Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Die Tschechoslowakei -eine Rückkehr zu sich selbst | APuZ 6/1992 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 6/1992 Europa nach der Revolution. Ost und West vor säkularen Herausforderungen Polen nach dem Kommunismus -quo vadis? Die Tschechoslowakei -eine Rückkehr zu sich selbst Probleme der Demokratisierung in Ungarn Die Einheit und die Spaltung Europas. Die Auswirkungen der mitteleuropäischen Revolution von 1989 auf Gesamteuropa

Die Tschechoslowakei -eine Rückkehr zu sich selbst

Pavel Smutny

/ 33 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Beitrag beschreibt die gesellschaftlich-politischen Veränderungen in der SFR seit dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft im Dezember 1989 und schildert die einzelnen Problembereiche des zum Teil recht komplizierten Neuordnungsprozesses. Da ist zunächst die Entwicklung eines Parteiensystems mit Konzentrations-wie Spaltungstendenzen; Persönlichkeiten des gemeinsamen Widerstands gegen den Kommunismus wurden zu politischen Rivalen. Dieser Prozeß der Neuformierung politischer Einheiten entsprach der Tendenz zu einer Differenzierung der Gesellschaft sowie der Wahrnehmung und Durchsetzung von unterschiedlichen Interessen. Dazu gehört auch die regionale Differenzierung, vor allem die immer stärker zunehmende Aufteilung der Politik in tschechische und slowakische Interessensphären. Die Frage des Zusammenhalts des Staatswesens beginnt, oberste Priorität in der politischen Diskussion einzunehmen. Die schwierigen Fragen der politischen und verfassungsrechtlichen Neuordnung werden begleitet von den vielfältigen Umstellungsproblemen der Wirtschaft im Hinblick auf die neue Marktkonkurrenz und die Privatisierung. Hier wie in den außen-und sicherheitspolitischen Fragen erhofft sich die ÖSFR Hilfe von der Europäischen Gemeinschaft sowie von ihren Nachbarländern, insbesondere von der Bundesrepublik Deutschland. Der Vertrag über die Grundlagen der gegenseitigen Beziehungen könnte aus tschechoslowakischer Sicht ein wichtiges Instrument dafür sein.

Der Verf. dankt Dr. Jaromir Ctsar, Karls-Universität Prag, für Rat und Mitarbeit. Übersetzung aus dem Tschechischen von Dana Mestek, Köln.

Die Tschechoslowakei 1918 bis 1989

In dem geographischen Raum, der seit jeher von Tschechen, Slowaken, Deutschen, Ungarn und anderen Völkern bewohnt war, entstand nach dem Ersten Weltkrieg als einer der Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie jene Republik, die bemüht war, eine moderne, ökonomisch starke und international geachtete Demokratie entstehen zu lassen. Dieser sogenannten Ersten Tschechoslowakischen Republik sollten allerdings lediglich zwanzig Jahre für die Erfüllung dieser Aufgabe zur Verfügung stehen.

Es war die Zeit eines gewaltigen geistigen und wirtschaftlichen Aufbruchs, in der sich das Land unter die zehn meistentwickelten Staaten der damaligen Welt einordnen konnte. Trotz aller ernsthafter Mängel, kleinlicher Streitigkeiten unter den politischen Parteien, trotz scharfer sozialer Konflikte und der Unentschlossenheit in der Nationalitäten-politik ist die Tschechoslowakische Republik am Vorabend des Zweiten Weltkrieges die einzige Insel der Demokratie und der bürgerlichen Freiheiten in Ostmitteleuropa geblieben. Diese kurze, für das Land jedoch sehr wichtige Zeit wurde durch das Münchner Abkommen beendet; im Jahre 1938 begann ein neues Kapitel voll schwerer Prüfungen.

Ein mit der Situation wenig vertrauter Beobachter könnte die Entwicklung in der Tschechoslowakei in den Jahren 1939 bis 1945 als eine bloße Kriegs-episode werten. Eine solche Sichtweise verhindert jedoch den Blick darauf, daß die Tschechoslowakei sich in ein Land verwandelte, in dem für fünfzig Jahre ein totalitäres, von der Zerstörung aller traditionellen Werte begleitetes Herrschaftssystem installiert wurde. Die Gesellschaft war durch eine geschwächte nationale Elite sowie durch ein zutiefst gedemütigtes Nationalbewußtsein gezeichnet, von der eigenen Kapitulation frustriert und von einem zerstörerischen Haß gegenüber den Besatzern sowie den eigenen Kollaborateuren durchdrungen.

In dieser Atmosphäre ereignete sich auch die Vertreibung der Deutschen und eines Teils der ungarischen Bevölkerung. Die Souveränität des tschechoslowakischen Staates wurde zwar nach dem Krieg erneuert; diese Erneuerung wurde jedoch schon seit den ersten Maitagen des Jahres 1945 durch den Zusammenbruch seiner damaligen internationalen politischen Beziehungen und durch die eindeutige Vorherrschaft der Sowjetunion in der gesamten Region beeinflußt.

Die Ansichten über die politischen Zielsetzungen waren in der Nachkriegsgeneration außerordentlich verschieden. Einige sahen die Zukunft des Landes in der traditionellen westlichen Orientierung und eine tödliche Gefahr im immer stärkeren Einfluß Stalins. Andere hingegen sahen eine neue Hoffnung im siegreichen und idealisierten slawischen Nachbarn. Nach der Enttäuschung über die Zerstörung der Ersten Republik suchten sie den Ausweg in einer -unterschiedlich starken -Neigung zum sozialistischen Gedankengut, das die einen in den westlichen sozialdemokratischen Strömungen verwirklicht sahen und die anderen in der marxistischen Lehre von Revolution und Klassenkampf. Diese Spaltung der politischen Ansichten und Meinungen war die Ursache eines tiefgehenden und unversöhnlichen Konflikts, der nach der totalen Machtübernahme durch die Kommunisten im Februar 1948 die Gesellschaft genauso wie in den anderen kommunistisch regierten Ländern in Sieger und Besiegte teilte.

Es begann die Zeit der politischen Diktatur, der polizeilichen Verfolgungen und ungesetzlichen Prozesse, begleitet von den ersten ernsthaften Zeichen eines wirtschaftlichen Verfalls, von der Unzufriedenheit der Bevölkerung und von einer ersten Welle der politischen Emigration. Es begann die Zeit gewaltsamer Veränderungen der sozialen Strukturen im Lande: Zunächst wurde ein massiver Angriff auf die breite Schicht der mittleren und kleinen Unternehmer, Gewerbetreibenden und Bauern organisiert. Dies führte nicht nur zu ihrer Verelendung, sondern allmählich auch zu ihrem tatsächlichen Untergang. Einem ständigen politischen und bürokratischen Druck wurden des weiteren Gläubige, Künstler, Studenten und Verwandte von Emigranten und schließlich selbst die unbequeme Opposition in den eigenen Reihen ausgesetzt. Auch die Intelligenz hatte unter mehreren Wellen von politischer Verfolgung zu leiden.

Unter diesem Gesichtspunkt haben die Ereignisse des Jahres 1968 eine historische Bedeutung. Diese beruht offensichtlich nicht nur auf der begrenzten Anzahl politischer Reformen, welche die reform-orientierte Führung der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KP) veranlaßte; sie ist vor allem in der Erneuerung des bürgerlichen Zusammenhalts -besonders in den Tagen der militärischen Invasion der Staaten des Warschauer Paktes-zu sehen. Diese Atmosphäre der nationalen Freiheit und des passiven Widerstandes der Massen rief bei der Kreml-Führung starke Befürchtungen hervor mit der Folge drastischer Unterdrükkung eben dieser Werte und der Liquidierung von politischen Freiheiten nicht nur im Staate, sondern auch innerhalb der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei selbst.

Nach der Machtübernahme Gustav Husäks, die Moskau 1969 durchgesetzt hatte, wurde die Erfolglosigkeit und die Unbeliebtheit des Regimes immer offensichtlicher. Es war deshalb im Herrschaftsinteresse der politischen Spitzenfunktionäre, die Spaltung und die Intoleranz in der Gesellschaft weiter zu vertiefen. Diese Politik der Spaltung der Gesellschaft hatte jedoch nicht nur repressiven Charakter. Als Gegenleistung für die Loyalität korrumpierte das System breite Schichten der Bevölkerung, sicherte gewisse existentielle Bedürfnisse als auch die Chancen des gesellschaftlichen Aufstiegs bzw. ermöglichte die Besserung des Lebensstandards durch verschiedene illegale Mittel. Auf eine geschickte Art und Weise gelang es dem Regime, ein Gefühl der Komplizenschaft und der Mitverantwortung für diese Situation hervorzurufen. Rund zehn Prozent der Gesamtbevölkerung waren Mitglieder der Kommunistischen Partei. Sie bekamen die Möglichkeit, sich bevorzugt gesellschaftlich zu verwirklichen, wobei ihnen gleichzeitig die Gelegenheit entzogen wurde, die politische Führung zu beeinflussen. Alle gesellschaftlichen Organisationen, die offiziell die Politik der KP-Führung unterstützten („Nationale Front“), vereinigten zusammen rund 28 Millionen Mitglieder -also fast doppelt so viel wie die Bevölkerungszahl.

Die achtziger Jahre fanden die tschechoslowakische Gesellschaft unterdrückt und gespalten vor -als eine Gesellschaft, die auf alle höheren Ansprüche verzichten mußte und durch Konformismus, Leistungsschwäche sowie moralischen Verfall gezeichnet war. Eine deutliche Ausnahme in dieser Situation bildete die oppositionelle Bürgerinitiative „Charta 77“, die -wenn auch zahlenmäßig unbedeutend -den einzigen freien Ausdruck bürgerlicher Würde und der Kontinuität unabhängigen kritischen Denkens darstellte.

Die Novemberereignisse des Jahres 1989, die als die „sanfte Revolution“ bekannt wurden, muß man als einen spontanen Aufstand verstehen, in dem sich die bis dahin gespaltenen Gesellschaftsschichten vereinten, und zwar angefangen mit den traditionellen Oppositionellen über die sogenannte schweigende Mehrheit bis hin zu den für Reformen bereiten Kommunisten. Das Regime, das nach dem Regierungsantritt Michail Gorbatschows seine Beschützer im Kreml verlor, brach zusammen. In den letzten Monaten im Jahre 1989 endete nicht nur die Zeit des kommunistischen Regimes, sondern auch die leidvolle Ära der nationalen Niederlagen und der Vorherrschaft fremder, totalitärer Regime, angefangen mit Hitler über Stalin bis hin zu Breschnew. Erst dieser historische Augenblick bedeutet den endgültigen Schlußpunkt der tschechoslowakischen Tragödie, die 1938 in München begann. Die Tschechoslowakei ist wieder in die Gemeinschaft der demokratischen Staaten zurückgekehrt. Aus der Tiefe der Geschichte tauchen bereits sehr weit entfernte Horizonte der Ersten Republik auf. In ihren Idealen sucht die sich erneuernde Gesellschaft ihre historischen Wurzeln. Die Staatsfahne und die Nationalhymne werden zum Symbol des wiedergefundenen Stolzes.

In den Wintermonaten 1989/90 wurden sich die Menschen allmählich der neuen Verantwortung bewußt. Zu den politischen Losungen jener Tage gehörten „Freie Wahlen“, „Menschenrechte“, „Rückkehr nach Europa“, „Kraft durch Einheit“, „Ende der Macht einer Partei“, „Wir sind nicht wie sie“, „Für eine prosperierende und sozial gerechte Gesellschaft“, „Für eine gesunde Umwelt“.

In den folgenden Kapiteln wollen wir nachzeichnen, wie es den tschechoslowakischen Bürgern in den vergangenen zwei Jahren gelungen ist, sich diesen Idealen zu nähern.

Winter 1989/90

Durch den Fall des kommunistischen Regimes öffneten sich in der Tschechoslowakei die Schleusen. Die Lawine der Ereignisse, die innerhalb der drei Wochen zwischen dem 17. November und dem 10. Dezember der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei den Einfluß auf die weitere Entwicklung entzog und an die Spitze des Staates eine Mannschaft der führenden Dissidenten beförderte, kam auch in den ersten Monaten des Jahres 1990 nicht zum Stillstand.

Der neugewählte Präsident der Republik, Vaclav Havel, trug eine bemerkenswerte Neujahrsrede vor, die sich von allen Reden seiner Vorgänger nicht nur durch ihre kritische Offenheit unterschied, sondern auch durch die Konkretisierung seines Programms. Die Prioritäten sah der Präsident in der Vorbereitung der freien Wahlen, in der moralischen Wiedergeburt des Volkes, in der Sicherung der Gleichberechtigung für die Tschechen und Slowaken im gemeinsamen Staat, in der Verbesserung der Stellung von sozial schwächeren Schichten, in der Humanisierung des Lebens in der Armee, in der Reform des Strafvollzugs (es folgte eine umfangreiche Amnestie mit der Befreiung von 70 Prozent der Strafgefangenen) und in der Stärkung des Ansehens der Tschechoslowakei in der Welt.

Gleich danach fuhr Präsident Havel in die beiden deutschen Staaten zu seinem ersten Auslandsbesuch und hielt wichtige Reden, in denen er sich für die Unterstützung des Strebens der beiden deutschen Staaten nach Vereinigung ausgesprochen und sich bei den Sudetendeutschen für ihre Vertreibung entschuldigt hat. Auf diese Entschuldigung folgte in der Tschechoslowakei eine recht widersprüchliche und lebhafte Reaktion, die zeigte, daß die Gesundung der durch die tragischen Kriegsereignisse und den Kalten Krieg belasteten tschechoslowakisch-deutschen Beziehungen zu einer schweren und wichtigen Aufgabe der neuen Regierung werden sollte. Zu deren Erfüllung ist offensichtlich sehr viel Verständnis und guter Wille auf beiden Seiten nötig.

Die Reisen der tschechoslowakischen Politiker ins Ausland und die Visiten der ausländischen Politiker in Prag und Bratislava offenbarten die hochgesteckten Ziele der neuen Führung. Rasch nacheinander folgten die Besuche von Präsident Havel in Polen, Ungarn, Kanada, den Vereinigten Staaten, der Sowjetunion, Frankreich und Großbritannien. In die Tschechoslowakei kam eine Reihe offizieller und privater Gäste aus dem Ausland. Die Zeitungen informierten fast täglich über die sensationelle Rückkehr von prominenten Emigranten. Das Land öffnete sich der Welt. In der ersten Januar-hälfte wurde der offizielle Antrag zur Aufnahme in den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank gestellt. Am 9. Februar wurden die diplomaB tischen Beziehungen zu Israel und bald darauf zum Heiligen Stuhl wiederhergestellt. Gleichzeitig wurde die Forderung der tschechoslowakischen Regierung erhoben, daß die sowjetische Armee die Tschechoslowakei bis Ende 1990 verlassen solle.

Die innenpolitische Szene war unruhig. Der Ministerpräsident und einige Minister verließen genauso wie Tausende andere Bürger die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei. Die Neuformierung des Bundesparlaments, das die Vertreter des alten Regimes verließen, wurde fortgesetzt. Die Nationalversammlung wählte an ihrer Stelle nach einem vereinbarten Parteischlüssel neue provisorische Abgeordnete. Der Innenminister gab am 17. Januar die Auflösung der Staatssicherheit (StB) bekannt. Vertreter politischer Parteien kamen am Runden Tisch zusammen und trafen grundsätzliche Entscheidungen über die Vorbereitung freier Wahlen, bei denen das Verhältniswahl-recht und die Fünf-Prozent-Klausel verankert wurden. Die vorherrschende politische Kraft war das „Bürgerforum“ (Obansk förum) in Böhmen und die „Öffentlichkeit gegen Gewalt“ (Verejnost’ proti näsiliu) in der Slowakei. Beide Schwesterbewegungen wurden von den Massen unterstützt und arbeiteten eng zusammen.

Diese tiefgreifenden Veränderungen im Machtgefüge verliefen verhältnismäßig glatt, ohne Gewalt und ohne Rachegefühle. Die Kommunistische Partei und ihre Vergangenheit wurden zwar öffentlich angegriffen, doch die Bestrebungen, sie zu verbieten, konnten blockiert werden. Trotzdem belegt eine Reihe von persönlichen Tragödien, wie gespannt die Lage war; die Presse brachte von Zeit zu Zeit Nachrichten über den Selbstmord des einen oder anderen ehemaligen Parteifunktionärs. Väclav Havel erreichte den Gipfel seiner persönlichen und vor allem moralischen Autorität. Er geizte zwar nicht mit scharfen Worten an die Adresse des alten Regimes, faktisch wurde aber nicht viel unternommen. Von den vielen ehemaligen Prominenten wurde lediglich Miroslav Stepan, bis November 1989 ein junger, ambitionierter Chef der Prager KP, in Haft genommen. Durch seinen aggressiven, demagogischen Stil hatte er zwar provoziert, doch hatte er nicht so viel Unheil verursacht wie Dutzende älterer und prominenterer „Genossen“.

Eine besondere Bedeutung erhielt die Parole „Wir sind nicht wie sie“; es wurde damit vor allem auf die Werte des Rechtsstaates hingewiesen. Diese Einstellung gefiel jedoch vielen Menschen nicht. Es kam zu einer Reihe sensationeller Enthüllun26 gen, die zeigten, daß zahlreiche Machtpositionen innehabenden Personen des neuen wie des alten Systems identisch waren. Unabhängig davon, wie glaubwürdig diese Informationen sein mochten, spiegelten sie doch eines der fundamentalen Probleme wider. Wie später därgelegt wird, kristallisierte sich die Frage der Kontinuität des Staats-apparats und des Austausches des gesamten Führungssystems allmählich in einem grundsätzlichen Machtkampf heraus. Im Laufe des Jahres sollten diese Fragen die innenpolitische Entwicklung beträchtlich beeinflussen. Zu diesem Zeitpunkt jedoch war die Einstellung der Führung noch sehr wohlwollend.

Die politische Szene weitete sich explosionsartig aus; gegen Ende des Winters gab es in der Tschechoslowakei bereits einige Dutzend politischer Parteien. Unter ihnen dominierten das Bürger-forum und die „Öffentlichkeit gegen Gewalt“ als Protagonisten der Revolution. Dann folgten die Volkspartei und die Sozialistische Partei, die unter den Kommunisten zwar erlaubt, jedoch machtlos waren. In der Slowakei war es die erneuerte Demokratische Partei sowie die besiegte KP, die nach dem totalen Verlust der politischen Macht und mindestens drei Fünfteln ihrer Mitglieder bestrebt war, wieder ihre Kräfte zu sammeln und sich um die Wähler zu bemühen. Erneuert wurden die Sozialdemokratische Partei und andere historische Parteien bzw. ihre Nachfolger. Es entstanden auch ganz neue Parteien. Einige von ihnen vereinigten sich später in der Versammlung politischer Parteien, in Bewegungen und Assoziationen mit einer eigenständigen politischen Plattform, die eine bestimmte Rolle vor allem in der Stärkung des gesellschaftlichen Dialogs spielen sollten. Manche politische Partei konnte nur einige Wochen oder Monate überleben.

Interessant sind die Ergebnisse von Meinungsumfragen, die im Februar 1990 das Gallup-Institut in der Tschechoslowakei durchführte. Die Bevölkerung hielt das Problem der Umweltverschmutzung (55 Prozent), die technologische Rückständigkeit (37 Prozent) sowie das bedenkliche Niveau der gesellschaftlichen Moral (32 Prozent) für die Hauptprobleme der Gesellschaft. Als die wichtigsten Probleme für die Familien bezeichneten die Befragten die Lebenshaltungskosten (52 Prozent), die Gesundheit (31 Prozent) und die Probleme der berufstätigen Frauen (25 Prozent). Erstrangig waren für sie im politischen Bereich die freien Wahlen und die Festigung der Demokratie (52 Prozent) sowie die Wirtschaftsreform (44 Prozent), deren Dauer auf etwa sieben Jahre veranschlagt wurde.

Frühjahr 1990

Das Frühjahr 1990 in der Tschechoslowakei versprach viel. Zunächst jedoch tauchte ein schwerwiegender Konflikt in der Gestalt von Auseinandersetzungen über die neue Staatsbezeichnung auf. Der Vorschlag Präsident Havels, aus der Bezeichnung der Republik lediglich das Wort „sozialistisch“ auszulassen, wurde von der Aktivität der slowakischen Abgeordneten in der Föderalversammlung und im Slowakischen Nationalrat übertönt, die wünschten, die Stellung der Slowakei im gemeinsamen Staat stärker zur Geltung zu bringen. Auf diese Weise wurde die verdeckte Wunde offengelegt, die zu einer längeren Diskussion führte, welche bald in einen Konflikt um Sinn und neuen Inhalt der staatsrechtlichen Ordnung übergehen sollte. Am 20. April 1990 bekam die Tschechoslowakei gemäß der Entscheidung des Parlaments die vorläufig offizielle, doch ziemlich umständliche Bezeichnung „Tschechische und Slowakische Föderative Republik“.

Zum ersten Besuch in der Geschichte kam bald darauf Papst Johannes Paul II. in die Tschechoslowakei. Er zelebrierte Messen in Prag, im mährischen Velehrad und im slowakischen Ivänka. Der Heilige Vater war eine weitere moralische und geistige Autorität, die zur Mäßigung der Leidenschaften und vor allem zur Rückkehr zu den humanen Werten des Christentums aufforderte. Bald darauf reiste Präsident Havel als erstes Oberhaupt des tschechoslowakischen Staates nach Israel.

Gleichzeitig mit diesen bedeutenden Ereignissen wurde der Wahlkampf eröffnet. Es waren die ersten vollkommen freien Wahlen seit 1935, und eine ungemein große Zahl von Parteien -insgesamt 23 Wahlvereinigungen -nahm daran teil. Der Wahlkampf konnte noch nicht mit der erforderlichen Professionalität geführt werden; es fehlte an Zeit, Menschen und Geld. Favorit war die Koalition aus dem Bürgerforum und der „Öffentlichkeit gegen Gewalt“ als Führer der Revolution und Garanten dafür, daß der Kommunismus nicht zurückkehren würde. Vor den Wahlen unternahmen sie allerdings einige nicht ganz saubere Handlungen. In einer umfangreichen Kampagne bezeichneten sie kleinere, eben sich konstituierende Parteien als objektive Verbände der Kommunistischen Partei, weil sie angeblich das Wahlergebnis von Bürgerforum und Öffentlichkeit gegen die Gewalt beeinträchtigen könnten. Die zweite Zielscheibe der Angriffe war die Tschechoslowakische Volkspartei als zweitstärkste Partei in Böhmen. Am Vorabend der Wahlen wurde ihr Wortführer Josef Bartonöi'k in Gegenwart des Präsidenten Havel der Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst und der Charakterlosigkeit bezichtigt. Das schadete offenbar der Partei bei den Wahlen. Es ist offensichtlich, daß es der Führung von Bürgerforum und Öffentlichkeit gegen Gewalt um eine starke Machtkonzentration ging. Welch seltsames Gesicht jedoch diese Machtkonzentration erhalten sollte, wurde bereits in den ersten Herbsttagen deutlich.

Die freien Wahlen verliefen schließlich in einer feierlichen Atmosphäre, 96, 79 Prozent der Wähler nahmen an ihnen teil. Die Ergebnisse bestätigten den bisherigen politischen Kurs: Im 300 Abgeordnete zählenden Parlament (je 150 Sitze in der Nationalitätenkammer und in der Volkskammer) bekam die Koalition von Bürgerforum und „Öffentlichkeit gegen Gewalt“ insgesamt 170 Sitze, die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei 47 Sitze und die Koalition aus den christlichen Parteien 40 Sitze. Die restlichen Sitze wurden auf die sich an Nationalitäten und Minderheiten orientierenden politische Parteien verteilt: die Bewegung für selbstverwaltete Demokratie/Gesellschaft für Mähren und Schlesien bekam 16 Sitze, die slowakische Nationalpartei 15 und die politischen Parteien, die die ungarische Minderheit repräsentieren, insgesamt 12 Sitze. \

Zum Verständnis der weiteren Entwicklung ist es nun wichtig, einige Tatsachen dieser Wahl in Erinnerung zu rufen: -Die siegreiche Bewegung legte ein attraktives politisches und wirtschaftliches Programm vor, das jedoch weder politisch ausgeprägt war noch sein konnte. Ihr Sieg übertraf die Erwartungen.

Aus diesem Grunde tauchten im Parlament neben den bewährten und von der Öffentlichkeit geachteten Persönlichkeiten unerwartet auch völlig unbekannte Abgeordnete auf, die weit hinten auf den Wahllisten gestanden hatten.

Das Machtverhältnis innerhalb der Fraktion des Bürgerforums hatte sich bereits kurz nach den Wahlen so verändert, daß sich damit die im Wahlprogramm festgelegten Ziele nicht mehr verfolgen ließen.

-Die Konzentration vor den Wahlen, die Einführung der Fünf-Prozent-Klausel und die Diskriminierung neuer politischer Parteien hatten zur Folge, daß im Parlament wichtige politische Strömungen keine Vertretung fanden. So fehlten Vertreter einiger sozialer Gruppen (geringe Vertretung der Landwirte und der neuen Unternehmer) und wichtiger Interessen (Partei der Grünen).

Die Hauptaufgabe der sich neu konstituierenden Gesetzgebungsorgane -der Föderalversammlung, des Tschechischen und Slowakischen Nationalrates-bestand während der zweijährigen Amtsperiode darin, dem Land eine neue demokratische Verfassung zu geben. In der Tschechoslowakei war noch die -wenn auch mit vielen Änderungen und Ergänzungen versehene -Verfassung von 1960 in Kraft. Die Grundlage des Rechtsstaates war unklar und kaum funktionsfähig. Ende Juni wurde der zur Legende gewordene Politiker Alexander Dubcek („Öffentlichkeit gegen Gewalt“) an die Spitze der Föderalversammlung gewählt. Ministerpräsident der föderalen Regierung wurde erneut Mariän alfa (Öffentlichkeit gegen Gewalt), Vorsitzende des Tschechischen Nationalrates Dagmar Bureov, Vorsitzender der Tschechischen Regierung Petr Pithart (Bürgerforum), Vorsitzender des Slowakischen Nationalrates Frantisek Mikloko und Ministerpräsident der slowakischen Regierung Vladimir Meiar (beide Öffentlichkeit gegen Gewalt). Die Föderalversammlung wählte ihrerseits in geheimer Wahl Väclav Havel für zwei Jahre in die Funktion des Präsidenten der Republik.

Sommer und Herbst 1990

Es begann ein ruhiger politischer Sommer; es begann auch die erste große touristische Saison. In die Tschechoslowakei kamen einige Millionen Touristen aus der ganzen Welt. Eine ganze Reihe von ihnen war zum ersten Mal hinter dem ehemaligen Eisernen Vorhang. Die Bürger der Tschechoslowakei ihrerseits konnten wieder ins Ausland reisen. Ausgerüstet mit Pässen ohne polizeiliche Regulierung, aber mit noch sehr bescheidenen Devisen lernten sie -zunächst eher als Beobachter auf der Straße, doch mit einem feierlichen Gefühl -die Länder ihrer historischen Nachbarn wie Deutschland, Österreich, Frankreich und andere kennen. Väclav Havel eröffnete in Gegenwart des österreichischen und des deutschen Präsidenten die Salzburger Festspiele und hielt bei dieser Gelegenheit eine Rede über das Bewußtsein Mitteleuropas und über seine Auffassung von politischer Verantwortung.

Anfang August kam es zu zunächst unwichtig erscheinenden Verhandlungen der Premierminister der tschechischen und slowakischen Regierung, Petr Pithart und Vladimir Meiar. Diese Verhandlungen waren jedoch das Vorzeichen eines langwierigen Konflikts der beiden Völker in der Frage, was der Föderalregierung und was den Landesregierungen überlassen werden sollte. Schon bald sollte diese Angelegenheit einen großen Teil der Aufmerksamkeit von Regierungen und gesetzgebenden Organen auf sich ziehen und unter reger Beteiligung der Presse so manche Schramme in den Beziehungen zwischen den beiden Nationen bedeuten. In der Slowakei wurde diese Entwicklung von Ereignissen begleitet, die auf ein aufgewühltes Nationalbewußtsein eines Teils der Öffentlichkeit aufmerksam machten: Nach einem erfolglosen Versuch, eine Gedenktafel zu Ehren des Chefs des Slowakischen Staates im Zweiten Weltkrieg, Jozef Tiso, in Zlate Moravce anzubringen, kam es Ende August zu einer großen Versammlung in Ruzomberok, um der symbolischen Gestalt der nationalistischen und separatistischen Bestrebungen aus der Zeit der Ersten Republik, Andrej Hlinka, Ehre zu erweisen.

Dieser Konflikt um die Kompetenzen ist ein sichtbares Beispiel für die Ambitionen der slowakischen politischen Elite, die um eine größere Beteiligung an der Macht bemüht ist. Die Stellung der Slowakei in der gesamten Geschichte des gemeinsamen Staates war immer schwach. In der Ersten Republik war sie durch ihre relative wirtschaftliche und kulturelle Rückständigkeit bedingt, in der Nachkriegszeit wiederum durch die Bemühung des kommunistischen Regimes, die Macht und die Führung von einem Zentrum -Prag -aus auszuüben. Viele Slowaken empfanden es deshalb als Benachteiligung, daß sie nach der tausendjährigen Vorherrschaft der ungarischen Könige die folgenden 70 Jahre von Prag aus regiert wurden und begreifen die Befreiung vom kommunistischen Totalitarismus als ihre Chance zu einer völkerrechtlichen Festlegung ihrer Unabhängigkeit. Die Slowakei wurde darüber hinaus nicht so sehr von den Säuberungen betroffen, die in den Jahren 1969-1971 die Führungsstrukturen und das intellektuelle Leben in Böhmen praktisch lahmgelegt hatten. Die Slowaken hatten inzwischen in dieser Hinsicht einen gewissen Vorsprung und wollten ihn nutzen. Die Tatsache, daß die Situation vorerst unentschieden blieb, ist nicht nur der slowakischen Ungeduld und dem Wankelmut zuzurechnen, sondern auch einer gewissen Arroganz und Kurzsichtigkeit der tschechischen und der föderalen Politiker. Allmählich rückte in das Zentrum des Konflikts auf der tschechischen Seite nicht nur Petr Pithart, ein erfahrener Politiker mit Sinn für die Entwicklung in der Slowakei, sondern selbst Vaclav Havel.

Am 21. August 1990 versammelten sich die Prager Bürger auf dem Wenzelsplatz, um der Okkupation aus dem Jahre 1968 zu gedenken. Der Präsident trug dabei eine Rede vor, die eine gewisse, aber nur kurzzeitige Änderung seiner bisherigen Politik bedeutete. Im Geiste der beginnenden Radikalisierung sprach er davon, daß die zweite Phase der Revolution begonnen hätte, und daß man daher mit den „alten Strukturen“ ins Gericht gehen solle. Es wurden gesetzliche Maßnahmen von der Föderalversammlung vorbereitet, die eine Beschleunigung der Personalveränderungen auf allen Ebenen ermöglichen sollten. Auch wenn es sich dabei um zeitgemäße und im allgemeinen verständliche Maßnahmen handelte, bedeuteten sie doch im Hinblick auf die Zukunft eine weitere Stufe auf dem Wege zur Zerstörung der Führungsapparate verschiedener Bereiche.

Das alte Regime hat während einer langen Zeit gefährliche Strukturen völlig unübersichtlicher politischer und wirtschaftlicher Schattenbeziehungen geschaffen. Vor allem vom Lande kamen Nachrichten über die „örtliche Mafia“. Eine Reihe von führenden Personen war darüber hinaus nicht in der Lage, die neuen Aufgaben zu bewältigen. Es sah so aus, daß die Zeit zum entschlossenen Handeln gekommen war. Das Problem hat allerdings viel tiefere Wurzeln. Die Tschechoslowakei wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von mehreren Wellen von „Säuberungen“ betroffen, von denen jede katastrophale Auswirkungen hatte. So war es 1948, dann im Laufe der fünfziger Jahre sowie in den Jahren 1969/70. In der Tschechoslowakei konnte folglich keine Führungselite entstehen. Daher ist die Meinung nicht unbegründet, daß personelle Veränderungen zunächst mit Rücksicht auf die Kompetenz dieser oder jener Person sowie auf die Bedürfnisse der jeweiligen Institution und nicht unter einem ausschließlich politischen Blickwinkel durchzuführen sind.

Am 3. September wurde das wichtigste und bisher auch am konsequentesten durchgeführte Programm präsentiert: Der tschechoslowakischen Öffentlichkeit wurde das Drehbuch für die wirtschaftlichen Reformen vorgestellt. Es wurde die Absicht zu einer „kleinen“ und einer „großen“ Privatisierung sowie eine Reihe begleitender Systemänderungen erklärt -ein Prozeß, der in der Geschichte des Staates beispiellos ist. Seit der Reform wurde vor allem eine Änderung der Gesellschaft erwartet, die der Leistung Rechnung trägt, selbst um den Preis eines grundlegenden Wandels der sozia29 len Strukturen. Die Zeit des Abwartens war vorbei. Im Parlament und in der Presse begann eine scharfe theoretische Auseinandersetzung. Aus der Sicht der Regierung und vor allem des ehrgeizigen und entschiedenen Finanzministers Vaclav Klaus war alles vorbereitet. Die Ausgangsbedingungen für die Reform wurden jedoch vor allem durch die auswärtigen Wirtschaftsbeziehungen kompliziert. Der COMECON-Markt, der Hauptabnehmer der tschechoslowakischen Erzeugnisse, brach zusammen. Das wachsende Chaos in der UdSSR und die merkliche Abkühlung in den gegenseitigen Beziehungen waren für die Störungen bei den Öl-und Erdgaslieferungen verantwortlich. Die Tschechoslowakei gehört zu den am wenigsten verschuldeten Ländern, doch ein großer Teil ihrer Waren ist auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig. Tschechoslowakische Betriebe dringen nur sehr schwer auf bereits besetzte und sorgsam gehütete Märkte vor. Daraus folgte auch die Notwendigkeit einer drastischen Abwertung der Krone. Dennoch bevorzugte das liberale Reformszenario eine schnelle und radikale Variante, die die Bereitschaft der Menschen, Opfer zu bringen und die Regenerierung der tschechoslowakischen Wirtschaft durch inländische Kräfte unter starker Beteiligung ausländischen Kapitals voraussetzt.

In den Tagen, als der Reformplan veröffentlicht wurde, fand in Prag die Tagung des Weltwirtschaftsforums statt, und es kamen auch die ersten Informationen über größere Projekte unter Beteiligung ausländischen Kapitals. Dabei zeigten die Firmen Volkswagen und Renault-Volvo größtes Interesse am Automobilwerk Skoda. Die tschechische Regierung entschied sich im Dezember 1990 für die Volkswagen AG.

Es sah so aus, daß die ersten Kommunalwahlen die wichtigsten Ereignisse dieses Herbstes werden sollten. Bevor sie jedoch zu dem festgesetzten Novembertermin stattfinden konnten, gerieten in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit ganz andere Ereignisse. Die erste Herbsttagung des Bürgerforums beschäftigte sich zwar intensiv mit den Wahlen, es zeigte sich jedoch, daß die Meinungsgegensätze innerhalb der Bewegung ein bedenkliches Ausmaß erreicht hatten. Der im politischen Bereich immer mehr in den Vordergrund tretende Väclav Klaus begann eine Reise durch tschechische, mährische und slowakische Städte, wo er in überfüllten Stadien sein Programm der wirtschaftlichen Reform erläuterte. Dieses wurde plötzlich zur Zielscheibe der Kritik vieler weiterer Protagonisten des Bürgerforums. Minister Klaus konnte jedoch den radikal gestimmten Flügel des Bürgerforums auf dem Lande für sich gewinnen. Am 14. Oktober wurde er völlig überraschend durch eine große Mehrheit zum neuen Vorsitzenden der Bewegung gewählt. Bald darauf konstituierte sich der Interparlamentarische Klub der demokratischen Rechten, entstanden aus einem Teil der bis dahin unentschlossenen Abgeordneten des Bürgerforums. Väclav Klaus wurde so im Laufe eines Monats einer der tschechoslowakischen Spitzenpolitiker.

Andere Abgeordnete des Bürgerforums bildeten eine interparlamentarische demokratische Gemeinschaft, die vor allem enge Mitarbeiter Väclav Havels und prominente, den Einfluß Väclav Klaus’ fürchtetende Politiker des Bürgerforums vereinigte. Gleichzeitig wurde eine Stellungnahme der neuen Führung veröffentlicht. Darin hieß es, daß eine weitere neue Formation des Bürgerforums -Obroda (Die Erneuerung) -mit den ehemaligen, später starken Verfolgungen ausgesetzten Reformkommunisten aus dem Jahre 1968 sowie die Linke Alternative die Plattform der Bewegung „verlassen“ hätten. Für die Öffentlichkeit wurde auf diese Weise erst ein Jahr nach den Wahlen die grundlegende politische Orientierung gewählter Abgeordneter deutlich sichtbar. Ein neues Kräfteverhältnis begann sich abzuzeichnen.

Der Streit um die Kompetenzen ging jedoch weiter, etwa bei den Regierungsverhandlungen der Premierminister Pithart und Meiar. Immer dramatischere Nachrichten drangen in die Öffentlichkeit. Die Christlich-demokratische Bewegung (KDH) formulierte auf ihrem Parteitag in KoSice die Forderung nach „dem durch die Verfassung garantierten Recht der Slowakei, die Föderation zu verlassen“. Es schien, als seien die Tage des gemeinsamen Staates der Tschechen und Slowaken gezählt. Doch auch in dieser Zeit fehlte es nicht an gesundem Menschenverstand. In Mähren traf der von der Versammlung der politischen Parteien und Bewegungen organisierte „tschechisch-slowakische Dialog“ zusammen. Sein Hauptgedanke lautete, man könne den gemeinsamen demokratischen Staat nur auf gegenseitigem Respekt aufbauen. Das sogenannte Kompetenzengesetz wurde schließlich nach weiteren Verwicklungen im Parlament mit großer Mehrheit verabschiedet. Es folgte eine vorübergehende Zeit der Erleichterung.

Inmitten dieser Atmosphäre erinnerte man am 17. November daran, daß die Tschechoslowakei bereits seit einem Jahr ein Leben in Freiheit genießen durfte. Dieser Tag verlief im Zeichen versöhnlicher Erklärungen aber auch von Diskussionen über die „gestohlene Revolution“. Als Ermunterung wirkte an diesem Tag der Besuch des amerikanischen Präsidenten George Bush, der der neuen Demokratie seine Unterstützung zusagte.

Am 24. November fanden die Kommunalwahlen statt; 74, 8 Prozent der Wähler nahmen an ihnen teil. Die Reihenfolge der erfolgreichsten Parteien im Hinblick auf die gewonnenen Mandate sah folgendermaßen aus: In der Tschechischen Republik: Bürgerforum 31, 7 Prozent, Kommunistische Partei von Böhmen und Mähren 14, 4 Prozent, Tschechoslowakische Volkspartei 12, 1 Prozent, Bewegung für Selbstverwaltete Demokratie/Ge-Seilschaft für Mähren und Schlesien 2, 6 Prozent, Tschechoslowakische Agrarpartei 2, 5 Prozent. In der Slowakischen Republik gewann die Christlich-demokratische Bewegung 27, 4 Prozent, die Öffentlichkeit gegen Gewalt 20, 4 Prozent, die Kommunistische Partei der Slowakei/Partei der demokratischen Linken 13, 6 Prozent, Együttels-Spoluzitie-Wspölnota-Souziti (Zusammenleben) 6, 3 Prozent, die Slowakische Nationalpartei 3, 2 Prozent, die Bewegung der Landwirte 3, 1 Prozent und die Demokratische Partei 2, 3 Prozent. Bei den Wahlen kam es im Prinzip zu keinen größeren Überraschungen bis auf die Tatsache, daß die national-und minderheitenorientierten politischen Parteien große Einbußen hinnehmen mußten. Zur Atmosphäre des „heißen Herbstes“ noch einige weitere Zahlen: Im September signalisierten die demoskopischen Umfragen einen Vertrauensverlust gegenüber dem Präsidenten und den politischen Institutionen; 50 Prozent der Befragten waren der Meinung, daß die erreichten Ergebnisse der Wende nicht ausreichend seien. Im November schenkte weniger als die Hälfte der Befragten dem Parlament das Vertrauen. Wenige Bürger -etwa 25 Prozent -hatten Vertrauen in die Gewerkschaften. Für den gemeinsamen Staat sprachen sich 68 Prozent der Befragten in Böhmen und 84 Prozent in der Slowakei aus. Die Auseinandersetzungen um die sogenannten Kompetenzen hielten 74 Prozent der Bürger in der Tschechischen Republik und 70 Prozent in der Slowakei für ein riskantes Spiel der Politik. Es war offensichtlich, daß die Euphorie der ersten Monate nach der Revolution unwiderruflich vorbei war.

Winter 1990/91

Am 21. Dezember 1990 veröffentlichten alle Tageszeitungen die Nachricht über die Pressekonferenz der Kommission für die Aufklärung der Ereignisse vom 17. November 1989. Die Kommission war im Besitz von neu aufgetauchten Listen, die mehr als hunderttausend Namen angeblicher Mitarbeiter der Staatssicherheit (StB) enthielten. Diese Mitarbeiter seien überall und hätten alle staatlichen und wirtschaftlichen Strukturen wie auch die Medienlandschaft unterwandert, hieß es. Aus später folgenden Berichten ging des weiteren hervor, daß es auch an den höchsten Stellen der Staatsführung Agenten der StB geben solle. Die Kommission, in der alle parlamentarischen Gruppierungen -einschließlich der Kommunistischen Partei -vertreten waren, forderte deshalb eine „Durchleuchtung“ des Parlaments, der Regierung und ihrer Organe und bat den Präsidenten um Zustimmung zu der „Durchleuchtung“ der Mitarbeiter seiner Kanzlei. Einige Abgeordnete forderten inzwischen vergeblich, diese Überprüfungen erst nach der Verabschiedung jenes Gesetzes durchzuführen, welches eine legale Grundlage für diese heikle, die Menschenrechte berührende Problematik schaffen würde. Es wurde darauf hingewiesen, daß diese Untersuchungen voreilig und ohne Konzept vonstatten gehen würden. Die Demokraten gaben genau wie der Präsident selbst allgemein gehaltene Erklärungen defensiven Charakters ab. Allmählich entstand eine Atmosphäre, in der jeder, der solche Methoden kritisierte, beschuldigt wurde, aus persönlichen Beweggründen zu handeln. Nach dem Übergang zur inneren Konvertibilität der Krone und nach der Freigabe der Preise, durch die das Preisniveau sprunghaft durchschnittlich um 55 Prozent stieg, wurde in der ÖSFR am 1. Januar 1991 mit Maßnahmen zur Realisierung der Wirtschaftsreform begonnen. In den ersten Tagen des Jahres zog die Affäre um den tschechischen Umweltminister Bedfich Moldan -ein allgemein geschätzter Experte -die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich. Er wurde schließlich unter ungeklärten Umständen und sich widersprechenden Erklärungen wegen des Verdachts der Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit seines Amtes enthoben. Am 13. Januar definierte sich das Bürgerforum als eine rechtsgerichtete politische Partei. Dies war eine vernichtende Niederlage des sogenannten li31 beralen Klubs und somit aller der „Burggruppe“ nahestehenden Kräfte des Bürgerforums. Minister Klaus charakterisierte diesen Wandel als das Ende der Revolution und den Beginn eines normal funktionierenden Staates. Offensichtlich ging es hierbei um Wunschdenken. Eines war jedoch sicher: Das Bürgerforum als Held der Revolution und Sieger der freien Wahlen hörte praktisch auf zu existieren. Unmittelbar danach wurde die Teilung des Bürgerforums in zwei politische Formationen vereinbart, die -wie es hieß -eng zusammenarbeiten sollten. Am 23. Februar teilte sich das Bürgerforum in die Bürgerbewegung (Vorsitzender wurde Außenminister J. Dienstbier) und in die Demokratische Bürgerpartei (mit dem Finanzminister V. Klaus als Vorsitzendem). Aus der noch versöhnlichen Stimmung entstand bald ein grundsätzlicher und langanhaltender politischer Konflikt.

Innerhalb der slowakischen Partei „Öffentlichkeit gegen Gewalt“ schien noch alles in Ordnung zu sein. Doch auch hier kam es Ende Februar zu schweren Auseinandersetzungen. Sie entzündeten sich an der dynamischen und allzu selbständigen Persönlichkeit des Ministerpräsidenten der Slowakischen Republik, Vladimir Meiar, des führenden Vertreters der Bewegung. Im März gründete er eine eigene Plattform und verließ bald darauf die Partei „Öffentlichkeit gegen Gewalt“. In dieser Zeit erreichte seine Popularität in der Slowakei den Höhepunkt. Meiar bekam die Unterstützung von 80 Prozent der dortigen Bürger; gleichzeitig aber war er der am wenigsten beliebte Politiker in Böhmen. Die Stimmung war wieder gereizt.

Was ist in diesem Prozeß der Herausbildung politischer Positionen eigentlich geschehen? Nicht mehr und nicht weniger als die Tatsache, daß die zwei entscheidenden politischen Faktoren in der ÖSFR zerbrachen, indem die Abgeordneten des Bürgerforums und der „Öffentlichkeit gegen Gewalt“ anfingen, ihre Parteizugehörigkeit nach Belieben zu wechseln, womit sie eigentlich die Wahlergebnisse willkürlich manipulierten. Die Öffentlichkeit verlor dadurch die Übersicht über das Kräfteverhältnis im Parlament. Die Legitimität der Mandate der Abgeordneten und das Recht des Parlaments, Entscheidungen zu treffen, wurde ernsthaft in Frage gestellt. Es handelte sich jedoch letztlich um ein verständliches Ergebnis der stufenweisen Entwicklung der tschechoslowakischen Demokratie im vorausgegangenen Jahr. Die Wahlen fanden nämlich in einer Zeit statt, in der die Gesellschaft bei weitem noch nicht zu den wichtigsten Fragestellungen gelangt und wo die Struktur der politischen Parteien noch nicht entsprechend differenziert war.

Dies änderte jedoch nichts an der Tatsache, daß die Parteien der siegreichen Regierungskoalition auseinandergingen. Marian Öalfa, ein Vertreter der „Öffentlichkeit gegen Gewalt“ und ein selbständiger, umsichtiger, vorsichtiger und intelligenter Jurist, der seine umfassenden Fachkenntnisse im Regierungsapparat noch in der Zeit des kommunistischen Regimes gewonnen hatte, blieb Ministerpräsident der föderalen Regierung. Unter seiner pragmatischen Führung blieb die Koalitionsregierung handlungsfähig. Seine Bemühungen um einen sachlichen Kompromiß in der Nationalitätenfrage und um ein kraftvolles und doch ruhiges Vorgehen bei der Wirtschaftsreform trugen zur Entspannung in der Gesellschaft bei. Öalfa zog die Vermittlung von Kompromißlösungen dem persönlichen Engagement bei innenpolitischen Auseinandersetzungen vor, so daß seine politische Stellung weder stark noch besonders ausgeprägt war. Das Land hatte dadurch kein klares politisches Programm; die Atmosphäre verschlechterte sich zunehmend.

Mit Befürchtungen wurde daher der 15. März erwartet, der Gründungstag des Slowakischen Staates im Jahre 1939. Als Präsident Havel an diesem Tag in Bratislava an einer Demonstration der Nationalisten vorbeiging, wurde er tätlich angegriffen. Dies war auch über die Grenzen hinaus beschämend. Der Präsident ergriff zu dieser Zeit jedoch keine entscheidende Initiative mehr. Seine Eingriffe zeigten sich immer mehr als zwar gut gemeint, doch wenig durchdacht. Daß er einer solchen Belastung ausgesetzt war, legte die mangelnde Poduktivität und Professionalität seiner nächsten Mitarbeiter bloß; immer häufiger kam es zu unerwarteten Fehlern. Der Präsident verzichtete lieber auf innenpolitische Initiative.

Die Entwicklung ging so rasch vor sich, daß sie ihren Protagonisten über den Kopf wuchs. In dieser kontraproduktiven Situation der wichtigsten politischen Kräfte entstand die Notwendigkeit schwerwiegender politischer Entscheidungen. Im Parlament erreichte die Erörterung des Gesetzes über die Rückgabe des verstaatlichten Eigentums ihren Höhepunkt. Die Rückgabe, die ursprünglich als eine Ausnahme bei der Regelung von Eigentums-ansprüchen konzipiert worden war und nicht Vorrang haben sollte, wurde auf Druck der radikalen Abgeordnetenmehrheit zur Hauptregelung. Im Unterschied zu einer Entschädigung in anderer Form wurde die Rückgabe dadurch kompliziert, daß sie langwierige Gerichtsverhandlungen erfordern und Investitionen eher verlangsamen würde. Nur eine Minderheit der Abgeordneten begriff die Funktionsfähigkeit der Wirtschaft als erstrangig, doch das Recht auf Eigentum wurde zur Losung dieser Tage. In ähnlicher Stimmung verlief auch die Auseinandersetzung um die Bodenreform. Es wurde deutlich, daß die Abgeordneten eine ganze Reihe von Fragen aufgrund fehlender Qualifikation nicht beurteilen konnten. Dabei vergrößerte sich der Umfang der legislativen Tätigkeit im Jahr 1990 gegenüber den vorausgegangenen Jahren um das Drei-bis Vierfache. Die Gesetze wurden dann häufig sogar direkt im Laufe der Debatte im Parlament „nachgearbeitet“.

Die „Durchleuchtungsaffäre“ zog weitere Kreise. Am 21. März fand im Parlament die vom Fernsehen direkt übertragene „Durchleuchtungstagung“ statt, bei der die Namen von zehn Abgeordneten bekannt gegeben wurden. Sie lehnten es ab, ihr Mandat niederzulegen, obwohl sie von der Kommission darauf aufmerksam gemacht wurden, daß sie in den Listen der StB standen. Dem Volkszom sollten offenbar wieder nur die „Kleinen“ geopfert werden.

Weiterhin wurde es nötig, mit den Vorbereitungen für die neue Verfassung zu beginnen. Nur schwerlich konnte man sich einen ungünstigeren Zeitpunkt dafür vorstellen. Die Verfassungsfrage wurde von Anfang an zum Schlüsselproblem in den Beziehungen zwischen der Tschechischen und der Slowakischen Republik erklärt. Die vermittelnde Tätigkeit des Präsidenten Väclav Havel endete in der Sackgasse. Eine Forderung der slowakischen Vertreter nach einem „Staatsvertrag“ zwischen der Tschechischen und der Slowakischen Republik wurde laut, die die Vorsitzende des Tschechischen Nationalrats, Dagmar Bureov, zunächst als völlig unakzeptabel zurückwies. Der schwerwiegendste Widerspruch zwischen dem tschechischen und slowakischen Vorschlag wurde jedoch sichtbar: Die Slowaken betonten die Priorität beider Nationalrepubliken und verstanden die Föderation als ein zweitrangiges Organ. Die Tschechen unterstrichen hingegen die Kontinuität des gemeinsamen Staates als das grundlegende Element.

Frühjahr und Sommer 1991

In der ersten Junihälfte fanden in der SFR zwei bedeutende internationale Veranstaltungen statt. Vom siebten bis neunten Juni kamen in Bardejov 300 Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft in Gegenwart der Staatschefs von Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei sowie des amerikanischen Vizepräsidenten zusammen, um die Ost-West-Be-Ziehungen zu diskutieren. Die eigentliche Absicht dieser Gespräche war es, die Notwendigkeit einer koordinierten Zusammenarbeit zwischen Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei zu betonen. Gleichzeitig wurde der Westen aufgefordert, mit den neuen Demokratien als mit gleichwertigen Partnern zu verhandeln, ohne Belehrungen und ohne Unterschätzung. Eine Woche später fanden auf Initiative der Präsidenten Havel und Mitterrand die Verhandlungen über die sogenannte Europäische Konföderation in Prag statt.

Das für die SFR möglicherweise wichtigste politische Ereignis des Jahres 1991 spielte sich am 19. Juni ab. An jenem Tag verließ der letzte sowjetische Soldat ihr Gebiet. Nach fast 23 Jahren nahm die Beschränkung der Souveränität des Landes ein Ende.

In den ersten Frühlingstagen informierte Ministerpräsident Marian alfa die Föderalversammlung über die Ergebnisse der tschechoslowakischen Wirtschaft für das erste Halbjahr 1991. Die Industrieproduktion war um sechs Prozent gesunken, und es wurden 152000 Arbeitssuchende registriert, also etwa zwei Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung. Zum grundlegenden Problem wurde die Absatzkrise. Als positiv in der Wirtschaftsentwicklung bezeichnete der Premier die Erhöhung des Angebots von Waren und Dienstleistungen. In den vorausgegangenen fünfzehn Monaten wurden 2500 Joint-ventures gegründet. Die Antiinflationspolitik konnte Erfolge verzeichnen; der Preisanstieg konnte bereits im Januar gestoppt werden. Zur entscheidenden Aufgabe wurde eine rasche und umfassende Privatisierung. Der Internationale Währungsfonds bewertete im Mai den Verlauf der Wirtschaftsreform als positiv.

Im April erreichte die politische Krise in der Slowakei ihren Höhepunkt. Nach vielen Verhandlungen hinter den Kulissen wurde Ministerpräsident Meiar durch eine Abstimmung im Präsidium des Slowakischen Nationalrats schließlich seines Amtes enthoben. Mann der Stunde wurde der Vorsitzende der Christlich-demokratischen Bewegung, Jän arnogursk, der mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt wurde. Die Straßen in der Slowakei füllten sich mit protestierenden Bürgern, die von der Prager Presse als Opfer einer populistischen Manipulation bezeichnet wurden. Ministerpräsident Carnogursky schien zu diesem Zeitpunkt für die Prager Politik zugänglicher zu sein als Vladimir Meiar. Dieses Ereignis war für die weitere Entwicklung fatal. Vladimir Meiar, dessen Bewegung nach Meinungsumfragen die größte Unter-33 Stützung fand, war zutiefst beleidigt und ging in Opposition zu seinen ehemaligen Mitstreitern, zur Prager Regierung und zum Präsidenten Havel.

Es ist schwer, zwei Gegenspieler zu finden, die gegensätzlicher wären als Vladimir Meiar und Väclav Havel. Vladimir Meciar ist ein robuster, dynamischer und sehr intelligenter Politiker mit starker Intuition, aber geringer Erfahrung in der Politik. Zu seinen Schwächen zählt ferner, daß er sich schlecht beherrschen kann und emotional auftritt. Väclav Havel ist dagegen ein nachdenklicher, betont korrekter Intellektueller. Beide haben sie die Gabe, Menschen zu begeistern. Nach dem Sturz von MeCiar wurde ihre Kommunikation praktisch unterbrochen. Meiar wurde zum Bösewicht für die Tschechen und Havel zu einer angezweifelten Autorität in der Slowakei. In Bratislava fing bald ein Wettbewerb an, wer besser und mit mehr Energie die slowakischen nationalen Belange gegen Prag vertreten würde. An diesem Wettbewerb beteiligten sich alle wichtigen politischen Strömungen der Slowakei.

Sinnlose Streitigkeiten über „eine authentische Föderation, Konföderation, Föderation mit zwei Republiken als völkerrechtlichen Subjekten“ dauerten Monate. Es wurde um den gemeinsamen Staat gepokert. Die Meinungsumfragen bestätigten, daß nicht nur dieser gemeinsame Staat aufs Spiel gesetzt wurde, sondern auch seine politischen Ziele. Die Anzahl der Bürger, die die Trennung unterstützten, blieb konstant und relativ niedrig: In der Slowakei waren es 13 bis 17 Prozent, in der Tschechischen Republik nur 4 Prozent. Die Versammlung der politischen Parteien, Bewegungen und Vereinigungen in der ÖSFR stellte nach einer umfangreichen Diskussion im Juni fest, daß die Verhandlungen in eine Sackgasse geraten seien und ein Referendum vorbereitet werden müßte.

Am l. Juli wurde in Prag der faktisch nicht mehr existierende Warschauer Pakt aufgelöst. Im Juli kam der bayerische Ministerpräsident Max Streibl zu Besuch nach Prag. Ministerpräsident alfa erklärte ihm, daß die Rückgabe des vor dem kommunistischen Putsch im Jahre 1948 verstaatlichten Vermögens nicht möglich sei. Die nachdrücklich geäußerten Vermögensansprüche einiger Organisationen, die sich im Namen der ehemaligen Sudetendeutschen zu Wort meldeten, wurden als Zweifel an der Integrität der tschechoslowakischen Rechtsordnung verstanden und fanden in der tschechoslowakischen Öffentlichkeit kein Verständnis. Der Moskauer Putsch fand in Prag ein dramatisches Echo. Es war zwar klar, daß der politische Veränderungsprozeß in der CSFR trotz allem un-umkehrbar war, doch tauchten nach dem Putsch Vorschläge auf, die zu einer radikalen Abrechnung mit der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei führen sollten, vor allem mit allen ehemaligen Kommunisten, die politische Funktionen inne-gehabt hatten -angefangen mit Alexander Dubek bis hin zu einfachen Funktionären. In dieser Atmosphäre reichte der stellvertretende Ministerpräsident der föderalen Regierung, Väclav Vales, ein Freund und Mithäftling von Väclav Havel, seine Demission ein. Auch er wurde der Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit beschuldigt. Dieser Mann, der sowohl von den Nazis als auch von den Kommunisten eingekerkert wurde, verließ sein Amt als gebrochener Mann. Im Zusammenhang mit dem Moskauer Putsch sollte noch der sowjetische Botschafter in Prag, Boris Pankin, erwähnt werden, der wegen seines grundsätzlichen Widerstands gegen den Putsch zum Chef der sowjetischen Diplomatie wurde. Seine Tätigkeit in Prag und vor allem die imponierende Art und Weise, mit der er seine Mission in der Stadt beendete, trugen wesentlich zur Verbesserung der tschechoslowakisch-sowjetischen Beziehungen bei.

Herbst 1991

In der Außenpolitik wurde der Prozeß der Festigung der Stellung der Tschechoslowakei im internationalen Rahmen fortgesetzt. Väclav Havel unterzeichnete bei seinem Blitzbesuch in Paris gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Franois Mitterrand den Vertrag über die tschechoslowakisch-französische Freundschaft.

Anfang Oktober kam Bundespräsident Richard von Weizsäcker zu einem Staatsbesuch in die SFR. Auf der Prager Burg wurde der lange vorbereitete Vertrag über die tschechoslowakischdeutsche Freundschaft und Zusammenarbeit unterzeichnet. Der Bundespräsident wird in der ÖSFR als Staatsmann hoch geschätzt und deshalb überraschten seine vagen Äußerungen über die Ähnlichkeit der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der ÖSFR mit denen zwischen Frankreich und Algerien oder Portugal und Brasilien die tschechoslowakische Öffentlichkeit. Die Presse äußerte die Vermutung, daß es sich hier um ein Mißverständnis handeln müsse. Der unterzeichnete Vertrag soll zu einer guten Grundlage für die weitere Entwicklung der gegenseitigen Beziehungen beider Staaten werden. In Krakau kamen die Staatschefs von Polen, Ungarn und der SFR für einen Tag zusammen, um mit den Konsultationen über gemeinsame Interessen fortzufahren -auch im Hinblick auf die eskalierende Krise in Jugoslawien; vor allem aber ging es um die Organisation der gemeinsamen Sicherheit im Rahmen der NATO sowie um die Koordinierung des Assoziierungsprozesses mit der EG. Diese Treffen wurden inzwischen zu einer bewährten Tradition.

Die skeptischen Voraussagen über die beschränkten Möglichkeiten der tschechischen und slowakischen Regierung, zur Einigung zu gelangen, sowie über die Kontraproduktivität der bisherigen Verhandlungsweise über die tschecho-slowakischen Beziehungen wurden bestätigt. Der Tschechische und der Slowakische Nationalrat führten ergebnislose Diskussionen, wobei die Meinung bestärkt wurde, daß der Staat als Konföderation organisiert werden sollte. In der Tschechoslowakei begann eine Unterschriftenaktion „Für den gemeinsamen Staat“. Binnen kurzem schloß sich eine Million Bürger dieser Aktion an. Die Dinge bewegten sich langsam auf das geplante Referendum zu. Die Tschechoslowakei ist ein Land, in dem die Institutionen einer bürgerlichen Gesellschaft bisher nicht genügend entwickelt sind. Die politischen Parteien -und das gilt auch für die Regierungsparteien -sind sehr klein. Zwischen dem Bürger -dem Wähler-auf der einen Seite und dem Parlament und der Regierung auf der anderen Seite gibt es praktisch keine institutionalisierten Kommunikationsmöglichkeiten. Auch deshalb ist es sehr schwer zu erkennen, welches Mandat die politischen Repräsentanten bei wichtigen Verhandlungen haben sollen. Das Referendum ist aus diesem Grunde das einzig legitime Mittel zur Findung der Grundlage für eine verfassungsmäßige Regelung.

Anfang Oktober wurde das Gesetz über die „Durchleuchtungen“ verabschiedet, welches die Informanten der Staatssicherheit für fünf Jahre von leitenden Funktionen ausschließt. Dasselbe gilt für die ehemaligen höheren Funktionäre der Kommunistischen Partei und der Volksmilizen, der Wehrorganisation der KP. Diese Maßnahme betrifft aber auch eine Reihe von führenden Persönlichkeiten aus dem Jahre 1968, einschließlich der später inhaftierten und verfolgten Unterzeichner der Charta 77, die somit auf dasselbe Niveau gestellt werden wie die Informanten der Staatssicherheit. Präsident Havel zögerte zunächst mit seiner Unterschrift, während Alexander Dubek das Gesetz gar nicht unterschrieb.

Im Hinblick auf die wirtschaftlichen Aussichten war im Herbst der Beginn der „großen Privatisierung“ zweifellos das wichtigste Ereignis. Im Rahmen der „kleinen Privatisierung“, die dieser vorangegangen war, wurden insgesamt 18000 Betriebe im Wert von mehr als 10 Milliarden Kronen versteigert. Bei der „großen Privatisierung“ geht es um die Umwandlung der entscheidenden Teile der tschechoslowakischen Industrie. Es sollen dabei grundsätzlich zwei Methoden angewandt werden: Die erste beruht auf der Bewertung und dem direkten Verkauf eines Betriebes an neue Eigentümer, bei der zweiten soll ein Betrieb in eine Aktiengesellschaft umgewandelt werden. Die tschechoslowakischen Bürger sollen daraus Nutzen ziehen, indem sie eine bestimmte Anzahl von Aktien zu besonders günstigen Konditionen erwerben können.

Zur Stärkung der Grundlagen des Rechtsstaates soll die Einrichtung eines Verfassungsgerichts beitragen. Die Bestimmung darüber beinhaltete bereits das Gesetz über die Föderation aus dem Jahre 1968, die kommunistische Regierung erlaubte aber deren Realisierung nicht. Auch das neue Regime hatte es mit der Einrichtung des Verfassungsgerichtes als eines Instruments zur Kontrolle der legislativen Gewalt nicht eilig. Nach langem Zögern begannen schließlich im Herbst 1991 die Vorbereitungen zur Realisierung einer Novelle des Verfassungsgesetzes über das Verfassungsgericht. Das Verfassungsgericht soll mit beträchtlicher Macht ausgestattet sein. Der Kontrolle des Verfassungsgerichtes sollen alle Gesetze der Föderalversammlung sowie der Parlamente der beiden Teilrepubliken, alle davon abgeleiteten Rechtsvorschriften der zentralen Exekutive sowie auch weitere administrative Entscheidungen unterliegen, sofern der Verdacht besteht, daß sie gegen die Verfassung oder gegen den internationalen Vertrag über die Menschen-und Grundrechte verstoßen. Es besteht die berechtigte Hoffnung, daß diese Institution durch ihre Unabhängigkeit und ihre breitgefächerten Machtbefugnisse zur Stabilisierung der Rechtsordnung in der Tschechoslowakei und zur Stabilisierung der demokratischen Verhältnisse beitragen wird.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Pavel Smutny, Dr. jur., geb. 1959 in Hradec Krlov, Tschechoslowakei; Jura-Studium an der Karls-Universität in Prag; Mitarbeit am Institut für Völkerrecht und an der Akademie der Wissenschaften; Exekutivdirektor des neugegründeten Instituts für Demokratie-Forschung. Veröffentlichungen zum gesellschaftlich-politischen System der SFR.