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Europa nach der Revolution. Ost und West vor säkularen Herausforderungen | APuZ 6/1992 | bpb.de

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APuZ 6/1992 Europa nach der Revolution. Ost und West vor säkularen Herausforderungen Polen nach dem Kommunismus -quo vadis? Die Tschechoslowakei -eine Rückkehr zu sich selbst Probleme der Demokratisierung in Ungarn Die Einheit und die Spaltung Europas. Die Auswirkungen der mitteleuropäischen Revolution von 1989 auf Gesamteuropa

Europa nach der Revolution. Ost und West vor säkularen Herausforderungen

August Pradetto

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Im Prinzip sind mit den Revolutionen von 1989/90 die Voraussetzungen für eine „Rückkehr“ der ehemals kommunistischen zentral-und osteuropäischen Länder nach Europa gegeben. Damit sind auch die Bedingungen geschaffen, eine neue Einheit Europas herzustellen. Die wirtschaftliche Depression in Osteuropa, die Fragilität der neuen politischen Strukturen, die ethnischen Konflikte und nicht zuletzt der Krieg in Jugoslawien zeigen jedoch auch die andere Seite der Medaille, die mit dem Zusammenbruch des Kommunismus und der bisherigen europäischen Ordnung zur Wirkung gelangt. Und diese Labilität im Osten schlägt zurück auf die Stabilität im Westen. Damit ist die Frage aufgeworfen, mit welchen Strategien und welchen Instrumenten der Neubau der Ökonomien und der politischen Systeme im Osten bewerkstelligt und eine neue europäische Ordnung errichtet werden kann. Augenscheinlich sind die Europäische Gemeinschaft, die NATO und die KSZE eine wertvolle ökonomische, politische und institutionelle Basis, um den wirtschaftlichen Kalamitäten und dem sicherheitspolitischen Vakuum in Osteuropa zu begegnen. Daß sie in ihren bisherigen Formen und Funktionsweisen nicht zureichend sind, um die entstandenen Probleme zu bewältigen, ist aber auch evident. Kompliziert wird die Lösung der Schwierigkeiten durch das koinzidente Auftreten von Krisen und Konflikten, welche die gesamteuropäische Umbruchsituation kennzeichnen. Dabei geht es um so unterschiedliche und gleichzeitig sich beeinflussende Faktoren wie die Dilemmata nachholender Entwicklung, die ethnischsozio-kulturelle Differenzierung, die Renationalisierung und Staatenbildung im Osten Europas, das deutsche Problem in einer neuen und zugleich alten Dimension -das auch im Westen wieder alte Konfliktlinien zum Vorschein bringt -sowie Interessendivergenzen zwischen und innerhalb des östlichen und des westlichen Teils des Kontinents, die wirtschaftlich-integrativen und sicherheitspolitischen Strategien betreffend.

I. Die Rückkehr Osteuropas nach Europa

Die Intentionen, die hinter den Revolutionen von 1989/90 im östlichen Teil Europas stehen, liegen auf drei Ebenen: Erstens versucht man, jene alten Ziele zu realisieren, die schon Motiv der englischen Industriellen Revolution gewesen sind. Es geht um die ökonomische und staatliche Modernisierung. Nach dem als gescheitert perzipierten Versuch, diese Intentionen mit Hilfe des Kommunismus zu verwirklichen, soll jetzt ein neuer Anlauf unternommen werden. Zweitens geht es um die Ziele der Französischen Revolution, also um Menschenrechte und Demokratie. Drittens will man -abgeleitet von den beiden genannten Intentionen -eine Reintegration in weltwirtschaftliche und supranationale sicherheitspolitische Zusammenhänge. Dies ist der Inhalt dessen, was als Ziel der „Rückkehr dieser Länder nach Europa“ proklamiert wird.

Im Prinzip sind die Voraussetzungen für eine solche „Rückkehr“ mit den Revolutionen von 1989/90 geschaffen worden, und zwar aus drei Gründen: Ökonomisch sehen die maßgeblichen Eliten dieser Länder die Marktwirtschaft als Basis der gesellschaftlichen Ordnung an, haben also eine mit dem Westen gemeinsame ordnungspolitische Grundlage. Das Fundament des politischen Systems soll zukünftig die parlamentarische Demokratie sein. Außenpolitisch schließlich sieht man sich nicht mehr im Gegensatz zum Westen, sondern will im Gegenteil am liebsten in dessen sicherheitspolitische Struktur eingebunden werden.

Damit sind im Prinzip auch die Bedingungen für eine Überwindung der Barrieren gegeben, die bis-Der Text basiert aufeinem Vortrag des Autors, gehalten aufder International Conference on Democratization and Increased Participation: Changes in Asia and Europe since 1989 and the Regional and Global Implications, Puerto AzullManila, Philippinen, 31. Oktober bis 3. November 1991. lang Europa geteilt haben. Die engeren Verbindungen, die zwischen West-und Osteuropa in den vergangenen beiden Jahren geschaffen worden sind, sind Ausdruck dieses Zusammenwachsens. Diese Verbindungen existieren auf allen Ebenen. Es fängt an beim ökonomischen Austausch und der wirtschaftlichen Kooperation: beides wächst. Die osteuropäischen Länder -inklusive die Nachfolgestaaten der Sowjetunion -werden in regionale wirtschaftliche Zusammenhänge eingebunden. Und es hört damit auf, daß sicherheitspolitisch die Frontstellung zwischen den ehemaligen Blöcken abgebaut, die Abrüstung vorangetrieben und in ersten Ansätzen ein ost-west-europäischer Sicherheitsverbund hergestellt wird. Europa ist mit den Revolutionen von 1989/90 ein anderer Kontinent geworden. Global betrachtet, ist damit der gefährlichste Konfliktherd in der Welt eliminiert.

II. Europa auf dem Weg in seine Vergangenheit

Diese Betrachtung erfaßt aber nur einen Aspekt der Realität. Zbigniew Brzezinski stellte bereits im Frühjahr 1991 zweifelnd die Frage, wohin sich das neue Europa wenden würde nach Straßburg, dem Sitz des Europarates und des Europäischen Parlaments, oder nach Sarajevo -jenem Ort in Bosnien-Herzegowina, in dem im Jahre 1914 der österreichische Thronfolger erschossen und damit der Erste Weltkrieg ausgelöst worden ist. Dies geschah vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der bis zum Ersten Weltkrieg geltenden europäischen Ordnung. 1989 ist das europäische Ordnungsgefüge wieder zerfallen. Und wieder findet -zum erstenmal seit dem Zweiten Weltkrieg -ein Krieg in Europa statt, und zwar in eben jener Krisenregion, in der zu Beginn des Jahrhunderts der Niedergang Europas eingeleitet worden ist. Einer der wesentlichen, dem Ersten Weltkrieg zugrundeliegenden Faktoren bestand im Problem der Nationen-und Staatenbildung in Europa. Dieser Prozeß ist auch heute noch nicht abgeschlossen -im Gegenteil, er wird im Gefolge der Auflösung der alten Ordnung jetzt wieder virulent. In Jugoslawien, auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, aber auch in der Tschechoslowakei ist dieser Trend offenkundig. Bis vor kurzem gab es 35 Staaten in Europa. Etwa 50 Nationen jedoch erheben Anspruch auf staatliche Souveränität. Das Herausbilden von Staatsgrenzen wie im Westen pflanzt sich jetzt weiter nach Osten fort. Daß dieser Prozeß friedlich abläuft, ist aufgrund historischer und aktueller Erfahrungen zu bezweifeln. Vor allem auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion ist in den letzten siebzig Jahren infolge einer jahrzehntelangen willkürlichen Be-, Ent-und Umsiedlungspolitik zusätzlich ein schwer kalkulierbares Konfliktpotential aufgebaut worden. Im südlichen Teil Zentraleuropas und in Osteuropa machen die „Minderheiten“ z. T. bis zu 50 Prozent der jeweiligen Populationen aus. Ohne Eingreifen von außen treten diese Regionen in eine Phase tiefer Krisen und Auseinandersetzungen ein. Wie schwierig es aber ist, von außen einzuwirken, zeigt das Beispiel Jugoslawien.

Der Krieg in Jugoslawien ist keine bedauerliche Entgleisung. Er ist symptomatisch für die zweite Seite der Medaille, die seit den osteuropäischen Revolutionen sichtbar wird. Diese Seite besteht in einem rapiden wirtschaftlichen Niedergang der ehemals kommunistischen Länder, in enormen sozialen Spannungen und in neuer politischer Instabilität. Politische Fragmentierung und politischer Extremismus, geringe gesellschaftliche Partizipation und sinkende Legitimität politischer Eliten, Aufleben von Nationalismus, Fremdenhaß und Antisemitismus sind Symptome und Folgen dieser Entwicklung. Auf der außenpolitischen Ebene äußert sich dies in verschiedenen zwischenstaatlichen Konflikten. Und während auf internationaler Ebene abgerüstet wird, gibt es in den gefährlichsten europäischen Krisenzonen deutliche Aufrüstungsbestrebungen.

Das Problem besteht darin, daß in den ehemals kommunistischen Ländern aufgrund 40 bzw. 70 Jahre gültiger, völlig anderer Systemprinzipien die Voraussetzungen für den Übergang von der Plan-zur Marktwirtschaft und von autoritären zu pluralen politischen Strukturen weitgehend fehlen. Der wirtschaftliche und politische Neuaufbau in diesen Ländern erfolgt im Verhältnis zum Zusammenbruch der alten Strukturen zu langsam, als daß er ihn kompensieren könnte. Das zweite Problem ist, daß die labile Situation, die in Osteuropa entstanden ist, auf die Stabilität in Westeuropa zurück-schlägt. Auch in Westeuropa sind eine politische Radikalisierung, ein zunehmender Nationalismus, ein neuartiges Infragestellen der Grenzen und ein separatistischer Regionalismus evident.

III. Europa braucht neue Strategien und neue Instrumente

Hoffnungen werden in dieser Situation vor allem auf die Europäische Gemeinschaft und auf die NATO gesetzt. Diese Organisationen stellen die wichtigsten und stabilsten supranationalen Strukturen in Europa dar, die eine gewisse Integrationswirkung entfalten. Diese Strukturiertheit unterscheidet den Kontinent heute positiv von den Gegebenheiten in der Zwischenkriegszeit. Ohnehin ist Westeuropa die Region nicht nur der ökonomisch, sondern auch institutionell-politisch dichtesten Vernetzung in der Welt. Dieser Tatbestand wirkt vorteilhaft auf Osteuropa zurück im Sinne einer Vorbild-und Lernfunktion hinsichtlich Kooperation, Ausgleich, Rechtsstaatlichkeit, multilateraler Institutionalisierung usw. Aber weder die EG noch die KSZE noch die NATO sind Organisationen, die die ökonomischen, sozialen, politischen, ethnischen und nationalen Probleme Osteuropas zu lösen imstande sind.

Die EG, die KSZE und die NATO sind supranationale Gebilde der Nachkriegszeit, des bipolar geteilten und sicherheitspolitisch relativ stabilen Europas der Ära 1945 bis 1989, in der die bis 1945 typischen Konflikte in beiden Hälften Europas durch eine von außen vorgegebene Ordnung eingedämmt worden sind. Vorerst besteht mehr Hoffnung als praktisch sichtbar wäre, daß diese Organisationen zu Instrumenten des Krisenmanagements und der Konfliktbeilegung für das Europa der neuen Ära mutieren. Die EG ist selbst in ökonomischer Hinsicht überfordert. Jaques Attali, Chef der für die Unterstützung des wirtschaftlichen Aufbaus in Osteuropa gegründeten Europäischen Bank für Zusammenarbeit und Entwicklung, meint, daß etwa 3000 Milliarden Dollar nach Osteuropa fließen müßten, damit diese Region in absehbarer Zeit den Anschluß an die westeuropäische Entwicklung finden kann. Derzeit sieht es nicht so aus, als ob die westlichen Länder bereit wären, solche Summen aufzubringen. Bislang konnte man sich gerade durchringen, Hilfs-und Investitionsprogramme von bescheidenen 30 Milliarden aufzulegen.

Eine nachholende Entwicklung ist nicht möglich, wenn die neuen Eliten in Osteuropa das Heil in äußeren Faktoren sehen. Weder die Weltbank, noch der Internationale Währungsfonds, noch die EG oder die NATO und auch nicht die reinen Prinzipien der Marktwirtschaft werden Osteuropa retten. Die genannten Organisationen sind schon aus historischen Gründen wie im eigenen Zukunftsinteresse verpflichtet, so weit wie möglich Hilfe zu leisten. Doch wird den osteuropäischen Eliten niemand abnehmen, nationale Strategien für ihr wirtschaftliches Fortkommen zu entwickeln und umzusetzen. Orientierungshilfen gibt es. Weder Deutschland in der zweiten Hälfte des letzten und zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnte gegenüber der führenden Weltmacht Großbritannien aufholen, noch Japan in den vergangenen Jahrzehnten gegenüber der führenden Industrienation USA dadurch, daß ein marktwirtschaftlich-liberales Laissez-faire-Prinzip angewendet worden wäre.

Das Geheimnis des Erfolgs liegt in der relativen Betonung des Staates als Entwicklungsmotor, der systematischen Schaffung eines leistungsfähigen Binnenmarktes und der gezielten Förderung der Infrastruktur gemäß einem auf Weltmarktkompatibilität abzielenden Plan für die Entwicklung der Industrie. Dies kann nur gelingen auf Grundlage einer staatlich kontrollierten Politik zwischen Weltmarktöffnung und Protektionismus, die gleichzeitig auf die Stärkung der eigenen ökonomischen Basis und auf Weltmarktfähigkeit gerichtet ist. Welches die konkreten Ansatzpunkte, Zielsetzungen und Schritte einer solchen Strategie sind, hängt von den jeweiligen nationalen Voraussetzungen, Ressourcen sowie dem Umfeld und den Handlungsspielräumen ab.

IV. Die wahren europäischen Grenzen

Das Tauwetter in den osteuropäischen Ländern und zwischen den Blöcken läßt nicht nur die in den letzten 45 Jahren eingefrorene Demarkationslinie von Jalta schmelzen. Es bringt auch wieder die alten europäischen Grenzen, die alten europäischen Konfliktlinien zum Vorschein, die in den vergangenen Jahrzehnten vom Eis des Kalten Krieges überdeckt gewesen sind. 55 Prozent der Grenzen in Europa sind erst im 20. Jahrhundert gezogen worden, die meisten davon auf Friedenskonferenzen, auf denen die jeweils aktuellen machtpolitischen Konstellationen und Interessen eine wesentliche Rolle gespielt haben. Im gegenwärtigen Prozeß der Auflösung und Umgruppierung in Europa steigert dies die geopolitische Fragilität und Instabilität.

Zu den neuen alten Konfliktlinien gehört auch das deutsche Problem. In den vergangenen 45 Jahren war Deutschland nicht souverän, geteilt, geschwächt. Deutschland ist jetzt wieder das, was es früher war: die zentrale Macht in Europa, die zahlenmäßig stärkste Nation mit dem größten Wirtschaftspotential. Man mag in Bonn auf die Gleichberechtigung der EG-Mitgliedstaaten verweisen; Tatsache ist, daß die neue Bundesrepublik fast ein Viertel der EG-Bevölkerung ausmacht und ein Drittel des Bruttosozialproduktes der Gemeinschaft erwirtschaftet.

Es wird in Europa wieder stärker in Kategorien gedacht, wie regionale Gegengewichte geschaffen werden können, wie die gestiegene Macht Deutschlands zu neutralisieren sei. Das spürt man in Deutschland. Daß die Bonner Regierung ständig betont , sie würde nichts ohne die Zustimmung und den Konsens aller EG-Partner unternehmen, ist keineswegs nur Ausdruck eines in Deutschland fest verankerten europäischen Gedankens. Es ist auch Folge der Angst vor einer Isolierung, vor einer Wiederholung der traditionellen Frontstellung in Europa gegen Deutschland.

Ein anderer Teil des Problems besteht darin, daß das Tauwetter auch wieder eine noch viel ältere Grenze in Europa zum Vorschein bringt -jene soziokulturelle Grenze, die zugleich die religiöse Linie zwischen den Katholiken und Protestanten auf der einen Seite und den Orthodoxen auf der anderen und darauf fußend zwischen zwei politischen Systemen markiert. Auf dem Balkan verläuft diese Linie unter anderem zwischen Serbien und Kroatien. Was derzeit in Jugoslawien passiert, kann, wie es Michel Foucher ausgedrückt hat, auch (aber sicher nicht ausschließlich) als Dislozierung der beiden sozio-kulturellen Systemtypen interpretiert werden Diese alte europäische Trennlinie zum Osten verschafft sich Geltung nach dem mißglückten Unterfangen, sie mit Hilfe der „Sowjetisierung“ auf dem Gebiet der ökonomischen Modernität, aber gerade auch in religiös-kultureller Hinsicht zu überwinden. Die politische Teilung Europas war vorübergehend und ein künstliches Phänomen. Ob die Ergebnisse der kommunistischen Modernisierungsanstrengungen und jetzt der Wille zur „Europäisierung“ die Jahrhunderte währende sozio-kulturelle Grenzlinie nach Osten verschieben werden, das wird sich erst in den nächsten Jahren und Jahrzehnten herausstellen. Mir erscheint nicht ausgeschlossen, daß sich im Ergebnis der Veränderungen in diesem Jahrhundert der Graben zwischen dem Westen und dem Osten noch vertieft. Positive Auswirkungen wären davon sicher nicht zu erwarten. Um so notwendiger ist eine Politik, die als „Europäer“ diejenigen definiert, die am Aufbau des „Projekts Europa“ teilnehmen wollen, und sie in diesem Bemühen möglichst weitgehend unterstützt. Daraus können sich freilich neue Konflikte ergeben. Die „europäische Idee“ wird aus Belgrader, Bukarester und möglicherweise auch bald wieder aus Moskauer Perspektive anders empfunden und bewertet als in Warschau und Budapest -nämlich als fremde, hegemoniale und kulturzerstörende Mission. In den Reaktionen der serbischen Führung gegenüber der EG im allgemeinen und Deutschland im besonderen, deren versuchte Einflußnahme im Bürgerkrieg betreffend, schwingt dieses Moment bereits deutlich mit.

Es gibt auch noch andere Grenzen: Grenzen der Politik. Das Problem, den europäischen Kalamitäten und den damit verbundenen Herausforderungen zu begegnen, besteht erstens im Zeitfaktor. Seit 1989 gehen die Umwälzungen in dieser Region mit einer Geschwindigkeit vor sich, gegen die sich der geschichtliche Verlauf in den vergangenen vierzig Jahren wie im Schneckentempo darstellt. Die europäische Politik krankt nicht nur daran, daß sie auf die neue Situation nicht vorbereitet ist. Auch wenn sie vorbereitet wäre, würde sie notgedrungen hinter der rasanten Entwicklung herhinken.

Das zweite Problem besteht in der der Kumulation Schwierigkeiten. Zuerst -im Jahre 1989 und 1990-glaubte man noch, die bestehenden Probleme seien im wesentlichen mit wirtschaftlichen Mitteln zu lösen. Inzwischen dämmert, daß die Renationalisierung in Osteuropa, die unvergessenen historischen Belastungen zwischen den Völkern, die ethnischen Konflikte, die soziale Polarisierung, das Machtstreben der alten und neuen Eliten, das Weiterwirken von 40 bzw. 70 Jahren autoritärer Strukturen und entsprechender Denk-und Handlungsmuster in den ehemals kommunistischen Systemen, die fehlende Verwurzelung einer demokratischen und partizipativen Tradition, die unzulängliche Legitimation politischer Eliten und rechtsstaatlicher Institutionen in Osteuropa, die fehlende Basis eines innovativen Unternehmertums und einer Mittelschicht, die Angst vor einer Völkerwanderung von Ost nach West, vor Überfremdung und dem Verlust von Identität zusammen mit den ungelösten wirtschaftlichen Kalamitäten ein riesiges, komplexes Bündel von Problemen darstellt, das zum Teil die Einzelprobleme verschärft, zum Teil Lösungsmöglichkeiten und -ansätze paralysiert. Europa steckt plötzlich in einem Problem-komplex von miteinander verwobenen Identitäts-, Legitimitäts-, Partizipations-, Distributions-und Integrationskrisen, die alle gleichzeitig zu lösen wären. Die Politik ist damit überfordert.

Und das dritte Problem -zusammenhängend mit den vorgenannten -besteht in der Tendenz zur Irrationalität. Schon zu „normalen“ Zeiten ist bekanntlich der irrationale Faktor in der Politik relativ stark ausgeprägt. Unter den Bedingungen erhöhten Problem-und Zeitdrucks, unter der Prämisse verschärfter und konkurrierender Auseinandersetzungen über die Lösung von Problemen, potenziert sich der irrationale Faktor.

V. Interessendivergenzen

Auf beiden Seiten des ehemaligen Eisernen Vorhangs ist es ein vordringliches Anliegen, möglichst rasch den Aufbau der Marktwirtschaft in Osteuropa voranzubringen, demokratisch-parlamentarische Strukturen zu festigen, die beiden Hälften des Kontinents wirtschaftlich zu verflechten und gemeinsame, übergreifende Sicherheitsstrukturen zu etablieren. Die Übereinstimmung der Interessen ist dennoch limitiert.

Im Ostteil Europas geht es um elementare Fragen, vor allem der Sicherung eines Mindestlebensstandards für die Bevölkerung, den Neubau der Ökonomien und der Stabilisierung noch sehr fragiler neuer politischer Strukturen. Für die Tschechen und Slowaken und eine Reihe weiterer Nationalitäten in Zentral-und Südost-und Osteuropa spielt darüber hinaus das Problem der ethnischen Integration und damit zusammenhängend der staatlichen Einheit bzw.der Eigenstaatlichkeit eine zentrale Rolle.

Die nationalen Ressourcen, um mit den rezessiven und depressiven wirtschaftlichen Tendenzen, der Virulenz der ethnischen Konflikte und den sicherheitspolitischen Unwägbarkeiten fertig zu werden, sind in Osteuropa schwach. Daß auf Hilfe von außen gehofft wird, ist begreiflich. Diese verspricht man sich vor allem von der Europäischen Gemeinschaft und der NATO. Die EG wird als Gemeinschaft hochproduktiver und reicher Länder perzipiert, in deren Hand es liege, ob und wie rasch die ehemaligen Planwirtschaften an den Westen anzuschließen vermögen. Insofern ist auch einsichtig, daß die maßgeblichen politischen Kräfte in Osteuropa möglichst schnell die „EGKompatibilität“ ihrer Länder zustande bringen wollen. Die Nordatlantische Allianz wird als Bollwerk erachtet, das dem Kommunismus die Stirn geboten und ihn auch noch friedlich besiegt habe. Die Anträge verschiedener ehemaliger War-schauer-Pakt-Staaten, in das westliche Verteidigungsbündnis aufgenommen zu werden, sind also ebenfalls folgerichtig.

Im Gegensatz dazu erwartet man von der KSZE weniger. Die EG verfügt über die Macht realer ökonomischer Mittel und über wirtschaftliche Sanktionsmöglichkeiten. Die NATO kann ein gewaltiges militärisches Potential aufbieten, um die Interessen ihrer Mitglieder zu schützen. Die KSZE dagegen ist eine Folge von Konferenzen, auf denen diskutiert und auch gemeinsame Resolutionen verabschiedet werden können. Wie weit deren Verbindlichkeit reicht, zeigt am krassesten das Beispiel Jugoslawien. Dennoch findet sich in allen außenpolitischen Deklarationen osteuropäischer Regierungen das Bekenntnis auch zur KSZE. Damit will man vor allem den westlichen Politikern entgegenkommen, die, wenn es um die Gestaltung des Verhältnisses zwischen Ost-und Westeuropa geht, nicht zuletzt auf die Bedeutung des „KSZEProzesses“ verweisen.

Diese tun dies freilich auch deswegen, weil das Beibehalten der bisherigen Strukturen sowie sicherheitspolitische Debatten und Deklarationen der KSZE dem Westen weniger abfordern als z. B.

die Öffnung der NATO. Das Motiv ist leicht nachvollziehbar: Eine Aufnahme von Ländern mit einer ungewissen wirtschaftlichen und damit auch politischen Zukunft, von Ländern, die aufgrund ethnischer Konflikte in sich gespalten oder in Konflikte mit anderen Ländern verwickelt sind, würde die NATO in ihrem bisherigen Selbstverständnis, ihrer bisherigen Ausrichtung und Struktur fundamental verändern. Ihr Sicherheitsproblem würde plötzlich nicht mehr außerhalb, sondern in erheblich höherem Maße innerhalb und möglicherweise zwischen ihren Mitgliedern liegen. Was wäre beispielsweise in dem Fall zu tun, wenn die SFR auseinanderzubrechen drohte und dort die Gruppe der Föderalisten unversöhnlich jener der Separatisten gegenüberstünde? Wie lange bliebe der bisherige Bestand der NATO aufrecht, wenn es zu Auseinandersetzungen über diese und andere völlig neuartige Fragen innerhalb der Allianz käme und diese dann unmittelbar involviert wäre?

Insofern erscheint die vorsichtige und bedächtige Politik der NATO vernünftig, zunächst zusammen mit den ehemaligen Warschauer-Pakt-Mitgliedern einen Kooperationsrat zu bilden, in dem sicherheitspolitische Belange von gemeinsamem Interesse erörtert werden sollen. Schließlich wäre niemandem gedient, die einzige kollektive militärische Sicherheitsorganisation zu gefährden, die es in Europa -unter Einschluß Nordamerikas -gibt. Aus östlicher Perspektive stellt sich die Frage der eigenen und auch der europäischen Sicherheit freilich etwas anders dar. Das sicherheitspolitische Vakuum, in dem sich die osteuropäischen Länder seit der Auflösung der Warschauer Vertragsorganisation befinden, füllt dieser Kooperationsrat nicht. Faktisch stellt er aus östlicher Sicht mehr oder weniger ein Placebo dar wie die KSZE, dessen Verbindlichkeit kaum weiter greift als die gemeinsam gefaßten Beschlüsse im Rahmen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Und zweifellos ist heute schon die Richtigkeit des Arguments osteuropäischer Außenpolitiker fühlbar, die Unsicherheitslage im Osten schlage auf die Stabilität im Westen zurück und werde spätestens dann zu einem schwerwiegenden Problem auch für den Westteil des Kontinents, wenn ein Konflikt real ausbricht.

In der Frage der Sicherheit gibt es eine Reihe gemeinsamer Ansichten und Ziele in Ost-und Westeuropa, aber auch eine Reihe divergierender Interessen und Vorstellungen, wie Sicherheit zu definieren, zu erreichen und zu bewahren sei. Ähnliches gilt für die Integration in die Europäische Gemeinschaft. Die Osteuropäer wollen möglichst schnell aufgenommen werden, weil sie sich von einer Mitgliedschaft wirtschaftliche Hilfe, ausländische Investitionen und Absatzmärkte für ihre Produkte versprechen. Nur wenn ihr uns aufnehmt, wird argumentiert, ist unsere wirtschaftliche Entwicklung gewährleistet. Nur wenn unsere wirtschaftliche Entwicklung gesichert ist, gibt es politische Stabilität. Und nur wenn es bei uns politische Stabilität gibt, ist auch eure politische Stabilität nicht ständig bedroht.

Zum Teil wird dies in Westeuropa ebenso gesehen. Aber hinsichtlich des Verhältnisses gegenüber den ehemaligen RGW-Ländern spielen auch noch andere Gesichtspunkte eine Rolle. In den Augen vieler Westeuropäer ist die Europäische Gemeinschaft nicht jener Club der Reichen, als der er in Osteuropa und in der sogenannten Dritten Welt betrachtet wird. Innerhalb der EG existieren erhebliche Produktions-und Wohlstandsunterschiede. Vergleichsweise reich ist nur die Kern-zone Dänemark, Westdeutschland und Norditalien. Davon mehr oder weniger deutlich abgestuft rangieren der südliche Teil Englands, die BeneluxStaaten, Frankreich und eine relativ schmale Zone Mittelitaliens. Die ärmere Peripherie bildet ein Gürtel, der von Schottland über Irland, Portugal, Spanien, Süditalien bis nach Griechenland reicht. Trotz teilweise jahrzehntelanger Integration und Ausgleichsmaßnahmen ist bislang nur eine begrenzte Angleichung innerhalb der EG erfolgt -wobei es in den jeweiligen Zonen auch noch zum Teil erhebliche Gefälle zwischen Zentren und Randbereichen gibt. In Osteuropa tendiert man dazu, die Entwicklung der EG mit der relativ hohen Wachstums-und Wohlstandsdynamik Westdeutschlands gleichzusetzen.

Vor allem aus dem Blickwinkel der EG-Peripherie sind die osteuropäischen Volkswirtschaften potentiell gefährliche Konkurrenten, weil diese von ihrer Außenhandelsstruktur her ähnlich wie sie selbst sind. Nur durch eine Mischung von „Zukkerbrot“ (verschiedene Zugeständnisse und das Versprechen auf höhere Ausgleichszahlungen an den Süden) und „Peitsche“ („wenn ihr nicht mitmacht, laufen die Entscheidungen gegen euch“) konnten die ärmeren EG-Länder vor und auf der Maastrichter EG-Konferenz Anfang Dezember 1991 von einer Obstruktionsstrategie gegen die Annäherung Osteuropas abgebracht werden. Bestätigen sich die Befürchtungen der ärmeren EG-Mitglieder, wegen der vor allem von deutscher Seite forcierten Kooperation mit Osteuropa, Wettbewerbsnachteile in Kauf nehmen zu müssen, dann dürfte sich die Kompromißbereitschaft und insgesamt die Atmosphäre innerhalb der EG in Zukunft kaum harmonischer gestalten. Die schwierigen Verhandlungen in Maastricht sind bezeichnend gewesen für die Klimaveränderung, die durch die neue Lage in Europa auch innerhalb der EG bewirkt worden ist.

Dazu kommen divergierende politische Motive, welche die nationalen Strategien gegenüber einer wirtschaftlichen Anbindung Osteuropas an den Westen beeinflussen. Deutschland ist schon aufgrund seiner geographischen Lage von möglichen negativen Entwicklungen in Osteuropa am meisten tangiert und daher an Unterstützung für die dortige wirtschaftliche und politische Stabilisierung auch am meisten interessiert. Ökonomisch mit der Integration der ehemaligen DDR erheblichen Belastungen unterworfen, setzt die deutsche politische Elite alles daran, das osteuropäische Problem zu europäisieren, d. h. die EG zu engagieren. Frankreich dagegen betrachtet den zentral-und osteuropäischen Raum mehr oder weniger bereits als deutsche Einflußsphäre und befürchtet, das Einbeziehen Osteuropas habe eine Stärkung der deutschen Position in der Gemeinschaft zur Folge. Außerdem spielen wirtschaftliche Vorbehalte (u. a. mögliche Agrar-und Stahlexporte aus Osteuropa) eine Rolle. Großbritannien wiederum wehrt sich gegen eine ökonomische und politische Vereinheitlichung der Gemeinschaft, die nach Londoner Ansicht nur die deutsche Dominanz in der Gemeinschaft zementieren bzw. ausbauen würde, und sieht in einer Annäherung Osteuropas ein Mittel zur Verhinderung einer Politischen Union.

So verschärfen sich auch die politischen Kontroversen innerhalb der Gemeinschaft. Die Deutschen werfen den Engländern vor, ihre (die deutsche) vernünftige gesamteuropäische Politik zu torpedieren, und die Engländer beschuldigen die Deutschen, ganz Europa nach ihren Vorstellungen unifizieren zu wollen. Die unterschiedlichen Interpretationen des von Bonn durchgedrückten Beschlusses bezüglich der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens zum 15. Januar 1992 werfen ebenfalls ein Schlaglicht auf die politische Übereinstimmung in der EG. Bezeichnend ist auch, daß seit dem „großen Schritt“ in Richtung europäische Einheit, den vor allem Deutschland in Maastricht hat tun wollen, neben der Betonung einheitlich-europäischen Vorgehens gerade auch in außenpolitischen Fragen, Bonn immer öfter damit droht, „notfalls auch allein voranzugehen“.

VI. Lebenswelten Ost und West

Diese Querelen werden in Osteuropa als frustrierend empfunden. Jahrzehntelang hat der Westen die Fahne der Freiheit geschwenkt, in die Abwehr der Bedrohung durch den Kommunismus investiert und in Notfällen Care-Pakete geschickt. Und jetzt, wo endlich der Zeitpunkt gekommen ist und es darum geht, die im Osten errungene Freiheit mit wirtschaftlichen Hilfsmaßnahmen aufzubauen, zeigt man sich knauserig und in der jeweiligen Ost-politik von selbstsüchtigen nationalen Interessen geleitet. Die Engländer, Franzosen, Spanier und Griechen zeigen auf die Deutschen, wenn es um konkrete Hilfe für den Osten geht, die Deutschen auf die Europäische Gemeinschaft, die Europäische Gemeinschaft will auch die USA und Japan in die Unterstützung einbinden, die USA und Japan aber sagen, Osteuropa sei ein europäisches Problem. Während im Westen der eine dem anderen den Schwarzen Peter zuzuschieben sucht, geht es im Osten vielen von Monat zu Monat schlechter. Die Lebenshaltung wird immer schwieriger, immer mehr Menschen verlieren ihren Arbeitsplatz und die Lebenschancen stellen sich für viele jedenfalls vorerst nicht besser als früher dar. Die Hilfe, die der Westen leistet, wird als viel zuwenig, kleinlich und dazu noch von eigensüchtigen Streitereien beeinträchtigt wahrgenommen.

Die im Jahre 1991 immer öfter und immer deutlicher vermittelte Enttäuschung in Osteuropa über den Westen wird dort wiederum vielfach als überzogene und undankbare Anspruchs-und Erwartungshaltung gedeutet. Sind von der Europäischen Gemeinschaft, dem Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und anderen internationalen Zusammenschlüssen nicht Milliardenprogramme aufgelegt worden, um diesen Ländern aus ihrer Krise zu helfen? Haben sie nicht großzügige Unterstützung bekommen -von Maßnahmen zur Stabilisierung ihrer Zahlungsbilanz über die Aufnahme ins Allgemeine Präferenzsystem der EG (was ihnen einseitig Zollfreiheit für bestimmte Industrieprodukte garantiert), Infrastruktur-und Umweltschutzhilfen, bis zur Unterstützung bei der Ausbildung von Managern und Verwaltungsfachleuten, nicht zu sprechen von Lebensmittelsoforthilfe und Medikamententransfer?

Wir haben unseren Wohlstand auch nicht von einem Tag auf den anderen erreicht, wird dem Osten entgegengehalten. Wir haben Jahrzehnte dafür gearbeitet, und genau das solltet ihr jetzt auch tun: die Ärmel aufkrempeln und erstmal ordentlich anpacken. Daß hohe Konsumerwartungen erfüllt werden sollen, ohne dafür die entsprechende Leistung erbracht zu haben, wird als Anmaßung empfunden. Doch im Osten hat man bereits jahre-und jahrzehntelang gewartet, und will jetzt, da die Freiheit und die Konsummöglichkeiten endlich da sind, nicht noch einmal auf später vertröstet werden. Wann soll man denn anfangen zu leben? Wenn man gestorben ist?

Daß wenige Politiker und noch viel weniger einfache Bürger in den beiden Lebenswelten Ost und West mit den Kriterien und Maßstäben des jeweils anderen messen und bewerten, ist begreiflich. Die Medien versuchen eher als Ausnahme, dem jeweiligen (mittlerweile nicht selten schon wieder Feind-) Bild korrigierend und Verständnis wekkend entgegenzuwirken, vielfach verstärken sie noch die jeweiligen Auffassungen und Perzeptio9 nen. So entsteht Enttäuschung, Entfremdung, Rückzug und Abgrenzung.

Zwei Jahre nach den Umbrüchen ist das subjektive Verhältnis zwischen Ost und West wieder viel widersprüchlicher als in der Euphorie der Revolutionszeit 1989/90. Einerseits ist nun eine gemeinsame Basis da, gibt es viel mehr Gemeinsamkeiten, auch mehr Austausch und mehr Kooperation als je in den vergangenen Jahrzehnten. Andererseits werden jetzt, da der politische Feind Kommunismus weggefallen ist, auch die menschlichen und sozialen Differenzen wieder sichtbarer. Wie mit dem Tauwetter zwischen Ost und West und dem Wegfall der politischen Verkrustung alte ethnische und sozio-kulturelle Konfliktlinien auf dem Kontinent wieder sichtbar werden, so auch im zwischenmenschlichen und -gesellschaftlichen Bereich alte Verhaltensmuster: Neid, Mißgunst, Gruppenverhalten, Revierverteidigung, Abwehr und Ausgrenzung.

Selbstverständlich ist eine Politik notwendig, die um Verständnis für die Probleme, Einstellungen und Verhaltensweisen des jeweils anderen wirbt. Daß eine solche Politik beschränkt bleibt, weil es um divergierende, nur begrenzt konsens-und kompromißfähige Interessen geht, ist andererseits auch evident. Eine Partei, die sich zum Anwalt höherer finanzieller Transfers nach Osteuropa oder der Öffnung des eigenen Arbeitsmarktes für osteuropäische Arbeitnehmer macht, wird nicht nur in Ostdeutschland angesichts der Tatsache, daß mittlerweile realiter jeder fünfte Erwerbstätige arbeitslos ist, sondern auch im Westen wenig politische Chancen haben.

Angesichts widersprüchlicher Konfliktlagen und von Interessenkonflikten kommt es nicht selten zu merkwürdigen politischen Verrenkungen, die auf der anderen'Seite Irritationen auslösen und schon bestehende Urteile oder Vorurteile bestätigen. So verspricht etwa Giscard d'Estaing in Budapest, sich in der EG für osteuropäische Agrarexporte stark machen zu wollen, und ist wenige Tage später in Paris an der Spitze eines Protestzuges von Bauern zu sehen, die gegen die Überschwemmung des französischen Marktes mit ausländischen Agrarerzeugnissen demonstrieren. Daß die Probleme nicht in ein eindimensionales Richtig-Falsch-Schema zu bringen sind, wird freilich meist nur für das eigene Verhalten akzeptiert. Auf der Gegenseite findet man sehr schnell den vermeintlichen logischen Bruch, die dahinterstehende, im doppelten Wortsinn „falsche“ Haltung und damit auch die Rechtfertigung für die Ambivalenz der eigenen Einstellungen und Verhaltensweisen.

VII. Die Globalität des europäischen Problems

Die osteuropäische Krise weitet sich zusehends zu einer gesamteuropäischen aus. Angesichts der Probleme, die sich mit dem Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa und dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion auftun, sowie der Isolierung, in der sich die beiden Teile des Kontinents jahrzehntelang befunden haben, darf dies eigentlich nicht verwundern. Nicht nur Osteuropa -ganz Europa befindet sich im Übergang. Die Frage ist, wohin dieser Weg führt. Findet der alte Kontinent -es wäre das erste Mal in seiner Geschichte -zu einem kooperativen und produktiven Zueinander, zur Realisierung jener Werte der Aufklärung und des Humanismus, die immer als „europäisch“ in Anspruch genommen werden? Immerhin ist man in den vergangenen Dezennien im Westteil des Kontinents diesbezüglich einige Schritte vorangekommen. Oder waren die vergangenen vier Jahrzehnte -wenn auch eines waffenstrotzenden und fremdbestimmten und für die Völker Osteuropas leidvollen Friedens -nur eine Zwischenperiode, nach deren Ende Europa jetzt dort anknüpft, wo es 1945 aufgehört hat? Seit dem 19. Jahrhundert ist das Zentrum Europas ein „Hauptkampffeld nationaler Antagonismen“, wie der Historiker Rudolf Jaworski schreibt

Schon im letzten Jahrhundert ist die Durchsetzung des jeweiligen nationalen Interesses und der nationalen Emanzipation auf Kosten der jeweiligen Nachbarn erfolgt, und das hat sich bis 1945 nicht geändert. Die aufbrechenden Auseinandersetzungen im Baltikum, zwischen Polen, der Ukraine und Weißrußland, in Moldavia zwischen den dort lebenden Russen und Rumänen, zwischen, Ungarn und Rumänien, zwischen Bulgaren und Türken, zwischen Slowaken und Tschechen, zwischen Serben und Albanern, zwischen Italienern und Slowenen, und nicht zuletzt der bestialisch geführte, in Europa eigentlich schon nicht mehr vorstellbare Bürgerkrieg zwischen verschiedenen Ethnien auf dem Balkan, zeigen, daß der Ausgang des gegenwärtigen europäischen Umbruchs durchaus offen ist.

Es gibt welche, die atmen erleichtert auf: Europa hat so viele Probleme, daß es kaum zur befürchteten Supermacht wird, die mit den USA und mit Japan auf globaler Ebene um die Neuaufteilung von Einflußsphären zu kämpfen vermag. Die Gefahr liegt ganz woanders. Europa ist, wenn es von einer umfassenden Krise erfaßt worden war, schon zweimal in diesem Jahrhundert nicht damit fertig geworden. Die Konsequenzen waren nicht nur für Europa fatal, sondern für die ganze Welt. Amerika und nicht weniger Japan sollten sich daher an der Diskussion über die Lösung der europäischen Probleme und an Maßnahmen zur Krisenlösung intensiv beteiligen. Auch im wohlverstandenen eigenen Interesse.

Sicher können die europäischen Probleme nur in Europa gelöst werden. Es liegt an der EG wie auch an der NATO, dem östlichen Teil des Kontinents entgegenzukommen. Sicherheitspolitisch bedeutet das nur vordergründig mehr Risiko für den Westen, ökonomisch auf jeden Fall eine Umverteilung. Die Aufwendungen vergrößern sich für die reichen westeuropäischen Nationen dadurch, daß auch die peripheren West-und vor allem Südeuropäer Kompensationen für Export-und Marktchancen verlangen, die osteuropäischen Ländern in der EG eingeräumt werden.

Diese Perspektive hat bereits in den westeuropäischen Metropolen Auseinandersetzungen über die zukünftige Strategie ausgelöst. Hilfestellung für Osteuropa beeinträchtige die Chancen, auf dem Weltmarkt gegen die amerikanische und vor allem japanische Konkurrenz zu bestehen Entschließt sich Westeuropa im Alleingang für verstärkte Ost-hilfe, wäre die stärkere Abschottung der Europäischen Gemeinschaft nach außen zwangsläufig. Die intensivierte außenwirtschaftliche Konfrontation auf globaler Ebene würde politische Konsequenzen nicht lange missen lassen. Wird Osteuropa vernachlässigt, werden die negativen Rückwirkungen (sehr schnell) auf ganz Europa und (mit geringer Verzögerung) auf das internationale Beziehungsgefüge nicht weniger gravierend sein.

Die europäischen Dilemmata sind nur international zu lösen. Die Kalamitäten des Kommunismus, für dessen militärische Eindämmung der Westen gemeinsam Tausende von Milliarden investiert hat, hat der Westen gemeinsam geerbt, ob er will oder nicht. Ist der Westen jetzt -nach dem Wegfall des gemeinsamen Feindes -nicht fähig, sich gemeinschaftlich der Probleme der neuen Freunde anzunehmen, so läuft er Gefahr, doch noch ein spätes Opfer des Kommunismus zu werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Z. Brzezinski, To Strasbourg or Sarajevo?, in: The European Magazine, February/March 1991, S. 20-24.

  2. Bei einem Vortrag im Wissenschaftszentrum Berlin am 12. 11. 1991.

  3. Vgl. R. Jaworski, Die aktuelle Mitteleuropadiskussion in historischer Perspektive, in: Historische Zeitschrift, (1988) 3, S. 540.

  4. So z. B. K. Seitz, Die japanisch-amerikanische Herausforderung: Deutschlands Hochtechnologie-Industrien kämpfen ums Überleben, München 19912.

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August Pradetto, Dr. phil., geb. 1949; Mitarbeiter am Institut für Internationale Politik und Regional-studien an der Freien Universität Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Techno-bürokratischer Sozialismus. Polen in der Ära Gierek (1970-1980), Frankfurt 1991; Bürokratische Anarchie. Der Niedergang des polnischen „Realsozialismus“, Wien 1992.