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Polen nach dem Kommunismus -quo vadis? | APuZ 6/1992 | bpb.de

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APuZ 6/1992 Europa nach der Revolution. Ost und West vor säkularen Herausforderungen Polen nach dem Kommunismus -quo vadis? Die Tschechoslowakei -eine Rückkehr zu sich selbst Probleme der Demokratisierung in Ungarn Die Einheit und die Spaltung Europas. Die Auswirkungen der mitteleuropäischen Revolution von 1989 auf Gesamteuropa

Polen nach dem Kommunismus -quo vadis?

Jerzy Holzer

/ 35 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die polnische Politik hat in den zurückliegenden drei Jahren eine vollständige Umgestaltung erfahren, ohne dabei einen Zustand der Stabilität zu erreichen. Die politischen Strukturen des kommunistischen Systems sind zerfallen, der Aufbau neuer geht schleppend voran. Die starke Zersplitterung des Parteiensystems in Polen ist für das Funktionieren des Systems der parlamentarischen Demokratie ungünstig. Entsprechend schwierig gestaltete sich die Regierungsbildung. Die polnische Wirtschaft befindet sich gegenwärtig in einer tiefen Krise. Die Privatisierung der Industrie geht nur langsam voran. Zwei wesentliche Gründe dafür sind eine durch Kapitalmangel hervorgerufene ökonomische Barriere und eine durch die Privatisierungskonzepte der Arbeitervertretungen bedingte soziale Barriere. Auch die polnische Landwirtschaft, in der privates bäuerliches Eigentum dominiert, befindet sich in der Defensive. Der weitgehend privatisierte Handel ist zum wichtigsten Instrument bei der Überwindung der Mangelwirtschaft geworden, leidet jedoch ebenfalls unter Kapitalmangel. Die Hoffnungen der polnischen Politik sind gegenwärtig auf die Europäische Gemeinschaft und auf die USA gerichtet. Die Anbindung an die Europäische Gemeinschaft soll die allmähliche Integration Polens in die sich derzeit herausbildende internationale Ordnung erleichtern; die Annäherung an die USA soll -als Garant des Friedens -den notwendigen äußeren Schutz gewähren. Die Zukunft der polnischen Politik läßt sich schwerlich vorhersehen. Am wahrscheinlichsten ist die allmähliche Annäherung an eine Variante des westeuropäischen politischen Modells. Vor dem Hintergrund zunehmender Frustrationen innerhalb der Gesellschaft wäre jedoch auch eine Restauration im Sinne einer administrativ gelenkten Wirtschaft denkbar. Eine dritte Variante ist in einer tiefgreifenden und langanhaltenden Schwächung der Parteien mit der Folge zu sehen, daß Apathie oder Aggression als politisches Massenverhalten die parlamentarische Demokratie lähmen würden. Die Chancen der polnischen Politik werden in erster Linie von der Entwicklung der polnischen Wirtschaft und der internationalen Lage abhängen.

Bald werden bereits drei Jahre seit den Wahlen vergangen sein, durch die Polen als erstes kommunistisches Land das bis dahin herrschende System beiseite schob. Dem Beispiel Polens folgten die übrigen Länder des sowjetischen Blocks, schließlich auch -nach dem mißlungenen Moskauer Staatsstreich der Parteikonservativen im August 1991 -die Sowjetunion selbst. Vor unseren Augen stürzte ein Weltreich ein, zerbrach eine Doktrin, die Herrschaft über Hunderte Millionen Menschen begründet hatte. Wohin aber führt der Weg? Können wir eine Antwort auf diese Frage finden, wenn wir die aktuelle Situation Polens betrachten, desjenigen Landes also, das zuerst vom kommunistischen Weg abging?

I. Innenpolitik

1. Politische Organisationsstrukturen Die polnische Politik erfuhr in dieser Zeit eine vollständige Umgestaltung, ohne dabei einen Zustand der Stabilität zu erreichen. Es kam zu einem totalen Zerfall der politischen Strukturen des kommunistischen Systems, denn selbst die heute noch bestehenden postkommunistischen Organisationen bewahren Kontinuität eher in personeller als in organisatorischer und ideeller Hinsicht. Die einzige Ausnahme bildet hier die Zentrale der im Gesamtpolnischen Gewerkschaftsbund (Ogolnopolskie Porozumienie Zwiqzkow Zawodowych) organisierten Gewerkschaften. Hingegen hat die wichtigste postkommunistische Partei, die „Sozialdemokratie der Republik Polen“ (Socjaldemokracja Rzeczypospolitej Polskiej), bis hin zur Namensgebung im Schatten einer Ideologie Zuflucht gesucht, die von den Kommunisten jahrzehntelang bekämpft worden war.

Es gab keine Parallelität zwischen destruktiven Prozessen auf der einen Seite und konstruktiven Prozessen zum Aufbau neuer politischer Strukturen auf der anderen Seite. In der ersten Phase der Übersetzung aus dem Polnischen: Angelika Stutterheim-Munker, Bonn.

Umgestaltung nahm die „Solidarnosc“ die zentrale Stellung im politischen Bereich ein. Hinter der Bezeichnung „Solidarnosc“ verbarg sich eine Ansammlung lose strukturierter Organisationen und informeller Gruppen, die in ihrer Gesamtheit über enorme Einflußmöglichkeiten verfügten. Für eine relativ kurze Zeit mochte es so aussehen, als ob die Tätigkeit des gesamtpolnischen „Bürgerkomitees“ beim Vorsitzenden der „Solidarno", Lech Wasa, wie auch zahlreicher regionaler und lokaler Bürgerkomitees zur Bildung einer großen Partei der „Solidarnosc“ -Bewegung führen würde. Verschiedene Gründe verhinderten, daß aus den Bürgerkomitees eine politische Partei und zugleich das zentrale Bindeglied der „Solidarno^c“ -Bewegung wurde, welches sowohl die Gewerkschaften der abhängig Beschäftigten und der Bauern als auch Jugendorganisationen, kulturelle Vereine usw. umfaßt hätte.

Einer der Gründe lag darin, daß einige „Solidarnosc“ -Politiker das Entstehen einer neuen quasi-totalitären Struktur befürchteten, die das gesamte politische Leben bestimmen und allein durch ihre Präsenz den Pluralismus ersticken würde. Ein anderer Grund war die mangelnde politische, ideelle und personelle Kohärenz der „Solidarnosc“, die als eine Art Antipartei gegen den Kommunismus entstanden war und abgesehen von dem gemeinsamen Gegner keinen starken Zusammenhalt aufwies. Der dritte Grund lag in einem deutlichen Verlust an gesellschaftlichem Einfluß, je mehr die sozialen Kosten der Wirtschaftsreform offenkundig wurden.

Das Auseinanderbrechen der „Solidarnosc“ führte zu einem Vakuum. Zwar formierten sich nacheinander verschiedene aus der „Solidarnosc“ hervorgegangene Parteien, sie entsprachen aber keineswegs den Anforderungen des neuzeitlichen europäischen Systems der parlamentarischen Demokratie. Es handelte sich um kleine Grüppchen, die sich in ihren Programmen kaum unterschieden und einer breiteren, sei es auch nur passiven Basis entbehrten. Sie verfügten weder über einen ausgebauten Wahlkampfapparat noch über leistungsfähige, zahlenmäßig starke Organisationen. Sie repräsentierten weder eine klar umrissene Ideologie noch die Interessen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen. Läßt man einmal verschiedene Parteien außer acht, die nur ein kurzes Dasein hatten und später in einer größeren Gruppierung aufgingen, ebenso die ganz kleinen Parteien, die keinerlei Bedeutung erlangten, dann verbleiben einige wenige Parteien von Gewicht. Es erscheint lohnend, sie in einem systematischen Überblick vorzustellen -wenn auch unter dem Vorbehalt, daß der Weg bis zur Ausbildung eines stabilen Parteiensystems noch weit ist.

Unter den aus der „Solidarnosc“ hervorgegangenen Parteien, die sich auf die Prinzipien des demokratischen Sozialismus berufen, nimmt die „Solidarität der Arbeit“ (Solidarnosd Pracy) den ersten Platz ein. Ihr Führer ist der Wirtschaftswissenschaftler Ryszard Bugaj, einer der wichtigsten Wirtschaftsberater der alten „Solidarnosc“. Dagegen konnte die an historische Traditionen anknüpfende „Polnische Sozialistische Partei“ (Polska Partia Socjalistyczna) keine Basis gewinnen, ebensowenig die von Zbigniew Bujak, einem der hervorragendsten Arbeiterführer der „Solidarno", geführte „Demokratisch-Soziale Bewegung“ (Ruch Demokratyczno-Spoleczny). Alle diese Gruppierungen konnten ihr Ansehen auch deshalb nicht mehren, weil sie unfähig waren, eine Verständigung untereinander herbeizuführen, sich zu vereinigen oder doch wenigstens einen gemeinsamen Block zu bilden.

Die „Demokratische Union“ (Unia Demokratyczna) ist ein Sammelbecken für eine Vielzahl von Strömungen, was auch die durch das Statut sanktionierte Fraktionsautonomie unterstreicht. In der „Demokratischen Union“ findet man gemäßigte demokratische Sozialisten, Linksliberale, Ökologen, Liberalkonservative und christlich-soziale Politiker. Dieses Konglomerat wird durch die Autorität der Führungspersönlichkeiten zusammengehalten -der „Union“ gehören zahlreiche populäre Politiker an, Tadeusz Mazowiecki, Jacek Kuroh und Bronislaw Geremek an der Spitze. Weitere integrierende Elemente sind: die entschlossene „europäische Option“ und die Absage an den Nationalismus, der intellektuelle und gelegentlich durch moralischen Anspruch bestimmte Politikstil. Dennoch kann man die „Union“ nur bedingt als eine Partei ausschließlich von Intellektuellen ansehen, da viele ihrer aktiven Mitglieder in der Vergangenheit als Arbeiterführer gewirkt haben, als bekanntester unter ihnen Wladyslaw Frasyniuk.

Die „Zentrumsallianz“ (Porozumienie Centrum) hatte gleichfalls zunächst keine ausgeprägte politische Richtung. Zu ihr gehörten Christdemokraten und Liberale ebenso wie Gewerkschaftler, die schon in der „Solidarnosc“ aktiv gewesen waren. Bis zu einem gewissen Grad wurde die „Zentrumsallianz“ zusammengehalten durch ihren Gegensatz zu der ersten Regierungs-und Parlamentsmannschaft der „Solidarnosc“ -Bewegung. Erst später versuchte sich die „Zentrumsallianz“ im Sinne einer polnischen Christdemokratie zu profilieren. Dies gelang jedoch nur bedingt, da einige andere Gruppierungen nicht auf das christliche bzw. katholische Element in ihrer Namensführung verzichten mochten.

Der „Liberal-Demokratische Kongreß“ (Kongres Liberalno-Demokratyczny) schien über einen längeren Zeitraum hinweg nicht mehr als eine „Wohnzimmerpartei“ zu sein, in der sich ein kleiner Kreis junger Wirtschaftsfachleute zusammen-fand, vorwiegend aus dem Danziger Milieu. Diese Gruppierung unterschied sich jedoch von anderen durch ihre politische und personelle Kohärenz. Die Liberalen gewannen landesweit an Format, insbesondere dank der Popularität von Jan Krzysztof Bielecki, dem Chef der zweiten nichtkommunistischen Regierung. Auf dem Feld der Wirtschaft ebenso wie in der Politik betonten sie ihre liberalen Positionen.

Von mehreren eher rechts anzusiedelnden christlichen Parteien stand eindeutig die „ChristlichNationale Vereinigung“ (Zjednoczenie Chrzescijansko-'Narodowe) unter Führung von Wieslaw Chrzanowski, eines weiteren ehemaligen „Solidarnosc“ -Beraters, an der Spitze. Die Christnationalen engagierten sich massiv im Kampf um die Einführung eines gesetzlichen Verbots des Schwangerschaftsabbruchs. Zu ihrer Popularität trug die Unterstützung durch die Kirche bei, aber auch eine nationalistisch gefärbte Rhetorik. Die „Christlich-Nationale Vereinigung“ betrachtete die „europäische Option“ mit einer gewissen Distanz, da sie in westeuropäischem Säkularismus und Kosmopolitismus eine Bedrohung für katholische und nationale Prinzipien erblickte. Nationalistisch geprägtes Denken beeinflußte auch ihre Vorstellungen zu Wirtschaftsproblemen. Die „Vereinigung“ kritisierte die durchgeführten Reformen wegen mangelnder Abschottung der heimischen Produktion und sprach sich für eine erhebliche Verstärkung protektionistischer Maßnahmen aus.

Eine besondere Stellung nahmen einige aus der „Solidarnosc“ -Bewegung hervorgegangene bäuerliche Gruppierungen ein. Sie alle hatten ihre Wurzeln in der „Solidarnosc“ der Privatbauern, die seinerzeit der schwächere Partner der „Solidarnosc“ der abhängig Beschäftigten war. Die bäuerlichen Parteien litten unter ihrer Zersplitterung, eher personell als programmatisch motivierten Streitigkeiten, aber auch unter ihrer organisatorischen Schwäche. Sie bemühten sich, die Interessen der Landwirtschaft zu vertreten, indem sie Subventionen bzw. billige Kredite forderten sowie eine nahezu hermetische Abschottung durch Importzölle. Andere ideelle oder politische Fragen blieben eher am Rande, obgleich mit Blick auf die Stimmungen im ländlichen Bereich mit Vorliebe katholische und nationale Anschauungen herausgestellt wurden.

Zu den aus der „Solidarnosc“ hervorgegangenen Gruppierungen kann man mit gewissen Vorbehalten auch die „Konföderation für ein Unabhängiges JPolen" (Konfederacja Polski Niepodleglej) rechnen. Sie war schon vor der „Solidarnosc“ entstanden und hatte ihr gegenüber immer ihre Selbständigkeit bewahrt, obgleich sich Vertreter der Konföderation häufig an den Aktivitäten von „Solidarnosc“ beteiligten. Die „Konföderation“ verwies immer mit Stolz auf ihre angeblich sehr gut ausgebaute Organisation, aber sicherlich hatte sie in dieser Hinsicht den aus der „Solidarno" hervorgegangenen Parteien nur wenig voraus. Sie hatte allerdings einen sehr starken inneren Zusammenhalt dank der unangefochtenen Autorität ihres Führers Leszek Moczulski. Das politische Programm der „Konföderation“ blieb eher unscharf. Gern wurde mit nationalen Schlagworten operiert, gleichzeitig betonte man die Notwendigkeit der europäischen und mitteleuropäischen Annäherung. Gegenüber der Kirche blieb die „Konföderation“ deutlich auf Distanz. Voller Ehrerbietung berief man sich auf Pilsudski, den Chef des autoritären Vorkriegsregimes, gleichzeitig befürwortete die „Konföderation“ die Einführung von Strukturen aus dem System der parlamentarischen Demokratie. Das Interesse für wirtschaftliche Probleme war nicht sehr stark ausgeprägt, wenn auch der unzureichende Schutz der polnischen Produktion bemängelt sowie eine aktivere Sozialpolitik gefordert wurde. Über die besten Organisationsstrukturen verfügen diejenigen Parteien, die an eine schon zu kommunistischen Zeiten bestehende Tätigkeit anknüpfen konnten -sei es unmittelbar, sei es über eine Neu-belebung. Dies gilt für die ehemaligen Kommunisten, die ihre Organisationsstrukturen zunächst aufgelöst hatten, dann aber neu aufbauten. Dies gilt in noch stärkerem Maße für die ehemalige pro-kommunistische Bauernpartei und einige kleinere Gruppierungen. Alle diese Parteien bemühten sich ganz konsequent darum, die Interessen -oder doch wenigstens die Emotionen -einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe zu vertreten. Auf der anderen Seite waren diese Parteien, insbesondere die Nachfolgeorganisationen der kommunistischen Partei (die „Sozialdemokratie“, die betont politisch unabhängig auftretende postkommunistische Gewerkschaftszentrale), durch ihre Vergangenheit belastet und wurden daher von einem bedeutenden Teil der Gesellschaft abgelehnt.

Während der Präsidentschaftswahlen im Herbst 1990 entstand eine neue Formation, die „Partei „X" (Partia , X‘), die sich bemühte, das politische Vakuum zu füllen. Ihr Führer Stanislaw Tyminski errang einen enormen Erfolg, als er neben Lech Wasa die Hürde für den zweiten Wahlgang schaffte. Die „Partei , X“ ‘ appellierte an die Emotionen derjenigen gesellschaftlichen Gruppen, die die hohen Kosten der Wirtschaftsreform zu tragen hatten. Die Anhänger Tyminskis hatten zwar durchaus unterschiedliche Interessen, doch waren sie sich in einer globalen Ablehnung der „Solidarno" -Politik einig. Im folgenden Jahr konnte die „Partei , X“ ‘ ihre Position nicht mehr halten. Die öffentliche Bekundung eines vagen Protestes reichte lediglich für einen einmaligen Wahlakt zur Unterstützung der charismatischen Figur Tyminskis aus. Es gelang der „Partei „X" nicht, eine stabile, gutorganisierte Basis für das extreme Gemisch von Anschauungen zu schaffen, das sie kennzeichnete: nationalistisch und antiwestlich, dem politischen Katholizismus gegenüber ablehnend, liberal in den Forderungen nach Freiheit und Steuererleichterungen für polnische Unternehmer und Landwirte, protektionistisch in der Befürwortung von Subventionen und Zollbarrieren zum Schutz der heimischen Produktion.

Die Schwäche der Parteistrukturen ging einher mit einer Schwächung jeglicher anderer Strukturen, die wenigstens zum Teil und ersatzweise zwischen Staat und Bürgern hätten vermitteln können. Dies betraf die Gewerkschaften, die aus unterschiedlichen Gründen an Autorität und Organisationsstärke einbüßten. Die Funktion der „Solidarnosc“ als Gewerkschaft wurde innerhalb der „Solidarnosc“ -Bewegung zunehmend verdrängt, während gleichzeitig die gesamte Bewegung auseinander-fiel. Die kommunistischen Gewerkschaften waren aufgrund ihrer Mitverantwortung für die kommunistische Vergangenheit geschwächt. In dieser Situation besteht die Gefahr, daß gewerkschaftliche Ausgleichsforderungen, die im Zusammenhang mit den Kosten gesellschaftlicher Reformen ansteigen, in unkontrollierbare Handlungen münden. Nicht selten versuchten die Gewerkschaften lediglich, spontane Eskalationen zu kanalisieren bzw. für die Stärkung der eigenen Position zu nutzen. Nach wie vor ist die katholische Kirche eine Kraft im öffentlichen Leben Polens, jedoch geriet auch ihre Autorität etwas ins Wanken. Hatte die Kirche in kommunistischen Zeiten moralische Positionen vertreten, die einen Gegenentwurf zu Ideologie und Praxis des damaligen Systems bildeten, so kam es nach dem Zusammenbruch des Kommunismus zu einem direkten politischen Engagement der Kirche und vieler ihrer Repräsentanten, und zwar in zweifacher Hinsicht. Zum einen versuchte die Kirche, ihre Moralvorstellungen und ihre Auffassungen zur Erziehung der Jugend in der polnischen Gesellschaft durchzusetzen. Diese Politisierung wurde schon bei der Kontroverse um die Einführung des Religionsunterrichts in der Schule deutlich, noch klarer trat sie in der Abtreibungsproblematik zutage. Die Gesellschaft spaltete sich in der Haltung zum Schwangerschaftsabbruch und der gleichzeitigen Beschränkung des Zugangs zu Verhütungsmitteln. Durch die starke Fixierung auf Probleme der Sexualethik und durch ihre politische Einflußnahme beeinträchtigte die Kirche ihre bis dahin unangefochtene Stellung in der Gesellschaft und geriet in eine umstrittene Position.

Zum zweiten waren bei einem Teil des Klerus und der eng mit der katholischen Kirche verbundenen Laienbewegung politische Ansichten verbreitet, in denen sich Katholizismus und Nationalismus verbanden. Obwohl die Kirche als Institution erklärtermaßen nicht unmittelbar in politische Auseinandersetzungen einzugreifen beabsichtigte, geriet sie in die Arena des politischen Kampfes, weil viele ihrer Vertreter, bis hin zu höchsten kirchlichen Würdenträgern, aus ihren Sympathien für die nationalistisch-klerikal eingestellte Rechte und aus ihrer Abneigung gegen die Linke -auch im traditionellen Wortsinn, demzufolge seinerzeit Gegner von Nationalismus und Intoleranz als Linke galten-keinen Hehl machten.

Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die politischen Organisationsstrukturen, die sich im postkommunistischen Polen herausgebildet hatten, für ein Funktionieren des Systems der parlamentarischen Demokratie ausgesprochen ungünstig waren. So konnten sich zwei gefährliche Haltungen in der Bevölkerung ausbreiten: die eine besteht in der politischen Apathie, dem vollständigen Mangel an Interesse für den Bereich des öffentlichen Lebens; die zweite in der spontanen Aggression, die nicht in der Lage ist, politische Forderungen realistisch zu formulieren. Der Übergang von der ersten zur zweiten Haltung kann sich bei einer Häufung negativer Impulse schlagartig vollziehen und zur Bedrohung für die Fundamente des Systems werden.

Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus entstand in Polen eine staatliche Ordnung, die der europäischen Demokratie-Tradition entspricht: mit einem intensiv tätigen Parlament, einer ihm verantwortlichen Regierung, einem demokratisch gewählten Präsidenten mit weitreichenden, aber durch die Verfassung definierten Kompetenzen. Zur Vollendung des demokratischen Staates fehlen jedoch ein entsprechendes Fundament in Gestalt von gesellschaftlich-politischen Organisationen sowie entsprechende Fortschritte bei der Ausbildung eines staatstragenden, demokratischen Bewußtseins. 2. Parlamentarismus und Wahlen Mehr als zwei Jahre lang war das große Manko des polnischen Parlamentarismus seine mangelnde demokratische Legitimation. Zwar ging der Senat aus demokratischen Wahlen hervor, doch waren seine Kompetenzen gering. Der Sejm hingegen wurde nach den Vereinbarungen des „runden Tisches“ zusammengesetzt, die kurz vor dem Zusammenbruch des Kommunismus getroffen worden waren. Sie garantierten den Kommunisten und ihren damaligen politischen Verbündeten 65 Prozent der Mandate. Wenn man bedenkt, daß die „Solidarnosc“ in der Abstimmung über die verbleibende Anzahl der Mandate beinahe 80 Prozent der Stimmen erhielt, so ist leicht einzusehen, daß der Sejm kein repräsentatives Parlament war und dadurch Autoritätseinbußen erlitt.

Dieses nicht repräsentative Parlament mußte nacheinander zwei von der „Solidarnosc“ -Bewegung gestellte Regierungen tolerieren, blockierte aber gleichzeitig viele Gesetzesinitiativen und zwang zu Kompromissen. Die Auflösung des Sejm und die Durchführung von Neuwahlen wurden hinausgeschoben. Ihren Interessen entsprechend führten die den postkommunistischen Strukturen entstammenden Parteien die Verabschiedung einer am reinen Verhältniswahlrecht orientierten Wahlordnung herbei. (Dabei fanden sie auch die Unterstützung verschiedener kleiner Gruppierungen, die sich aus der „Solidarnosc“ -Bewegung herleiteten.) Mit der Übernahme des Präsidentenamtes durch Wasa kam es wiederholt zu Konflikten zwischen Präsident und Sejm.

Die Position des im Herbst 1990 gewählten Wasa war in verschiedener Hinsicht kompliziert. Die Wahl selbst erfolgte erst im zweiten Wahlgang, weil er im ersten Wahlgang weniger als die Hälfte der Stimmen erhalten hatte, und das bei einer Wahlbeteiligung von weniger als zwei Dritteln. Auf diese Weise widerlegte die Präsidentenwahl gleichzeitig den Mythos, Wasa sei der unangefochtene Führer des gesamten Volkes. Große Schwierigkeiten verhieß die wahltaktisch-demagogische Verwendung des Schlagwortes „Beschleunigung“, denn eigentlich war der Präsident entschlossen, die bisher verfolgte Linie der Wirtschaftsreform, allgemein als „Balcerowicz-Plan" bezeichnet, ohne größere Veränderungen fortzuführen. Die von Wasa berufene Regierung Bielecki wurde denn auch vor allem eine Regierung der Kontinuität, und Leszek Balcerowicz, Vizepremier dieser Regierung, festigte seine Position als Lenker der Wirtschaftspolitik. Schließlich ist noch anzumerken, daß es dem neugewählten Präsidenten in vielen Bereichen, insbesondere auf internationalem Parkett, an Erfahrung mangelte.

Da das Parlament nicht repräsentativ war, außerdem die „Solidarno^c“ -Bewegung -die sich vorher auf die Unterstützung der großen Mehrheit der Bevölkerung hatte stützen können -auseinander-brach, war Wasa trotz alledem der einzige durch demokratische Wahlen legitimierte Repräsentant der obersten Staatsorgane. Eine Zeitlang mochte es scheinen, als wolle er seine Position durch die Bildung einer Partei bzw. eines Blocks von dem Präsidenten nahestehenden Parteien ausbauen. Dazu war vor allem die „Zentrumsallianz“ ausersehen, deren Führer Jaroslaw Kaczynski zum Staatssekretär und Chef der Präsidialkanzlei avancierte, während seine Parteifreunde fast alle wichtigen Posten in der Präsidialkanzlei einnahmen. Diese Hinwendung des Präsidenten zur „Zentrumsallianz“ zeigte sich auch in der Berufung eines Beratergremiums (Komitet Doradczy), das sich beinahe ausschließlich aus dieser Partei nahestehenden Politikern zusammensetzte, sowie in den scharfen Angriffen auf die Führer der „Demokratischen Union“.

Wasa veränderte seine Linie in dem Maße, in dem die Parlamentswahlen heranrückten. Sicher spielten dabei Meinungsumfragen eine Rolle, die der „Zentrumsallianz“, mehr noch ihren führenden Politikern, keine allzu große Popularität bescheinigten. Hätte Wasa ihr unter diesen Umständen das Image einer Präsidentenpartei belassen, so wäre ein Popularitätsverlust für ihn selbst die Folge gewesen. Schließlich konnte er kein Interesse daran haben, mit einer Partei identifiziert zu werden, die bei den Wahlen nur einen geringen Stimmenanteil erhalten würde.

Zielscheibe der Wahlkampfattacken aller Parteien, mit Ausnahme der Liberalen und der „Demokratischen Union“, wurde die Person von Leszek Balcerowicz. Viele hofften, sein Abtreten könnte der polnischen Wirtschaft neue Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen, obwohl ein alternatives, umfassendes Wirtschaftsprogramm fehlte. Auf der anderen Seite war sich der Präsident bewußt, daß Balcerowicz in Wirtschaftskreisen westlicher Staaten Vertrauen genießt; dort hätte sein Ausscheiden aus dem Amt als erster Schritt auf dem Weg zurück in das Chaos der Inflation verstanden werden können. Ernst zu nehmende polnische Wirtschaftsexperten unterstützten ebenfalls die Hauptthesen des „Balcerowicz-Plans“, wenn sie auch gelegentlich bestimmte Maßnahmen bzw. entsprechende Versäumnisse heftig kritisierten.

Bei den Wahlen im Oktober 1991 wurde lediglich eine Wahlbeteiligung von 43 Prozent erreicht, was in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts fast ohne Beispiel ist. Sie brachten eine starke politische Zersplitterung des Parlaments: Vertreter von 29 Listen zogen in den Sejm ein. Dieses Wahlergebnis verlangt eine weitergehende Deutung. Die niedrige Wahlbeteiligung war offensichtlich auch eine Folge der sehr komplizierten Wahlordnung, die insbesondere weniger gebildete Menschen ratlos machte. Diesem Umstand kann man die besonders niedrige Wahlbeteiligung auf dem Lande und in Kleinstädten zuschreiben. Die entscheidende Rolle spielten jedoch die Orientierungslosigkeit der Wähler nach dem Auseinanderbrechen der „Solidarno" und ihre Enttäuschung nach den Präsidentschaftswahlen mit ihrem demagogischen und von uneingelösten Versprechen begleiteten Wahlkampf.

Unter den Ergebnissen für die einzelnen Parteien waren besonders überraschend: der gute zweite Platz -fast gleichauf mit der führenden „Demokratischen Union“ -der ehemaligen Kommunisten; das weit hinter den Erwartungen zurückgebliebene Abschneiden der „Demokratischen Union“; die relativ guten Ergebnisse der „Konföderation für ein Unabhängiges Polen“ und der „Katholischen Wahlaktion“ (Wyborcza Akcja Katolicka) -unter dieser Bezeichnung war die „Christlich-Nationale Vereinigung“ angetreten; der große Erfolg der Liste der deutschen Minderheit; die völlige Bedeutungslosigkeit extrem nationalistischer und offen antisemitischer Listen, die sich in der Tradition der „Nationalpartei“ (Stronnictwo Narodowe) der Vorkriegszeit sahen. Eine gewisse Überraschung lag auch in dem deutlichen Vorsprung der noch aus kommunistischen Zeiten stammenden Bauernpartei vor der gemeinsamen Liste bäuerlicher Gruppierungen, die aus der „Solidarno" entstanden sind. Die früheren Kommunisten verdankten ihren Erfolg dem Umstand, daß ihre Anhänger relativ stark motiviert waren, an den Wahlen teilzunehmen. (Denn ein großer Teil von ihnen waren kommunistische Funktionäre der verschiedensten Ebenen, die eine Abrechnung mit der Vergangenheit fürchteten, besonders aber die von der „Zentrumsallianz“ und der „Konföderation für ein Unabhängiges Polen“ beabsichtigte „Entkommunisierung“.) Sicherlich wandten sich ihnen aber auch zahlreiche völlig unpolitisch eingestellte Wähler zu, die von den negativen Folgen der Wirtschaftsreform betroffen waren.

Die „Demokratische Union“ schien noch wenige Wochen vor den Wahlen klar in Führung zu liegen. Später kam es dann zu einer Trendwende. Die im Ton maßvollen Wahlkampfslogans der „Union“ paßten sicher nicht ganz zum Klima des Wahlkampfes. Mit ihrem Hauptslogan „Ich bin dafür!“ suggerierten sie geradezu Einverständnis mit den bestehenden Verhältnissen, die doch de facto eine tiefe Krise widerspiegelten. Eine große Rolle spielte sicher auch die ablehnende Haltung des Klerus, der der „Union“ religiösen Indifferentismus unterstellte. In einer verdeckt geführten Propagandakampagne klerikal-nationalistischer Kreise wurde die „Union“ sogar mit antisemitischen und antifreimaurerischen Argumenten bekämpft (obwohl man auf ihren Listen nur schwerlich Juden und Freimaurer ausfindig machen konnte).

Die größte Überraschung brachte das Abschneiden der „Konföderation für ein Unabhängiges Polen“. Obwohl auch sie nicht gerade das Wohlwollen der Kirche genoß, wurde sie doch als einzige der größeren antikommunistischen Parteien nicht zugleich mit der zerstrittenen „Solidarnosc“ identifiziert. Der „Konföderation“ wurde keine Mitverantwortung angelastet, weder für die kommunistische Herrschaft noch für die von der „Solidarnosc“ -Bewegung gestellten Regierungen. Sie hatte es auch verstanden, sich dem demagogischen Ton des Wahlkampfes anzupassen, indem sie den „Balcerowicz-Plan" nicht mit Kritik verschonte und auf die nationalen Gefühle der Polen abhob.

Schon eher konnte man mit dem Erfolg der Christ-nationalen rechnen, nachdem die Kirche sich damit einverstanden erklärt hatte, daß sie unter der Bezeichnung „Katholische Aktion“ antreten, und ein bedeutender Teil des Klerus die Gläubigen aufrief, ihre Stimme zugunsten der entsprechenden Listen abzugeben. Dennoch enthielt der Erfolg der „Katholischen Aktion“ einen Wermutstropfen, denn sie konnte breitere Unterstützung nur auf dem Lande und in Kleinstädten, bei der älteren Generation und generell vorwiegend bei Bevölkerungsgruppen mit geringer Bildung finden. (Dies zeigen soziologische Untersuchungen.) Besonders schmerzhaft war die mangelnde Akzeptanz bei der Jugend.

Den Erfolg der deutschen Liste kann man vor allem dem hochmotivierten Wahlverhalten ihrer Anhänger zuschreiben. Schließlich waren die Parlamentswahlen des Jahres 1991 für die deutsche Minderheit die erste Gelegenheit zu einem selbständigen Auftreten. Die polnischen Wähler in den von Deutschen bewohnten Gebieten ließen sich nicht von nationalistischen Emotionen hinreißen. Abgesehen von der unter dem Durchschnitt liegenden Wahlbeteiligung (beispielsweise in den Wojwodschaften Oppeln und Kattowitz) ist als Beleg dafür das gute Abschneiden der „Demokratischen Union“ anzusehen, die zur Toleranz gegenüber der Minderheit aufgerufen hatte. Und dafür sprechen auch die relativ schwachen Ergebnisse der „Katholischen Aktion“, der am stärksten nationalistisch geprägten unter den größeren Parteien. Im übrigen entsprach die Haltung der polnischen Wähler in diesem Gebiet den allgemeinen Trends, denn in ganz Polen fanden extreme nationalistische Listen bei den Wählern keine Beachtung.

Die bäuerlichen Parteien schnitten im allgemeinen etwas schwächer ab, als man hätte vermuten können. Besonders negativ aber haben sich wohl die Aufrufe des Klerus zugunsten der „Katholischen Aktion“ auf die Ergebnisse der in der „Solidarnosc“ -Nachfo! ge stehenden bäuerlichen Liste aus-gewirkt, denn diese konnte nun nicht die älteren organisatorischen Bindungen und die längere Tradition für sich geltend machen. In den zehn Jahren ihres Bestehens war die Land-„Solidarnosc“ ja gerade besonders eng mit der Kirche verbunden gewesen, die nun den Konkurrenten den Vorzug gab.

Nach diesem Wahlergebnis mußte die Berufung einer neuen Regierung der Lösung eines Puzzles gleichen. Um von der Parlamentsmehrheit akzeptiert zu werden, mußte eine neue Regierung zumindest passive Unterstützung bei vier der sieben größeren Fraktionen sowie bei einem Teil der Abgeordneten außerhalb der Fraktionen finden. Dabei bestanden mehrere, sich teilweise überschneidende Konfliktlinien. Eine von ihnen trennt die Postkommunisten von allen übrigen Gruppierungen, die aus der einstigen antikommunistischen Opposition stammen. Eine andere Linie verläuft zwischen den entschiedenen bzw. kritischen Anhängern des von den Regierungen Mazowiecki und Bielecki verfolgten Wirtschaftsprogramms, des so-genannten „Balcerowicz-Programms“, einerseits und seinen Gegnern andererseits. Wieder anders sieht die Einteilung nach Befürwortern und Kritikern eines bestimmten Staatsmodells aus: des deutlich ideologisch geprägten, „katholisch-nationalen“ Staates einerseits, des weltanschaulich neutralen, säkularen und nach Europa hin offenen Staates andererseits. Wenn man zu alledem noch bedenkt, welch ungeheure Rolle immer auch Konflikte um Personen und Gruppen spielen, so konnte die Überwindung der parlamentarischen Zersplitterung bei der Regierungsbildung als schier unlösbare Aufgabe erscheinen.

Wasa schien nach dem ersten Versuch -dem Auftrag zur Regierungsbildung an Bronislaw Geremek -und seinem Scheitern entschlossen, die ihm zur Verfügung stehende Zeit auszuschöpfen, denn dies hätte gleichzeitig bedeutet, daß die das Vertrauen des Präsidenten genießende Regierung Bielecki vorläufig noch im Amt geblieben wäre.

Einige Probleme traten jedoch schon in den ersten Wochen nach der Wahl zutage. Die Veränderung in der Position Wasas war offensichtlich. Er geriet in immer tieferen Konflikt mit seinen früheren Anhängern in der „Zentrumsallianz“ und der „Katholischen Aktion“, die ihn in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen unterstützt hatten. Hingegen rückte er wieder näher zu seinen Freunden aus den Jahren der legalen und illegalen Tätigkeit von „Solidarno", der heutigen Führungsmannschaft der „Demokratischen Union“, hielt aber weiterhin auch an seinen guten Kontakten zu den Liberalen fest. Wasa strebte die Bildung einer Regierung an, die sich in den Grundzügen an der Wirtschaftspolitik der vorherigen Regierungen orientieren würde, fürchtete sich aber vor der Demagogie und Verantwortungslosigkeit derer, die diese Politik kritisierten.

Den einzigen ernsthaften Versuch zur Herstellung einer parlamentarischen Mehrheit unternahmen diejenigen Parteien, die sich als Parteien der Rechten bzw.der Mitte definieren. Anfangs waren es vier (die „Christlich-Nationale Vereinigung“, die „Konföderation für ein Unabhängiges Polen“, die „Zentrumsallianz“, und der „Liberal-Demokratische Kongreß“), später fünf (hinzu kam die aus der „Solidarnosc“ stammende „Bauern-Allianz“ -Porozumienie Ludowe). Die Mitte-Rechts-Koalition hielt unverändert an ihrer Unterstützung für Jan Olszewski als Kandidaten für das Amt des Premierministers fest. Der hervorragende Rechtsanwalt, der als Verteidiger in politischen Prozessen auftrat, ist mit der „Zentrumsallianz“ verbunden, obwohl er zuvor über viele Jahre hinweg seine Sympathien für die Sozialdemokratie unterstrichen hatte. Es handelte sich jedoch bei Olszewski um einen Kandidaten, dem ganz offensichtlich nicht die Sympathie des Präsidenten gehörte.

Die Mitte-Rechts-Koalition zerbrach im Grunde während der Bemühungen um die Aufstellung eines Programms und einer Kabinettsliste, da die Liberalen und die „Konföderation für ein Unabhängiges Polen“ die Koalition verließen. Dennoch konnten die Löcher einstweilen geflickt werden. Selbst Wasa erkannte an, daß es besser sei, sich mit einer Regierung Olszewski abzufinden, als angesichts der großen Wirtschaftsprobleme ein Provisorium zu verlängern. Die Regierungsbildung übernahmen schließlich gerade drei Koalitionspartner. Für diese Regierung votierten dann aber auch so unterschiedliche politische Kräfte wie die postkommunistische Bauernpartei und die linke „Solidarität der Arbeit“ (Solidarnosc Pracy). Die Schwierigkeit, ein Regierungsprogramm aufzustellen, ist also weiterhin gegeben, denn wenn man die Wahlkampfankündigungen ernst nimmt, so wollen die Christnationalen, die „Solidarno^c“ -Bauernpartei und zumindest ein Teil der „Zentrumsallianz“ die bisherige Wirtschaftspolitik entschieden verändern. Die Übereinkunft zwischen Präsident Wasa und Premierminister Olszewski beruht jedoch darauf, nach Möglichkeit die Linie der Inflationseindämmung weiterzuverfolgen. Die von der neuen Regierung ausgegebenen Parolen zur Rezessionsbekämpfung erfuhren allerdings bisher keine konkrete Auslegung.

Die Frage nach den politischen Persönlichkeiten berührt einen durchaus bedeutsamen Schwach-punkt dieser Koalition. Seit langem schon ist durch Meinungsumfragen belegt, daß die Wähler wesentlich mehr Vertrauen zu den Führern der „Demokratischen Union“ haben -aber auch zu dem Liberalen Bielecki -als zu den Führern der neuen Regierungskoalition; auch Olszewski genießt keine große Popularität.

II. Wirtschaftsprobleme

Die polnische Wirtschaft befindet sich gegenwärtig in einer tiefen Krise; sie tritt auf drei Ebenen auf: Zum ersten kam es zu einem gewaltigen Rückgang der Staatseinnahmen. Zum zweiten zerbrachen -und zerbrechen weiterhin -die vom kommunistischen System ererbten Strukturen, während die Strukturen der Marktwirtschaft unter gewaltigen Schwierigkeiten neu entstehen. Zum dritten vollzieht sich eine Umorientierung der außenwirtschaftlichen Bindungen. Bislang waren sie geprägt durch die Zugehörigkeit zum kommunistischen Block (mit besonderer Abhängigkeit von der Sowjetunion), jetzt hingegen wird Polen ein Teil des Weltmarktes, mit besonders starker Orientierung auf den weitgehend integrierten Markt der Europäischen Gemeinschaft.

Der Handel reagierte am schnellsten auf die neue Situation. Das für das kommunistische System so charakteristische Phänomen der Mangelversorgung verschwand von der Bildfläche, ebenso seine Begleiterscheinungen wie Spekulation, Schwarzmarkt und schwunghafter privater Handel im Ausland.

Der Handel wurde mit seiner weit fortgeschrittenen Privatisierung und nach seiner Entlastung von einengenden Verwaltungsauflagen zum wichtigsten Instrument bei der Überwindung der Mangel-wirtschaft, indem er die erforderliche Binnenproduktion sowie den Import zur Deckung der Bedürfnisse des polnischen Marktes stimulierte. Dieser neue polnische Handel hat allerdings eine schwache Kapitalausstattung, tätigt im allgemeinen keine größeren Investitionen und ist noch weit davon entfernt, modernen Ansprüchen zu genügen. Dazu bedarf es entsprechender Transport-und Verkaufsbedingungen, die die Warenqualität nicht beeinträchtigen, sowie einer kundenfreundlichen Verkaufskultur.

Die Industrie hat ungleich größere Schwierigkeiten. Das Prinzip der Produktion um der Produktion willen, dem zufolge der Vorrang der Quantität mit der Inkaufnahme minderer Qualität einher-ging, wurde verworfen. Es war gekoppelt mit zwei weiteren, mittlerweile ebenfalls verworfenen Prinzipien: dem einer anhaltenden Investitionskonjunktur und dem einer aufgrund von Subventionierung, niedrigen Preisen und infolge von Verschwendung ungehemmten Nachfrage. Das Wirken dieser Prinzipien verstärkte in der Endphase des Kommunismus die Hyperinflation. Die Öffnung in Richtung Weltmarkt bei gleichzeitiger Aufhebung der Stützungsleistungen machte offenbar, daß die polnische Industrieproduktion selten konkurrenzfähig, häufig zu teuer, noch häufiger von niedrigem technischen Standard und von schlechter Qualität ist.

Die restriktive Finanzpolitik in Verbindung mit der Drosselung der Hyperinflation und die Begrenzung der Nachfrage durch die Einführung von Marktpreisen bewirkten eine Rezession, die durch außenwirtschaftliche Faktoren verstärkt wurde. Der Import erschwerte den Absatz verschiedener einheimischer Produkte, mit einer gewissen Verspätung wurden daher mehr oder weniger hohe Zollbarrieren errichtet. Auf der anderen Seite brach in den Ländern des ehemaligen kommunistischen Blocks der Markt für den Absatz polnischer Waren zusammen. Alle diese Länder schränkten ihre Investitionen drastisch ein, überall gab es dramatische Anzeichen eines Konjunktureinbruchs. Vor allem aber verloren polnische Waren unter den Bedingungen der freien internationalen Konkurrenz häufig zugunsten westlicher Produkte an Terrain.

Rettung für die Industrie sollte die ökonomische Gesundung durch Strukturwandel bringen. In der angewendeten Wirtschaftsstrategie erhielt die Privatisierung den entscheidenden Stellenwert. Sie ging jedoch langsam voran und stieß auf eine durch Kapitalmangel bedingte ökonomische Barriere. Das begrenzte Binnenkapital tendiert eher zum Handel als zur Industrie, in der größere Investitionen erforderlich sind, Erträge aber erst nach einer längeren Zeit erwartet werden können. Ausländisches Kapital fließt spärlich wegen der unsicheren Rentabilitätsaussichten sowie aufgrund mangelnden Vertrauens in die soziale und politische Stabilisierung.

Die Privatisierung wird auch durch eine soziale Barriere gebremst. In den staatlichen Betrieben haben die Arbeitervertretungen eine starke Position. Ihre Haltung wird beeinflußt von den Ängsten der Arbeitnehmer vor einer Wegrationalisierung von Arbeitsplätzen, vor Massenentlassungen und vor der Einführung einer strengen Arbeitsdisziplin. Die Arbeitervertretungen plädieren für ein Privatisierungskonzept, dem zufolge die Ausgabe von Belegschaftsaktien möglichst breite Anwendung finden sollte. Eine andere Konzeption sieht die Ausgabe von unentgeltlichen Kapitalbons vor, wodurch eine Beteiligung aller Bürger am Aufkauf der Betriebe ermöglicht würde. Diese Privatisierungspläne können der Industrie jedoch keinen Zustrom an Kapital sichern.

Noch in der Endphase der kommunistischen Ära mochte es so aussehen, als würde es die polnische Landwirtschaft mit der Anpassung an die Marktwirtschaft weniger schwer haben als andere Wirtschaftsbereiche. Zwar dominiert in der Landwirtschaft das private bäuerliche Eigentum, jedoch sind Arbeitseffektivität und Agrarkultur unzureichend, und viele Produkte entsprechen nicht der Qualität, die man in den besser entwickelten europäischen Ländern gewohnt ist. Sogar auf dem heiB mischen Markt geriet die polnische Landwirtschaft in die Defensive. Obwohl westliche Erzeugnisse selten billiger sind, bewirkte der Qualitätsunterschied, daß besser gestellte polnische Käufer bereit sind, die teureren ausländischen Produkte zu kaufen. Die gegenwärtig geltenden Schutzzölle können zwar nicht vollständig Abhilfe schaffen, doch können sie die Nachfrage nach westlichen Waren begrenzen.

Die Schwierigkeiten der polnischen Landwirtschaft werden durch die Wirtschaftspolitik der Europäischen Gemeinschaft vergrößert, in der Subventionen für die Landwirtschaft allgemein üblich sind. Da Polen sich derzeit Subventionen nicht leisten kann, tritt der Preisunterschied zwischen polnischen Produkten und subventionierten westeuropäischen Waren, die auf unterschiedlichen Wegen auf den polnischen Markt gelangen, um so deutlicher hervor. Dort aber, wo die polnische Landwirtschaft durchaus konkurrenzfähig ist, schützte sich die Europäische Gemeinschaft durch die Einführung von Mengenbeschränkungen für den Import bestimmter landwirtschaftlicher Erzeugnisse aus Polen. Der am 22. November 1991 paraphierte Assoziierungsvertrag Polens mit der EG wird die Exportmöglichkeiten der polnischen Landwirtschaft teilweise, aber nicht in vollem Umfang verbessern.

Ein weiteres Problem ist die Eigentumsstruktur in der polnischen Landwirtschaft. Zwei Aspekte sind hier von größter Bedeutung. Der eine betrifft die Zersplitterung von landwirtschaftlichen Flächen und Kapitalien. Es überwiegen kleine und extensive landwirtschaftliche Betriebe. Zum zweiten befindet sich ein bedeutender Prozentsatz der landwirtschaftlichen Flächen in Staatsbesitz. Diese gehören fast ausnahmslos zu den defizitären Großbetrieben. Praktikable Konzepte zu ihrer Umgestaltung sind gegenwärtig kaum in Sicht. In Zeiten einer schlechten Konjunktur und geringer finanzieller Mittel sind Bauern zu einer Vergrößerung ihrer Nutzflächen kaum bereit. Die Umwandlung der landwirtschaftlichen Staatsbetriebe in Arbeitnehmergesellschaften bringt keine Lösung für die Schwierigkeiten, die sich aus der defizitären Lage und den fehlenden Modernisierungschancen ergeben, wenn nicht gleichzeitig bedeutende Kapitalinvestitionen erfolgen.

Bislang hat sich in der Infrastruktur der polnischen Wirtschaft nicht viel geändert, abgesehen von der rezessionsbedingten Abnahme des Transport-und Energiebedarfs; hierdurch wurde für eine gewisse Zeit der in diesen Bereichen auftretende Kapazitätsmangel beseitigt. Besonders gravierend ist die Rückständigkeit des Telekommunikationsnetzes, das im Zuge der Entwicklung des Binnenmarktes und der Geschäftskontakte mit dem Ausland, der starken Zunahme der am Wirtschaftsleben Beteiligten und der Modernisierungsanstrengungen intensiver genutzt wird.

Großen Veränderungen war die Organisation von Bank-und Kreditinstituten unterworfen. Sie streben die ihnen in der Marktwirtschaft zustehende Position an, auch wenn ihnen dies mangels Kapital, Erfahrung und notwendiger technischer Voraussetzungen (u. a. gerade im Bereich Telekommunikation) noch über lange Zeit erhebliche Anstrengungen abverlangen wird. In diesem Bereich wurden besonders intensive Maßnahmen ergriffen, die positiven Auswirkungen lassen aber noch auf sich warten.

In Polen und in der Europäischen Gemeinschaft werden die Aussichten für einen Beitritt Polens zu den wirtschaftlichen und politischen Institutionen der europäischen Integration erörtert. Vorläufig wurde diese Frage durch die EG-Assoziierung Polens und seinen Beitritt zum Europarat am 26. November 1991 beantwortet. Der Zustand der polnischen Wirtschaft erlaubt derzeit keine präzise Auskunft darüber, wie der Zeitplan für die weitere wirtschaftliche Annäherung aussehen könnte. Hemmende Faktoren sind die enorme Disparität der Wirtschaftsstrukturen zwischen Polen und den Ländern der Gemeinschaft sowie das Entwicklungsgefälle im Vergleich zum durchschnittlichen Entwicklungsniveau in der Gemeinschaft (im Vergleich zu den am schwächsten entwickelten Ländern der Gemeinschaft ergibt sich allerdings kaum eine Abweichung). Positiver sind die klaren Vorgaben für die marktwirtschaftliche Orientierung der Umgestaltung sowie ihre energische, freilich nicht immer von Erfolg gekrönte Inangriffnahme durch die ersten beiden nichtkommunistischen Regierungen.

III. Internationale Politik

Polen geriet, wie auch die anderen postkommunistischen Staaten Mittelost-und Südosteuropas, in eine spezifische Lage: die militärischen, politischen und wirtschaftlichen Bindungen des einstigen kommunistischen Blocks zerbrachen, wurden aber nicht durch andere Bündnisbeziehungen ersetzt. Polen befindet sich außerhalb der Strukturen der internationalen Sicherheit, wenn man von den allgemeinen Regeln des internationalen Zusammenlebens absieht, wie sie im Rahmen der UNO und der KSZE vereinbart wurden. Die Einbeziehung Polens in die europäischen politischen Institutionen steht mit der Aufnahme in den Europarat erst am Anfang. Das gilt auch, wie bereits erwähnt, für die wirtschaftliche Integration, bei der die Assoziierung mit der Europäischen Gemeinschaft den ersten Schritt bildet.

Polen hat durch seine besonders aktive Rolle in den Veränderungsprozessen, die zur Auflösung des früheren kommunistischen Blocks geführt haben, an Ansehen gewonnen. Das Land gehört auch, trotz aller inneren Schwierigkeiten, zusammen mit der Tschechoslowakei und Ungarn zu den stabilsten Staaten in der Region. Die Wirtschaftsreformen in Polen sind weiter fortgeschritten als in den anderen postkommunistischen Ländern. Aus diesen Gründen wird Polen durch die internationale öffentliche Meinung relativ positiv beurteilt. Diese Einschätzung wurde allerdings durch die Vorkommnisse im Präsidentschaftswahlkampf, mehr noch durch die Ergebnisse der jüngsten Parlamentswahlen beeinträchtigt.

Die Bestätigung der polnischen Westgrenze durch endgültige, völkerrechtlich bedeutsame Beschlüsse ermöglichte die Beseitigung einer Quelle potentieller Konflikte zwischen Polen und dem vereinten Deutschland. Diese Vereinbarungen wurden durch die vier Großmächte USA, Großbritannien, Frankreich und die ehemalige UdSSR mitgetragen. Diese Unterstützung kam ihrem Gewicht nach einer Garantie nahe. In den deutsch-polnischen Beziehungen blieben einige Punkte ungeklärt, die zu Unstimmigkeiten führen können. Dies betrifft insbesondere die Frage der deutschen Minderheit in Polen, ihre Rechte und Forderungen, aber auch das Problem der im Bewußtsein von Polen und Deutschen vorhandenen Ressentiments. Das Anliegen der deutschen Minderheit, die Schaffung von Bedingungen, die ihr die Ausübung aller Rechte auf Volkstumsidentität ermöglichen, konnte auf einen guten Weg gebracht werden. Andererseits kann die Zunahme von Gewaltakten in Deutschland auch gegenüber polnischen Bürgern beunruhigend wirken (im übrigen handelt es sich hier nur um einen Teilaspekt der wachsenden Fremdenfeindlichkeit). Wenngleich antipolnische Einstellungen nur von einer zahlenmäßig kleinen Gruppe am äußersten rechten Rand bekundet werden, könnte ein Scheitern bei den Bemühungen, den Gewalttaten entgegenzuwirken, zu Kettenreaktionen führen, zu einem Anwachsen antideutscher Einstellungen in Polen und zu einer Art Wettbewerb in der Bekundung von Fremdenfeindlichkeit. Es hat aber den Anschein, daß alle politisch relevanten Kräfte in Deutschland sich darüber im klaren sind und sich bemühen, einer solchen verhängnisvollen Entwicklung entgegenzuwirken. Die Grundlagen für gutnachbarliche Beziehungen zwischen Polen und Deutschland sind in jüngster Zeit geschaffen worden, sie sollten beharrlich ausgebaut werden.

Die Krise innerhalb der Sowjetunion, aber auch die Folgen des Zerfalls des kommunistischen Blocks, führten zu verschiedenen Spannungen zwischen Polen und der Sowjetunion bzw.den einzelnen Republiken. Polen grenzt an Gebiete, in denen die Zentrifugalkräfte besonders stark waren (Litauen, die westlichen Regionen der Ukraine). Die maßvolle polnische Politik stellte weder die Zentralmacht noch die Republiken zufrieden. In dieser Hinsicht änderte sich die Situation grundlegend, nachdem der konservative Putsch in Moskau gescheitert und dort grünes Licht für die Unabhängigkeitsbestrebungen der Republiken gegeben worden war.

Mit der Selbständigkeit wuchsen in den Republiken nationale Emotionen, die auch zu Spannungen im Verhältnis zu nationalen Minderheiten führten. Polen waren davon in Litauen, der Ukraine und in Weißrußland betroffen. Die polnische Politik befand sich, und dies gilt gelegentlich auch heute, an einem Scheideweg zwischen dem Schutz der Interessen der polnischen Minderheit einerseits und der Unterstützung demokratischer Freiheitsbewegungen andererseits. Aufmerksamkeit verdient aber die Tatsache, daß es weder in Polen selbst noch in Kreisen polnischer nationaler Minderheiten beachtenswerte Gruppen gab, die einer Revision der östlichen Grenze das Wort geredet hätten -einer Grenze, die vor mehr als einem halben Jahrhundert immerhin gewaltsam aufgezwungen worden war.

Spannungen anderer Art ergaben sich aus dem Zerfall der militärischen Strukturen des kommunistischen Blocks. Von besonderem Gewicht war der Verbleib sowjetischer Truppen auf polnischem Gebiet. Die sowjetische Seite versuchte ganz offensichtlich, Entscheidungen über Termine und Abzugsbedingungen hinauszuzögem. Dahinter verbargen sich pragmatische Gesichtspunkte (Priorität des Truppenabzugs aus der ehemaligen DDR, die Notwendigkeit einer Revision der sowjetischen Militärkonzeptionen, aber auch Schwierigkeiten mit der Unterbringung der aus allen Ländern des einstigen Blocks gleichzeitig abgezogenen Truppen), Prestigegründe, aber anscheinend auch politische Gründe (Bestrebungen der Anhänger der Restauration, die Truppen als Druckmittel gegenüber Polen zu benutzen und einen Sondercharakter der polnisch-sowjetischen Beziehungen aufrechtzuerhalten). Auch in dieser Hinsicht sind nach dem Ende der Sowjetunion und der Bildung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten bald befriedigende Lösungen zu erwarten, auch wenn es noch nicht zu umfassenden Vereinbarungen gekommen ist.

Der Zerfall der Sowjetunion offenbarte noch ganz andere Gefahren. Eine von ihnen betrifft die Proliferation von Atomwaffen in Polens unmittelbarer Nachbarschaft und ganz allgemein die geschwächte Kontrolle über die sowjetischen Atomwaffenarsenale. Wenn auch keine Gründe zu erkennen sind, die vorsätzlich eine atomare Erpressung gegenüber Polen befürchten ließen, so ist die Lage andererseits nicht allzu sicher. Eine weitere Gefahr liegt in einer generellen Steigerung des Konfliktpotentials im östlichen Teil Europas. Polen ist zwar in keinen der Konflikte involviert, aber sie destabilisieren die gesamte Region. Die polnische Politik eruiert also folgerichtig verschiedene Möglichkeiten, dem Land internationale Sicherheitsgarantien zu verschaffen. Es geht hier darum, Wege zu finden, wie die USA und die Europäische Gemeinschaft Verantwortung für die Sicherheit von ganz Europa übernehmen können und nicht nur für die Länder der NATO und die traditionell neutralen Länder. Vor diesem Hintergrund muß man die Diskussionen sehen, welche die Beziehungen Polens (ebenso Ungarns und der Tschechoslowakei) zur NATO oder die Schaffung neuer Institutionen der europäischen Sicherheit zum Gegenstand haben.

Der wirtschaftliche Zusammenbruch der UdSSR war eine der Ursachen für die sehr ungünstige Entwicklung der polnisch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen. Vieles deutete aber darauf hin, daß Moskau Polen mit größeren Schwierigkeiten belastete als andere Länder (Sperre für den polnischen Export, Schwierigkeiten beim Rohstoffimport). Man kann sich überhaupt die Frage stellen, ob nicht die Sachwalter der Restauration in der Sowjetunion ein besonderes Interesse an einer Destabilisierung Polens hatten und damit an einer Kompromittierung der den Kommunismus ablösenden Reformen, mit denen ja Polen den Anfang gemacht hatte. Nach dem Scheitern des Moskauer Putsches sind auch auf wirtschaftlichem Gebiet Versuche zur Verbesserung der Beziehungen zu erkennen. Dies gilt besonders für die Beziehungen zu den einzelnen Republiken, darunter auch Rußland. Andererseits fallen diese Versuche in eine Zeit zunehmender Zerrüttung in der Wirtschaft, der einstigen Sowjetunion, was die Zusammenarbeit wiederum erschwert.

Polen ist eines der Länder, das zu der in einem umfassenden Wortsinn verstandenen Region Mittelost-und Südosteuropa gehört. Obwohl Polen und die anderen ehemals kommunistischen Länder vor ähnlichen Problemen stehen, kann man nur schwerlich davon sprechen, daß gemeinsame Interessen deutlich geworden wären. Polen hatte insbesondere nur geringes Interesse an einer Annäherung an die Balkanländer, die in der Stabilisierung der Verhältnisse ebenso wie im Prozeß der „Entkommunisierung“ am wenigsten vorangekommen waren. Im Verhältnis zwischen Polen einerseits, der Tschechoslowakei und Ungarn andererseits gab es gewisse Anzeichen für eine Konkurrenz um die Gunst der Staaten der Europäischen Gemeinschaft und der USA. Vor allem aber fand eine intensivere Zusammenarbeit keine stärkere positive Resonanz unter der Bevölkerung dieser drei Länder, sie orientierte sich eindeutig nach Westen. Hier hat sich die Situation gewandelt, nachdem deutlich geworden ist, daß die Integration in die westlichen Bündnissysteme nur langfristig möglich erscheint. Daher zeichnet sich eine zunehmende Tendenz zur Annäherung zwischen den drei Ländern zugunsten einer Stabilisierung der Region ab, die auch in der Bevölkerung wachsende Zustimmung findet. In der polnischen Politik waren Konzepte für eine intensivere Zusammenarbeit der „Dreieck-Staaten“ von Anfang an populär, und nun scheinen sie immer stärkeren Anklang auch in Budapest und Prag zu finden. Dazu tragen die gemeinsamen Interessen bei und die gemeinschaftlich mit den westlichen Staaten geführten Verhandlungen über die Beziehungen zur Europäischen Gemeinschaft und zur NATO.

In engem Zusammenhang mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen Polen einerseits, der Tschechoslowakei und Ungarn andererseits standen die Bemühungen Polens um eine Umgestaltung der Pentagonale, d. h.des Abkommens zwischen Italien, Österreich, Jugoslawien, Ungarn und der Tschechoslowakei, mit dem Ziel der Schaffung einer Hexagonale unter polnischer Beteiligung. Die polnischen Bemühungen waren zwar von Erfolg gekrönt, dies hat aber sicherlich vor allem psychologische Bedeutung, denn es blieb unklar, welche Aufgaben die Hexagonale eigentlich erfüllen soll. Die Zukunft dieses Abkommens wird auch durch die Entwicklung in Jugoslawien in Frage gestellt. Jugoslawien wurde zum instabilsten Land Europas und ist im Grunde bereits auseinandergebrochen. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Hoffnungen der polnischen Politik gegenwärtig auf die Europäische Gemeinschaft und auf die USA gerichtet sind. Die Anbindung an die Europäische Gemeinschaft soll Polen die Bewältigung der Aufgabe erleichtern, in einer zukünftigen umfassenden internationalen Ordnung seine wirtschaftliche und politische Position zu finden. Die Annäherung an die USA ist bedingt durch die Notwendigkeit, ein Minimum an internationaler Sicherheit zu erhalten, denn die USA gelten als der faktische Garant des Weltfriedens, der seinen Schutz -wenn auch ohne förmliche Absicherung -auch den ehemals kommunistischen Ländern gewährt.

IV. Die polnischen Perspektiven

Die Zukunft der polnischen Politik läßt sich schwerlich vorhersehen. Am wahrscheinlichsten ist die allmähliche Annäherung an eine der Varianten des westeuropäischen politischen Modells. Dazu wird eine Stärkung der Parteien und eine Reduzierung ihrer Anzahl erforderlich sein. Die Parteien würden sich dann zu Repräsentanten bestimmter Ideologien oder zu Repräsentanten bestimmter gesellschaftlicher Interessen entwickeln. Die größten Parteien würden übereinstimmen in der Befürwortung der parlamentarischen Demokratie, des Rechtsstaatsprinzips, der Marktwirtschaft, der europäischen Integration. Sie würden sich mehr oder weniger durch die aufgezeigten sozialen, konfessionellen und nationalen Elemente unterscheiden. Wenn sich diese Prognose als richtig erweist, so kann man -trotz der Anfangsschwierigkeiten -von der Beständigkeit des Systems der parlamentarischen Demokratie ausgehen. Solche Vorhersagen lassen die Frage nach der Gestalt der politischen Institutionen offen. Wenn sich allerdings die Herausbildung der Parteien erst über einen langwierigen Prozeß vollzöge, so würden damit die Prinzipien des Präsidialsystems gestärkt.

Man kann dieser Prognose vorhalten, sie sei übertrieben optimistisch. In der Tat enthält sie viele Unsicherheitsfaktoren. Es bleibt offen, ob die Parteien der Mitte dominieren und extreme Parteien nur sekundäre Bedeutung haben werden. Wenn es den Parteien nicht gelänge, sich als wirksamer politischer Faktor zu etablieren, würde die Bedeutung des Präsidentenamtes wachsen, da das Staatsoberhaupt ja weiterhin in allgemeinen Wahlen mit absoluter Mehrheit der Stimmen gewählt würde. Denkbar wäre auch, daß Parteien stark an Boden gewinnen, die, gestützt auf nationalistische Demagogie und egalitären Populismus, von den Frustrationen der Gesellschaft profitieren. Dann könnte es zu einer Restauration kommen. Freilich würde sie nicht unter der Bezeichnung „kommunistisch“ firmieren, aber doch zu einer administrativ gelenkten Wirtschaft zurückkehren, zur Schwächung der europäischen Bindungen und zur Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten führen. Eine letzte Variante wäre schließlich eine tiefgreifende und langanhaltende Schwäche der Parteien mit der Folge, daß Apathie oder Aggression als politisches Massenverhalten die parlamentarische Demokratie lähmen würden. Die obersten Staatsorgane müßten dann entweder das Chaos oder die Einschränkung der Verfassungsordnung hinnehmen, was in einem Land ohne parlamentarische Tradition die Gefahr mit sich brächte, daß sich eine autoritäre Herrschaft dauerhaft etabliert. Man kann sich fragen, ob die Alternative von Chaos oder Autoritarismus für den Fall des Zusammenbruchs der parlamentarischen Demokratie real ist: Gibt es in Polen Kräfte, auf die sich ein autoritäres System stützen könnte? Solche Kräfte bilden vor allem Armee und Polizei. Zweifel an ihrer Rolle kann man nur dann hegen, wenn man den Argumenten des Augenblicks erliegt. Die heute schon wachsende Autorität der Armee wird sich in einigen Jahren auch in einem wiedergewonnenen Selbstbewußtsein, in wachsender Kohärenz und Effizienz niederschlagen.

Die Chancen der polnischen Politik werden jedoch in erster Linie vom Zustand der polnischen Wirtschaft abhängen. Hier gibt es zahlreiche Unsicherheitsfaktoren. Man darf jedoch vermuten, daß die polnische Wirtschaft im Laufe der nächsten 25 Jahre zwei Phasen durchlaufen wird. Die erste Phase wird gekennzeichnet sein von der Alternative Rezession oder Inflation. Der Prozeß der Anpassung an die europäische und an die Weltwirtschaft wird lange Zeit in Anspruch nehmen, aber er wird -durch Veränderung der Eigentumsverhältnisse und des Produktionsprofils wie auch durch Modernisierung -zur Schaffung der Grundlagen für die weitere Entwicklung führen. In der zweiten Phase wird sich die polnische Wirtschaft besonders schnell entwickeln und ihre Vorzüge zu nutzen verstehen. Vor allem das hohe Ausbildungsniveau der Arbeitnehmer, die niedrigen Löhne und die günstige geographische Lage werden die Zusammenarbeit mit den hochentwickelten Ländern Europas erleichtern.

Im Kern geht es jedoch darum, ob es gelingen wird, den generellen Kurs der Anpassung an die europäische und die Weltwirtschaft zu halten. Dies hängt in hohem Maße von der politischen Stabilisierung ab. Ein Zusammenbruch des Systems der parlamentarischen Demokratie würde die Einführung einer mehr auf Autarkie und staatliche Kontrolle ausgerichteten Wirtschaft begünstigen. Die polnische Wirtschaft würde sich dann einem Modell annähern, welches wir in einigen Ländern der Dritten Welt repräsentiert finden. Dies ist zwar weniger wahrscheinlich als die erste Variante, aber Mühseligkeit und Langwierigkeit des Weges der Anpassungen können zur Popularität eines „Weges mit Abkürzungen“ beitragen, wenn dieser auch letztlich zu keinem Ziel führen würde.

Schließlich wird das Schicksal Polens auch von der Entwicklung der internationalen Lage abhängen. Der gewichtigste Unsicherheitsfaktor wird dabei die Entwicklung in der einstigen Sowjetunion sein. Polen sollte daran interessiert sein, gute Beziehungen mit allen Republiken auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion zu pflegen, die demokratische Reformen unterstützen und die Erhaltung des Friedens gewährleisten.

Ein Polen, das mit seinen östlichen Nachbarn im Konflikt liegt, hat wesentlich geringere Chancen, von der Europäischen Gemeinschaft akzeptiert zu werden. Indes hat die Frage der Einbindung in die europäische Integration für Polen eine Schlüssel-bedeutung. Wenn aber als Bedingung für die Einbeziehung in die Gemeinschaft auch der Erfolg der wirtschaftlichen und politischen Reformen gelten muß, so können die Chancen Polens wie auch der übrigen „Dreieck-Staaten“, d. h. Ungarns und der Tschechoslowakei, als relativ gut angesehen werden. Dies sollte zu einer Intensivierung der Kontakte und Vereinbarungen zwischen Polen und diesen Staaten beitragen. Entscheidende Bedeutung für die Chancen Polens auf Beteiligung an der europäischen Integration wird jedoch die Ausgestaltung der Beziehungen zu Deutschland haben, das als einziges Land der Gemeinschaft an Polen grenzt. Man kann jedoch kaum auf intensive Hilfe Deutschlands bei den polnischen Reformprozessen rechnen, ebensowenig darauf, daß sich Deutschland intensiv in der Wirtschaft Polens engagiert, weil dafür die langjährigen Entwicklungsaufgaben im östlichen Teil Deutschlands wenig Spielraum lassen.

Es gibt kein Rezept dafür, wie Polen den System-wandel erfolgreich bewältigen und in Europa eine günstige politische und wirtschaftliche Position erlangen kann. Viele Faktoren sind unabhängig vom politischen Handeln in Polen, unabhängig sogar vom Bewußtseinsstand der polnischen Gesellschaft. Wir haben es hier mit einem Versuch zu tun, für den es weder ein historisches Vorbild noch Erfahrungen gibt. Erst zukünftige Historiker oder Politologen können Erfolge und Rückschläge abwägen und ein Urteil fällen, ob dieser Versuch gelungen ist. Unser Bestreben muß darauf gerichtet sein, die gegenwärtige Situation möglichst nüchtern zu analysieren und vor diesem Hintergrund Entwicklungsvarianten zu prüfen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Jerzy Holzer, Dr. phil., geb. 1930; o. Professor für Zeitgeschichte an der Universität Warschau und Leiter der Abteilung für Deutschlandforschung am Institut für Politische Studien der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Veröffentlichungen u. a.: Solidarität. Die Geschichte einer Freien Gewerkschaft in Polen, München 1985;. Osteuropa und die neue deutsche Staatenordnung, in: Werner Weidenfeld/Hartmut Zimmermann (Hrsg.), Deutschland-Handbuch. Eine doppelte Bilanz 1949-1989, Bonn 1989.