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Die FDP nach der deutschen Vereinigung | APuZ 5/1992 | bpb.de

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Die FDP nach der deutschen Vereinigung

Hans Vorländer

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Zusammenfassung

Die im August 1990 erfolgte Vereinigung von FDP/West mit den Parteien aus der ehemaligen DDR, mit den alten Blockparteien Liberal-Demokratische Partei (LDPD) und Nationaldemokratische Partei (NDPD) sowie den nach der „Wende“ erfolgten Neugründungen, FDP in der DDR und Deutsche Forumpartei, hat die alte FDP verändert. Allerdings ist die Richtung der Veränderung bisher kaum erkennbar. Dies machte auch der Parteitag der gesamtdeutschen FDP im thüringischen Suhl im November 1991 deutlich. Scheint das Ende der „Lambsdorff-Partei“ eingeläutet worden zu sein, wurde die Führungsfrage bis 1993 vertagt, was Raum für lang anhaltende Diadochenkämpfe gibt, die die Energien der Partei bindet. Gleichzeitig wurden Belastungen aus dem innerparteilichen Vereinigungsprozeß deutlich, die darauf hindeuten, daß die Verwerfungen zwischen „Wessis“ und „Ossis“ größer sind, als dies der von funktionalen und organisatorischen Imperativen bestimmte Vereinigungskurs von Parteiführung und Parteimanagement glauben machen konnte. Programmatisch bedeutete der Suhler Parteitag die Rückkehr zu alten wirtschaftsliberalen Besitzständen. Die FDP befindet sich vorerst noch in einem Prozeß der inneren Neukonstituierung. Der Weg von einem Parteienverbund zu einer integrierten gesamtdeutschen FDP wird über eine personelle und politisch-programmatische Erneuerung führen müssen.

I. Der Parteitag in Suhl

„Nichts wird sein, wie es war“ -so stellte Hans-Dietrich Genscher zum Abschluß des Parteitages im thüringischen Suhl am 3. November 1991 fest und meinte damit seine Partei, die FDP. Gut vierzehn Monate nach dem Hannoveraner Parteitag der Vereinigung von West-FDP und den zwei alten und den zwei neuen Parteien aus der DDR, den Blockparteien Liberal-Demokratische Partei (LDPD) und Nationaldemokratische Partei (NDPD) -die sich zuvor schon zum Bund Freier Demokraten zusammengeschlossen hatten -und der nach der „Wende“ gegründeten FDP in der DDR und der Deutschen Forumpartei, schien die FDP „in Bewegung“ gekommen zu sein. Doch in welche Richtung, auf welchen Weg die 662 Delegierten ihre Partei in Bewegung versetzt hatten, das war weder der Parteiführung noch den Beobachtern recht klar geworden. Kaum einen Zweifel hatten die Präsidiums-und Vorstandswahlen indes daran gelassen, daß das „Ende der Lambsdorff-Partei“ gekommen ist. Otto Graf Lambsdorff wurde als Vorsitzender mit nur 67 Prozent der Delegiertenstimmen wiedergewählt. Der von ihm zum Generalsekretär vorgeschlagene Uwe Lühr aus Halle kam nur mit einem sehr mageren Ergebnis ins Amt. Und der alte Partei-Vize Gerhart R. Baum wurde nicht wieder in das Präsidium -später allerdings in den erweiterten Vorstand -gewählt. Die Tatsache, daß Genscher sowohl Graf Lambsdorff als auch Baum den Delegierten zur Wahl vorgeschlagen hatte, der eine indes deutlich geschwächt und der andere gar nicht in das anvisierte Parteiamt gewählt wurde, ließ zudem gar Zweifel am Einfluß des „dienstältesten Außenministers der Welt“ auf seine Partei aufkommen. Von „Götterdämmerung in Suhl“ und „Suhler Ohrfeigen“ sprachen deshalb die einen und die anderen konnten „Denkzettel für Lambsdorff, Fiasko für Lühr, Baum fiel durch, Genscher verlor Witterung“ titeln. Hatten die Delegierten auf dem Parteitag mit der Ablehnung der vom Parteivorstand vorgeschlagenen Satzungsänderung -die Zahl der stellvertretenden Parteivorsitzenden und Beisitzer sollte, wie es auf dem Vereinigungsparteitag von 1990 nur für einen Übergang beschlossen worden war, bleibend erhöht werden -und mit den Überraschungen bei den dann folgenden Präsidiumswahlen, bei denen wegen der Reduzierung der Stellvertreter-und Beisitzerposten die vorher getroffenen Absprachen gegenstandslos geworden waren, Selbstbewußtsein gezeigt und ein deutliches Zeichen der Mißbilligung an die Adresse der Parteiführung gerichtet, so blieb die auch in den folgenden Tagen spürbare Unruhe unter den Delegierten letztlich ziellos. Dem gleichsam karthartischen Wahlakt folgte bleierne Ratlosigkeit, die sich auch nicht durch Genschers zweckoptimistische Umdeutung („Wir sind eine muntere und angriffslustige Truppe“) verflüchtigen mochte. Das lag vor allem daran, daß der Parteitag auf die drängenden Fragen keine sich selbst und die Öffentlichkeit überzeugenden Antworten fand. Die dilatorische Behandlung des nun offen zutage getretenen Führungsproblems, in einem solchen Moment, wo die Partei erkennbar nach Führung und Orientierung suchte, zeigte, daß die Partei noch nicht die Kraft zur personellen Erneuerung gefunden hatte, und sie ließ gleichzeitig die Befürchtung wachsen, daß die Partei ihre Energien in einer zweijährigen Auseinandersetzung um das geeignete Führungstableau verzehren könnte. Auch die dunkle Ahnung, daß der unumstrittene und so wählerwirksame „Leitstern“ Hans-Dietrich Genscher verlöschen könnte und der Partei damit die entscheidende Integration-und Identifikationsfigur genommen wäre, trug gewiß nicht zur Erhellung der personellen Perspektiven bei.

So unbestreitbar der lange geforderte Generationswechsel an der Führungsspitze auch personal-politische Klarheit geschaffen hätte, so fraglich ist doch, ob die Partei aufgrund ihrer inneren Verfassung zum jetzigen Zeitpunkt dazu in der Lage gewesen wäre. Denn die Riege möglicher Nachfolgekandidaten ist zwar zahlreich und als solche auch erkennbar, doch kann keiner von ihnen auf ein scharf konturiertes Profil und auf ein sichtbares mehrheitsverbürgendes Gewicht in der Partei zurückgreifen, ein glatter Durchmarsch an die Partei-spitze schien deshalb für keinen der infrage kommenden Kandidaten möglich zu sein. Entscheidender aber dürfte noch sein, daß die Vereinigung mit den Parteien aus der DDR doch stärkere innerparteiliche Verwerfungen verursacht hat, als es zunächst, im Zuge des im engeren Sinne organisatorischen Vereinigungsprozesses, der Fall zu sein schien. Das latente Unbehagen von „Wes­ sis“ gegenüber „Ossis“, vor allem solchen aus den alten Blockparteien LDPD und NDPD, und „Ossis“ gegenüber „Wessis“ stellt eine verdeckte mental-politische Spannungslinie innerhalb der Partei dar, die vor und auf dem Parteitag nur mühsam vor eruptiven Konflikten bewahrt werden konnte. Die verbalen Auseinandersetzungen im Vorfeld des Parteitages um die Person des von Otto Graf Lambsdorff für das Amt des Generalsekretärs vorgeschlagenen Uwe Lühr aus Halle, die Abwahl des liberalen Erneuerers Bruno Menzel als stellvertretender Parteivorsitzender -er hatte in bewußter Opposition zur LDPD nach der Wende die „FDP in der DDR“ gegründet -, vor allem seine dabei erlittene Niederlage gegen den letzten Vorsitzenden der LDPD, Rainer Ortleb, und das Erstaunen einzelner Parteimitglieder über Parteitagsdelegierte, die hohe Funktionsträger der Blockparteien gewesen waren, waren deutliche Symptome der in den neuen Landes-und Kreisverbänden zum Teil heftig geführten Auseinandersetzungen zwischen Erneuerern und alten „Blockflöten“, aber auch des auf dem Parteitag in Suhl greifbaren, beklemmenden Gefühls des Fremdseins in der eigenen Partei: „Das sind Fremde für uns, so wie wir für sie.“ Auch die programmatische Selbstdarstellung der Partei, die in Suhl den Leitantrag des Vorstandes „Soziale Chancen durch liberale Marktwirtschaft“ beriet, vermochte weder die Partei noch die Öffentlichkeit zu überzeugen. Die Signalwirkung, die sich die Urheber davon erhofft hatten, blieb aus. Zu sehr schien schon der Titel ein Remake der schon aus den fünfziger Jahren bekannten Losung von der freien Marktwirtschaft, die zugleich die beste Sozialpolitik sei, nahezulegen. Die Befürchtung, daß dieses ordnungspolitische Credo einmal mehr die „soziale Kälte“ der Wirtschaftspartei FDP verdeutliche, teilten nicht nur die linksliberalen Kritiker, sondern auch viele Delegierte aus den neuen Bundesländern. Der Aufbruch zu neuen Ufern, von einigen erhofft, von anderen aus ordnungs-und koalitionspolitischen Überlegungen zu vermeiden gesucht, fand nicht statt: „Wir wollen zu neuen Ufern, aber wir trauen uns nicht auf die hohe See, auch nicht, die Segel zu setzen.“ Gelang es damit nicht, personelle Erneuerung und programmatische Identität zu verdeutlichen, so war auch die Befürchtung, daß mit der Vertagung der Führungsfrage, den Belastungen aus dem innerparteilichen Vereinigungsprozeß und der Rückkehr zu alten programmatischen Besitzständen eine Chance versäumt wurde, der FDP ein gestärktes Image im System der Parteienkonkurrenz zu geben, nicht grundlos. Der Parteitag wurde „in Grund und Boden rezensiert“ Das mag den vorherrschenden Eindruck des Parteitages richtig wiedergeben. Gleichwohl könnte sich darin aber auch eine zu hohe Erwartungshaltung ausdrücken, die verkennt, daß die Partei sich in einem Prozeß der inneren Neukonstituierung befindet, aber noch nicht den Mut gefunden hat, dies als Chance der Erneuerung zu begreifen, geschweige denn zu nutzen. So setzt sie vorerst auf das Alte und Bewährte und versucht, ihre inneren Friktionen mit einem unpolitisch anmutenden technokratischen Pragmatismus zu überdecken. Hierin, so scheint es, gleicht der innerparteiliche dem gesamtdeutschen Vereinigungsprozeß.

II. Die FDP auf der Suche nach einer neuen Führung

Der Suhler Parteitag hat den alten und neuen Vorsitzenden mit seinem Votum deutlich geschwächt. Daß Otto Graf Lambsdorff nur 433 Delegiertenstimmen bei seiner Wahl als Vorsitzender, ohne einen Gegenkandidaten zu haben, erhielt, 1990 jedoch auf dem Vereinigungsparteitag mit 524 Stimmen zum ersten gesamtdeutschen Vorsitzenden der FDP gewählt worden war, konnte nur als ein deutliches Zeichen des Mißtrauens und der Unzufriedenheit mit dem Parteivorsitzenden, bestimmt aber nicht, wie bei einer letztmaligen Kandidatur zu erwarten gewesen wäre, als ein Zeichen des Dankes und der Anerkennung für die geleistete Arbeit in der Parteiführung verstanden werden. Der Parteitag machte unmißverständlich klar, daß er in Graf Lambsdorff nurmehr einen Vorsitzenden auf Abruf sieht, der aber sein Haus bislang nicht bestellt hat. Ohne jedoch eine attraktive personelle Perspektive zu haben, schien so manchen Delegierten die letztmalige Kandidatur des alten Parteivorsitzenden ein Bärendienst zu sein, liegt in der Vertagung der Führungsfrage doch der Keim bald einsetzender und lang anhaltender Diadochenkämpfe.

Schon im Frühjahr 1991 war das Personalkarusell in Gang gekommen, als der neue Wirtschaftsminister Jürgen W. Möllemann seinen Anspruch auf die Lambsdorff-Nachfolge geltend machte. Er konnte sich dabei auf eine von Otto Graf Lambsdorff an ihn gerichtete frühere Anfrage stützen, die Möllemanns Bereitschaft zur Nachfolge und Graf Lambsdorffs -später wieder zurückgenommene -Billigung erkennen ließ. Zum anderen hatte Möllemann es verstanden, nicht zuletzt durch das von ihm maßgeblich mitgestaltete Wirt-Schaftsprogramm „Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost“, sich als Hoffnungsträger für die fünf neuen Bundesländer zu präsentieren. Damit schien er, zumindest für einen kurzen Zeitraum, von der Unzufriedenheit in den neuen Landesverbänden mit dem Vorsitzenden Graf Lambsdorff und dem durch ihn verkörperten Image der „soziale Kälte“ ausstrahlenden reinen Wirtschaftspartei zu profitieren. Doch fand dieses, zunächst durchaus mit gewissen Erfolgsaussichten verbundene „Spiel mit Bande“ schon im Frühsommer ein Ende. Denn zum einen wußte der zu einer letzten zweijährigen Amtsperiode entschlossene Parteivorsitzende der potentiellen Herausforderung dadurch Herr zu werden, daß er den Unmut in den neuen Landesverbänden durch verstärktes eigenes Engagement auffangen und durch institutionalisierte Formen des Meinungsaustausches zwischen Bundespartei und den ostdeutschen Parteigliederungen kanalisieren konnte. Zum anderen war der Möllemannsche Griff zum Vorsitz in der Partei als vorschnelle Demontage Graf Lambsdorffs kritisiert worden, und sein in den Medien zitiertes Papier, in dem als Forderungen an die SPD formulierte Voraussetzungen für die Wiederauflage einer sozialliberalen Koalition genannt wurden, erhielt im Vorstand der Partei eine deutliche Abfuhr.

Vor allem aber war es das Scheitern der mit Rücktrittsdrohung als Minister versehenen Forderung nach einschneidenden Subventionskürzungen in Höhe von mindestens 10 Mrd. DM im Bundeshaushalt 1992, das Möllemann innerhalb wie außerhalb der FDP viel von dem Kredit einbüßen ließ, den er bei seinem von Verve und Engagement getragenen Amtsantritt im Wirtschaftsministerium zunächst auf seiner Seite hatte verbuchen können. Dabei stand Möllemann, der seine Rücktrittsdrohung als Minister, trotz der deutlich unter der vorgegebenen Zielmarge bleibenden Einsparungen im Subventionsbereich, vergessen zu haben schien, wie ein Papiertiger da. Dementsprechend dünn fiel der Beifall für Möllemann auf dem Parteitag in Suhl aus, als der Parteivorsitzende in seinem Rechenschaftsbericht die Leistungsbilanz der Ministerriege vortrug. Auffallend war auch die Zurückhaltung, die sich Möllemann auf dem Parteitag auferlegte und es sogar vermied, sich bei der Wahl zum Bundesvorstand -als Vorsitzender des immerhin mitgliederstärksten Landesverbandes -einem Popularitätstest zu stellen. Ohnehin bei den letzten Parteitagen als Beisitzer zum Bundesvorstand nur mit mageren Ergebnissen ausgestattet, verzichtete Möllemann, offensichtlich „Denkzettel“ oder „Ohrfeigen“ fürchtend, auf eine Kandidatur.

Dennoch dürfte es verfrüht sein, den jetzigen Wirtschaftsminister als ernsthaften Kandidaten um die Nachfolge von Otto Graf Lambsdorff als Parteivorsitzender der FDP abzuschreiben. Das hieße, seine Durchsetzungsfähigkeit zu unterschätzen, denn immerhin war es Möllemann nach der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl gelungen, das personalpolitische Tableau des Parteivorsitzenden zu durchkreuzen und gegen dessen expliziten Willen sein Ziel, Wirtschaftsminister zu werden, zu erreichen. Allerdings ist festzuhalten, daß sich Möllemanns Aufstieg im wesentlichen außerhalb der Bundespartei, in Ämtern vollzog, über deren personelle Ausstattung zuerst die Fraktion im Bundestag entscheidet, in der Möllemann erhebliche Unterstützung aus den Reihen der nordrhein-westfälischen Abgeordneten und des „Schaumburger Kreises“, einem losen Zusammenschluß konservativ-liberaler und zentristischer Kräfte, erfahren hat. In der Gesamtpartei sind die Vorbehalte gegenüber Möllemann hingegen immer größer gewesen. Hatte sich also der Anspruch von Jürgen Möllemann auf die Nachfolge von Otto Graf Lambsdorff im Vorsitz der FDP schon im Vorlauf des Parteita. ges relativieren lassen müssen, so ließen die Delegierten auf dem Parteitag in Suhl keinen Zweifel daran, daß sie auch in Irmgard Schwaetzer, der Bundesbauministerin und vormaligen Generalsekretärin, aber auch in dem neuen Bundesjustizminister Klaus Kinkel geeignete Kandidaten für die Vorstandswahlen von 1993 sehen. Frau Schwaetzer erreichte mit 442 Stimmen -bei einem Gegenkandidaten -das beste Ergebnis der drei Stellvertreter des Bundesvorsitzenden. Sie, die 1988 schon einmal, und zwar gegen Otto Graf Lambsdorff, für den Parteivorsitz kandidiert hatte, ist damit die „natürliche“ Kandidatin um die Nachfolge. Jeder andere Mitkonkurrent muß sie, die als Bundesbauministerin sozialpolitisches Profil zu gewinnen sucht, ins Kalkül miteinbeziehen. Daß sie zusammen mit Möllemann den Hut sehr früh in den Ring geworfen hat, könnte ihr jedoch im Moment der Entscheidung zum Nachteil gereichen.

Klaus Kinkel kandidierte, da er erst zu Beginn des Jahres in die FDP eingetreten war, für kein Parteiamt, er ist als Bundesminister ohnehin ex officio Mitglied des Präsidiums der Partei. Allerdings erfuhr er einen unüberhörbar deutlichen Sympathieerweis, als der Parteitag Lambsdorffs Anerkennung der Ministerbilanz von Kinkel mit lautstarkem Beifall aufnahm. Es ist vor allem der Bundesjustizminister, der aus der Bundespartei heraus, und hier aus der Parteispitze, dem Parteimanagement des Thomas-Dehler-Hauses und der Fraktionsführung, als potentieller Kandidat aufgebaut zu werden scheint. Dabei lassen drei Gesichtspunkte Klaus Kinkel zu einem attraktiven Kandidaten und Sympathieträger werden: Zum einen wird dem Juristen, ehemaligen Mitarbeiter von Hans-Dietrich Genscher, dem Beamten und Staatssekretär und Ex-BND-Chef Sachverstand,administrative Kompetenz und persönliche Souveränität attestiert. Zum zweiten vermag Klaus Kinkel mit seiner schwäbischen Herkunft ein Identifikationsbedürfnis der Partei zu erfüllen, das nicht allein in funktionaler Kompetenz aufgeht, sondern auch nach „Nestwärme“ und politischem Heimatgefühl verlangt. „Liberales Urgestein“ aus dem Schwäbischen verweist auf die liberale Tradition der württembergischen Demokratischen Volkspartei und ruft die Erinnerung an die Leitfiguren der frühen bundesrepublikanischen FDP, an Theodor Heuss und Reinhold Maier, und damit an eine milieuverankerte Politik wach, die Identität wie Existenz der Partei gleichermaßen zu verbürgen schien. Drittens verkörpert Kinkel für viele Parteimitglieder, trotz seiner lupenreinen bundes-politischen Karriere, auch die föderative und regionalistische Vergangenheit der FDP, die kennzeichnend für die fünfziger und frühsechziger Jahre war, in der Folge aber, aufgrund der bundes-politischen Orientierung und der Dominanz des nordrhein-westfälischen Landesverbandes, verloren ging. Kinkel erweckt den Eindruck, etwas von der guten alten Zeit der FDP zurückholen zu können, in der die FDP noch, wie Reinhold Maier formulierte, „klein, aber fein“ war. Die Chance Kinkels dürfte damit, jenseits seiner unbestrittenen fachlichen Kompetenz, nicht zuletzt darin liegen, daß er, stärker als seine möglichen Konkurrenten, einem sich in der Umbruchsituation innerparteilich artikulierenden Bedürfnis nach Orientierung und Identitätsstiftung in glaubwürdiger Weise Rechnung tragen könnte. Als Politiker ist Kinkel unverbraucht, ihm haftet nicht das Stigma des Karriere-politikers an, und zudem hat er sich bislang nicht am medienwirksamen Wettbewerb innerparteilichen Stühlerückens beteiligt.

Die Reihung möglicher Kandidaten für die Nachfolge von Otto Graf Lambsdorff im Parteivorsitz ließe sich fortsetzen. Vor allem lassen sich, als Ergebnis des Suhler Parteitags, die Namen von Wolfgang Gerhardt und Carola von Braun hinzufügen. Gerhardt wurde, zur allgemeinen Überraschung und trotz der Reduzierung der Stellvertreterposten, als stellvertretender Bundesvorsitzender wiedergewählt, und dies, obwohl das schlechte Abschneiden der FDP bei den hessischen Landtagswahlen im Frühjahr allgemein als eine persönliche Niederlage Gerhardts gewertet worden war. Gerhardt obsiegte bei der Wahl über den langjährigen Partei-Vize und Repräsentanten des linksliberalen Flügels der Partei, Gerhart R. Baum; er profitierte dabei wesentlich von einem Anti-NRW-Affekt unter den Parteitagsdelegierten, wäre doch mit Baum, neben Graf Lambsdorff und Irmgard Schwaetzer, der dritte Nordrhein-Westfale in den engsten Führungskreis der Partei eingezogen. So aber war es ein Leichtes für den Hessen Gerhardt, sich in der Kandidatenvorstellung als ein Vertreter des föderativ-landsmannschaftlichen Elementes der Partei zu exponieren. Carola von Braun gehört sicher zu den Geheimtips für die Wahl 1993. Sie wurde als Beisitzerin in das Präsidium gewählt. Weil sie in Berlin einem Landesverband vorsitzt, der -zwangsläufig -die West-Ost-Integration der Vereinigungsparteien am schnellsten und vollständig, und zwar politisch, organisatorisch und personell vollziehen mußte -zwei Drittel des Berliner Landesverbandes kommen aus dem Ostteil der Stadt-, und sie als Lambsdorff - Kritikerin das sozialpolitische Profil der FDP zu stärken sucht, wird sie bei vielen ostdeutschen Parteimitgliedern -und nicht nur dort, sondern vor allem auch bei den im „Elbe-Kreis“ locker organisierten Linksliberalen -als Hoffnungsträgerin für eine umfassende politisch-programmatische Erneuerung der Partei gesehen.

III. Vereint und doch verschieden? Friktionen der Parteienvereinigung

Der Parteitag in Suhl ließ nur sehr bedingt Rückschlüsse auf den Stand der innerparteilichen Integration nach der Vereinigung von FDP und den vier ostdeutschen Parteien zu. Auf den ersten Blick scheint zunächst die personelle Integration auf der Ebene der Parteiführung gelungen zu sein. Rainer Ortleb, der letzte und nach der „Wende“ gewählte Vorsitzende der alten Blockpartei LDPD, wurde wie schon auf dem Vereinigungsparteitag in Hannover zum stellvertretenden Parteivorsitzenden gewählt. Uwe Lühr aus Halle, der das einzige Bundestagsdirektmandat seit 1957 für die FDP mit entscheidender Unterstützung Genschers in dessen Heimatregiön errang und bereits Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion war, wurde vom Parteitag zum Generalsekretär bestellt. Ins Präsidium der Partei zog zudem der Vorsitzende des Landesverbandes Sachsen und Parlamentarische Staatssekretär im Bundesbauministerium, Joachim Günther, ein. Kann also durchaus festgestellt werden, daß die ostdeutschen Landesverbände ihrem innerparteilichen Gewicht gemäß im eigentlichen Führungsgremium der Partei repräsentiert sind -und auch der von Niedersachsen nach Brandenburg gewechselte Wirtschaftsminister und ebenfalls zum Beisitzer gewählte Walter Hirche ließe sich noch hinzurechnen -, so war die Führungsauswahl doch eher unter den strategischen Gesichtspunkten der personellen Integration der Kräfte aus der ehemaligen Blockpartei LDPD als in der Perspektive politisch-programmatischer und personeller Erneuerung erfolgt. Denn Ortleb, Lühr und Günther hatten bereits vor der „Wende“ herausgehobene Funktio-nen in der alten Blockpartei, und ein Kritiker wie Bruno Menzel, der die „FDP in der DDR“ gegründet hatte und der im August 1990 in Hannover noch zum stellvertretenden Bundesvorsitzenden gewählt worden war, fand nun, bei drei Anläufen und zwei direkten Gegenkandidaturen zu Ortleb und Günther, keinen Platz mehr im Bundesvorstand. Auch der Vorschlag Lührs zum Generalsekretär war eher Ausfluß integrations-und wahltaktischer Überlegungen Graf Lambsdorffs gewesen. Lühr hatte zuvor weder politisches noch programmatisches Profil erkennen lassen. Die Wahl Lührs wurde von Irmgard Schwaetzer lakonisch kommentiert: „Jede Zeit braucht ihren Generalsekretär.“

Damit setzte sich ein Dilemma fort, das mit der Strategie der FDP kurz nach dem Fall der Berliner Mauer begonnen hatte. Einerseits konnte der FDP das Schicksal der LDPD nach der „Wende“ nicht gleichgültig sein, war diese doch von ihrer Herkunft als Schwesterpartei anzusehen. Die Liberal-Demokratische Partei war die nach dem zweiten Weltkrieg wiedergegründete Organisation des Parteiliberalismus auf dem Territorium der sowjetischen Besatzungszone, und zahlreiche hohe Funktionsträger der FDP waren in den Anfangsjahren und zum Teil bis in die fünfziger Jahre hinein Mitglieder der LDPD gewesen, bevor sie die DDR verlassen mußten. Das aus dieser Zeit resultierende Gefühl alter Verbundenheit war nie gänzlich geschwunden, war mitursächlich für den teils erfolgreichen, teils vergeblichen Versuch, den Kontakt mit der LDPD auch in der Folgezeit, auch in ihrer Funktion als Blockpartei, nicht abreißen zu lassen. Von daher konnte es kaum überraschen, daß die FDP/West schon im November 1989 auf den Wunsch des damaligen Vorsitzenden Manfred Gerlach nach intensivem Austausch und Kontakt einging. Andererseits mußte die FDP/West, nicht zuletzt aufgrund der doch erheblichen Vorbehalte gegenüber der Blockpartei und ihrer alten Führung, an einem umfassenden Erneuerungsprozeß als Voraussetzung der Annäherung und einer schon früh ins Auge gefaßten Parteienvereinigung interessiert sein. Da sich aber schon um die Jahres-wende 1989/90 zwei neue Parteigruppierungen konstituierten, die Deutsche Forumpartei und die FDP in der DDR, die sich beide von vornherein politisch-programmatisch an der West-FDP orientierten, schien es den westdeutschen Liberalen vordringlich zu sein, eine Zersplitterung der Kräfte zu verhindern und eine Vereinigung der neuen liberalen Parteien und einer erneuerten LDPD noch vor der Volkskammerwahl in die Wege zu leiten. Doch stellte sich sehr bald heraus, daß dieses Ziel wegen der grundsätzlichen politischen und personellen Gegensätze zwischen den neuen und alten liberalen Kräften in der DDR so schnell nicht zu erreichen war. Unter der Ägide der West-FDP kam es bei der Volkskammerwahl zu einer gemeinsamen Liste mit dem Namen „Bund Freier Demokraten“. Die persönlichen und politisch-inhaltlichen Differenzen verhinderten die auch ursprünglich für März 1990 geplante Vereinigung der DDR-Parteien unter dem Namen FDP. Statt dessen trat die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NDPD), ebenfalls eine ehemalige Blockpartei, der LDP bei. Der Weg zur endgültigen Vereinigung von West-FDP und Ost-Parteien wurde von dem unter Wolfgang Mischnicks Leitung stehenden Koordinierungsausschuß bzw. Vereinigungsausschuß gebahnt

Die West-FDP konnte sich von dem zügig voran-getriebenen Vereinigungsprozeß zunächst einen Startvorteil im entstehenden Parteienwettbewerb der DDR erhoffen. Für die Einbeziehung der alten Blockparteien LDPD und NDPD in diesen Vereinigungsprozeß sprachen darüber hinaus eine Reihe von Mitnahmeeffekten, die die Ausgangsposition für die sich abzeichnenden ersten gesamtdeutschen Wahlen entscheidend zu verbessern versprachen. So besaßen die beiden Blockparteien einen organisatorisch-infrastrukturellen Unterbau, der für den Wahlkampf nutzbar und für den einheitlichen Aufbau neuer, dezentraler Parteigliederungen erforderlich sein würde. Zu diesen Mitnahmeeffekten gehörte ebenso die finanzielle Vorteilnahme, die das -allerdings unter treuhänderischer Verwaltung stehende -Altvermögen, so vor allem der Grund-und Immobilienbesitz sowie die partei-eigenen Betriebe, versprach. So hatte sich die FDP auch im Sommer 1990 gegen eine Enteignung der Blockparteien gewehrt und danach im Unterschied zur CDU auch keinen generellen Verzicht auf das Altvermögen der Blockparteien erklärt, statt dessen aber wiederholt ihre Ansprüche auf das nach „materiell-rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes“ erworbene Vermögen, wie der Einigungsvertrag bestimmt, geltend gemacht und, anläßlich einer rechtsgutachterlichen Kontroverse zwischen Unabhängiger Kommission zur Überprüfung der Parteivermögen und der FDP, auch die Absicht eine gerichtlichen Durchsetzung ihrer Ansprüche angekündigt

Lagen die Vorteile einer Vereinigung von West-FDP und Blockparteien klar auf der Hand, so erwiesen sich zwei andere Aspekte als durchaus zweischneidig und in ihren Folgewirkungen nicht vollständig kalkulierbar. Konnte in infrastruktureller Hinsicht etwa auf die Geschäftsstellen und Par­ teizentralen zurückgegriffen werden, so erwies sich die Größe der hauptamtlichen Apparate von LDPD und NDPD auch als eine Belastung. Beide Blockparteien hatten per 31. Dezember 1989 etwa 3200 hauptamtliche Angestellte, wovon bis Ende des Jahres 1990 in drei Etappen mehr als 3000 Mitarbeiter, sowohl in den Berliner Zentralen als auch auf Bezirks-und Kreisebene, (zum Teil mit aus Bar-mitteln der Altparteien finanzierten Abfindungen) entlassen wurden. Dieser Abbau des hauptamtlichen Apparates sorgte für Unruhe unter den alten Parteifunktionären der beiden Blockparteien und nährte die Unzufriedenheit mit der Parteiführung im Westen. Konnte dies noch als ein vorübergehendes Problem gesehen werden, so bedeutete die Vergrößerung der Mitgliedschaft eine erhebliche Veränderung der innerparteilichen Verfassung. Mit der Parteienvereinigung vom August 1990 ist die FDP zum ersten Mal in ihrer Geschichte eine Mitglieder-partei geworden. Hatte die West-FDP seit ihrer Gründung -bei günstiger Zählung -nie mehr als 86 000, zuletzt, vor der Vereinigung, gut 65 000 Mitglieder, so brachten die Ost-Parteien weit mehr als 130 000 Mitglieder mit in die Vereinigung, so daß -nach Angaben der Bundesgeschäftsstelle der FDP -die FDP im Zeitpunkt der Vereinigung insgesamt rund 200000 Mitglieder zählte. Dabei konnte, trotz des mühsam ausgehandelten, die neu gegründeten Ost-Parteien durchaus begünstigenden Quotierungsschlüssel für die Zahl der Delegierten zum Hannoveraner Vereinigungsparteitag, kein Zweifel daran bestehen, daß nahezu 95 Prozent der neuen Mitglieder aus den alten Blockparteien kamen. Damit hatte sich die gesamtdeutsche FDP „Altlasten“ aufgeladen, deren Bedeutung für den innerparteilichen Integrations-wie auch Willensbildungsprozeß bis heute, trotz des Rückgangs der Mitgliederzahlen (per 1. 10. 1991: 154 449 Mitglieder im gesamten Bundesgebiet, davon alte Bundesländer 69495, neue Bundesländer 84954) schwierig zu ermessen ist.

Das Bonner Parteimanagement hat den Prozeß von Parteienvereinigung und innerparteilicher Integration bislang weitestgehend unter den funktional-pragmatischen Imperativen der möglichst reibungslosen technischen Überleitung und Abwicklung einerseits und der zügigen organisatorischen Strukturverbesserung andererseits betrachtet. Dabei wurden im eigentlichen Vereinigungsprozeß von November 1989 an nicht nur die Vereinigungsverhandlungen, sondern auch die politischen Aktivitäten der Ost-Parteien von der West-FDP koordiniert. Sie konnte damit wesentlich die „terms of trade“ der Vereinigung bestimmen. Sie besaß das politische Know-how und die organisatorischen Ressourcen, die die alten Blockparteien zum Überleben und die kleinen neugegründeten liberalen Parteien zur Existenzüberbrückung benötigten.

Reibungen im Vereinigungsprozeß gab es dort, wo die persönlichen und politisch-inhaltlichen Differenzen unter den zunächst drei, dann vier Ost-Parteien zäh aushandelbare Absprachen über Besitzstände und Gremienrepräsentanz für den Zeitpunkt der Vereinigung notwendig machten. Eine über organisatorische Aspekte hinausgehende Erneuerung der neuen ostdeutschen Landesverbände und ihrer Untergliederungen hat die Bundespartei, im Unterschied etwa zu verschiedentlichen Bemühungen aus dem Konrad-Adenauer-Haus, nicht, zumindest nicht öffentlich, betrieben. So ist auch eine Diskussion über die Vergangenheit der beiden Blockparteien LDPD und NDPD und ihrer ehemaligen Funktionsträger und Mitglieder bislang unterblieben und dort, wo sie -beispielsweise im Zusammenhang mit dem Ausschlußbegehren gegen Manfred Gerlach aus dem Berliner Landesverband -begonnen wurde, schnell wieder auf Eis gelegt worden. Damit sind innerparteiliche Konflikte eingefroren, deren Sprengkraft nur schwer kontrollierbar ist, zumal sehr wenig über die Zusammensetzung, aber auch die politischen Einstellungen der Mitglieder in den neuen Bundesländern bekannt ist. Auch der Parteitag ließ hierüber kaum Erkenntnisse zu. Die neuen Mitglieder haben innerparteilich noch keine Stimme gefunden, eine „Artikulationselite“ von ostdeutschen Politikern, die genuine Bedürfnisse und Interessenlagen in der Gesamtpartei anmelden könnte, ist bis jetzt nicht erkennbar. Als „Wortführer“ konnte sich zeitweise der frühere brandenburgische Landesvorsitzende profilieren, der auch eine Schärfung des sozialpolitischen Profils bei der Bundespartei einforderte, der dann aber wegen Stasi-Kontakten zum Rücktritt gezwungen war.

So unterblieb bisher auch eine programmatisch-politische Herausforderung des von der Partei in der christlich-liberalen Koalition herausgestellten marktwirtschaftlichen Kurses durch die neuen Landesverbände. Zwar wurde verschiedentlich die vermeintliche „soziale Kälte“ der Wirtschaftspartei FDP kritisiert, auch scheinen, wie eine erste Erhebung nahegelegt, viele ostdeutsche Parteimitglieder eine stärkere Akzentuierung sozialpolitischer Kompetenz zu befürworten Das mag kaum verwundern angesichts einer teilweise differierenden sozialstrukturellen Zusammensetzung einzelner Bezirks-und Kreisverbände in den neuen Bundesländern, so zum Beispiel in der Region Halle, Leuna und Bitterfeld, wo viele Arbeiter und Betriebsräte Mitglieder der FDP sind. Doch haben solche Aspirationen bisher kaum, wie auch der Parteitag in Suhl verdeutlichte, dasprogrammatische Image der Gesamtpartei zu verändern vermocht.

IV. An den Grenzen der Wirtschaftspartei

Die FDP stellt sich programmatisch primär als eine Wirtschaftspartei dar. Das war für die Koalitionsund Regierungspartei FDP, die die „Wende“ von 1982/83 vollzog, funktional adäquat. Doch dürfte der ordnungspolitische Rigorismus in der veränderten Umgebung des vereinigten Deutschlands an seine Grenzen gestoßen sein. Das mußte Otto Graf Lambsdorff bereits nach der Bundestagswahl 1990 schmerzvoll erfahren, als er, in seltsamer Verkennung der politischen und wirtschaftlichen Realitäten, die Ablehnung von Steuererhöhungen und die Einführung eines Niedrigsteuergebietes mit der Kanzlerwahl verband. Auch wird eine Mitgliederpartei, die die Ungleichzeitigkeit gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und kultureller Entwicklungen in Deutschland in ihrem Innern repräsentiert, eine politisch-programmatische Zukunftsperspektive einfordem, die die innerparteilichen Verwerfungen zu überformen in der Lage ist, die vor allem aber die FDP Anschluß an die Themen-diskussion gewinnen läßt, mit der sich die meinungsbildende und meinungsbestimmende Öffentlichkeit befaßt. Die Partei, die für sich reklamiert, in der großen Tradition des Liberalismus zu stehen und die in den neunziger Jahren „das liberale Jahrzehnt“ zu erkennen glaubt, hat, nicht zuletzt in dem von Überlebensimperativen diktierten Pragmatismus, der oft genug mit einem inhaltsleeren Machiavellismus durchsetzt war, die eigene Programmtradition verloren, sich von ihr zum Teil bewußt abgekoppelt, allenfalls einige Versatzstücke zum tages-und koalitionspolitischen Gebrauchs-wert gehandelt. Eine Reflektion über Herkunft und Zukunft der Liberalen, die man auf Grund der historischen Umbruchsituation, nach der Revolution in der DDR und in Ost-Mitteleuropa, nach der deutschen Vereinigung und dem liberalen Parteienzusammenschluß hätte erwarten können, aber ist bis heute ebenso ausgeblieben wie eine Beteiligung am zeitgenössischen liberalen Diskurs, an der Debatte über Verfassungsliberalismus und Staatsbürgergesellschaft, über Individualinteresse und Gemeinsinn, über Universalismus und Nationalismus.

Politische Programme taugen nicht als Politiker-satz. Sie sind aber politische Deutungs-, Orientierungs-und Handlungsangebote, die innerhalb einer Partei integrierend und identitätsstiftend wirken können und nach außen Signalwirkung haben. Will die neue FDP von einem bloßen Parteienverbund zu einer gesamtdeutschen Partei reifen, wird sie sich selbst, programmatisch und personell, thematisieren müssen. Will die FDP ihre konsolidierte Stellung im gesamtdeutschen Parteiensystem festigen, wird sie mehr tun müssen, als das Erreichte bloß zu verwalten.

Die FDP sollte sich nicht täuschen. Im Westen der Republik wird sie weitestgehend als Koalitionsund Regierungspartei, als Mehrheitsbeschafferin und Korrektiv, wahrgenommen Die FDP hat hier so gut wie keine „Stammkunden“ mehr. Der FDP-typische Wechselwähler -gut ausgebildet, über dem Durchschnitt liegendes Einkommen, selbständig oder als höherer Angestellter tätig -hat ein flüchtiges, instrumentelles Wahlverhalten. Er will von Wahl zu Wahl neu überzeugt werden. In den neuen Bundesländern haben einmalige situative und personelle Konstellationen (Genscher als „Außenminister der deutschen Wiedervereinigung“) den durchgängigen Erfolg der FDP -herausragend in Sachsen-Anhalt und Thüringen und im Unterschied zu Westdeutschland auch auf kommunaler Ebene -ermöglicht. Doch ist überhaupt nicht sichergestellt, daß aus den ersten Parteisympathien auch feste Parteibindungen werden. Die FDP hat hier die Chance, sich ein liberales Milieu zu erschließen, das sie im Westen schon lange verloren hat. Sie kann diese Chance aber auch verspielen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Frankfurter Rundschau vom 4. 11. 1991, S. 3.

  2. Süddeutsche Zeitung vom 4. 11. 1991, S. 3f.

  3. Welt am Sonntag vom 3. 11. 1991, S. 2.

  4. So der FDP-Politiker Gerhart R. Baum am Rande des Parteitags in Suhl, zit. in: Frankfurter Rundschau vom 4. 11. 1991, S. 3.

  5. So der FDP-Politiker Burkhart Hirsch auf dem Parteitag in Suhl.

  6. Gunter Hofmann, in: Die Zeit vom 8. 11. 1991, S. 8.

  7. Der Prozeß der Parteienvereinigung wird im einzelnen geschildert in: Hans Vorländer, Die Freie Demokratische Partei, in: Alf Mintzel/Heinrich Oberreuter (Hrsg.), Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1992 (i. E.).

  8. Vgl. dazu Der Spiegel vom 28. 10. 1991, S. 20ff.; Stellungnahme des Bundesschatzmeisters der FDP in: freie demokratische korrespondenz (fdk), Ausgabe 277 vom 28. 10. 1991.

  9. Vgl. die Studie des Dortmunder Forsa-Instituts. Gesellschaft für Sozialforschung und statistische Analysen, Die politisch Aktiven der FDP. Ähnlichkeiten und Unterschiede in Struktur und Einstellungen zwischen Ost und West, Ms., unveröff. (12. 5. 1991).

  10. Vgl. Hans Vorländer, Die FDP zwischen Erfolg und Existenzgefährdung, in: Alf Mintzel/Heinrich Oberreuter (Hrg.), Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1990, S. 237-275.

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Hans Vorländer, Dr. phil., Privatdozent, geb. 1954; Studium der Politikwissenschaft und Rechtswissenschaft an den Universitäten Bonn und Genf; seit 1987 Lehrstuhlvertreter für Politikwissenschaft an den Universitäten Frankfurt am Main und Essen.