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Grüne und Bündnis 90 | APuZ 5/1992 | bpb.de

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Grüne und Bündnis 90

Antje Vollmer/Wolfgang Templin/Werner Schulz

/ 17 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Beitrag gibt einen Zustandsbericht der Grünen und des Bündnis 90 und zeigt Wege auf, wie es zu einem Zusammenschluß und einer Neugründung beider Parteien kommen kann. Dabei muß jedoch Platz sein für neue Ideen und die geistige Freiheit von Individuen. Grüne und Bürgerbewegung können sich als Vordenker und Organisatoren der politischen Ideen des nächsten Jahrhunderts finden, die Befürworter nicht mehr nach dem alten Rechts-Links-Schema und auch über den nationalen Rahmen hinaus suchen.

I. Metamorphose der Grünen*

Seit es die Grünen gibt, sind sie geliebt worden -nicht nur von der politischen Öffentlichkeit, sondern sogar von den Medien. Das war um so erstaunlicher, als es zu einer Zeit geschah, in der die gesellschaftliche Organisationsform „Partei“ so sehr in Verruf kam, daß der Beruf des Politikers dicht hinter dem des Versicherungsvertreters die Hit-Liste der unbeliebtesten Gruppe von Mitmenschen anführte.

Seit es die Grünen gibt, sind sie ebenso intensiv begleitet worden von Berichten über ihre Krisen und selbstzerstörerischen Flügelkämpfe. Lange vor dem parlamentarischen Aus wurde ihnen ihr politisches Ende prophezeit. Tatsächlich konnte es manchmal so scheinen, als sei das Erstaunlichste an den Grünen ihre Überlebenstüchtigkeit in bezug auf die eigene innerparteiliche Destruktivität, welche sie wiederholt mehr in Existenznot brachte, als dies ihre politischen Kontrahenten je vermocht hätten.

Heiß geliebt, heftig gescholten und lebhaft betrauert erfüllten die Grünen so ganz die klassische Rolle der verlorenen Söhne und Töchter der westdeutschen Republik -bis sie dann bei der Bundestagswahl 1990 gemeinsam mit dieser und deren rheinischer Metropole der Bonner Politik abhanden kamen. Die Ursachen für das Wahldebakel der Grünen -der Verlust ihrer traditionellen grünen Themen im Jahr der deutschen Einheit, die Kanzlerkandiatur Oskar Lafontaines, die Weg-Rotation der bekannten Personen, der links-konservative Gestus des Lebens „wie in Feindesland“, die eklatanten Mängel der Parteistruktur -sind von vielen Beobachtern ausführlich beschrieben worden. Ich neige dazu, den kurzen und prägnanten Satz von Petra Kelly „Die Grünen sind wieder einmal und vor allem menschlich gescheitert“ für die Analyse zu halten, die der Wahrheit am nächsten kommt.

Allerdings gibt es in der Entwicklung andere Projekte der Alternativszene, der Berliner TAZ, der Buchkollektive, der Bürgerbewegungen in Ost und West, so verblüffende Parallelen zur Entwicklung der Grünen, daß es lohnen würde, einer vermuteten Gesetzmäßigkeit in der Sozialgeschichte gesellschaftlicher Erneuerungsbewegungen nachzugehen. Die Kurzformel dafür hieße dann etwa so: Je größer der gesellschaftliche Nutzwert und die politische Ausstrahlung dieser Dissidenten und Reformer, desto größer der Grad der Selbstausbeutung und der Ghettoisierung der Kerngruppe.

1. Bestandsaufnahme

Kaum haben die Grünen die Bonner Bühne verlassen, fehlen sie schon. Es scheint nicht nur Nostalgie zu sein. Man tut auch der enormen Arbeitsleistung der parlamentarischen Gruppe „Bündnis 90/Grüne“ nicht Unrecht, wenn festgestellt wird, daß die Grünen einen unausgefüllten leeren Raum hinterlassen haben, den bisher niemand sonst ausfüllen konnte. Hier und da gibt es auch schon wieder den Wunsch nach der Rückkehr der Grünen, seltsamerweise besonders vernehmlich aus den anderen Parteizentralen. Der äußert sich in vergleichbarer Heftigkeit wie die Genesungswünsche, die der totkranken TAZ aus den gutdotierten Redaktionsstuben von FAZ und SPIEGEL-TV telegraphiert werden. Deutschland braucht die TAZ! Deutschland braucht die Grünen! Schön und gut. Tatsache ist aber: Die TAZ ist kurz vor dem Exitus, und die Grünen haben sich gerade vor den Toren Bonns im Haus Wittgenstein mumifiziert.

Die alten Grünen wird es auf Bundesebene nicht mehr geben. Die Zäsur, die der Nichteinzug der Grünen-Partei (West) in das erste gesamtdeutsche Parlament bedeutete, ist durch keine Durchhalteparole und auch durch keine Beschönigung aufzuheben; als ob die Wähler sich da nur ein bißchen verwählt hätten! Was es trotz dieser Zäsur gibt, ist der ernsthafte Wunsch vieler Menschen, daß die Ideen der Grünen in der deutschen Politik einen authentischen Platz finden möchten. Und es gibt aus den Reihen der Funktionäre der Grünen die Interpretation, an der Basis der alten Partei sei bereits ein Neuanfang der Grünen begonnen worden. Diese Position, die z. B. Hubert Kleinert (Beilage B 44/91) und Joschka Fischer vertreten, stützt sich beispielsweise auf folgende Faktoren: --auf die von der Bundesdelegiertenkonferenz von Neumünster beschlossene Strukturreform, auf die Konsolidierung auf Länderebene, z. B. in Baden-Württemberg und Bayern,

Der Beitrag „Metamorphose der Grünen“ wurde von Antje Vollmer, der Beitrag „Bündnis 90 als politische Bürgerbewegung: Fußnote der Geschichte oder Mitgestalter eines neuen politischen Projekts?“ wurde von Wolfgang Templin und Werner Schulz verfaßt. -auf die ermutigenden Wahlergebnisse in Hessen, Hamburg und Bremen,

-auf die Vermutung, daß das nächste Mal kein Oskar Lafontaine den Grünen Stimmen abjagen werde,

-auf die Klärung bzw. Erleichterung nach dem Parteiaustritt der radikalen Fundamentalisten um Jutta Ditfurth sowie

-auf die Schwäche der PDS als möglicher Wahlkonkurrenz von links.

Prüft man diese Faktoren auf ihre Qualität, den Neuanfang einer politischen Gruppe auszumachen, so fällt eines auf: Die meisten davon signalisieren ein Plus durch Ereignisse, die außerhalb des eigenen Einflußbereiches liegen. Sie „retten“ die Grünen sozusagen von außen, ohne daß die Grünen selbst in ihrer Arbeit damit eine neue Qualität gewonnen hätten, die den Begriff „Neuanfang“ inhaltlich legitimiert. Einzig die eher organisationstechnische Strukturreform und die Konsolidierung in einigen Länder erfüllen die Hoffnung auf einen Neuanfang aus eigener Kraft. So wichtig dies ist, scheint es mir doch nicht ausreichend für ein politisches Comeback der Grünen auf Bundesebene, das diesmal gesamtdeutsch erfolgen müßte. Zumal folgende Schwierigkeiten nach wie vor bestehen:

-Die Grünen haben in zehn Jahren Parteiaufbau nahezu ihre gesamte Gründergeneration verbraucht, wegrotiert und damit verloren. Neue profilierte Personen sind derzeit nicht in Sicht und werden sich wohl auch hüten, sich freiwillig in diese Mach-Promi-kaputt-Maschine zu begeben.

-Die Mitgliederbasis der Grünen stagniert seit Jahren; es ist zu vermuten, daß sie weitgehend rückläufig ist.

-Die Stärke der Grünen vor Ort lag und liegt immer noch in den kommunalen Räten und Fraktionen, wo Fachkompetenz, Bürgernähe und politische Kompromißfähigkeit dominieren. Deren Vertreter allerdings haben sich von der Bundesebene fast vollständig abgekoppelt, beteiligen sich allenfalls noch an den Entscheidungen und Gremien auf Länderebene. Insbesondere von den Bundesdelegiertenkonferenzen haben sie sich verabscheidet, so daß diese sich weitgehend aus Parteifunktionären und ganz unerfahrenen Mitgliedern zusammensetzen, die das „auch einmal erleben wollen“. Das macht die Ergebnisse problematisch und unberechenbar.

- Im stärksten und für Bundeswahlen entscheidenden Landesverband Nordrhein-Westfalen kriselt es erheblich, was sich z. B. darin ausdrückt, daß es ihm seit zwei Jahren nicht gelungen ist, seinen Vorstand vollständig zu besetzen.

-Die populistische Grundstimmung auf den Parteiversammlungen der Grünen ist ungebrochen und für demagogische Polarisierung leicht benutzbar. Weitgehend regiert dabei die Parteiorthodoxie. Gruppen in der Partei, wie z. B. die Aufbruch-Gruppe, die eine inhaltliche Neuorientierung und den Abschied von Dogmen und Lagerdenken anstrebten, werden regelmäßig erst einmal als Dissidenten abgestraft. Geistige Freiheit erfordert bei den Grünen besonders viel Zivilcourage.

-Die Landesverbände der Grünen in den neuen Bundesländern (bis auf Sachsen) haben ihr Verhältnis zu dem dort einflußreichen Bündnis 90 noch nicht geklärt.

-Insgesamt besteht noch keine Klarheit über die Perspektive des Zusammengehens der Grünen mit dem Bündnis 90, das seit kurzem ebenfalls bundesweit existiert, weder über das gegenseitige organisatorisch-politische Verhältnis, noch über das gemeinsame Antreten zur nächsten Bundestagswahl.

2. Aufgabenstellung

Aus dieser kritischen Bestandsaufnahme ergibt sich folgerichtig die Aufgabenstellung für die Grüne Partei, die sie bis zum Jahre 1994 gelöst haben muß, will sie mit einiger Zuversicht in die nächste Bundestagswahl gehen und nicht von Zufällen und günstigen Außenbedingungen abhängig sein: Die Grünen müßten bis dahin ihre Mitgliederbasis erheblich vergrößert, ihre Delegiertenversammlungen repräsentativer besetzt und weniger anfällig für demagogische Entscheidungsprozesse gemacht haben, sie müßten ihren stärksten Landesverband NRW reorganisiert und ihre Verbände in Ost-wie Westdeutschland auf ein politisches und organisatorischen Zusammengehen mit dem bürgerrechtlichen Bündnis 90 vorbereitet haben. Sie müßten profilierte Persönlichkeiten für die Partei zurück-oder neugewinnen und diesen ein menschenwürdiges Miteinander anbieten können. Und sie müßten sich verbindlich auf eine Politikperspektive einlassen, die basokratische Überraschungen wie letztens in Bremen beim Demontieren der Ampel-Koalition in Zukunft ausschließen. Das ist nicht wenig und nicht mal eben aus dem Grünen-Hut zu zaubern. Es wäre aber eine entscheidende Voraussetzung dafür, das zerrüttete Vertrauen der Grünen-Wähler wiederherzustellen.

3. Vorschlag für einen wirklichen Neuanfang

Bisher haben sich die Grünen wie parteienüblich immer am letzten Wahlergebnis gemessen. Für einen nüchternen Neubeginn scheint es diesmal aber wichtig, sich am nicht ausgeschöpften Wählerpotential für die eigenen politischen Ideen und Konzepte messen zu lassen. Europaweit liegt das Grünen-Potential ungefähr bei 12 bis 15 Prozent. Alles, was darunter bleibt, signalisiert das Verfehlen der historischen Möglichkeiten der Grünen. Anders gesagt: Zwei Drittel der potentiellen Wähler der Grünen haben bei der letzten Bundestagswahl diese Partei nicht gewählt. Damit läge dann der grüne Nicht-Wähleranteil doppelt so hoch wie die (wachsende) Gruppe der Nichtwähler in manchen Länderwahlen. Daraus läßt sich schließen: Stärker noch als andere Parteien sind die Grünen von der Sympathie, vom Vertrauen ihrer Wähler abhängig. Verlieren sie dieses, werden sie doppelt von der Parteienverdrossenheit getroffen, zumal ihre Wähler nicht durch Tradition, Milieuzugehörigkeit oder Parteiraison zu binden sind. Bei den verlorenen Wählerinnen und Wählern der Grünen kommt in der Regel noch ein Grad besonderer Enttäuschung darüber hinzu, daß sie in die Grünen besondere Hoffnungen in bezug auf Menschlichkeit, Konsensfähigkeit und Moral gesetzt haben. Man kann natürlich darüber streiten, ob es angemessen ist, solche Erwartungen überhaupt in politischen Parteien zu setzen -entscheidend ist, daß dies genau der Grund war, warum die Grünen eine so herausgehobene Rolle im Seelenleben der Westdeutschen gehabt haben. Von der Weisheit ihrer Nicht-Wähler könnten die Grünen einiges lernen.

Für einen wirklichen Neuanfang muß es auch innerhalb der Grünen einen deutlichen Trennungsstrich zu den alten Grünen (West) geben, die die Wähler nicht mehr wählen und denen sie nicht mehr ihr Vertrauen geben wollen. Und es muß eine Öffnung für Menschen, neue Ideen und die Prinzipien geistiger Freiheit geben. Und beides, der Schlußstrich und die Phase der Öffnung, muß öffentlich sichtbar inszeniert werden. Dies zu tun besteht derzeit eine Chance, die einen echten historischen Glücksfall darstellt: das mögliche Parteienbündnis des bürgerrechtlichen Bündnis 90 aus der ehemaligen DDR mit den West-und Ostgrünen. Der überzeugendste Vorschlag für dieses Zusammengehen sieht so aus: Beide Parteien lösen sich nach einer Phase der öffentlichen Debatte auf zugunsten einer neuen gemeinsamen Partei „Bündnis 90/Grüne“ (oder: Grünes Bündnis), die sich beiden Traditionen in gleicher Weise verpflichtet fühlt, und dies auch in ihren Führungsgremien widerspiegelt. Auf einem Gründungsparteitag wird demonstriert, daß dies das erste Parteien-bündnis ist, das nicht vollständig vom Westen dominiert wird. Um diesen neuen und gleichberechtigten Zusammenschluß zu unterstützen, werden offensiv Mitglieder geworben, die sich den Ideen der Bürgerbewegung, der Ökologie, den Menschenrechten und der Frauenbewegung besonders verbunden fühlen. Auch Prominente werden gebeten, diesen neuen bürgerrechtlichen Zusammenschluß zweier Bewegungen und Parteien zu unterstützen, zu beraten und auf dessen Listen zu kandidieren. Statuten, Satzung und Parteitagsgepflogenheiten der gemeinsamen Partei entsprechen den Lehren aus zehn Jahren grüner Lehrzeiten und Kinderkrankheiten.

Einwände gegen einen solchen Vereinigungs-und Neugründungsprozeß der Grünen (West und Ost) mit den Bürgerrechtlern (Ost und West) gibt es viele: Sie reichen von juristischen Spitzfindigkeiten über kulturelle Animositäten, parteitaktische Machtkalküle bis zu Besorgnissen über den Verbleib der Parteikasse. Stichhaltig ist keiner von diesen -schon gar nicht, wenn man die ausbleibende Signalwirkung bedenkt.

Die Grünen können natürlich auch eine kleine Lösung mit viel Platz für das „Weiter-so“ anstreben. Sie können nur eine Listen-Repräsentanz der Vertreter des Bündnis 90 vorsehen. Sie können auf die Zähigkeit der Bürgerrechtler im Umgang mit Parteiapparaten, auf die Langmut der Wähler, auf die mangelnde Attraktivität eines möglichen Kanzler-kandidaten Engholm für die grüne Klientel, auf eine nächste Umweltkatastrophe oder darauf vertrauen, daß Joschka Fischer demnächst als „letzter grüner Prominenter“ alle Wahlkampftermine bestreitet. Das kann man alles machen -es muß aber nicht sein.

II. Bündnis 90 als politische Bürgerbewegung: Fußnote der Geschichte oder Mitgestalter eines neuen politischen Projekts? 1

1. Der große Anspruch

Wenn man die deutsche Diskussion über die Existenz und die politische Zukunft organisierter Bürgerbewegungen im System der parlamentarischen Demokratie verfolgt, so halten sich Zuspruch und Skepsis die Waage. Nahezu unumstritten ist ihre kritische und innovatorische Funktion zur Belebung der Parteienlandschaft -als Seismograph für neue Themen und Konfliktlagen. Mit einer Sicht, die an den Entstehungsbedingungen der „neuen sozialen Bewegungen“ in der Bundesrepublik der siebziger Jahre orientiert ist, werden sie als Wellenbewegung und Impulsgeber für die großen Parteien eingeschätzt. Nach dieser Logik sind es die westdeutschen Grünen der achtziger Jahre, die als Antiparteienpartei und Bewegungspartei zur parlamentarischen Verkörperung bürgerbewegter Ansprüche wurden und zugleich den neuen Abstand gegenüber einem großen Feld von selbstbewußten „single-issue“ -Initiativen markieren. Der konfliktbesetzte Entwicklungsprozeß der Grünen als Partei versteht sich dann wie eine Konsolidierung entlang der Normen etablierter deutscher Parteien und läßt nur noch die Frage offen, ob künftig Platz für eine vierte deutsche Partei als parlamentarische Kraft bleibt oder ob sich im Resultat der deutsch-deutschen Vereinigung das Dreiparteiensystem einer schon fast vergessenen Bundesrepublik festigt.

Geradezu zwingend lassen sich aus diesen Überlegungen auch Platz und Überlebenschancen der ostdeutschen Bürgerbewegungen ableiten. Sie waren und sind wesentlicher Träger und Produkt des Um-bruchs in der DDR, reproduzieren auf eigener antitotalitärer Grundlage den alten deutschen Antiparteieneffekt und die Ablehnung der Konkurrenzdemokratie. Als politische Kraft einer nachholenden Revolution treten sie erst jetzt in die komplexe Landschaft der demokratischen Moderne ein und müssen sich zwischen Assoziation mit den Grünen, dem Eintritt in andere Parteien oder dem Zurücksinken in den reinen Bewegungssektor entscheiden.

So schlüssig dieses Argumentationsschema in vielen Einzelheiten sein mag, so falsch ist es in seiner Gesamtheit. Weder ein politologisches noch ein soziologisches Modelldenken reichen aus, um den entscheidenen Punkt für das Verständnis der eigenen Modernität und der historischen Chancen neuer Bürgerbewegungen herauszuarbeiten, die mit den Aufbrüchen von 1989 verbunden sind. Wie das politische und gesellschaftliche 19. Jahrhundert mit dem Beginn des 1. Weltkrieges endete, beginnt das politische 21. Jahrhundert mit der Überwindung der Spaltung Europas. Im Kontext einer solchen Epochenzäsur gewinnen das Ende der DDR und die Dynamik des deutsch-deutschen Vereinigungsprozesses ein historisches Gewicht, das die alleinigen Erklärungsmuster bundesrepublikanischer Nachkriegsentwicklung relativiert und das zu neuen Einsichten zwingt.

An diesem Jahrhundertanspruch gemessen, müssen sich aber auch die Akteure des Umbruchs die berechtigte Skepsis gefallen lassen, wie sie bei aller Originalität, bei allem Selbstbewußtsein mit ihrer marginalisierten Rolle im derzeitigen Moment umgehen können? Wird die beweisfreudige Überzeugung vom „Ende des Parteienzeitalters“ nicht zur bloßen Beschwörungsformel angesichts der realen Kräfteverhältnisse? Ja und Nein!

Der aufmerksame Beobachter der Bürgerbewegungsentwicklung wird nicht erst seit 1989 nahezu alles finden: die anachronistische und retrospektive Hoffnung auf einen erneuerten Sozialismus, den unvermittelten Gestaltungsdrang nach der „ganz anderen“ Demokratie sowie das jähe Umschlagen in Verstörung, Verzweiflung und ohnmächtigen Protest gegenüber dem politischen Diktat der großen Parteien. Er wird aber auch auf eine ungeheuer intensive Erfahrungszeit stoßen, auf Parteienkritik und Demokratiebegehren, das Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit und Momente von Repräsentation einschließt. Der große Anspruch der Bürgerbewegungen auf parteienübergreifende Sachpolitik mußte sich binnen kürzester Zeit in zahlreichen Wahlkämpfen, parlamentarischer und außerparlamentarischer Sacharbeit und den Belastungsproben innerorganisatorischer Auseinandersetzungen bewähren.

Konsequenz und Ergebnis dieser extrem verschieden verarbeiteten Erfahrungen ist die Gründung von Bündnis 90 als politische Organisation der Bürgerbewegungen. Aufgeklärt und nüchtern wurde die Diskussion um die tages-und damit reformpolitische Einlösung der großen Ansprüche geführt und nach den Überlebenschancen im Parteienstaat gefragt. Von Fundamentalisten und Nostalgikern als Verrat an den reinen Prinzipien und Kapitulation vor der schlechten Realität gescholten, von Parteienseite als immer noch illusorisch abgetan, geht es tatsächlich um den ersten konsequenten Versuch, die Erkenntnisse antitotalitären Kampfes und des Epochenumbruchs zu verarbeiten und auf die neuen Herausforderungen, vor denen Deutschland und Europa stehen, zu reagieren. Mit ihrer ausgeprägten Lagermentalität, ihrem Klienteldenken und machtfixierten politischen Instrumentarien erweisen sich die etablierten Parteien der Bundesrepublik als weitgehend unfähig, die Probleme des deutsch-deutschen Vereinigungsprozesses und der gesamteuropäischen Integration zu lössen. Massenarbeitslosigkeit als Dauerproblem, die industrielle und ökologische Verödung ganzer Regionen, wachsende Flüchtlingsströme durch ein sich verfestigendes Entwicklungsgefälle innerhalb Europas und dessen globale Disparität sowie zahlreiche andere Probleme markieren die Überforderung einer Politik, die von der Spaltung Deutschlands und Europas geprägt wurde. Wenn einmal getroffene Fehlentscheidungen aus Gründen von Prestige und Machterhalt kaum noch zu korrigieren sind, wenn Innovationen und neue Denkansätze innerhalb der Parteien regelmäßig blockiert werden, wenn Vorschläge zurückgewiesen werden, nur weil sie „von der falschen Seite“ kommen, ist die Aktualität einer darauf gerichteten Parteienkritik evident. Eine solche Kritik gab es bereits vor 1989. Die nach wie vor anstehende und lebenswichtige Frage spitzt sich jetzt darauf zu, ob im Gefolge der deutsch-deutschen Vereinigung die Chancen für eine intelligentere und innovative Politik letztlich sinken oder steigen.2. Mittelfristige Perspektiven

Nimmt man die Einschätzung vom Epochenumbruch und den neuen Herausforderungen an und verweigert sich einer bloßen Binnenkontinuität bundesrepublikanischer Geschichte, bleibt immer noch das entscheidende Problem, auf welche Art und Weise sich die mit den Bürgerbewegungen verbundenen Innovationspotentiale durchsetzen können. Man versteht dann die „Modernität“ einer Parteienkritik, die zugleich Repräsentation, Rechtsstaatlichkeit und die Vermittlungsprobleme einer komplexen Gesellschaft voll anerkennt und nicht in die Unmittelbarkeit basisdemokratischer Harmonien zurückfällt. Der Erfahrungsanspruch antitotalitären Widerstands und das 68er Erbe der alten Bundesrepublik kämen zusammen, um die Vielfalt existierender zivilgesellschaftlicher Kräfte zu stärken. Produktive Herausforderung für die Parteien, Belebung des politischen Lebens und die Stärkung außerparlamentarischer demokratischer Ansätze könnten die Folge sein. Damit ist aber nur eine Komponente der politischen Werteskala vom Bündnis 90 markiert. Schwieriger wird es mit der angestrebten Selbstbehauptung als eigenständige politische Kraft auch auf der parlamentarischen Ebene. Den erläuterten historischen Einschnitt ernst genommen und trotz des Versagens der Parteien: Die Realität der nächsten Jahre wird von der Dominanz der großen Parteien einschließlich Fünfprozenthürde bestimmt sein, die es ratsam macht, ohne Wenn und Aber zu kalkulieren. Ein Realismus, der die Veränderungen und den Veränderungsdruck auf alle Beteiligten des politischen Geschehens zugrunde legt, wird aber auch Brüche und Verwerfungen erkennen, die dem Neuansatz, den Bündnis 90 sucht, erfolgreiche Schritte zu ermöglichen. Zweierlei ist dazu nötig: Dem aktuellen Unvermögen der Parteien und der Konfliktfülle im geteilt-vereinigten Deutschland muß mit immer wieder neu und verständlich formulierten Sachvorschlägen und Handlungsangeboten in die gesellschaftliche Öffentlichkeit und die Parteien hinein begegnet werden. Fundamentale Systemkritik und bloße Parteienschelte sollte die Bürgerbewegung den traditionslinken und rechtsextremen Kräften überlassen. Mit der Konzentration auf die Probleme in den neuen Bundesländern und im Blickwinkel einer gesamtdeutschen und europäischen Perspektive bürgerbewegter Politik, sind die Pole für die Formulierung von Sachvorschlägen gegeben. Wenn das unermüdliche Suchen nach partei-, verbands-und interessenübergreifender Unterstützung für vernünftige Vorschläge wenig Resonanz findet, weil die politischen und Interessenfronten verhärtet bleiben, müssen die Bemühungen darum öffentlich dokumentiert werden. Damit können Zuspruch, Unterstützung und schon längst in Gleichgültigkeit oder Politikverdrossenheit abgedriftete Potentiale mobilisiert werden.

Zugleich darf sich die Bürgerbewegung nicht darin erschöpfen, im Rücken der Parteien oder vor den Parteigräben als Problemfeuerwehr zu agieren, sondern muß die eigenen Vorschläge, Kritiken und Lösungsansätze zu schlüssigen Konzepten verdichten. Neben der schmalen parlamentarischen und außerparlamentarischen Grundlage, die derzeit vorhanden ist, bleibt vieles liegen oder läßt sich nur bruchstückhaft realisieren. Doch auch hier kann, wie so oft bewährt, die Not zur Tugend werden. Katalogform, Angebotsfülle und Geschlossenheit von Parteiprogrammen können aus guten Gründen vermieden werden, nicht aber die Folgerichtigkeit und der innere Zusammenhang vieler Einzelvorschläge und Konzepte. Wenn eine politische Ethik und gemeinsame Werte den Bürgerbewegungsansatz prägen, sind Widersprüche und eine große Breite der Handlungsansätze möglich. Dennoch muß eine Identität und eine politische Handlungsfähigkeit sichtbar werden. Bei aller Enttäuschung über das Versagen von Parteien wird sich das Wählerverhalten auf Erwartungen richten, die wiederum vom Parteicharakter geprägt sind.

Ohne Verrat an Zielen und ursprünglichem Politikverständnis wird es nötig sein, Kompromißfähigkeit, Integrationskraft und die Bewährung im politischen Tagesgeschäft zu dokumentieren. Legt man für eine mittelfristige Perspektive die Zeit bis Ende 1994 zugrunde, hängt sehr viel davon ab, wie es der gegenwärtigen Regierungskoalition gelingt, die Folgen ihrer Politik zu verdecken, die Koalitionspartner zusammenzuhalten und die zunehmenden Spannungen zwischen den bundes-und landespolitischen Kräftekonstellationen zu verarbeiten. Eine Politik, die im Haupttrend den gesellschaftlichen und sozialen Status quo der alten Bundesrepublik zu erhalten sucht, ist jedoch auf lange Sicht zum Scheitern verurteilt. Zugleich kann man allerdings mit Faszination erleben, wie es immer noch gelingt, akute und absehbare Probleme auszusitzen und die Folgelast geschickt auf andere Schultern zu packen. Alles wird davon abhängen, wann und in welchem Maße die gesellschaftliche Akzeptanz dieser Machtstrategie abnimmt und im Verhältnis dazu der von den Bürgerbewegungen vertretene und zugleich politisch gebrauchte Partizipationsdruck, also das Selbstbeteiligungsstreben der Gesellschaft wieder wächst. Darüber hinaus droht natürlich ein Teufelskreis an Folgen verfehlter Politik als soziale Marginalisierung breiter Bevölkerungsteile und erhöhter Problemdruck auf die Betroffenen. Ob dann das Angebot demokratischer und ökologischer Verantwortung und die Aufforderung zum solidarischen Umdenken, von der sich ein Bündnis 90 nicht beliebig entfernen kann, überhaupt noch durchdringen und nicht im kurzfristigen Interessengerangel untergehen, ist offen. 3. Partner und Verbündete

Für einen Großteil der öffentlichen Meinung ist klar, daß Bürgerbewegung Ost und Grüne West von Habitus und Tradition eher zusammengehören und eigentlich schon längst vereinigt sein müßten. Für diese Erwartung ist auch die eigenständige Gründung vom Bündnis 90 ein kaum zu verstehender Umweg oder bestenfalls ein taktischer Schritt, um die Verhandlungsposition beim Hineingehen in die Grünen zu stärken. Geht es wirklich nur darum? Bei aller erklärten und praktizierten Kritik an der gesellschaftlichen Realität der alten Bundesrepublik waren die Grünen als Bestandteil und politische Erben der 68er Generation dieser Realität voll verhaftet.

Vom grünen Gründungskonsens über die Flügel-kämpfe der achtziger Jahre bis zur Konfrontation mit der deutschen Vereinigung machten sie eine Entwicklung durch, in der auch viel vom ursprünglichen Ansatz verlorenging. Die Grünen auf „Grün“ zu reduzieren oder in ihnen den künftigen Juniorpartner der Sozialdemokratie zu sehen, ist derzeit nur möglich, wenn man sich einer ganzen Dimension ihres Gründungsanspruchs versperrt. Basisdemokratische Kinderkrankheiten abzulegen und eine haßbesetzte Streitkultur zu überwinden, Personen als Träger von Politik zu akzeptieren ist das eine, den Anspruch auf strukturelle Originalität und inhaltliche Profile quer zur Parteienlandschaft aufrechtzuerhalten das andere.

Wenn die Bürgerbewegungen mit dem letzteren Anspruch an die Grünen herantreten, sie als mögliche Partner an diesem Bemühen messen, hat das nichts mit Illusionen oder Kinderkrankheiten zu tun. Was vor über zehn Jahren bei den Grünen angedacht wurde und in der damaligen Situation immer nur als Vorgriff erschien: die neue Verbindung von ökologischer und demokratischer Fragestellung, ohne die soziale Frage aus dem Auge zu verlieren, die Kultur der Selbstbegrenzung gegen den Wachstumsfetischismus von links und rechts, die Unteilbarkeit von Bürger-und Menschenrechten als Grundlage eines ungeteilten Europas, ist seit 1989 auf die politische Tagesordnung gesetzt.

Mit diesen Vorstellungen und Forderungen entwickelten weder die Grünen noch später die Bürgerbewegungen etwas Exklusives, sondern nahmen auf verschiedener Grundlage und als Angehörige einer Generation die gleichen Ansätze möglicher Zukunft auf, die von vielen anderen Menschen ebenso gesucht wird. Grüne und Bürgerbewegung können sich als organisatorische Träger und Beförderer eines politischen Projektes finden, das in der Spannung zwischen aktuellem Gestaltungsanspruch und offener Perspektive viele Verbündeten braucht, die über den nationalen Raum Deutschlands hinauswirken.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Wolfgang Templin, Dipl. -Philosoph, geb. 1948; Mitglied des Sprecherrates von Bündnis 90. Werner Schulz, Dipl. -Ing., geb. 1950; Mitglied des Sprecherrates von Bündnis 90; Parlamentarischer Geschäftsführer der Gruppe Bündnis 90/Grüne im Deutschen Bundestag. Antje Vollmer, Dr. phil., geb. 1943; ehemalige Fraktionssprecherin der Grünen; Mitarbeiterin in Bethel.