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Christliche Sozialethik im Horizont der Ethik der Gegenwart. Zum Problem der Menschenrechte | APuZ 20/1991 | bpb.de

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Christliche Sozialethik im Horizont der Ethik der Gegenwart. Zum Problem der Menschenrechte

Otfried Höffe

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Zusammenfassung

Innerhalb der Neuzeit spielen die Menschenrechte für eine Sozialethik als Rechtsethik eine singuläre Rolle. An diesem Beispiel und aus der Sicht eines Philosophen wird der Ort untersucht, den die christliche Sozialethik im Horizont der Ethik der Gegenwart, und zwar der jeweiligen Gegenwart einnimmt. Wer den Leitbegriff der Menschenrechte, die Menschenwürde, als wesentlich christlich inspiriert ansieht, erwartet ein vornehmlich affirmatives Verhältnis zu den Menschenrechten. Die tatsächliche, komplexere Geschichte des Christentums wird skizziert als ein „Drama in fünf Akten“: „Von der Ablehnung zur vorbehaltlosen Anerkennung.“ Diese Entwicklung beruht nicht etwa auf Zufällen oder zeitbedingten Befangenheiten; sie spiegelt -für das Alte und das Neue Testament je verschieden -grundlegende „theologische Schwierigkeiten“ wider. Abschließend werden für die christliche Sozialethik sieben Konsequenzen genannt, die aus dem Umstand folgen, daß die Anerkennung der Menschenrechte zur geschuldeten Moral gehört, das Grundgebot des Christentums dagegen, die Nächstenliebe, zum verdienstlichen Mehr.

In der Regel behandelt nur der Theologe die christliche Sozialethik. Im folgenden soll es um Überlegungen zu ihr aus der Sicht der Philosophie gehen. Weil das Thema sehr weitläufig ist, bedarf es einer strengen Einschränkung, so daß allein der Bereich von Recht und Staat behandelt werden soll.

Bekanntlich hat der Ausdruck „Ethik“ eine doppelte Bedeutung; er meint sowohl die Moral und Sittlichkeit als auch deren philosophische oder theologische Reflexion. In beiden Hinsichten spielen, auf Recht und Staat bezogen, die Menschenrechte eine singuläre Rolle; das sittlich-politische Bewußtsein des Abendlandes erhält nämlich in diesem Rechtsinstitut seine paradigmatische Gestalt. An diesem Beispiel soll deshalb skizziert werden, wo die christliche Sozialethik im Horizont der Ethik der Gegenwart, und zwar der jeweiligen Gegenwart steht.

I. Von der Ablehnung zur vorbehaltlosen Anerkennung

Nach einem weit verbreiteten Topos habe sich die Idee der Menschenrechte aus dem Gespräch entwickelt, das die jüdisch-christliche Offenbarung mit dem griechisch-römischen Denken führte. Insbesondere der Leit-und Sinnbegriff, der den Menschenrechten zugrunde liege, die Menschenwürde sei wesentlich christlich inspiriert. Wenn diese vorherrschende Ansicht, die für das Christentum ein im wesentlichen affirmatives Verhältnis zu den Menschenrechten annimmt, zuträfe, dann könnte sich in der rechts-und staatsethischen Debatte der Gegenwart die christliche Sozialethik kräftig beteiligen.

Die tatsächliche Entwicklung ist aber anders verlaufen. Sie liest sich komplexer, auch spannender und vor allem weniger affirmativ zu den Menschenrechten. Wer will, könnte die entsprechende Geschichte als „Drama in fünf Akten“ schreiben:

Der „erste Akt“ gibt die Aufgabe vor. Das Christentum schafft, freilich nicht allein, jene Schwierigkeiten, zu deren Lösung das Rechtsinstitut der Menschenrechte notwendig wird. Die Aufgabe stellt sich in vielfältiger Form dar, weshalb auch die Menschenrechte im Plural existieren: Einmal konkurrieren verschiedene Konfessionen um den Anspruch auf das wahre Christentum, woraus die Religionsfreiheit, die in konfessionell homogenen Staaten noch später etabliert wird, entsteht. Als zweites kann der Versuch, den eigenen Wahrheitsanspruch durchzusetzen, mit dem Überlebensinteresse rivalisieren, weshalb ein weiteres Menschenrecht nötig wird: die Integrität von Leib und Leben. Die konfessionellen Auseinandersetzungen sind schließlich von „gewöhnlichen“ politischen Konflikten vielfach überlagert. Sofern man dabei um Hegemonie kämpft und die Interessen verschiedenartiger, nicht nur religiöser Minderheiten unterdrückt, steht schon in der Alten Welt ein Recht auf dem Spiel, das in der Neuen Welt durch deren Kolonialisierung noch weit empfindlicher verletzt wird: ein drittes Menschenrecht, das der politischen und kulturellen Selbstbestimmung.

Aufgrund dieser und anderer Aufgaben entwickelt sich jene Sozialethik, die bis heute den Horizont der Gegenwart mitdefiniert. Getragen wird sie von der Rechtsphilosophie der Aufklärung. Der Vorläufer einer christlichen Sozialethik, das christliche Gedankengut, fließt zweifelsohne in diese Philosophie ein. Insbesondere die erste Formulierung der Menschenrechte, die Virginia Bill ofRights (1789), ist vom Geist christlicher Aufklärung mitinspiriert. Trotzdem darf man sich nicht täuschen; die entscheidenden Begriffe lauten nicht so, wie man sie heute gern liest; sie heißen nicht: Gottesebenbildlichkeit oder Bewußtsein vom unendlichen Wert der Einzelseele. Selbst jener Leit-und Sinnbegriff, auf den sich namentlich das deutsche Menschenrechtsdenken beruft, der Sinnbegriff der Menschenwürde reicht zwar weit in die Anfänge christlichen Denkens zurück, denn den Begriff verwenden schon die Kirchenväter, etwa. Ambrosius, später so bedeutende Theologen wie Bernhard von Clairvaux und Thomas von Aquin. Den ersten Beleg finden wir jedoch außerhalb des Christentums, nämlich bei Cicero, der sich dabei stoischen Überlegungen anschließt

Noch wichtiger als diese begriffsgeschichtliche Erinnerung ist eine systematisch bedeutsame Beobachtung: Die „Menschenwürde“ ist kein für die Rechtsethik spezifischer Begriff. Deutlich zeigt sich das auf dem Höhepunkt der Aufklärungsethik bei Kant. Bei ihm erscheint der Begriff in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, also in jener Schrift, die sich von ihrer Aufgabe her ebenso auf die Tugendethik wie die Rechtsethik bezieht. In der tatsächlichen Durchführung dieser Aufgabe gibt Kant den tugendethischen Aspekten sogar deutlich den Vorrang. Kant spricht dem Menschen hier insoweit Würde zu, als er zur Sittlichkeit fähig ist Daß aus dieser Fähigkeit ein subjektives Recht, was für die Idee der Menschenrechte unverzichtbar ist, folgt, nämlich in der menschlichen Würde geachtet zu werden, berücksichtigt Kant nicht im entferntesten. Den inneren Wert, der bei ihm Würde bedeutet, spricht Kant hier nicht subjektiven Rechten zu, sondern im Gegenteil (moralischen) Pflichten. Als Beispiele führt er an: „Treue im Versprechen, Wohlwollen aus Grundsätzen (nicht aus Instinkt)“ Nach Kant handelt es sich bei der Menschenwürde um etwas, das wir zuallererst durch die eigenen moralischen Leistungen unter Beweis stellen müssen, und nicht um einen Anspruch, deren Anerkennung uns die anderen schulden.

Die Begriffe, die innerhalb der Aufklärungsphilosophie für die Begründung der Menschenrechte tatsächlich einschlägig sind, erheben von ihrem Gehalt her einen weit geringeren Anspruch. Sie heißen „Naturzustand“, „Gesellschaftsvertrag“ und statt „Wert der Einzelseele“ oder „Menschenwürde“ lediglich: „Handlungsfreiheit“, außerdem „Wechselseitigkeit“ bzw. „Goldene Regel“. Keiner dieser Begriffe widerspricht dem christlichen Denken, für das sie aber auch nicht spezifisch sind. Deshalb können wir uns dem Schluß nicht entziehen, daß „im ersten Akt“ immerhin das Christentum, wenn auch nicht allein, die Aufgabe vorgibt. Teils wegen seines Wahrheitsanspruches, teils wegen seines Missionsinteresses ist es dafür mitverantwortlich, daß sich Menschen gegenseitig bedrohen. Das Christentum definiert die vorethische Herausforderung, die „challenge" der Menschenrechte mit, dagegen weniger die ethische „response“, die Menschenrechte selbst.

Diese Beurteilung fällt mit wenigen Ausnahmen für die reformierten und die katholischen Territorien in etwa gleich aus. Die jeweils Andersgläubigen werden verfolgt oder mit Gewalt zum Glaubensübertritt oder aber zur Auswanderung gezwungen. Für die Religionsfreiheit setzen sich fast nur Minderheiten ein, die sich in der Regel vordringlich nur für die eigenen Belange engagieren. Daß man sich für die Rechte anderer einsetzte, bleibt wenigen Einzelgängern vorbehalten; zur seltenen Ausnahme derer, die sich beispielsweise für die Indianer verwenden, gehören in Südamerika Bartholom de las Casas und in Neu-England Roger Williams.

Der „zweite Akt“ liegt noch gar nicht so lange zurück und ist uns geistig doch so fern wie eine fremde Epoche. Zwischen den Menschenrechten und dem Christentum, zumindest mit dessen dominierenden Stimmen, kommt es zu einem heftigen Zusammenstoß. Einer der Gründe hierfür ist, daß die Kirchen nicht sehen, für die neuen Aufgaben mitverantwortlich gewesen zu sein. Sie gestehen sich deshalb nicht ein, daß die Lösung der Aufgaben, insbesondere im Fall der Religionsfreiheit, ferner hinsichtlich der kulturellen Selbstbestimmung, naheliegenderweise gewisse kirchenkritische Elemente enthält.

Einheitlich ist die Reaktion zwar nicht; im französischen Klerus beispielsweise wird die Declaration des droits de l’homme et des citoyens vom 26. August 1789 zunächst von weiten Kreisen begrüßt. Auf kirchenamtlicher Seite jedoch setzt sich die Ablehnung rasch durch. Die einschlägigen Ver-lautbarungen sprechen eine deutliche Sprache. Bald nach der Menschenrechtserklärung der Französischen Revolution veröffentlicht Papst Pius VI. am 13. März 1791 das Breve Caritas, das viele Generationen der Entfremdung einleitet. Diese setzt sich fort durch die Rundschreiben Gregors XVI. Mirari vos arbitrarum vom 15. August 1839, Pius’ IX. Quanta cura und den Syllabus von 1864. Diese Texte übergehen nicht nur die christlichen Elemente der amerikanischen Erklärungen. (Unter den Gründern der Vereinigten Staaten von Nordamerika herrschten freilich jene „Minderheitschristen“ vor, die aus Großbritannien und dem Alten Kontinent wegen der religiösen Intoleranz der jeweils herrschenden Konfessionen fliehen mußten.) In ihren Verlautbarungen erinnern sich die Päpste auch nicht daran, daß es ein Theologe, Francisco de Vitoria, war, der in seinen Vorlesungen die spanische Kolonialpolitik einer Kritik unterzog, in diesem Zusammenhang und fast ein Jahrhundert vor Hugo Grotius wesentliche Grundlagen des modernen Völkerrechts entwikkelte und dabei genau von jenen Prinzipien ausging, aus denen sich die Menschenrechte rechtfertigen, denn Vitoria berief sich auf die Prinzipien der Gleichheit und der Gleichberechtigung aller Menschen und Völker.

Statt sich also auf die menschenrechtsaffirmativen Elemente der eigenen Tradition zu besinnen, fixiert man sich auf jene antikirchlichen Elemente, die in der französischen Menschenrechtserklärung sogar unnötig waren. Etwas voreilig schließen sich die Päpste in den genannten Texten der konservativen Revolutionskritik generell an. Sie übersehen vor allem das, was die konfessionellen Bürgerkriege unvermeidbar machte, und erklären sich nicht zur Überwindung der Unfreiheit in Sachen Glauben, Gewissen und Religion bereit. Selbst Papst Leo XIII., dem die katholische Soziallehre tief-greifende Veränderungen verdankt, sieht in den Menschenrechten einen Geist des Umsturzes am Werk, einen Geist, den er bis auf die Reformationszeit zurückführt Ein „Arbeitspapier“ der Päpstlichen Kommission Justitia et Pax faßt die Situation so zusammen: Die Stellungnahmen der Päpste waren „von Vorsicht und Ablehnung, manchmal sogar offener Feindschaft und Verurteilung“ bestimmt

Von der eigentlich doch unnötigen pauschalen Verurteilung des „Geistes der Moderne“ bleibt auch der Protestantismus nicht verschont, obwohl sich der Philosoph am liebsten nur an die große Begeisterung erinnert, mit der Denker wie Kant, Fichte, Schelling, Hölderlin und Hegel die Französische Revolution begrüßten. Der überwiegende Teil des deutschen Protestantismus verharrt jedoch in „traditioneller Distanz zu den Menschenrechten“ Aus einer Vielzahl von Gründen: aus Mißtrauen gegen die rationalistisch-optimistische Grundeinstellung der Aufklärung, aus Empörung über die Wende, die die Französische Revolution nimmt, und nicht zuletzt weil man den christlichen Hintergrund der amerikanischen Menschenrechts-erklärungen mißachtet, sondert sich der deutsche Protestantismus von der westeuropäischen Freiheits-und Menschenrechtsentwicklung ab.

Während im „zweiten Akt“ die christliche Sozial-ethik die Ethik der Menschenrechte meist unverhohlen ablehnt, trifft sie im „dritten Akt“ in deren Horizont ein; nach und nach erarbeitet sie sich den positiven Gehalt der Menschenrechte. Hinsichtlich der Rechts-und Staatsethik braucht die christliche Sozialethik also zwei bis drei Jahrhunderte, bis sie sich der Ethik ihrer Gegenwart stellt.

Es gibt zwar einige versprengte Antizipationen; so spricht schon Leo XIII. im Zusammenhang von Menschenpflichten gelegentlich von Menschenrechten Trotzdem findet die unübersehbare Annäherung an den Menschenrechtsgedanken erst viel später, in einer Weihnachtsbotschaft über Demokratie und Weltfrieden statt, die Pius XII. am 24. Dezember 1944 verkündet. Und selbst dann muß man noch fast zwei Jahrzehnte warten, bis das kirchliche Lehramt die erste große Menschenrechtserklärung verkündet. Erst seit der Enzyklika von Johannes XXIII., Pacem in terris, vom 11. April 1963 bilden die Menschenrechte einen unverzichtbaren Bestandteil der christlichen, zumindest der katholischen Sozialethik. Dabei übernimmt die Kirche im wesentlichen den Menschenrechtskatalog, den die Allgemeine Erklärung der Vereinten Nationen von 1948 vorgibt. Zugleich wendet sie sich gegen die Gefahr einer liberalistisehen Einengung; an die Stelle eines Übergewichts der persönlichen Freiheitsrechte tritt die Gleichberechtigung der Sozialrechte mit den Freiheitsrechten.

Hinsichtlich des Reformierten Weltbundes und des Ökumenischen Rates der Kirchen läßt sich ähnliches für die siebziger Jahre konstatieren. Auch hier folgt der Weg im wesentlichen demselben Muster; nach einer Phase der scharfen Kritik führt er über eine Phase zurückhaltender Beurteilung schließlich zur Anerkennung, ja sogar zur enthusiastischen Verteidigung jenes Rechtsinstitutes, das die politisch-sittliche Errungenschaft der Natur darstellt.

Im „vierten Akt“, initiiert durch das Zweite Vaticanum, fortgeführt durch Papst Paul VI. und Papst Johannes Paul II., werden die Menschenrechte in die Sozialethik mehr und mehr inkorporiert. Am Ende findet fast eine Horizontverschmelzung statt; hinsichtlich der Menschenrechte schließt sich mit einigen charakteristischen Akzentsetzungen die christliche Sozialethik der neuzeitlichen Rechts-ethik an. Außerdem entdecken die katholische Kirche und die Reformierten mit den Menschenrechten eine Gemeinsamkeit. Sie entwickeln sich zu einem wichtigen Bestandteil der Ökumene. Dazu zwei Belege; Zum 25. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, im Dezember 1973, veröffentlichten die Päpstliche Kommission Justitia et Pax und der Weltrat der Kirchen eine gemeinsame Verlautbarung, und aus Anlaß der Weltwirtschaftskonferenz UNCTAD IV veröffentlichten die evangelische und die katholische Kirche in Deutschland eine gemeinsame Stellungnahme.

Der „letzte Akt“ bleibt noch zu schreiben. Ein katholischer Soziologe sagte einmal, nach der Perestrojka und der Befreiung der ostmitteleuropäischen Länder gebe es in der Welt nur noch eine Institution, die -man muß diese Eigenschaft wörtlich, also relativ neutral hören -„totalitär“ sei. Der „fünfte, noch offene Akt“ fordert, daß die Kirchen tatsächlich einlösen, was sie sich vorgenommen haben. Papst Johannes Paul II. hat es im Juli 1979 vor den Mitgliedern der Sancta Rota Romana, also immerhin vor dem höchsten Gerichtshof der katholischen Kirche, betont: Die Kirche, die selber eine soziale Institution ist, wolle für alle anderen Institutionen ein „speculum iustitiae“ sein, ein Spiegel der Gerechtigkeit. Dieser Vorsatz verlangt, die Menschenrechtsidee auf die Kirche bzw. auf die Kirchen selbst anzuwenden.

Die Sozialethiker sind dafür mitverantwortlich, daß die Aufgabe, die sich die Kirche selbst auferlegt hat, bald in die Wirklichkeit umgesetzt wird. Es gehört in ihren Arbeitsbereich, darüber nachzudenken, was für eine soziale Institution die Kirche ist: Worin unterscheidet sie sich von gewöhnlichen Institutionen, worin gleicht sie ihnen? Und die weitere Frage lautet: Was folgt aus dem einen, der Gleichheit, was aus dem anderen, der Differenz? Allzu leicht sollte man es sich nicht machen, die Kirche von der elementaren Selbstapplikation der Menschenrechtserklärungen mit Berufung auf eine charismatische Sendung wieder frei-zustellen.

II. Theologische Schwierigkeiten

Die Geschichte dieses „Dramas“ schreibt nicht der Philosoph, sondern der Historiker Der Philosoph fragt sich jedoch, wie es geschehen konnte, daß ein Rechtsinstitut, das heute in einem Atemzug mit dem Christentum genannt wird, viele Generationen lang als unchristlich, ja sogar als antichristlich angesehen werden konnte. Eine erste Antwort liegt auf der Hand: Zuständig sind zeitbedingte Befangenheiten. Diese Entschuldigung kann ohne Zweifel manches erklären, bleibt am Ende aber doch unbefriedigend. Schwierigkeiten mit dem, was wir heute die Menschenrechte nennen, hatte die Kirche, das vorreformatorische Christentum, nämlich schon früher. Denn seit dem 13. Jahrhundert gibt es in Europa eine Fülle von Rechtserklärungen jenes Typs, den wir von der Magna Charta Libertatum von 1215 und der Goldenen Bulle Andreas’ II. von Ungarn von 1222 kennen. Diese Erklärungen, Freiheitsbriefe, werden in christlichen Staaten und von christlichen Herrschern ausgefertigt. Trotzdem sprechen sie die Freiheiten nicht dem Menschen als Menschen zu; sie räumen die Freiheiten nicht einmal jedem Christenmenschen ein. Der Grund-und Kerngedanke der Menschenrechte liegt zudem in der Idee der Gleichberechtigung. Dieser Idee ist das Rechtsinstitut der Knechtschaft bzw.der Sklaverei eklatant entgegengesetzt. Eine Diskussion um die Menschenrechte findet deshalb dort statt, wo über das entsprechende Rechtsinstitut debattiert wird. Das geschieht z. B. im 13. Jahrhundert. Dabei stehen die Vorläufer der christlichen Sozialethiker, die Theologen, durchaus im Horizont ihrer Gegen-wart. Was damals praktiziert wurde, namentlich gegenüber einer Gruppe von Völkern, die der Sklaverei den Namen gibt, gegenüber den Slawen nämlich, wird theologisch legitimiert

Alle Argumente können wir hier nicht untersuchen; wir begnügen uns mit einem einzigen Legitimationsgrund, dem der Erbsünde. Für diesen Grund ist nun typisch, daß er einerseits genuin jüdisch-christlich ist, andererseits, was er legitimieren soll, gar nicht legitimieren kann, und zwar prinzipiell nicht. Denn die Sklaverei unterscheidet den einen Menschen von dem anderen; hinsichtlich der Erbsünde sind dagegen alle gleich. Mit der Erbsünde ließe sich behaupten, daß kein Mensch wirklich frei sei. Damit bliebe genau das gewahrt, was die Sklaverei rechtlich in Frage stellt, die Gleichheit aller Menschen. Anders formuliert: Auch die Gleichheit der Erbsünde ist eine Gleichheit, die, falls sie als Rechtsargument überhaupt taugt, zugunsten der Menschenrechte sprechen würde.

Das Argument der Erbsünde, das schon durch die Logik der Argumentation gesehen fehlerhaft ist, nenne ich den Widerspruch von theologischer Gleichheit und rechtlicher Ungleichheit. Dazu stellt sich die Frage, warum den Theologen, die zu ihrer Zeit die führenden Intellektuellen waren, unter ihnen immerhin Denker vom Rang eines Bonaventura, eines Thomas von Aquin und Duns Scotus, das „non sequitur“ entgeht. Warum übersehen sie, daß ein Rechtsinstitut, das diskriminiert -sei es auf die eklatante Weise der römischen Sklaverei, sei es in der abgeschwächten Form der mittelalterlichen servitus -, sich nicht auf eine Eigenschaft berufen kann, der die diskriminatorische Kraft per definitionem fehlt: auf eine Gleichheit. Außer auf eine sozialgeschichtliche Befangenheit könnte man sich auf eine ideengeschichtliche berufen. Im 13. Jahrhundert wird jener Text rezipiert, der die Sklaverei bekanntlich verteidigt: Aristoteles’ Politik. Man könnte also sagen, die Theologen hatten die Aufgabe, sich mit dieser Verteidigung jener Zeit auseinanderzusetzen. Eine derartige Aufgabe erklärt aber nicht, warum man, statt sie zu legitimieren, die Sklaverei nicht eher im Namen christlicher Gleichheit verwirft. Im übrigen: Aristoteles begeht den Fehler der Theologen gar nicht. Für die Sklaverei, mithin eine Ungleichheit, beruft er sich auf eine Ungleichheit unter den Menschen, was mindestens metaethisch gesehen richtig ist: Im Fall der Sklaven liege ein derart hohes Maß an intellektuellen Defiziten vor, daß sie um ihres eigenen Interesses willen einen Herrn brauchten.

Wir wissen, daß der Widerspruch von theologischer Gleichheit und rechtlicher Ungleichheit bis zu den Quellen des Christentums zurückreicht. Die noch vorchristliche, alttestamentliche Variante des „Widerspruchs“ besteht darin, daß von Gott alle Menschen gleich geschaffen, aber nur wenige, die Mitglieder eines einzigen Volkes, auserwählt sind.

Die im jüdischen Denken durch die Annahme eines speziellen Bundes enthaltene Diskriminierung ist freilich nicht mehr negativer, sondern positiver Natur; es liegt ein Privileg vor. In manchen Büchern des Alten Testamentes, deutlich bei den Propheten, erfährt die Auszeichnung zwar eine charismatische Interpretation, womit ein äußerlicher Ethnozentrismus überwunden wird. Ein Charakter von Privileg bleibt jedoch gewahrt, was zur Schöpfungsgeschichte nicht im Widerspruch, aber doch in einer gewissen Spannung steht. Nennen wir es das Paradox des Buches Genesis: Hinsichtlich der Menschenrechte enthält es im ersten Teil eine Begründungskraft, die im zweiten Teil abgeschwächt wird; wie auch immer das Privileg des näheren verstanden wird: im Gedanken eines speziellen Bundes wird die Gleichheit der Schöpfung relativiert.

Der Begriff des Bundes gehört in die Rechtssphäre, die bloße Schöpfungsgeschichte noch nicht. Diesen ebenso ideengeschichtlich wie argumentationslogisch wichtigen Punkt übersieht eine christliche Sozialethik, die neuerdings, seit dem „dritten Akt“ unseres „Dramas“, bei der Begründung der Menschenrechte relativ umstandslos von der Schöpfungsgeschichte ausgeht. Gewiß, diese Geschichte erzählt von der Gleichheit aller Menschen und von ihrer großen Würde, der Gottesebenbildlichkeit. Die Fairneß gegenüber anderen Kulturen gebietet uns zu sehen, daß der Gedanke einer ursprünglichen Gleichheit aller Menschen weit davon entfernt ist, besonders originell zu sein; wir finden ihn, was zu kultureller Bescheidenheit mahnen sollte, in den Schöpfungsgeschichten fast aller Kulturen wieder.

Andererseits ist die bloße Gleichheit, und sei sie noch so würdereich, von unserem Rechtsinstitut noch weit entfernt. Ob es Menschenrechte gibt, entscheidet sich erst, wenn ein Gleichheitsgedanke beim Eintritt in die Rechtssphäre nicht wie ein Meteor verglüht, sondern aufrechterhalten bleibt. Für die Menschenrechte, und zwar sowohl für ihre historische Entstehung wie auch für die Logik der Begründung, reicht nicht irgendeine Gleichheit aus; es bedarf einer Gleichheit mit Rechtskraft. In dieser Hinsicht ist nun für die Genesis ein Versuch charakteristisch, den wir in anderen Kulturen wiederfinden dürften, ein Versuch, der dem Gedanken der Menschenrechte widerspricht; denn trotz der ursprünglichen Gleichheit will man eine Ungleichheit, natürlich zu den eigenen Gunsten, begründen. Die Aufgabe, eine Gleichheit mit Rechtskraft ausfindig zu machen, bleibt ungelöst.

Demgegenüber leistet das Neue Testament eine Annäherung und zugleich ein Sich-Entfernen. Die bedeutsame Annäherung besteht darin, daß die positive Diskriminierung jegliche ethnozentrische Begrenzung verliert. Weil der Bund mit Gott jedem Menschen offensteht, erhält das diesbezügliche Privileg eine universale Reichweite, wodurch es sich als Privileg aufhebt.

Die Texte sind weithin bekannt: Im ersten Korintherbrief (12, 13) sagt Paulus, daß alle durch einen Geist getauft sind. Deshalb, heißt es in den Schreiben an die Galater (3, 28) und an die Kolosser (3, 11 und 4, 7), werde jeglicher Unterschied hinfällig, der zwischen Juden und Nichtjuden, der zwischen Sklaven und Freien, nicht zuletzt der zwischen Mann und Frau. Die Begründung ist dem Christentum nicht etwa äußerlich, sondern erfolgt vielmehr aus seinem veritablen Kern; denn, so sagt Paulus, „alle seid ihr eins in Christus Jesus“. Darin liegt für die Menschenrechte der große Wert des Christentums, daß die seit der Schöpfungsgeschichte „im Prinzip“ gegenwärtige, durch den Gedanken der Auserwählung aber wieder relativierte Gleichheit mit allem Nachdruck aufgenommen und bekräftigt wird.

Wie weit reicht aber die Bekräftigung? Das Begleitschreiben, das Paulus dem entlaufenen Sklaven Onesimus mitgibt, spricht aus, worauf sich eine Theologie, die ihre Quellen nur menschenrechtsaffirmativ liest, allein berufen wird; Paulus richtet an Philemeon die Bitte, Onesimus „nicht (mehr) wie einen Sklaven sondern wie einen geliebten Bruder“ zu behandeln. Was der Geist der Menschenrechte fordert, die Einrichtung der Sklaverei aufzuheben, verlangt Paulus nicht. Analoges ist für das Verhältnis von Mann und Frau zu sagen und besteht in der Kirche bis heute: Die Einheit der Taufe verträgt sich mit kräftigen Rechtsungleichheiten. Liegt deshalb ein Widerspruch vor?

III. Caritas contra lex?

Was „christliche Sozialethik“ im ursprünglichen Sinn meint, die Ethik des Samariter-Gleichnisses und der Bergpredigt, erkennt Paulus ausdrücklich an: Onesimus soll wie ein geliebter Bruder behandelt werden. Paulus tut auch, was zu dieser Art von Sozialethik gehört, er spricht das entsprechende Sollen nicht etwa als eine Forderung aus, deren Erfüllung dem Sklaven geschuldet sei. Das Wort, das er an Philemeon richtet, besteht in dem, was für nichtgeschuldete, verdienstvolle Pflichten charakteristisch ist: Paulus äußert eine Bitte.

Unter den Menschen gibt es eine Tendenz, die so weit verbreitet ist, daß man schon von einer anthropologischen Gefahr sprechen muß. Die Gefahr der Diskriminierung der anderen tritt in negativen wie positiven Varianten auf. Gegen sie verteidigt das Christentum den Gedanken einer universalen Gleichheit wirklich aller Menschen. Warum entsteht die Idee der Menschenrechte trotzdem nicht? Die hier einschlägige Gleichheit gehört wieder nicht in die Rechtssphäre; sie gehört ihr jedoch auf eine von der Genesis abweichende Weise nicht zu. Die Schöpfungsgeschichte enthält einen vorrechtlichen, das Neue Testament einen nachrechtlichen Begriff der Gleichheit. Die Universalisierung der Möglichkeit, auserwählt zu sein, die Deprivilegierung, verbindet sich mit einer Entrechtlichung der Begriffe „Bund“ und „Auserwählung“.

Dem oben genannten Widerspruch erliegen deshalb zwar die Theologen des 13. Jahrhunderts, aber weder die Paulus-Briefe noch die anderen Texte des Neuen Testaments. Die Menschenrechte gehören zu einer anderen Ethik, sie gehören nicht zum (neutestamentlichen) Gesetz der Liebe, sondern zum eher alttestamentlichen Gesetz der Gerechtigkeit. Dieser Befund hat offensichtlich eine große Tragweite; während die Menschenrechte den Kern einer Rechtsethik bilden, entfaltet sich eine Sozialethik, die genuin christlich sein will, als Liebesethik.

Es bleibt trotzdem ein Ärgernis, daß ein Rechtsinstitut, das den Menschenrechten eklatant widerspricht, von der christlichen Sozialethik zunächst, im Falle von Paulus, toleriert und später, im 13. Jahrhundert, sogar legitimiert wird. Zu fragen bleibt, wo genau das Ärgernis zu lokalisieren ist. Die Antwort hängt von dem Verhältnis ab, in dem eine Liebesethik zur Rechtsethik steht. Rein formal gesehen sind mindestens drei Möglichkeiten denkbar. Die Liebesethik kann erstens zur Rechts-ethik disparat sein, sie kann zweitens die Rechts-ethik entwerten oder aber, drittens, sie überbieten. Im ersten Fall, dem der Heterogenität, würde die christliche Ethik zum Thema Menschenrechte schweigen; von einem Ärgernis könnte keine Rede sein. Im zweiten Fall, dem der Entwertung, würden die Menschenrechte durch eine Liebesethik an Rang und Gewicht verlieren.

In der Bergpredigt (Matthäus 5, 21f.) heißt es: „Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt wurde: , Du sollst nicht töten 4... Ich aber sage euch: Ein jeder, der seinem Bruder zürnt, soll dem Gericht verfallen sein.“ Aus der Wendung „ich aber sage euch“ wird von großen Theologen, und dies seit den Anfängen des Christentums, gern auf eine Antithese von Altem und Neuem Gesetz geschlossen. Nun bildet das Tötungsverbot einen Kembestand der Rechtsethik; in der Sprache der Menschenrechte sagt man: Integrität von Leib und Leben. Die Anerkennung dieses Rechts hält Jesus für selbstverständlich. Die Wendung „ich aber sage euch“ ist als eine rhetorische Figur der Pointierung zu lesen; in der Sache geht es um eine Verschärfung der Forderung.

Die Bergpredigt folgt also dem dritten Modell, dem des Überbietens. Das Gesetz der Liebe entwertet das Alte Gesetz. Dies geschieht gewiß nicht in dem Sinn, daß das Neue Gesetz Augustinus’ Wort „dilige et fac quod vis“ mißverstehen und dann erlauben würde, was das Alte Gesetz verbietet. Statt lediglich nicht töten zu dürfen, darf man dem Bruder nicht einmal zürnen; das Gesetz der Liebe verschärft, was schon vom Alten Gesetz moralisch gefordert wird. Die Verschärfung erfolgt in zweierlei Hinsicht: Einmal, materialiter, werden Mehrleistungen verlangt; zum anderen, formaliter, ist das zu Leistende nicht aus externen Gründen, sondern um seiner selbst willen zu tun.

IV. Aufgaben der christlichen Sozialethik heute

Aus unseren Beobachtungen ergeben sich für eine christliche Sozialethik heute eine Reihe von Konsequenzen. Jede von ihnen müßte genauer ausgearbeitet und in Auseinandersetzung mit naheliegenden Einwänden sowohl geschärft wie erhärtet werden. 1. Die Sozialethik könnte einmal innehalten und über ihr Epitheton „christlich“ so gründlich nachdenken, wie in den dreißiger Jahren über den Begriff einer „christlichen“ Philosophie diskutiert wurde. Hier seien nur die Vorträge von Jacques Maritain (1931), Etienne Gilson (in den „Gifford Lectures“ über den „Geist der mittelalterlichen Philosophie“), Emile Brehier und Aime Forest erwähnt. Die Vorträge provozierten heftige Kontroversen, zu denen im schweizerischen Freiburg erst Gallus M. Manser (1936), dann im selben Jahr sein Mitbruder und Kollege Marc de Munnynck Stellung nahmen. Mansers Votum war unmißverständlich klar. Weil die Philosophie reine Vernunftwissenschaft sei, widerspreche sich selbst, wer von einer im inhaltlichen Sinn spezifisch christlichen Philosophie rede. Analoges könnte für die Sozialethik gelten, insbesondere für eine Ethik der Menschenrechte. Das, was die Menschen einander nicht etwa großzügig schenken, sondern vielmehr einander schulden, verträgt sich mit dem Christentum durchaus, ist aber nicht spezifisch. 2. Die Menschenrechte bilden den Kern dessen, was im Neuen Testament das Alte Gesetz heißt und durch die Liebesethik überboten werden soll; ihren Platz haben sie in der Rechtsethik. Hier könnte die christliche Ethik zur Ethik der Gegenwart einen deutlich eigenen Beitrag liefern. Er bestünde zunächst in einer metaethischen Leistung, gewinnt er doch ein distinguo wieder, das in der Philosophie lange Zeit gegenwärtig war, heute aber gern verwischt wird: die Unterscheidung einer Ethik des Geschuldeten als der Ethik der Gerechtigkeit von einer Ethik des verdienstlichen Mehr. 3. Wegen dieser Unterscheidung bin ich skeptisch gegen die heute in der christlichen Sozialethik vorherrschende Begründung. Weil sie schon zum Alten Gesetz gehören, gibt es für die Menschenrechte keine für das Neue Gesetz spezifische Rechtfertigung. Eine genuin christliche Begründung zu suchen, halte ich zumindest für nicht nötig; vielleicht ist sie sogar verfehlt. Dieser Gesichtspunkt kann nun bei einer Aufgabe helfen, die heute nicht zuletzt angesichts des Golfkrieges mehr und mehr wichtig wird, die eines von kultureller Überheblichkeit freien Rechtsdiskurses. Wenn tatsächlich der Mensch als Mensch Rechte haben soll und nicht nur der Mensch als Mitglied einer letztlich doch noch christlichen Kultur, dann sind die Gründe in Elementen zu suchen, die einen interkulturellen Rechtsdiskurs wesentlich erleichtern. Die Elemente beginnen mit einer Anthropologie, die, weil universaliter gültig, mit dem Christentum sehr wohl verträglich und doch in keiner Weise dafür spezifisch ist Weil die genuin christliche Ethik mehr verlangt, sollte sie einerseits betonen, daß vom Mehr keine Rede sein kann, solange das Weniger noch nicht erfüllt ist. 4. Die christliche Sozialethik fordert die Menschenrechte als längst selbstverständliche Aufgabe ein. Schon aufgrund ihrer eigenen sozialethischen Tradition legt sie dabei nicht bloß auf die Freiheitsund die Mitwirkungsrechte, sondern ebenfalls auf die Sozial-, und neuerdings auch die Kulturrechte einen großen Wert. Obwohl damit ein weitläufiger Aufgabenbereich benannt ist, läßt sich eine genuin christliche Sozialethik nicht darauf festlegen. 5. Zu der von Christen erhobenen Forderung, die Menschenrechte universaliter anzuerkennen, gehört eine Aufgabe, die man leider gern großzügig übergeht: Weil das Christentum die Religionsausübung in Form einer Kirche, also nicht bloß in charismatischer, sondern auch in sozialer und politischer Gestalt vornimmt, darf es die Anerkennung der Menschenrechte nicht nur von den anderen fordern, es muß sie von sich selbst verlangen und zum Maßstab der Wahrnehmung und der Beurteilung, gegebenenfalls der Veränderung der binnen-kirchlichen Strukturen und des binnenkirchlichen Rechts machen. Ohne Einschränkung gilt hier Karl Barths Wort, daß „rechtes Kirchenrecht vorbildliches Recht“ zu sein hat In dieselbe Richtung weist Papst Johannes Paul II., wenn er sagt: „Im Licht der uns auferlegten Pflicht der Evangelisierung bestärken wir unsere eigene Entschlossenheit, die Rechte des Menschen ... überall in der Kirche... zu fördern.“

Es sei auf eine einzige Konsequenz hingewiesen die für viele als so einschränkend erscheint, daß sie sie (mit allerdings sekundären Argumenten) weg-interpretieren wollen; ich meine die Aufhebung der kirchenrechtlichen Ungleichbehandlung von Mann und Frau. Wer der neueren Auslegung des Schöpfungsberichtes folgt, nach dem unter Adam, der geschaffen wird, zunächst geschlechtsindifferent der Mensch und erst nach der Erschaffung der Frau der Mann zu verstehen ist; wer außerdem das auffallend nichtdiskriminierende Verhalten Jesu gegenüber den Frauen beachtet, der kann die kleine Schwester der servitus, die kirchenrechtliche Ungleichbehandlung der Frau, nicht für ein Element göttlichen Rechts halten. Viel eher liegt ein geschichtlich bedingtes Element vor, das heute, unter veränderten Bedingungen, dringend der Revision bedarf. 6. Die christliche Sozialethik sollte nicht vergessen, zur christlichen Mehr-Forderung überzugehen. Dazu braucht sie eine Einsicht, die Paulus praktiziert hat: Die Mehr-Forderungen sind nicht geschuldet; als Bestandteil eines freiwilligen Mehr kann ihre Anerkennung erbeten, nicht eingefordert werden. An dieser Stelle geht das metaethische distinguo in eine normativethische Differenzierung über. Heute vermengt man so gern Rechts-verbindlichkeiten mit Forderungen der Brüderlichkeit, oder man erklärt, was die Brüderlichkeit gebietet, zu einer Rechtsforderung. Derartige Vermengungen sind zurückzunehmen.

Heißt es, die sozialethische Tradition der Kirche aufzugeben, dem klassischen Liberalismus zuzustimmen und aus ethischen Gründen die Aufgaben, die der innerstaatlichen und der zwischenstaatlichen Rechtsordnung obliegen, auf den Kanon der klassischen Freiheitsrechte zurückzustufen? Man soll keineswegs staatlicherseits auf sozial-und kulturstaatliche sowie ökologische Aufgaben verzichten, ferner auf die Verantwortlichkeit gegenüber der Dritten Welt und, was die Dritte Welt lieber vergißt, auf die Verantwortung gegen ihre Ureinwohner. Es läßt sich im Gegenteil zeigen, daß ein Großteil dieser Aufgaben rechts-ethisch geboten, also geschuldet ist.

Man denke etwa an das Argument der korrektiven Gerechtigkeit. Danach ergeben sich auch aus ungerechten Tauschbeziehungen der Vergangenheit Entschädigungsaufgaben, beispielsweise gegen Eskimos, Indianer, Indios und andere Ureinwohner, deren Besitz man bald gewaltsam, bald gegen unzureichende Gegenleistungen an sich genommen hat. Ebenfalls bestehen Verpflichtungen gegen die Schwarzen Nord-und Südamerikas sowie gegen andere Gruppen, denen durch Sklaverei, durch Leibeigenschaft und Erbuntertänigkeit oder auch durch „subtilere“ Einrichtungen viele Jahrhunder-te lang der Zugang zu Eigentumstiteln, zu gleichberechtigten Bildungseinrichtungen und zum sozialen Aufstieg versperrt worden ist.

Ein anderes Argument liefert der Gedanke der Verteilungsgerechtigkeit. Obwohl der Grundgedanke traditionell ist, trägt er durchaus zur Lösung aktueller Fragen bei. In bezug auf ökologische Probleme läßt er sich etwa folgendermaßen entfalten: Man geht von der Annahme aus, daß die naturale Natur, weil sie eine prinzipielle Vorgabe darstellt, als Gemeineigentum der Menschheit, als ihre Allmende, zu betrachten ist, die jeder Generation und, innerhalb der Generationen, jedem Individuum gleichermaßen gehört. Wer diesen Gedanken anerkennt, hat es nicht schwer, als Verteilungsprinzip gegenüber der Allmende ein Gleichheitsprinzip zu vertreten. Es besagt, daß jede Generation und innerhalb der Generationen jedes Individuum das gleiche Recht auf die Allmende hat. Unter Voraussetzung dieses Gleichheitsprinzips verlangt nun die korrektive Gerechtigkeit, daß jede Generation und jedes Individuum, die sich etwas vom Gemeineigentum nehmen, in anderer Weise etwas zurückgeben und dabei den Gesichtspunkt der Gleichwertigkeit beachten. Nun sind vielleicht gewisse Dinge nicht substituierbar und trotzdem lebensnotwendig, so daß hier ein bloßer Abbau der natürlichen Ressourcen stattfindet. Dann müßte auch dieses Problem nach dem Gleichheitsprinzip gelöst werden: hinsichtlich der nicht substituierbaren Ressourcen darf aber jede Generation nur in etwa dasselbe Maß ihres Abbaus vornehmen. Wer nun diese und andere gerechtigkeitsgebotene Aufgaben erfüllt, leistet noch nicht, was er vielleicht gern beansprucht; er trägt noch nicht zum solidarischen Mehr bei. 7. Auf Vermutungen kann man keine sicheren Thesen aufbauen. Deshalb soll es vorsichtig als Frage formuliert werden: Könnte die Aufgabe einer christlichen Sozialethik im Horizont der Gegenwart darin liegen, daß sie das rhetorische Muster der Bergpredigt wieder aufnimmt und sagt, die Idee der Menschenrechte gebietet X, Y und Z, also eine stolze Reihe von Dingen? Um Christ zu sein, habe man erstens das X, das Y und das Z zu erfüllen, und zwar in aller Selbstverständlichkeit, und zweitens noch ein kräftiges Mehr zu leisten. Wahrscheinlich entdecken wir dann, daß Christ-sein viel schwerer ist, oder daß Verpflichtungen gemeint sind, die noch zu leisten bleiben. Eine christliche Sozialethik ist -vielleicht -noch eine Aufgabe der Zukunft.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. E. W. Böckenförde/R. Spaemann (Hrsg.), Menschenrechte und Menschenwürde. Historische Voraussetzungen -säkulare Gestalt -christliches Verständnis, Stuttgart 1987; W. Kasper, Die theologische Begründung der Menschenrechte, in: D. Schwab u. a. (Hrsg.), Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft. Festschrift zum 65. Geburtstag von Paul Mikat, Berlin 1989, S. 99-118. Für die Menschenrechtsbegründung auf reformierter Seite vgl. W. Huber/H. E. Tödt, Menschenrechte. Perspektiven einer menschlichen Welt, Stuttgart 1977.

  2. Aus der neueren Debatte erwähne ich W. Maihofer, Rechtsstaat und menschliche Würde, Frankfurt/M. 1968; E. Benda, Die Menschenwürde, in: ders. u. a., Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Berlin-New York 1983, Teil I, S. 107-128.

  3. Zur (Kurz-) Geschichte des Begriffs vgl. R. P. Horstmann, Artikel Menschenwürde, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. V, Sp. 1124-1127.

  4. „Also ist Sittlichkeit und die Menschheit, sofern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat“ (I. Kant, Akademieausgabe Bd. IV, S. 435).

  5. Ebd.

  6. So im Rundschreiben „Immortale Dei“ vom 1. November 1885.

  7. Päpstliche Kommission Justitia et Pax (Hrsg.), Die Kirche und die Menschenrechte, München-Mainz 1976, S. 858.

  8. W. Huber/H. E. Tödt (Anm. 1), S. 45-55.

  9. Etwa in der Enzyklika „Rerum Novarum" vom Mai 1891.

  10. Vgl. u. a. H. Maier, Revolution und Kirche. Zur Frühgeschichte der christlichen Demokratie, Freiburg i. Br. 1988 5; O. Höffe, Die Menschenrechte in der Kirche, in: Handbuch der christlichen Ethik, Bd. III, Freiburg i. Br. u. a. 1982, S. 236-255.

  11. Die Belege bei Ch. Flüeler, Rezeption und Interpretation der aristotelischen Politica im 13. und 14. Jahrhundert: Studien, Texte, Quellen, Freiburg i. Üe. 1990.

  12. Vgl. O. Höffe, Zur Anthropologie der Menschenrechte, in: Jahresbericht der Görres-Gesellschaft, Köln 1990.

  13. K. Barth, Die Ordnung der Gemeinde, München 1955, S. 73.

  14. Vgl. Päpstliche Kommission Justitia et Pax, (Anm. 7), S. 8.

  15. Für einige weitere Konsequenzen vgl. O. Höffe (Anm. 10), S. 246ff.

Weitere Inhalte

Otfried Höffe, Dr. phil., geb. 1943; Studium der Philosophie, Geschichte, Theologie und Soziologie in Münster, Tübingen, Saarbrücken und München; Habilitation in Philosophie; seit 1978 Lehrstuhlinhaber für Ethik und Sozialphilosophie sowie Direktor des Internationalen Instituts für Sozialphilosophie und Politik der Universität Freiburg (Schweiz). Veröffentlichungen u. a.: Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, München-Salzburg 1971; Strategien der Humanität, Frankfurt 19852; Ethik und Politik. Grundmodelle und -probleme der politischen Philosophie, Frankfurt 1987 ; Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat, Frankfurt 1987; Kategorische Rechtsprinzipien. Ein Kontrapunkt der Moderne, Frankfurt 1990.