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Konfessionalismus und politische Kultur in Deutschland | APuZ 20/1991 | bpb.de

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Konfessionalismus und politische Kultur in Deutschland

Thomas M. Gauly

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Geschichte der Deutschen ist maßgeblich geprägt durch die Auseinandersetzungen zwischen den beiden christlichen Konfessionen, die seit dem Ende der Reformation die gesellschaftliche, kulturelle und politische Physiognomie Deutschlands kennzeichnen. Wie sehr der Konfessionalismus den Gang der Geschichte mitbestimmte, zeigt sich u. a. bei der Nationwerdung Deutschlands. So geriet etwa die Suche nach einer klein-oder großdeutschen Lösung in das politische Fahrwasser der Konfessionen: kleindeutsch bedeutete ein preußisch-protestantisch dominiertes Deutschland; großdeutsch ein durch den Süden geführtes katholisch-barockes Reich. Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland schienen die wichtigsten Hürden genommen: die Kirchen schienen auf einen Ausgleich bedacht, die Formierung der christlichen Unionsparteien ermöglichte zum ersten Mal in der Parteiengeschichte eine protestantisch-katholische Partei. Seit der Wiedervereinigung Deutschlands ist eine historisch neue Situation entstanden, die gekennzeichnet ist durch drei Entwicklungen: zum ersten Mal distanziert sich über ein Drittel der Bevölkerung von beiden Kirchen und den christlichen Werten und Traditionen. Seit Mitte der achtziger Jahre ist eine dramatische Krise in beiden Kirchen zu konstatieren, die sich u. a. in steigenden Austrittszahlen manifestiert. Eine allgemeine Institutionenkrise und die „Auflösung der Ligaturen“ prägen in besonderer Weise die politische Kultur der vergangenen Jahre. Stehen die Deutschen am Ende des zweiten Jahrtausends vor einer kulturgeschichtlichen Wende?

Es mutet geradezu erstaunlich an, daß in den aktuellen Diskussionen über das „Wir-Gefühl“ der Deutschen ein Gesichtspunkt unerwähnt bleibt, der, wenn es um die Grundlagen einer kollektiven Identität bei Völkern und Nationen geht, zu den wesentlichen Faktoren zählt: nämlich die Religion, die religiöse Prägung einer Gesellschaft. Diese tritt in Deutschland seit der Reformation in Gestalt zweier christlicher Konfessionen auf; Konfession bedeutet in diesem Zusammenhang eine in bestimmten Glaubensinhalten und Riten institutionalisierte Religiosität mit unterschiedlichen gesellschaftlichen, politischen und religiösen Prägungen, die sich nach außen hin gegen das jeweils andere Bekenntnis abgrenzt

Die Nichtbeachtung des konfessionellen Aspektes ist umso erstaunlicher, als Deutschland als das Ursprungsland der Reformation ein Musterbeispiel für die engen Verflechtungen und Wechselbeziehungen zwischen Religion, Wirtschaft und Politik ist und auch in der jüngsten deutschen Geschichte nach 1945 das „Christliche“ in der politischen Kultur, insbesondere der Parteienlandschaft, eine unübersehbare Größe darstellt. Wohl kaum ein anderes Land ist durch die Dominanz zunächst einer, danach zweier verschiedener, sich zumeist scharf voneinander abgrenzender Konfessionen so stark geprägt wie dieses Land, in dem zeitweise nahezu 100 Prozent der Bevölkerung kirchlich gebunden waren.

Religion wird von vielen „als ein sich abschwächender Überhang von Tradition, nicht mehr den Gang oder gar den Fortgang der Dinge bestimmend“ gewertet. Dabei wird die Tiefenwirkung kollektiver religiöser Prägung übersehen, eine „modernistische Unterschätzung“ (J. Moltmann) von Religion, die den Blick auf die deutsche Geschichte, gerade im Hinblick auf die Konfessionalisierung des Politischen, verstellt. Die Nationwerdung Deutschlands und die Nähe der Deutschen zur staatlichen Gewalt, die Ausbildung politisch, weltanschaulich und religiös sich abgrenzender Milieus, schließlich die Entwicklung der Parteien-landschaft, um nur einige Aspekte zu nennen, sind beeinflußt durch den mit der Kirchenspaltung im 16. Jahrhundert ausgelösten Konfessionalismus, der zwei Kulturen in einer Nation hat entstehen lassen

I.

Für die Katholiken in Deutschland hatte mit der Kirchenspaltung, der allmählich einsetzenden Säkularisation sowie der Zerschlagung der Reichs-Skirche in den Jahren 1803 bis 1806 eine Zeit der Fremdheit und Gereiztheit gegenüber dem deutschen Staat begonnen. Gleichzeitig hatte sich eine Ikulturelle Inferiorität des Katholizismus in Deutschland eingestellt, verbunden mit der politischen Abstinenz für die Dauer einer Generation.

Beide Entwicklungen prägten das Verhältnis zum Protestantismus, der sich seit der Reformation zu einem integralen Bestandteil der staatlichen Ordnung in Deutschland entwickelt hatte

Der katholischen Kirche ermöglichte der Verlust weltlicher Hoheitsgewalt eine Erneuerung ihrer geistlichen und pastoralen Grundlagen. Der Zerfall des mittelalterlichen Corpus Christianum bewirkte daher langfristig ein neues Selbstbewußtsein der katholischen Kirche gegenüber dem säkular gewordenen Staat und eine größere Geschlossenheit des Katholizismus innerhalb der Gesell-schäft, was besonders in den sozialen und politischen Laienbewegungen seit 1848 zum Ausdruck kam. Gleichzeitig aber hatte die „Entfeudalisierung“ der katholischen Kirche und die immer deutlicher werdende Vormachtstellung der evangelischen Kirchen in den deutschen Staaten eine stärkere Bindung an das Papsttum zur Folge, was wiederum das interkonfessionelle Verhältnis in Deutschland belastete und sich außerdem als Hemmschuh für die nationale Einigung erweisen sollte.

Der Protestantismus identifizierte sich immer stärker mit der staatlichen Gewalt, was einerseits bewirkte, daß die wichtigsten Ämter im Militär, in den Behörden und Ministerien zunehmend von Protestanten besetzt wurden, andererseits, daß die evangelischen Kirchen immer stärker in die staatlichen Strukturen eingebunden wurden. Ein Kernproblem für die Ausbildung einer homogenen politischen Kultur in Deutschland, nämlich die dadurch entstehende unterschiedliche Nähe von Protestanten und Katholiken zum deutschen Staat, war mit diesen Entwicklungen bereits vorprogrammiert.

Zu einem frontalen Zusammenstoß zwischen dem wieder stärker an Rom orientierten und durch Laieninitiativen in seinem Selbstbewußtsein gestärkten Katholizismus und dem protestantisch geprägten preußischen Staat kam es erstmals im so-genannten Kölner Kirchenstreit um das Mischehenrecht in den Jahren 1836 bis 1841. In Köln gerieten die Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Staat so weit, daß der Kölner Erzbischof unter Aufsicht von Soldaten auf die Festung Minden abgeführt wurde, was für die traditionell katholisch geprägten Rheinländer einem Affront gleichkam und als preußisch-protestantische Provokation gewertet wurde. Diese Auseinandersetzungen hatten für viele Katholiken in anderen Teilen Deutschlands Signalwirkung und sollten zu einem „Wendepunkt“ für den Katholizismus in Deutschland werden

Nach jahrelanger Lähmung, bedingt durch die Folgen der Säkularisation in Frankreich und Deutschland, setzte jene erstaunliche Neuorganisation des deutschen Katholizismus ein, die gekennzeichnet war durch eine Straffung der Führungsspitzen, einen stärkeren überregionalen Zusammenschluß und eine unübersehbare Fülle von Vereinsgründungen religiöser, sozialer und politischer Art

Waren bereits 1848 in der Paulskirchenversammlung die Spannungen zwischen Katholiken unc Protestanten hinsichtlich der Durchsetzung bestimmter Rechte und Freiheiten der Kirchen in die Verfassung deutlich geworden, so traten mit den Kontroversen im Vorfeld der Reichsgründung die unterschiedlichen protestantisch-preußischen und katholisch-habsburgischen Fronten offen zutage. Der preußisch-österreichische Dualismus, der seit 1740 die deutsche Geschichte belastete, geriet dabei in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen. Die deutschen Katholiken setzten ihre Hoffnungen auf eine großdeutsche Lösung, d. h. die Einbindung Österreichs in das Deutsche Reich, weil Österreich katholisch dominiert und nach Rom hin orientiert war. Somit wäre, rein zahlenmäßig, ein Gleichgewicht zwischen Katholiken und Protestanten zustande gekommen, was sich auf die rechtliche, politische und gesellschaftliche Stellung des Katholizismus in Deutschland positiv ausgewirkt hätte.

Im Protestantismus fürchtete man diese Konstellation, nicht nur wegen der zahlenmäßigen Stärkung der Katholiken, sondern auch, weil man Österreich als einen fremden, „undeutschen“ Staat betrachtete, der zudem mit einer auswärtigen Macht, nämlich dem Papst in Rom, kooperierte. Aus diesen Gründen geriet die für den weiteren Weg der Nationwerdung der Deutschen so wichtige Frage -kleindeutsche oder großdeutsche Lösung -in das konfessionelle Spannungsfeld. So sehr dieser Konflikt primär ein Kampf zweier Mächte um die Hegemonie in Deutschland war, so sehr wurde er auch zum Kampf des rationalistisch-modernen Nordens gegen den barocken und „rückständigen“ Süden, des evangelischen gegen das katholische Deutschland Daher kam es für die Katholiken einer Niederlage gleich, als sich die großdeutschen Hoffnungen seit Beginn der sechziger Jahre mehr und mehr als aussichtslos erwiesen und schließlich im Juli 1866 die letzten Hoffnungen auf eine groß-deutsch-föderale Lösung begraben werden mußten. Der rheinische Katholikenführer und Zentrumspolitiker August Reichensperger kommentierte Österreichs Niederlage mit den Karfreitags-worten: „Consummatum est“ Reichensperger, keineswegs ein radikaler Preußengegner, sah alles einstürzen, was zu seinen staatspolitischen Idealen und Überzeugungen zählte.

Mehr und mehr wurden aus den konfessionellen Konfliktlinien politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle. Mit der Dominanz der Protestanten im Reich wuchs bei den Katholiken das Gefühl der Distanz zum Staat. Die Inferioritätsstellung des Katholizismus war somit die Geburtsstunde des „Milieus“ und seines politischen Arms, der Zentrumspartei. Auf protestantischer Seite fehlten zur Ausbildung eines politisch und weltanschaulich homogenen Milieus die entsprechenden Bedrohungsperzeptionen, die dem Katholizismus die politische Triebkraft gaben; zum anderen war der Protestantismus kirchlich nie auch nur annähernd so geschlossen wie der zentralistisch regierte Katholizismus. Dieser erschien als ein hierarchisch und dogmatisch starrer „Koloß“. Genau dies führte auf protestantischer Seite zu Abgrenzungen gegenüber einer vermeintlich geschlossenen römisch-katholischen Einheitsfront.

Der Konflikt zwischen katholisch-konservativer und staatlich-liberal-laizistischer Auffassung stand schließlich auch im Mittelpunkt des Kulturkampfes ab 1871. Hier brachen die konfessionellen Spannungen in Form rechtlicher und politischer Kämpfe, begleitet von polemischer Publizistik, erneut auf Im Blick auf die politische Kultur im ersten Kaiserreich bleibt wichtig festzustellen, daß die Ursachen für den Ausbruch dieses Kampfes einen betont konfessionellen Aspekt besaßen: die Gründung und politische Bedeutung der katholischen Zentrumspartei, die Auseinandersetzungen um das Unfehlbarkeitsdogma und schließlich die Angst Bismarcks vor einer französisch-österreichischen, d. h. katholischen Revanche-Koalition gegen das neue Reich Daß der Kulturkampf mit einer Niederlage der preußischen Liberalen, insbesondere Bismarcks, endete, ist letztlich auf die Sammlung der politischen und sozialen Kräfte des Katholizismus zurückzuführen. Dieser hatte sich zu einer ernstzunehmenden innenpolitischen Macht entwickelt. Auf der Grundlage zahlreicher Vereine und Gruppen war ein organisatorisch geschlossener und politisch schlagkräftiger Laienkatholizismus entstanden, und es war zur Gründung katholischer Zeitungen und Zeitschriften -zwischen 1870 und 1885 stieg ihre Zahl von 126 auf 248 -gekommen. Den politischen Arm dieser Sammlungsbewegungen bildete die Zentrumspartei unter der Führung Ludwig Windthorsts, der zum bedeutendsten parlamentarischen Gegner Bismarcks geworden war. Amtskirche, Laienkatholizismus und Zentrumspartei, dies war das Ergebnis des Kulturkampfes, ließen sich nicht auseinanderdividieren; sie waren bereits zu einer festen Größe in der politischen Landschaft geworden

Im Gegensatz dazu war dem deutschen Protestantismus eine einheitliche politische Haltung fremd. Zudem fehlte eine „selbständige, einheitlich organisierte und mit dem Anspruch gesellschaftlicher Gestaltung auftretende Institution Kirche“ die als Klammer für die unterschiedlichen protestantischen Milieus hätte fungieren können. Andererseits wähnte man sich im Protestantismus durchaus natürlich und legitim in der überlegenen Position. Hier ging man sogar so weit, eine Identifikation der nationalen mit der protestantischen Sache zu propagieren, was man für die Katholiken völlig ausschloß. Die deutschen Katholiken, so Eduart von Hartmann, müßten „begreifen lernen, daß sie nicht gesetzestreue deutsche Staatsbürger“ sein könnten, ohne vor dem „katholischen Prinzip als Ketzer dazustehen, und daß sie gute Katholiken nicht sein könnten, ohne, mindestens der Gesinnung nach, Hochverräter an ihrem Vaterland zu werden“

II.

Auf protestantischer Seite blieb die enge personelle und weltanschauliche Nähe zum liberal verfaß-ten Staat bis zur endgültigen Trennung von Kirche und Staat im Jahre 1919 bestehen. Ernst Troeltsch hat in bezug auf diese Nähe von der „Leidsamkeit“ des Protestantismus gesprochen, die ihn, stärker als den Katholizismus, der Gefahr aussetze, das „Opfer der herrschenden Ideen und Mächte einer Epoche“ zu werden In der Tat gab es einen ideengeschichtlich fundamentalen Unterschied zwischen beiden Konfessionen hinsichtlich ihrer Nähe zu den großen geistes-und ideenpolitischen Bewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts. Aufklärung, Klassizismus, Idealismus und Liberalismus wurden im evangelischen Deutschland grundlegend anders bewertet, großenteils von ihm hervorgebracht und weiterentwickelt. Dagegen sah man im eher antimodernistisch geprägten katholischen Lager in diesen Strömungen Feinde des „alten“, durch die geistige und politische Vormachtstellung der katholischen Kirche geprägten Europa.

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges zeigte sich jedoch auf katholischer Seite eine Hinwendung zum Staat, die noch wenige Jahrzehnte zuvor undenkbar gewesen wäre. Besonders deutlich wird die patriotische Hurra-Gesinnung jener Jahre in einem Hirtenbrief der katholischen Bischöfe vom 1. November 1917, in dem es heißt: „Mit unerschütterlicher Treue und opferfreudiger Hingabe stehen wir daher zu unseren Herrschern von Gottes Gnaden, dem Kaiser und den Landesfürsten ... Seiner ganzen Vergangenheit treu, wird das katholische Volk alles zurückweisen, was auf einen Angriff gegen unsere Herrscherhäuser und unsere monarchische Staatsverfassung hinausläuft.“ Es scheint geradezu grotesk, daß es eines Weltkrieges bedurfte, damit sich katholische und protestantische Bürger in gleicher Weise voll und ganz als Deutsche und damit als Angehörige derselben Nation begreifen konnten, und daß die außenpolitischen Konstellationen im Zusammenspiel mit innenpolitischer Propaganda die verschiedenen kulturellen und sozialen Konflikte in den Hintergrund treten ließen.

In welcher Weise das konfessionelle Klima der Weimarer Republik neben punktuellen Ausgleichsversuchen durch gegenseitige Abgrenzung und Stigmatisierung bestimmt war, zeigt sich am Aufkommen des sogenannten Kulturkatholizismus, dessen Antriebskraft sich in großen Teilen aus einer ausgeprägten Protestantismuskritik sowie aus antimodernistischen Elementen speiste Mit Karl Muth und der katholischen Kulturzeitschrift „Hochland“ begann ein Aufschwung in der katholischen Publizistik, der in den Jahren der Weimarer Republik unter dem Zeichen der erneut beschworenen „Wiederbelebung von Kirche und Kultur“ eine „grandiose, vielfach euphorische, ja seine eigentliche Hoch-Zeit“ erfuhr. Ausdrücklich werden, etwa von Hans Rost, die neuen Chancen und Freiräume des Katholizismus in Deutschland aufgezeigt, deren Ursachen in den gesellschaftlich-politischen Veränderungen gesehen werden Otto Sachse formulierte, endlich sei der Katholizismus zum wichtigsten „formgebenden Teil der Deutschen Kultur geworden“ Nur durch eine „Entfälschung der preußisch-protestantischen Geschichtsschreibung“, so Hans Rost, könne sich diese Wahrheit endlich durchsetzen

In den Schriften kommt nicht nur das Bedürfnis zum Ausdruck, sich als die religiös-sittlich bessere und „wahrhaftigere“ Konfession darzustellen, sondern auch die Frage, wer denn die „besseren und wahren“ Deutschen seien. So schrieb Otto Kunze in der Allgemeinen Rundschau: „Preußen, das Bollwerk der liberalprotestantischen Kultur, mußte fallen. Starke deutsche Länder mußten entstehen, in denen die Katholiken das Übergewicht hatten.“ „Erst wenn wir“, so Kunze, „das Reich nach unserem Staatsideal, dem großdeutsch-föderalistischen, umgestaltet haben, ist ein Kultur-kampf unmöglich. Dann gibt es gleich viel und gleich große vorwiegend katholische Bundesstaaten wie protestantische ... Dann haben Katholiken und Protestanten wirklich gleichen Einfluß im Reich.“ Karl Bachem schrieb 1931: „Niemals werden wir zugeben, daß der deutsche Geist identisch sei mit dem protestantischen Geiste, daß nur das wahrhaft deutsch sei, was aus protestantischem Geiste entsprossen ist. Wenn von einem Erstgeburtsrecht auf der deutschen Erde die Rede sein soll, so kommt dieses dem deutschen Katholizismus zu.“

Ohne das Ende des Staatskirchensystems, den Untergang des protestantisch-preußischen Kaiser-tums, die rechtliche Aufwertung der katholischen Kirche durch die Weimarer Verfassung, die politische Schlüsselstellung der Zentrumspartei sowie des sozialen und politischen Katholizismus insgesamt ist diese Hochstimmung kaum zu erklären. Nun konnte sich der Katholizismus in einer „Siegerposition“ wähnen; hinter ihm lag eine „jahrhundertlange Vorherrschaft protestantischer Geistes-kultur in Deutschland“ die nun gebrochen schien, eine scheinbar religiös-kulturelle Niederlage des Protestantismus. Von einer einheitlichen politischen Gegenstrategie gegen die polemischen katholischen Positionen kann auf protestantischer Seite nicht gesprochen werden. Einerseits lähmte der Schock von 1918 die Kräfte, andererseits lehnte man eine politische Einheitsfront, die man letztlich als „katholisch“, weil zentralistisch, bewertete, strikt ab. So kam es nicht zur Gründung einer prononciert „evangelischen Partei“ -Martin Dibelius wies in der Frankfurter Zeitung darauf hin, daß der Protestantismus niemals „eine geschlossene, in seinem Sinn »christliche Welt“ erstreben könne, weil er, anders als der Katholizismus, zur „Beurteilung soundsovieler politischer Aufgaben keinen alle verpflichtenden Maßstab aus der christlichen Gedankenwelt“ ableiten könne, wie es der Katholizismus mit Hilfe der „kirchlichen Philosophie“ vermöge. Darum bleibe festzustellen, „daß der Protestant alle Kulturfragen anders sieht als der Katholik“

Neben diesen konfessionspolitischen Abgrenzungen spielten auch nationalpolitische Überlegungen bei der Mehrheit der Publizisten eine bedeutende Rolle. Hermann Scholz schrieb 1928: „Das Evangelium deutscher Art bindet uns im Evangelischen Bunde zusammen.“ Johannes Becker vom Evangelischen Bund formulierte: „Unsere Geisteskultur trägt überall protestantisches Gepräge, und auch die Katholiken haben an diesem Gute teilgenommen. Gegen diese Kultur kämpft Rom: es will sie auch heute zurückschrauben auf den mittelalterlichen Standpunkt. Der Evangelische Bund ist sich der Gefahr, die da droht, voll bewußt und kämpft gegen sie und für die Erhaltung unserer Kultur.“

Es ist erstaunlich, welche Bedrohungsängste der politische und publizistische Aufschwung der katholischen Bewegung im Protestantismus hervorrief. In diesem Sinne wurden die „kulturkatholische Offensive“ und das „neue Selbstbewußtsein“ analysiert: „Manche gehen soweit, zu behaupten, daß die letzte Schlacht gegen den Protestantismus schon zugunsten Roms entschieden sei. Zeichen dafür seien die äußeren Erfolge des Katholizismus, das Anwachsen seiner Klöster und Anstalten, sein politischer Einfluß, die romfreundlichen Tendenzen in Kunst und Wissenschaft, in Theologie und Humanitätsbestrebungen.“ Nicht ohne Grund kritisiert Kerstan aus dieser Lagebeurteilung heraus die „unwürdige Angst vor der Macht Roms“ auf protestantischer Seite.

Daß es auch während der schweren politischen und wirtschaftlichen Krisen der Weimarer Demokratie, die einerseits durch das zunehmende Erstarken der antidemokratischen Front, andererseits durch wirtschaftliche und soziale Probleme ausgelöst wurden, zu keiner geschlossenen christlich-demokratischen oder zumindest christlich-staatsbejahenden Linie kam, erweist sich mit Blick auf die historische Entwicklung -Reformation, Gegenreformation, Säkularisierung und Kulturkampf -geradezu als folgerichtig und verständlich. Für die kulturell-konfessionelle Spaltung Deutschlands ist es ebenso bezeichnend, daß es sogar während der nun folgenden zwölfjährigen Nazi-Herrschaft weder zu intensiven und kontinuierlichen ökumenischen Treffen, noch zu gemeinsamen Handlungsstrategien beider Konfessionen kam, obwohl beide durch die pseudo-religiöse Ideologie des Nationalsozialismus gleichermaßen in ihrer Existenz bedroht waren Nur in wenigen Ausnahmefällen, etwa im Widerstand des Kreisauer Kreises, lehrte die Not die Tugend der Brüderlichkeit dort, wo man Jahrzehnte zuvor noch im Bruderzwist gelegen hatte.

III.

Die zentrale Frage nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches war, wie die politische Zukunft Deutschlands gestaltet werden solle und ob die Deutschen nach den leidvollen Erfahrungen der Weimarer Zeit eine demokratische Kultur würden aufbauen können. Entscheidend für die Bejahung der Demokratie durch die Katholiken war die Weihnachtsansprache des Papstes im Dezember 1944. Pius XII. betonte darin, daß die demokratische Staatsordnung, die von allen Völkern Europas gewünscht werde, mit der Würde und Freiheit der Bürger mehr in Einklang stehe als alle anderen Staatsformen Damit war für die Katholiken und ihre Bischöfe ein klares Signal in Richtung auf eine Demokratisierung von Staat und Gesellschaft gegeben.

Die Situation des deutschen Protestantismus unterschied sich von der des Katholizismus gerade in diesem Punkt, was für das „Einleben“ der Protestanten in den neuen Staat nicht ohne Bedeutung war. Hier gab es keine Autorität, die in ähnlich verbindlicher Weise eine politische Richtung hätte angeben können.

So wurden die Katholiken die „eigentlichen Entdecker“ der Bundesrepublik als einer neuen politischen Heimat „Früher als die Protestanten haben sie ein politisches Heimatgefühl entwickelt, während die Protestanten noch länger den Farben Schwarz-Weiß-Rot nachtrauerten und unter der Teilung litten.“ Der Blick der Protestanten sei rückwärts gewandt gewesen, auf ein „verlorenes Reich, das für sie die Funktion einer Ersatzkirche hatte“

Ein wichtiger Grund für das Aufleben des Katholizismus war sicherlich die veränderte demographische Situation im Nachkriegsdeutschland. Durch die Teilung kam es zum ersten Mal seit 1871 zu einer zahlenmäßigen Parität zwischen Katholiken und Protestanten: Hatten die Katholiken noch im Deutschen Reich 1933 mit 32, 9 Prozent der Bevölkerung eine deutliche Minderheit gebildet so stellten sie bereits 1950 mit 46, 2 Prozent beinahe die Hälfte der Bevölkerung in Westdeutschland Diese auch sozialpsychologisch bedeutende Veränderung brachte handfeste politische Konsequenzen mit sich. Denn von nun an waren die Katholiken in der Lage, parteipolitische Mehrheiten zu bilden.

Ein wichtiger Schritt hin zu einer „Entkonfessionalisierung" der politischen Kultur war die Gründung der interkonfessionellen Christlichen Unionsparteien. Zu einer Lösung des Konfessionalismus-Problems kam es damit freilich nicht. Sowohl innerparteilich als auch gesamtgesellschaftlich kam es bereits zu Beginn der fünfziger Jahre wieder zu scharfen Auseinandersetzungen zwischen Protestanten und Katholiken, obschon man in beiden Konfessionen unmittelbar nach Kriegsende durchaus auf Ausgleich bedacht war Nach der Gründung der Republik ließen die Fragen der Ämterbesetzungen sowie der Vergabe von öffentlichen Geldern jedoch den alten konfessionellen Streit wieder aufleben. So kam es zum Beispiel zum Streit darüber, ob ein katholischer neben einem evangelischen Christen beerdigt werden könne; in einer hessischen Gemeinde wurde 1957 eine Ligusterhecke auf einem Spielplatz gepflanzt, damit evangelische und katholische Kinder voneinander getrennt spielen konnten, und noch 1962 fand in der Pädagogischen Hochschule in München der Sport-unterricht nach Konfessionen getrennt statt

Auch innerhalb der Christlichen Unionsparteien trat das Problem des Konfessionalismus schon bald, deutlich zutage, etwa in der Personalpolitik. Der ständige Klerikalismusverdacht, unter dem alle Regierungen Adenauers standen, führte dazu, daß der katholische Kanzler streng darauf achten mußte, daß seine Kabinette nach konfessionellen Gesichtspunkten paritätisch besetzt waren. Dies führte unter anderem dazu, daß Listen über die Konfessionszugehörigkeit der einzelnen Minister geführt wurden und daß bei Vakanzen die Vertreter der Kirchen im Kanzleramt vorstellig wurden, um entsprechende Vorschläge für die Neubesetzung durch eine Person der eigenen Kirche zu unterbreiten. Dieser Konfessionsproporz blieb jedoch nicht auf die Kabinette beschränkt. In den Unionsparteien, in Ministerien und öffentlichen Einrichtungen, sogar in den Fernsehanstalten, wurden in den ersten beiden Jahrzehnten der Republik bei der Besetzung wichtiger Stellen streng auf den Konfessionsproporz geachtet.

Auseinandersetzungen innerhalb der Unionsparteien gab es natürlich auch, weil sich der durch die Tradition der kirchlichen Soziallehre und der Arbeiterbewegung geprägte Katholizismus in seinen Vorstellungen von einer zukünftigen Wirtschaftsund Sozialordnung von denen des durch den Liberalismus geprägten Protestantismus deutlich absetzte. Dies führte dazu, daß den katholischen Politikern in den Sozialausschüssen wie Jakob Kaiser, Karl Arnold oder Hans Katzer das Etikett anhaftete, „Linke“ zu sein, und diese mit Hilfe Adenauers und Erhards an den politischen Teller-rand der Partei gedrängt wurden. Umgekehrt gelang Adenauer mit der Nominierung Erhards und der Unterstützung seiner Vorstellungen von der Marktwirtschaft die stärkere Integration der Protestanten in die Union.

Was die Prägkraft der Konfessionen in den folgenden Jahrzehnten anbelangt, so ist folgendes festzuhalten: Trotz zunehmender Säkularisierungs-und Entkirchlichungstendenzen seit dem Ende der sechziger Jahre bezeichneten sich Ende der achtziger Jahre nur neun Prozent der Bevölkerung über 18 Jahre als konfessionslos Andererseits besuchte jeder fünfte nie, weitere 25 Prozent der Bevölkerung höchstens einmal im Jahr einen Gottesdienst. Diese Kirchenfeme entwertet zwar die hohen Mitgliederzahlen der beiden christlichen Kirchen. Dennoch geben sie unmißverständlich Auskunft darüber, wie schwer es dem einzelnen fällt, mit der religiösen Tradition seines sozialen Umfeldes völlig zu brechen und sich aus dem religiös-konfessionellen Kontext auszugrenzen Zu weiteren öffentlichen Auseinandersetzungen kam es in den achtziger Jahren nicht. Das konfessionelle Ressentiment allerdings ging dabei nicht verloren.

IV.

Mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten am 3. Oktober 1990 ist eine historisch neue Situation eingetreten, denn diese Vereinigung bedeutet weit mehr als die Gebietserweiterung der alten Bundesrepublik durch den Beitritt „fünf neuer Länder“. Ein wichtiger Aspekt der Veränderungen ist die Verschiebung der Konfessionsstrukturen zugunsten der protestantischen Kirchen, die mit ca. 28 Millionen Mitgliedern wieder etwa 1, 5 Millionen mehr Mitglieder zählen als die katholische Kirche

Neben dieser eher unbedeutenden Veränderung kam es jedoch zu einer zweiten Verschiebung im konfessionellen Bereich, die weitaus spektakulärer ist: Zum ersten Mal distanziert sich ein Großteil der Bevölkerung -ca. ein Drittel -von beiden christlichen Kirchen, ja zum Teil von den christlichen Werten und Traditionen überhaupt Gerade das Bekenntnis zu diesen Werten aber war die weltanschauliche Grundlage und bildete einen Konsens bei der Konstituierung der zweiten Demokratie und war fester Bestandteil der politischen Kultur der alten Bundesrepublik, in der sich auch noch Mitte der achtziger Jahre über 84 Prozent der Bürger (1985) -wenn auch zum Teil nur formal -einer der beiden christlichen Kirchen zugehörig fühlten.

In welcher Weise die ca. 13 Millionen „postsozialistischen Atheisten“ zusammen mit den in den westlichen Bundesländern lebenden Nichtchristen die politische Kultur der Deutschen auf lange Sicht beeinflussen werden, bleibt ungewiß. Sicher ist, daß dies ein wichtiger Faktor zukünftiger Politik sein wird.

Denn geht man davon aus, daß Religiosität und Kirchenbindung zwei für das Wertbewußtsein und die politische Kultur grundlegende Aspekte sind, so ergeben sich hieraus wichtige Konsequenzen Die zukünftige programmatische Ausrichtung der Volksparteien, die Auslegung des Grundgesetzes, die Diskussionen über die Stellung von Ehe und Familie oder aber das Verständnis von der Würde und dem Schutz menschlichen Lebens werden davon nicht unberührt bleiben.

Im Hinblick auf die Ausbildung der politischen Kultur im vereinigten Deutschland darf neben diesen beiden Aspekten eine dritte Entwicklung ebenfalls nicht übersehen werden: der seit Mitte der achtziger Jahre anhaltende dramatische Autoritäts-und Machtverlust der Kirchen, der sich in Kirchenaustritten (1989 traten allein 93000 Mitglieder aus der katholischen Kirche aus 46) und einer zunehmenden Abkoppelung der Kirchenmitglieder von den Riten und Wertvorstellungen der Kirchen manifestiert. Die zukünftige Entwicklung, sofern sie heute aufgrund empirischer Untersuchungen prognostizierbar ist, wird durch das Fortschreiten dieser Entkirchlichung gekennzeichnet sein. Denn mit keiner der durch lange Tradition und breiten Konsens gefestigten Verhaltensweisen wurde in den letzten Jahrzehnten so „radikal gebrochen“ wie mit dem Praktizieren des christlichen Glaubens Dies gilt für beide Konfessionen, jedoch in unterschiedlichem Maße. Es bedeutet, daß der direkte Zugriff sowie die Prägkraft der Kirchen weiter abnehmen werden. Im europäischen Vergleich wird zudem deutlich, daß die Bindung an die Kirchen schon lange Gefahr läuft, zum Merkmal einer Alterskultur zu werden, scharf getrennt von einer weitgehend entkirchlichten Jugendkultur Die Lage der Kirchen hat sich in diesem Punkt seit der Wiedervereinigung noch verschärft, denn vor allem in den neuen Bundesländern ist die Situation gekennzeichnet durch eine extreme Überalterung der Kirchenmitglieder: 48 Prozent der katholischen Konfessionsmitglieder, 44 Prozent der Protestanten sind 60 Jahre und älter

Trotz dieser Tendenzen und Entwicklungen der Entkirchlichung und Entkonfessionalisierung der

Gesellschaft setzte sich das konfessionelle Denken im privaten wie im öffentlichen Leben, wenn auch in subtilerer Form als in den Jahrzehnten zuvor, fort: Unwissenheit und Unkenntnis über die jeweils andere Konfession sind bei Protestanten wie Katholiken gleichermaßen verbreitet; in nicht wenigen Bereichen diktiert nach wie vor der Konfessionsproporz die Besetzung öffentlicher Ämter; auf beiden Seiten werden alte Klischees und Vorurteile auch weiterhin tradiert -bei Protestanten eine scheinbare intellektuelle Überlegenheit, bei Katholiken die vermeintlich religiöse „Höherwertigkeit“; in zentralen kirchlichen Vollzügen sind sich Protestanten und Katholiken noch immer fern.

Diese unterschiedlichen Mentalitäten und Prägarten der Deutschen werden auch im Politischen offenkundig. So hat z. B. eine Angleichung des Wahlverhaltens zwischen Katholiken und Protestanten nicht stattgefunden. Der Abstand zwischen den Konfessionen in ihren Stimmanteilen für beide große Parteien ist seit der Nachkriegszeit in seiner Größenordnung erhalten geblieben Nach wie vor dominieren die Katholiken die Wählerschaft der Union, während die Protestanten traditionell in der Sozialdemokratie stärker vertreten sind und die FDP gleichsam als eine protestantische Partei bezeichnet werden kann Dies bedeutet: Die gegenseitige Beeinflussung und Wechselbeziehung von Konfession, Kultur und Politik in der Bundesrepublik ist evident. Vielleicht kann man auch hier von einem „deutschen Sonderweg“ sprechen, dessen besonderes Signum die konfessionelle Zweiteilung der Deutschen in einen stark durch Aufklärung, Liberalismus und Moderne geprägten Protestantismus und einen eher konservativ-antiliberalistisch bestimmten Katholizismus ist. Die Ausprägung eigener Sprach-und Sozialmilieus, der unterschiedliche Zugang zu Führungspositionen in der Wirtschaft und in staatlichen Institutionen wie den Ministerien -Folgeerscheinungen der Unterrepräsentanz des Katholizismus in Staat und Gesellschaft der letzten hundert Jahre -mögen als einige Beispiele dafür dienen, wie sehr tradierte konfessionelle Prägungen in eine moderne säkulare Gesellschaft hineinwirken können Stehen die Deutschen am Ende des zweiten Jahrtausends vor einer kulturgeschichtlichen Wende, die gekennzeichnet ist von der öffentlichen Distanzierung eines Großteils der Bevölkerung von den historisch gewachsenen Wertvorstellungen der zweiten Republik und durch das Absinken in die Bedeutungslosigkeit zweier bisher wichtiger Wert-und Norminstanzen, verbunden mit einer allgemein konstatierten „Auflösung der Ligaturen“ (Ralf Dahrendorf)?

Mehr denn je bedürfen die Deutschen Institutionen, die an grundlegende Tugenden und Werte erinnern und damit einen ethischen Grundkonsens stiften, ohne den die Integration aller Deutschen in einen Staat und die damit verbundene Schaffung einer humanen und sozial gerechten Gesellschaft nicht möglich ist. Dabei wäre zum Beispiel an ein Verständnis von Solidarität zu erinnern, das sich nicht verflüchtigt, wenn es darum geht, mit den sozial Schwächeren zu teilen oder an ein Verständnis von Gerechtigkeit, die mehr sein muß als eine formale Verteilungsgerechtigkeit. Ob diese Herausforderung von den Kirchen angenommen und umgesetzt werden kann, ist fraglich. Wahrscheinlicher ist, daß es zu einer weiteren Auszehrung der Kirchen kommen wird, was langfristig eine Ent-konfessionalisierung der Gesellschaft und Veränderung der politischen Kultur bewirken würde. Sie würde sich jedoch nicht auf der Grundlage der Aussöhnung der Konfessionen sondern vor dem Hintergrund der Tatsache vollziehen, daß die konfessionelle und kirchliche Prägung für die Deutschen immer bedeutungsloser und damit beliebig würde.

Fussnoten

Fußnoten

  1. „Konfession“ wird hier als sozialwissenschaftlicher Begriff benutzt. Zur historischen Genese des Begriffes vgl. Heinrich Fries, Konfession, in: Staatslexikon, Bd. 3, Freiburg 19877, Sp. 609-612.

  2. Thomas Nipperdey, Religion und Gesellschaft: Deutschland um 1900, in: Historische Zeitschrift, 246 (1988), S. 691.

  3. Vgl. u. a. Thomas M. Gauly (Hrsg.), Die Last der Geschichte. Kontroversen zur deutschen Identität, Köln 1988; Anton Rauscher (Hrsg.), Probleme des Konfessionalismus in Deutschland seit 1800, Paderborn u. a. 1984.

  4. Vgl. Rudolf Lill, Reichskirche-Säkularisation-Katholische Bewegung. Zur historischen Ausgangsposition des deutschen Katholizismus im 19. Jahrhundert, in: Anton Rauscher (Hrsg.), Der soziale und politische Katholizismus. Entwicklungslinien in Deutschland 1803-1963, München u. a. 1981, S. 15-45.

  5. Vgl. Paul Mikat, Das Verhältnis von Kirche und Staat nach der Lehre der katholischen Kirche, in: Emst Friesenhahn/Ulrich Scheuner/Joseph Listl (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, Berlin 1974, S. 160ff.

  6. Vgl. Hans Maier, Staat -Kirche -Bildung, Freiburg u. a. 1984, S. 15.

  7. Vgl. ebd.

  8. Vgl. Rudolf Lill, Großdeutsch und kleindeutsch im Spannungsfeld der Konfessionen, in: A. Rauscher (Anm. 3), S. 32.

  9. Ebd., S. 29.

  10. Vgl. Rudolf Morsey, Der Kulturkampf, in: A. Rauscher (Anm. 4), S. 76.

  11. Vgl. ebd., S. 76f.

  12. Bei den Reichstagswahlen von 1874 bis 1884 erhielt das Zentrum zwischen 80 und 86 Prozent aller katholischen Wählerstimmen.

  13. Karl Schmitt, Konfessioneller Konflikt und politisches Verhalten in Deutschland: Vom Kaiserreich zur Bundesrepublik, in: H. Best (Hrsg.), Politik und Milieu. Wahl-und Eliteforschung im historischen und interkulturellen Ver-gleich. Historisch-sozialwissenschaftliche Forschungen, (1990), S. 161.

  14. Zit. nach Heinrich Raab (Hrsg.), Kirche und Staat. Von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, München 1960, S, 112.

  15. Vgl. R. Wittram, Das Nationale als europäisches Problem vornehmlich im 19. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte des Nationalprinzips, Göttingen 1954, S. 114; Viktor Conzemius, Kirchen und Nationalismen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Albrecht Langner (Hrsg.), Katholizismus, nationaler Gedanke und Europa seit 1800, Paderborn u. a. 1985, S. 41 ff.

  16. Gemeinsames Hirtenschreiben der Erzbischöfe und Bischöfe Deutschlands am Feste Allerheiligen 1917, in: M. Meinert/H. Sacher (Hrsg.), Deutschland und der Katholizismus, Bd. I. Das Geistesleben. Freiburg i. Br. 1918, S. 431 ff. Zu den Feldpredigten vgl. Heinrich Missalia, Gott mit uns. Die katholische Kriegspredigt 1914-1918, München 1968.

  17. Es war u. a. Arnold Rademacher, der das Wort vom „Kulturkatholizismus“ geprägt und ideenpolitisch durchgesetzt hat. Vgl.ders., Religion und Leben. Ein Beitrag zur Lösung des christlichen Kulturproblems, Freiburg i. Br. 1926.

  18. Albrecht Langner, Weimarer Kulturkatholizismus und interkonfessionelle Probleme, in: A. Rauscher (Anm. 3), S. 73.

  19. Vgl. Hans Rost, Gegenreformation, in: Allgemeine Rundschau, (1924) 28, S. 125.

  20. Otto Sachse, Katholizismus und deutscher Kulturbesitz, in: Allgemeine Rundschau, (1923) 28, S. 334.

  21. Hans Rost, Deutsch-protestantisch, in: Allgemeine Rundschau, (1926) 23, S. 357.

  22. Otto Kunze, Inferiorität, in: Allgemeine Rundschau, (1929) 13, S. 528.

  23. Ders., Wie begegnen wir einem neuen Kulturkampf?, in: Allgemeine Rundschau, (1925) 21, S. 329.

  24. Karl Bachem, Vorgeschichte, Geschichte und Politik der Deutschen Zentrumspartei, Bd. VIII, Köln 1931, S. 488.

  25. A. Langner (Anm. 18), S. 73.

  26. Zur innerprotestantischen Diskussion um eine protestantische Partei vgl. R. Bornemann, Ein Evangelisches Zentrum?, in: Der Zusammenschluß, (1926/27) 6, S. 41ff.; Max Schmechel, Warum eine evangelische Partei?, in: Die Furche, 18 (1932), S. 311. Weitere Literaturangaben bei A. Langner (Anm. 18), S. 110, Anm. 235.

  27. Martin Dibelius, Die Frage einer protestantischen Partei, in: Frankfurter Zeitung vom 16. April 1927.

  28. Hermann Scholz, Der Evangelische Bund im Kampf der Geister -Der Evangelische Bund als Erzieher, Berlin 1928, S. 4.

  29. Johannes Becker, Der Evangelische Bund als Hüter evangelischen Erbes, in: Bruno Violet (Hrsg.), Die Bedeutung des Evangelischen Bundes. Bericht über vier Vorträge, gehalten auf den Führerabenden des Berliner Hauptvereins des Evangelischen Bundes, Berlin 1928, S. 13.

  30. h . Kerstan, Das Erstarken des Katholizismus und die Aufgabe des Protestantismus in unserer Zeit, Elbing 1924, S. 31.

  31. Ebd.

  32. Eine Ausnahme stellt die Enzyklika „Mit brennender Sorge“ dar, die in gefährlichen Nacht-und Nebelaktionen von Christen beider Konfessionen in Deutschland vervielfältigt und weitergereicht wurde. Weder im protestantischen noch im katholischen Lager hätte man denken mögen, daß ein päpstliches Rundschreiben jemals ein solch positives und zustimmendes Echo auf beiden Seiten finden würde wie die 1937 erschienene Enzyklika Pius’ XI.

  33. Weihnachtsbotschaft Pius’ XII. vom 21. Dezember 1944, in: Acta Apostolicae Sechs, 37 (1945), S. 10-23.

  34. Vgl. Gerhard Schmidtchen, Protestanten und Katholiken. Soziologische Analyse konfessioneller Kultur, Bonn u. a. 1979.

  35. Ders., Religiöse Legitimation in politischem Verhalten. Wandlungen und Motive im Wahlverhalten der Katholiken, in: Anton Rauscher (Hrsg.), Kirche-Politik-Parteien, Köln 1974, S. 57.

  36. Vgl. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, Berlin 1938.

  37. Vgl. Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1952. Zu den Folgen der Bevölkerungsverschiebungen nach 1945 vgl. Hans Braun, Demographische Umschichtungen im deutschen Katholizismus nach 1945, in: Anton Rauscher (Hrsg.), Kirche und Katholizismus 1945-1949, München u. a. 1977, S. 9-25.

  38. Dokumente der Jahre 1945 bis 1948 belegen dies eindrucksvoll. So kam es z. B. in Hessen und Rheinland-Pfalz zu zahlreichen Absprachen zwischen der evangelischen Landes-kirche von Hessen und dem Bischöflichen Ordinariat in Mainz.

  39. Vgl. Hermann Glaser, Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Zwischen Grundgesetz und Großer Koalition 1949-1967, Bd. II, München u. a. 1986, S. 300.

  40. Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann/Renate Köcher, Die verletzte Nation. Über den Versuch der Deutschen, ihren Charakter zu ändern, Stuttgart 1987, S. 164ff.

  41. So ist es interessant zu beobachten, welche Gereizt-und Verletztheiten auch unter modernen, „säkularen“ Menschen zutage treten können, wenn man Bemerkungen über die Denkmodelle und Riten der jeweils anderen Konfession macht. Dies braucht gar nicht einmal nur gegenüber kirchlich stark gebundenen Katholiken oder Protestanten zu geschehen.

  42. Die Zahl der Protestanten in der ehemaligen DDR umfaßte nach offiziellen Angaben etwa 3 bis 4 Millionen Mitglieder, die Zahl der Katholiken lag etwa bei 1 Million. Nach vorsichtigen Schätzungen müssen beide Zahlen nach unten -auf 2, 7 Millionen bzw. 700000 -abgerundet werden.

  43. Vgl. Renate Köcher, Gottlos, in: Rheinischer Merkur/Christ und Welt vom 18. September 1990.

  44. Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Datenreport 1987, Bonn 1987, S. 34, 165 f.

  45. Nur 32 Prozent der DDR-Bevölkerung waren Mitglied einer Konfessionsgemeinschaft. Unter den 16-26jährigen waren 70 Prozent nie Mitglied einer Kirche. 28 Prozent der ehemaligen DDR-Bevölkerung sind aus der Kirche ausgetreten, die weitaus größere Gruppe, 39 Prozent, war noch nie Mitglied einer Kirche. Als „gläubiges Mitglied“ der Kirche beschrieben sich 16 Prozent der Bevölkerung der DDR (Bundesrepublik: 33 Prozent). Vgl. R. Köcher (Anm. 43).

  46. Vgl. Renate Köcher, Religiös in einer säkularisierten Welt, in: E. Noelle-Neumann/R. Köcher (Anm. 40), S. 173.

  47. Vgl. ebd., S. 175 ff.

  48. Vgl. R. Köcher (Anm. 43).

  49. Vgl. K. Schmitt (Anm. 13), S. 171.

  50. Vgl. Thomas M. Gauly, Kirche und Politik in der Bundesrepublik Deutschland 1946-1976, Bonn 1990, S. 378ff.

  51. Nicht zuletzt haben Gerhard Schmidtchen und Traute Nellessen-Schumacher auf den engen Zusammenhang zwischen kirchlicher und konfessioneller Gebundenheit und sozialen Aufstiegs-und Integrationschancen hingewiesen. Vgl. Traute Nellessen-Schumacher, Sozialprofil der deutschen Katholiken. Eine konfessionsstatistische Analyse, Mainz 1978.

  52. Zwar ist seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil in beiden Kirchen eine stärkere Bereitschaft zu ökumenischem Engagement zu verzeichnen. Doch scheint der Begriff der „Ökumene“, der zum beliebten Mode-und Zauberwort der letzten 20 Jahre avanciert war, stark an Attraktivität eingebüßt zu haben. Inwieweit der in den achtziger Jahren begonnene ökumenische „konziliare Prozeß“ hier einen „Ausgleich“ herbeiführen kann, bleibt abzuwarten.

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Thomas M. Gauly, Dr. phil., geb. 1960; Studium der Politischen Wissenschaft, Katholischen Theologie und Mittleren/Neueren Geschichte in Mainz und Bonn; wissenschaftlicher Referent im Cusanuswerk, Bonn. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg.) Die Last der Geschichte. Kontroversen zur deutschen Identität, Köln 1988; Kirche und Politik in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1976, Bonn (Phil. Diss.) 1990; Katholiken. Machtanspruch und Machtverlust, Bonn 1991.