marktwirtschaft und kommunistischer Kommandowirtschaft selbst die Föderation Jugoslawien zu zerreißen droht, so könnte eine ideologisch-strukturell bedingte Unreformierbarkeit im Großen ein internationales Hilfsprogramm für die Menschen und die Umwelt blokkieren.

Die konstruktive Verarbeitung des kommunistischen Debakels muß rasch erfolgen, ohne Rücksicht auf ideologische Vorbehalte oder Desillusionierungen. Die frühen Prognosen bürgerlicher Sozialismus-Kritiker in Deutschland schon vor rund einem Jahrhundert erweisen sich heute als deprimierend realistisch: Der Sozialismus kann nicht ökonomisch funktionieren, weil er das Eigeninteresse des Individuums eliminiert, eine überdimensionierte Bürokratie in einem Zwangsstaat entstehen läßt, sich nur mittels Gewalt durchsetzen und behaupten kann. Zuletzt wäre er nur im schrecklichsten Bürgerkrieg zu beseitigen, den die Weltgeschichte bisher kannte

Für den fundamentalistischen Flügel des Sozialismus, der sich ab 1917/19 vom eher pragmatischreformerischen Teil der alten Sozialdemokratie trennte und sich als Kommunismus politisch selbständig machte, trifft die bittere Prognose buchstäblich zu. Sein selbstgewisser Anspruch, mit der proletarischen Weltrevolution dem bürgerlichen Kapitalismus das große Weltgericht auf Erden zu bereiten und ihn auf den vielzitierten „Müllhaufen der Geschichte“ zu werfen, kehrt sich nun dialektisch gegen ihn selbst, da der kommunistische Osten zur großen Müllkippe des prosperierenden Westens abgesunken ist, zum Armenhaus und Niedriglohnland Europas. Der welthistorische Kassensturz der Jahre 1989/90 offenbart, wie die Geschichte Zuspätkommende bestrafen kann, daß sie genauer sein kann als die preußische Oberrechnungskammer.

II. Altlasten des Kalten Krieges und Zukunftserfordernisse

Im Versuch zur positiven Bewältigung des kommunistischen Alptraums gilt es, sich von zwei Extremen abzugrenzen, die sich im Westen zu Worte melden: von „rechts“ rachsüchtige Rechthaberei, die die vom Kommunismus Geschlagenen nachträglich noch einmal bestrafen würde, statt ihnen wirklich zu helfen; von „links“ dagegen entspricht solcher „rechten“ Reaktion ein sehr viel komplexeres Verhalten auf die demokratische Revolution des Jahres 1989. Der Teil der „Linken“, der sich seit Jahrzehnten mit „antifaschistischem“ Pathos in eine geradezu hysterische Denunziation demokratischer Kritik am und Distanzierung vom regierenden Kommunismus steigerte müßte spätestens jetzt seine Position überprüfen. Demokratische Kritik am Kommunismus war und ist legitim, selbst wenn die Nazis auch gegen den Kommunismus waren. Ein antifaschistischer Anti-Antikommunismus führte und führt durch die alleinige Konzentrierung auf den Nationalsozialismus und verwandte Faschismen automatisch in eine Relativierung und Aufwertung des Kommunismus, zumal wenn die notwendige Analyse und Differenzierung der verschiedenen realen Kommunismen unterblieb. Demokraten dürfen und müssen Äquidistanz zu beiden Groß-Totalitarismen unseres Jahrhunderts ein-halten. Sonst gleitet jede kritisch wertende Konzentrierung auf einen der Totalitarismen — vielleicht ungewollt, aber logisch unvermeidlich — in die positiv aufwertende Bevorzugung des entgegengesetzten Totalitarismus ab. Das gilt nach beiden Seiten des traditionellen politischen Spektrums.

Auch die geflissentliche Bemühung um den einst regierenden Kommunismus, wie er sich im ambivalenten SPD-SED-Papier kurz vor dem Debakel niederschlug weist für die jüngste Vergangenheit in dieselbe Richtung. Dem Kommunismus so pauschal nicht nur Friedensfähigkeit zu bescheinigen — was noch nicht einmal für das Außenverhältnis beim größten Wohlwollen angehen mochte (Afghanistan-Krieg, Äthiopien, Ungarn 1956 etc.) —, sondern auch Reformierbarkeit und historische Existenzberechtigung, kam einer indirekten Aufwertung des regierenden Kommunismus gleich, zumal in den damals noch kommunistisch beherrschten Ländern die SPD die jeweilige Opposition ignorierte (CSSR, DDR) oder schnitt (Polen) und im eigenen Bereich Kritik am Kommunismus als „antikommunistisch“ verketzerte. Am Kern der Sache vorbei gehen Äußerungen, der Westen habe zumindest teilweise den Sturz des Kommunismus in Osteuropa herbeigeführt. Daraus spricht eine Verkennung oder aber Verdrehung der historischen Realitäten: Das fast perfekte Zwangsstaatssystem der Nachkriegszeit brach an seinen eigenen Strukturmängeln zusammen, u. a. am Fehlen von Freiheit und Menschenrechten. Solche „linke“ Rechthaberei blockiert nur die — wenn sie überhaupt noch ernst genommen werden wollen — längst überfällige Selbstkritik der „Linken“ im Westen, und lenkt von der pragmatischen Schadensbegrenzung ab, die nun auf der Tagesordnung steht

Unvermeidlich tut sich ein Dilemma auf: Einerseits ist Sanierung und Wiederaufbau nach marktwirtschaftlichen Prinzipien, die sich eben doch als überlegen erwiesen haben, nicht anders denkbar als durch politische Selbstaufgabe dort, wo Kommunismus noch besteht. Jedenfalls in Europa ist der Einzug ins „Europäische Haus“, wie er auch von der UdSSR gewünscht wird, nur durch Übernahme der effizienteren Marktmechanismen möglich. Andererseits bleibt der soziale Impuls, wie er im rationalen Kern des Sozialismus angelegt ist, weiterhin eine elementare Notwendigkeit, um die sozialen Folgen für die Menschen im sonst schrankenlosen Kapitalismus tunlichst zu minimieren. Der soziale Kern des Sozialismus läßt sich aber nur in eine post-kommunistische Zukunft retten, wenn sich die Sozialismus-Hinterbliebenen vom säkularisierten Chiliasmus der „alten Linken“ endgültig trennen. Sonst führen alle Wege des Marxismus doch wieder — ob gewollt oder nicht — auf den linkstotalitären Holzweg des „real existierenden Sozialismus“ zurück, auch bei seinen Schönrednern im Westen.

Was also ist zu tun? Zunächst gilt es, die Altlasten, ideologische wie materielle, zu benennen, um sie möglichst zuträglich für alle zu „entsorgen“ — nach der neuen „Art Schadensbegrenzung“ (Habermas) nun eine weltweite „Entsorgung“ (H. -U. Wehler) des zu einer „Zumutung“ für die Menschheit gewordenen Kommunismus. Niemand verlangt eine bilderstürmerische tabula rasa. Fairneß und Vernunft gebieten es, rationale Elemente im Sozialismus und Marxismus zu respektieren und zu erhalten, schon weil ein totales Vakuum in der post-kommunistischen Welt erfahrungsgemäß nur vom entgegengesetzten Extrem besetzt wird. Befreit vom hybriden Anspruch innerweltlicher Heilserlösung für die Menschheit, der so katastrophal gescheitert ist, enthält der Marxismus durchaus rationale Faktoren, vor allem die sozial-ökonomische Bedingungsanalyse der Prozesse, die in die modernen Revolutionen mündeten. Sein Hauptfehler war, eben durch seine dogmatische Verabsolutierung seiner selbst, dieselben Kategorien nicht auf . die eigene neue Klasse der zuletzt nur noch repressiven und parasitären Nomenklatura anzuwenden.

Die marxistische Revolutionsanalyse, vom Kopf auf die Füße gestellt, bleibt ein exzellentes Mittel zur historischen Erklärung des eigenen, kommunistischen Zusammenbruchs. Erst recht wertvoll aber bleibt der soziale Impuls des Sozialismus, wenn er nicht wieder zur Krücke wird, um eine dann erneuerte, herrschende Oligarchie zu restaurieren und zu legitimieren. Im übrigen aber sind Demokratie und politische Freiheit die besten Garanten gegen die Herrschaft von Orthodoxien, Alten wie Neuen oder Alten im neuen Gewände.

Die näheren Modalitäten des Wiederaufbaus müssen die Fachleute bestimmen. Das neue „gemeinsame Haus Europa“ darf weder Bewohner verschiedener Klassen kennen — privilegierte und rechtlose —, noch darf es sich vor allem gegen die Dritte Welt verschließen, selbst wenn vorübergehend mehr Kapitalien nach Osteuropa fließen werden als in die Dritte Welt. Aber der zu erwartende WirtSchaftsaufschwung des neuen Gesamteuropa könnte auch auf die Dritte Welt ausstrahlen. Nach den verheerenden ökologischen Fehlleistungen des Kommunismus muß der Neuaufbau ökologisch verträglich erfolgen. Die Sanierung der Umwelt durch Entsorgung der Altlasten kommunistischer Mißwirtschaft wird — neben den privatwirtschaftlichen Existenzgründungen — zumindestens anfänglich einen Hauptimpuls wirtschaftlicher Tätigkeit im Interesse der Menschen geben. Das Abstellen der Dreckschleudern, Energiesparen, Einbau von Filtern, Katalysatoren, Auf-und Ausbau von Kläranlagen, sanfte Technologien auf möglichst vielen Gebieten sind schon längst zu einer Überlebensfrage der Menschheit geworden und sollten auf die übrige Welt ausstrahlen. Auch im Westen gibt es ökologisch noch viel zu tun, und wir haben keinerlei Anlaß zum Ausruhen in Selbstzufriedenheit. Ein ökologisch fundierter, pragmatisch-reformerischer Sozialismus im Rahmen einer „bürgerlichen Demokratie“ könnte die produktive Rolle eines „Hechts im Karpfenteich“ übernehmen, um geistig-politische Verfettung in einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft und Demokratie zu bekämpfen.

III. Das neue Europa und Deutschland

Ein neues Europa, das sich von seinem westmitteleuropäischen Kern her ökonomisch und politisch aufbaut, muß der historischen Vielfalt europäischer Nationen gerecht werden, großer und kleiner. Die dialektische Einheit in der Vielfalt Europas bestand stets in der Ablehnung des hegemonialen Prinzips. Das klassische Gleichgewicht der Kräfte der kollektiv dominierenden Großmächte in der Pentarchie hatte sich in seiner Endform aus der zweimaligen Abwehr der französischen Hegemonie unter Ludwig XIV. und der Französischen Revolution samt ihrem Vollstrecker Napoleon I. entwickelt und im Konzert der Mächte auf dem Wiener Kongreß 1815 konstituiert und institutionalisiert. Im folgenden Jahrhundert reiften die Bedingungen zu seiner Selbstzerstörung in zwei Weltkriegen heran Beide Male mußte eine Weltkoalition den deutschen Hegemonialanspruch in Europa als Voraussetzung zum „Griff nach der Weltmacht“ abwehren. Die Teilung Deutschlands und Europas nach 1945 besiegelte zunächst die Selbstzerstörung Gesamt-Europas und seines auf Großmächten beruhenden Gleichgewichts der Kräfte. Statt dessen dominierten zwei Weltmächte im Westen und Osten, von denen eine, die UdSSR, aus einer der fünf Mächte der Pentarchie, revolutionär verpuppt, zur Weltmacht aufgestiegen war, allerdings nur mit massiver Material-und Kredithilfe durch die USA seit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Im „Wettkampf der Systeme“ seit Beginn des Kalten Krieges übernahm sich die UdSSR, durch Über-Expansion in Übersee wie durch ihre eigene Ineffizienz zu Hause.

Der Sturz des Kommunismus zumindest in Ost-Mitteleuropa und die entsprechende Schwächung der Sowjetunion eröffnen nun die Chance zur Neuordnung Europas auf einer historisch gegebenen Grundlage. Die vielgegliederte Komplexität Europas bleibt, und niemand braucht zu befürchten, in einem europäischen Einheitsbrei zu versinken. Dennoch sind die Karten neu gemischt. Alle historischen Großmächte Europas mit Hegemonialansprüchen sind gescheitert und verbraucht, kontinentale wie maritime: Spanien auf dem Kontinent (durch die Personalunion mit dem alten römisch-deutschen Reich 1519— 1659) und in Übersee seit 1659, Frankreich 1714/1815, das zaristische Ruß-land im 19. Jahrhundert, Deutschland 1918/45, seit 1945 England als Kolonialmacht, nun auch das kommunistische Rußland.

Spanien, Frankreich. England und Rußland im historischen Prozeß der Machtentfaltung verbraucht — die Bahn wäre an sich frei für eine neue, dieses Mal reale, ökonomisch fundierte deutsche Hegemonie, zumal Deutschland nun einmal dem sich politisch neu orientierenden Ost-Mitteleuropa geographisch am nächsten liegt. Aber umgekehrt ist ebenso wahr: Jede nationalstaatliche Politik würde wegen des Hegemonialpotentials eines auch nur bis zur Oder-Neiße geeinten Deutschland jede weitere europäische Einigung stören, schon weil das europäische System seit dem Mittelalter, in welcher Form es sich auch immer befand, gegen die Hegemonie einer europäischen Macht ankämpfte.

Die Ironie der Geschichte hat es so gefügt, daß Deutschland, das historisch im Mittelalter als erste Macht, in der Neuzeit 1871 bis 1945 als letzte Großmacht zur innereuropäischen Hegemonie gegriffen hatte, in dialektischer Verkehrung seiner beiden Niederlagen von 1918 und 1945 heute in Europa am stärksten dasteht. Selbst auf seinem gegenüber 1914 und 1937 drastisch reduzierten Territorium ist Deutschland in der Gestalt der Bundesrepublik schon lange die zumindest ökonomische Führungsmacht Europas, ohne ihre enorme Wirtschaftspotenz politisch ausmünzen zu können oder zu wollen. Selbst die Sanierung der maroden Wirtschaft auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, die gegenwärtiB gen Trends als kontinuierlich vorausgesetzt, wäre kaum mehr als eine vorübergehende Turbulenz, die eher neues ökonomisches Wachstum stimulieren wird.

Gerade deshalb fällt den Deutschen im europäischen Einigungsprozeß eine doppelte Verantwortung zu: Ihre historische Verantwortung für zwei Weltkriege, als zweimaliger „Griff nach der Welt-macht“, verlangt von ihnen einen weisen, d. h. zurückhaltenden Gebrauch ihres enormen ökonomischen und technischen Potentials. Zurückhaltung bedeutet im deutschen Fall: Freiwilliger Verzicht auf die in der Weltgeschichte bisher sonst „normale“ Verwandlung ökonomischer Vormacht in politische Hegemonie.

Nach den blutigen Umwegen der beiden Weltkriege, die indirekt auch historische Voraussetzungen der gegenwärtigen Lage sind, darf die Vereinigung Deutschlands keine rein nationalstaatliche Lösung sein. Nachdem die zunächst erwogene Idee einer Konföderation Bundesrepublik—DDR, eventuell als Kristallisationskern für eine Mitteleuropäische, gar Gesamteuropäische Konföderation, als Alternative zur nationalstaatlichen Wiedervereinigung sich durch den in diesem Ausmaß von niemandem vorhergesehenen Kollaps der DDR als irreal erwiesen hat, gilt es, die Substanz einer europäischen Föderationsidee zu retten und fruchtbar zu machen. Das ist der eigentliche Sinn der jetzt so oft beschworenen Einbindung eines vereinigten Deutschland in Europa: NATO, Europarat, EG, KSZE sind unterschiedliche Dimensionen oder Ebenen europäischer Integration, durchaus auch unterschiedlicher geographischer Reichweite.

Alle Integrationseinheiten, eventuell noch ergänzt und erweitert durch OECD, UNESCO u. ä., müßten das neue Deutschland so vielfältig und wirkungsvoll einbinden, daß eine deutsche Hegemonie — und vielleicht selbst die Furcht vor ihr — erst gar nicht aufkommen könnte. Es müßte auch uns Deutschen bewußt sein, daß die negativen Faktoren einer solchen Hegemonie die positiven Möglichkeiten einer wirklichen Integration der Deutschen in Europa weit überwiegen würden. Die Deutschen müßten diesen Sachverhalt genau erkennen und ausdrücklich für sich anerkennen. Das ist kaum ohne eine erhebliche politische Bildung über die politischen, ökonomischen und kulturellen Eliten hinaus möglich. Und der Weg dazu führt nur über eine rationale Analyse der deutschen Geschichte, eingebettet in europäische und welthistorische Zusammenhänge

So ist die deutsche Frage wieder einmal der Schlüssel zur Ordnung Europas. Die fällige Neuordnung Europas eröffnet nunmehr die Chance, die selbst-zerstörerische Hegemonial-und Machtpolitik endgültig zu verabschieden. An die Stelle rivalisierender Großmächte mit einander abwechselnden Hegemonialabsichten oder -tendenzen könnte in einem „Europa demokratischer Rechtsstaaten“ (Dieter Senghaas) das Prinzip wirklich gleichberechtigter Nationalstaaten stehen, alle miteinander verbunden durch ein Netz bilateraler Konföderationsverträge, die in einigen Politikbereichen zu wirklicher Integration gebündelt würden, ohne je einen europäischen Einheitsstaat zu schaffen, der ohnehin an der nationalen Vielfalt der europäischen Nationen scheitern würde.

Den europäischen Integrationsebenen nach oben sollte im Idealfall eine starke Autonomisierung oder Föderalisierung nach unten auf regionaler Ebene in den europäischen Nationalstaaten entsprechen. Gewiß wäre eine solche Föderalisierung nicht zur Bedingung für die Teilnahme an Europa zu machen, schon weil sich einige bisher überwiegend zentralistisch regierte Nationen sehr schwer damit tun würden, wie England und Frankreich im Westen, Polen und Ungarn im Osten. Aber im Kern gibt es auch dort Ansätze zu diesen Entwicklungen föderativer Verantwortung und Teilhabe, die von den europäischen Institutionen nach Kräften zu fördern wären.

Ein weitgehender föderaler Zusammenschluß der europäischen Nationen würde es den Deutschen erleichtern, den ihrer politischen Tradition ohnehin am ehesten gemäßen Weg der eigenen föderativen Verfassung konsequent weiterzugehen: Je föderalistischer, also lockerer nach unten gegliedert, um so besser für Europa und die Deutschen. Ihre neue „nationale“ Identität — orientiert sowohl an Weimar wie an Auschwitz — könnte mit einer weitgehenden Eingliederung in eine Europäische Konföderation neue, konstruktive Konturen gewinnen, eingebettet in eine europäische, multikulturelle Identität, die sich offenhält für die übrige Welt. Der Nationalstaat, ob Großmacht oder nicht, wäre nicht mehr höchste Instanz, mit der säkularisierten „Sinnstiftung“ einer pseudo-religiösen Aura umgeben, sondern eine Ebene zur pragmatischen politischen Organisation, zur Integration der gesellschaftlichen Prozesse, eine Identifikationsebene unter anderen. Nach oben erhöbe sich Europa, in sich gegliedert in vielfältige Integrationsebenen, darüber die Menschheit als globale Aufgabe, darunter autonome Gebilde auf regionaler und lokaler

Ebene, alles im Dienst des freien Individuums mit Rechten, aber auch Pflichten gegenüber der Gesellschaft.

Nation und Nationalismus wären auf diese Weise nach oben und unten konstruktiv relativiert, aufgefangen oder eingebunden, könnten Quellen gesellschaftlicher Kreativität statt tödlicher Rivalität werden. Nationale Grenzen wären dann so wichtig wie heute die Grenzen zwischen der Bundesrepublik und Frankreich, zu Österreich oder Dänemark — zwar immer noch Realitäten, aber keine Trennung mehr von Völkern, keine Objekte politisch-ideologischer Fetischisierung, sondern nur noch Markierungen zur administrativen und kulturellen Binnengliederung Europas — nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Das vielschichtige Föderationsmodell auf mehreren Ebenen (europäisch, national, regional, lokal) könnte auch die Antwort auf die nach der deutschen Frage vielleicht komplizierteste Einzelfrage geben: Wo endet Europa im Osten? Am Bug, also an der polnisch-sowjetischen Grenze von 1945, oder noch weiter östlich, an der polnisch-sowjetischen Grenze vom 1. /17. September 1939? Dürften sich die baltischen Republiken, wenn sie souverän geworden sind, einem solchen Konföderations-Europa anschließen? Sollte die Sowjetunion tatsächlich in einem Chaos von Bürgerkriegen und Nationalitätenkämpfen versinken, so könnte ein durchföderalisiertes Europa zur Auffangstation von Weißrussen und Ukrainern auf der Flucht vor einem gigantischen Groß-Libanon werden.

Und den Groß-Russen selbst könnte es leichter fallen, auf slawisch-orthodoxe kommunistische Heilsund Erlösungsmission ebenso zu verzichten wie auf die Hegemonie in Osteuropa, Sibirien. Transkaukasien, Zentralasien usw. Sollte es der Sowjetunion. vielleicht mit Rückendeckung eines demokratisch befriedeten und prosperierenden föderativen Europa, gelingen, ihre schwere Existenzkrise heil zu überstehen, so könnte ein solches Europa — ohne hegemoniale Ambitionen nach außen als neue Weltmacht und nach innen ohne Hegemonial-Aspiranten — der Sowjetunion ein konstruktiver Partner sein. Die UdSSR könnte ohnehin nur weiterbestehen, wenn es ihr gelingt, ihre bisher weitgehend nur formale Föderation zu einer echten Konföderation umzuwandeln, was wiederum die Preis-gabe des kommunistischen und großrussischen Machtmonopols voraussetzt — als Konsequenz von Gorbatschows Perestrojka und Glasnost. Wir hätten dann zwei nicht-aggressive Groß-Konföderationen oder Föderationen, die zum gegenseitigen Nutzen fruchtbar miteinander kooperieren könnten.

Dem süßen Wein eines besseren Europa sei jedoch ein notwendiger bitterer Wermutstropfen nicht erspart. Auch hier gilt es, einen in Auschwitz bisher einmündenden historischen Mechanismus positiv zu wenden: Von Griechen und Italienern, den Kulturträgern des Römischen Reiches, abgesehen, waren alle europäischen Nationalismen seit ihrer Konstituierung im Hochmittelalter antijüdisch bzw. antisemitisch Die stilprägenden Nationalmonarchien des Westens vertrieben die Juden aus ihren Grenzen (England 1290— 1656, Frankreich 1394, Spanien 1492), zwangen ihnen die Taufe auf (Portugal 1497) oder ließen sie gar nicht erst in ihr Territorium zum (Skandinavien bis 17. Jahrhundert, Großfürstentum Moskau). Im Laufe des 19. Jahrhunderts konstituierte sich, Griechenland und Italien ausgenommen, mit dem modernen Nationalismus auch ein mehr oder minder virulenter Antisemitismus. Er brach im Rahmen der Industrialisierung durch, bei verschiedenen Völkern zu unterschiedlichen Zeiten im Gefolge von Wirtschaftskrisen (Deutschland, Österreich nach 1873), nationalen äußeren Krisen (Polen 1863/64, Frankreich 1870/71) oder inneren Krisen (Rußland 1881 mit der Ermordnung des Zaren Alexander II.), im Falle Groß-Ungams mit faktischer Souveränität und freier Hand zu einer repressiven Assimilationspolitik durch den Ausgleich 1867 nach der Niederlage Österreichs 1866. In einem komplexen Prozeß schaukelten sich die „nationalen“ Antisemitismen gegenseitig hoch, bis zuletzt der deutsche mit seinem Genozid des „Holocaust“ alle überbot.

In einem neuen demokratischen und rechtsstaatlichen Europa sollten die wenigen übriggebliebenen Juden einen ehrenvollen Platz erhalten, nicht nur als Überlebende von Auschwitz oder Nachfahren von Überlebenden. Positiv wäre die enorme geistige, künstlerische, technische und ökonomische Potenz der Juden anzuerkennen, ihre Funktion als inter-nationaler, buchstäblich zwischen den Nationen stehender zusätzlicher Kitt eigener Prägung, ohne sie in einen vergoldeten Käfig eines dieses Mal philosemitischen Ghettos einzusperren, das nur eine positiv gewendete Variante der früheren mörderischen „Sonderbehandlung“ wäre. Selbstverständlich wären Juden — wie andere auch — zunächst Bürger ihres jeweiligen Nationalstaates und dann Europäer. Aber der historische Makel der „Parasiten“, als die sie Antisemiten aller Länder (auch sozialistischer) hinstellten, wäre damit offiziell und gesellschaftlich so real wie nur irgend möglich endlich auszulöschen.

Das hier ausgebreitete Scenario repräsentiert gewiß eine Ideallösung im Sinne eines „best case“. Sie ist auch nicht ganz selbstverständlich zu erreichen, denn sie widerspricht allen bisher dominierenden Trends in der Weltgeschichte zu machtpolitischer Rivalität und selbstzerstörerischer Hegemonie. Entscheidender Antrieb jedoch könnte die positive Wendung eben jener destruktiven historischen Erfahrungen sein, deren Wiederholung mit Sicherheit tödlich wäre. Der Zwang oder Wille zum Überleben unter ökologisch wie humanitär erträglichen Bedingungen könnte die stärkste Antriebskraft werden, sich gegen den bisherigen Strom der Geschichte erfolgreich zu wenden, noch besser aber die Richtung dieser bisher destruktiven Ströme selbst umzulenken. Aus der Schadensbegrenzung und Schadensabwicklung könnte eine viel grundsätzlichere Veränderung eintreten, die bisher von Gorbatschows Perestrojka zur Wende in der DDR, in Polen, Ungarn, der CSSR, in Rumänien und Bulgarien führte. „Welche Wendung durch Gottes Führung!“ telegraphierte einst Wilhelm I. nach dem Sieg bei Sedan an seine Regierung in Berlin. Und der Spruch hing 1871 bei der Rückkehr der siegreichen preußischen Truppen am Brandenburger Tor. „Welche Wende durch die List der Vernunft!“ könnten wir heute sagen. Die Chance ist da, die Situation zu einem für alle Partner guten Ende zu bringen. Die Umsetzung dieser Erkenntnis erfordert nüchternen Realitätssinn und politische Phantasie, Selbstkritik und Toleranz auf allen Seiten.

IV. Neue Herausforderung: Vom West-Ost-zum Nord-Süd-Konflikt

Diesen Essay, im Frühjahr 1990 geschrieben, hat die stürmische Entwicklung inzwischen teilweise in dem Sinn überholt, daß aus skizzierten Möglichkeiten konkrete und sich institutionalisierende Absichtserklärungen geworden sind. Die deutsche Einigung, nach dem Willen aller verantwortlicher Führer einzubetten in die Integration Europas, beendete den Kalten Krieg und die Spaltung Europas, so wie seinerzeit die Teilung Deutschlands den Auftakt zur Teilung Europas und zum Kalten Krieg gegeben hatte. Die Europa-Charta des Pariser KSZE-Gipfels Mitte November 1990 proklamierte offiziell das Ende des Kalten Krieges und nannte schon konkrete Schritte zur Erweiterung Europas nach Osten.

Gleichzeitig steigerte sich die Katastrophe in der UdSSR (und in Jugoslawien) zu offenen Hilferufen aus Moskau und den Provinzen an die Weltöffentlichkeit, vor allem an Westeuropa. immensen Die Kosten für den ökonomischen und sozialen Wiederaufbau der ehemaligen DDR zeichnen sich mittlerweile genauer ab. Mindestens dieselben Summen Osteuropa noch für wären für und einmal die UdSSR erforderlich. Im sich verschärfenden Chaos wären dort erst noch Institutionen und Infrastrukturen aufzubauen, um auch nur die elementarsten Voraussetzungen dazu zu schaffen, daß Hilfsgüter die betroffenen Menschen überhaupt erreichen, anstatt von der postkommunistischen Mafia und den Saboteuren der Nomenklatura umgeleitet und zweckentfremdet zu werden. Ohne tiefe Eingriffe von außen in die bisherigen, nun zerfallenden alten Strukturen läßt sich noch nicht einmal mehr das Sowjetbevölkerung befürchteten Überleben der im Hungerwinter 1990/91 organisieren.

Die große Flüchtlingswelle aus dem Osten und Südosten schickt ihre ersten Vorboten — Rußlanddeutsche, Juden aus der Sowjetunion, die teilweise am liebsten in Deutschland blieben, Sinti und Roma aus Jugoslawien und Rumänien, angezogen von den höchsten Sozialleistungen für Asylsuchende in der gesamten Welt. Die entsprechenden Probleme in Westdeutschland, verstärkt durch anhaltenden, jetzt aber nicht mehr statistisch erfaßten Zuzug aus den fünf neuen Bundesländern, kombiniert mit einer schmerzlichen wirtschaftlichen Ernüchterung nach der Euphorie über den Fall der Mauer am 9. November 1989, werden zu Erschütterungen im neuen Deutschland führen, im Westen wie im zunächst ökonomisch weiter absteigenden Osten, bis dort ein neuer Aufschwung einsetzen kann — bestenfalls wohl erst ab Mitte 1991. Streiks, Hausbesetzungen und Krawalle kündigen bereits ein Stück „Normalisierung“ an.

Wiederum gleichzeitig markieren Saddam Husseins Handstreich gegen Kuwait und der Aufmarsch zum denkbar gewordenen neuen Golfkrieg dramatisch die Wende vom verblichenen Ost-West-Konflikt zum neu aufbrechenden Nord-Süd-Konflikt, denn zumindest ein Teil der arabischen und afrikanischen Welt setzt sich viel stärker für Hussein ein, als der übrigen Welt lieb sein kann. Die Konsequenzen eines Krieges gegen Irak, so verständlich er aus der Sicht der Weltgemeinschaft wäre, kämen einer weltweiten Katastrophe gleich, da Hussein schon mehrfach bewiesen hat, daß er bereit ist, seine schrecklichsten Drohungen auch in die Tat umzusetzen. Nichts kennzeichnet die neue Lage besser, als daß der Pariser KSZE-Gipfel nach der Ausrufung des Neuen Europa sofort schon Stellung zum Konflikt um Irak und Kuwait beziehen mußte. Die globale Achsendrehung der Welt-Konfliktiage von Ost-West nach Nord-Süd ließe sich schlagartiger und totaler nicht denken, als sie in der Realität über uns hereinbrach. Aber auch ohne diesen Konflikt gibt es neue Herausforderungen genug für Europa und Deutschland, denen wir uns stellen müssen — rasch, aber ohne Hysterie.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Hans Peter Rullmann. Krisenherd Balkan — Jugoslawien zerbricht. Frankfurt 1989.

  2. Vgl. Lucian Hölscher. Weltgericht oder Revolution. Protestantische und sozialistische Zukunftsvorstellungen im Deutschen Kaiserreich, Stuttgart 1988. S. 404 — 406.

  3. Vgl. die unter dem Stichwort „Antikommunismus“ und Ablehnung der Totalitarismustheorie geführten Auseinandersetzungen, zuletzt im „Historikerstreit“ seit 1986; meine eigene Position dazu: Die Habermas-Kontroverse. Ein Deutscher Streit, Berlin 1988.

  4. Vgl. Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit, Bonn 1987: ferner Erhard Eppler, Wie Feuer und Wasser. Sind Ost und West friedensfähig?. Reinbek 1988.

  5. Für die Unfähigkeit zur überfälligen Selbstkritik auf der Linken als Bewältigung der eigenen Vergangenheit vgl.den Meinungsführer Jürgen Habermas. Die nachholende Revolution. Frankfurt 1990. S. 97, 188. 192 f.

  6. Für die Entwicklung zum Ersten Weltkrieg jetzt ausführlicher, zugleich unter globalhistorischen Horizonten. Imanuel Geiss, Der lange Weg in die Katastrophe. Die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges, München 1990.

  7. Fritz Fischer. Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18. Düsseldorf 1961.

  8. Das ist ein Desiderat der Geschichtsschreibung, vor allem der deutschen, schon lange vor den dramatischen Ereignissen der Jahre 1989/90, das ich hoffe, demnächst unter dem Titel „Historische Dimension der Deutschen Frage“ erfüllen zu können.

  9. Ausführlicher versuchsweise skizziert bei Imanuel Geiss. Zwischen Auschwitz und Weimar. Nationale Identität als deutsche Frage, in: Evangelische Kommentare. (1984) 12. S. 673-676.

  10. Ausführlicher dazu Imanuel Geiss, Geschichte des Rassismus, Frankfurt 1988, S. 106— 108, 114— 121, 180— 192.

Weitere Inhalte