Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Armutswanderung, Asyl und Abwehrverhalten Globale und nationale Dilemmata | APuZ 7/1993 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 7/1993 Impresssum Armutswanderung, Asyl und Abwehrverhalten Globale und nationale Dilemmata Ost-West-Wanderung nach Deutschland Wirtschafts-und sozialpolitische Aspekte der Zuwanderung in die Bundesrepublik* Sozialstaat und Zuwanderung Die Städte sind überfordert Kommunale Erfahrungen mit Asylbewerbern

Armutswanderung, Asyl und Abwehrverhalten Globale und nationale Dilemmata

Albert Mühlum

/ 28 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Ausländerfrage ist -neben den Anpassungsproblemen von Ost und West -zur wichtigsten Frage der Innenpolitik geworden. Sie steckt in dem Dilemma -so die Ausgangsthese des Beitrags den humanitären Selbstanspruch der Gesellschaft immer weniger mit den sozioökonomischen Realitäten zur Übereinstimmung bringen zu können. Diese Unfähigkeit weckt Schuldgefühle und mobilisiert die Angst vor dem Fremden in uns und um uns. In zwei Argumentationslinien werden globale Hintergründe und die davon ausgelösten Migrationen einerseits, die Immigrationsfolgen und Reaktionen der Wohlstandsgesellschaft andererseits dargestellt. Auch wenn hierzulande meist zugestanden wird, daß „niemand seine Heimat ohne Not verläßt“, wird der enorme Wanderungsdruck samt Ursachen chronisch unterschätzt, weil die Binnenprozesse (interne Migration) überhaupt nicht und grenzüberschreitende Wanderungen nur sehr unvollkommen erfaßt werden. Eine Analyse der globalen Trends und der konkreten Fluchtursachen (Push-und Pull-Faktoren) ist jedoch Voraussetzung für eine realistische Einschätzung des Migrationspotentials und der Optionen der Armen -und gleichzeitig Basis für verantwortliches Handeln. Migrationsfolgen können sozioökonomisch und soziokulturell betrachtet werden. Die Reaktionen sind entsprechend facettenreich: Sie reichen vom unverhüllten Ausländerhaß bis zur Idealisierung der Ausländer, ja bis zum Selbsthaß der Deutschen. Sie werden gern simplifizierend in ein Rechts-Links-Schema gepreßt, dessen Koordinaten durch „Neonazis“ und „Antifaschisten“ definiert sind. Historisch wie ideologisch fehlt jedoch die Verbindung zu den entsprechenden „Ismen“, und so deutet dies eher auf eine Instrumentalisierung des Phänomens hin, zumal sich die Gewaltbereitschaft bei „rechten“ Skinheads von der „linker“ Chaoten kaum unterscheidet. Richtig ist allerdings auch, daß die Lasten der Immigration sehr ungleich verteilt sind und besonders sozial Deklassierte um Ressourcen mit den Zuwanderem konkurrieren. Fazit: Angemessene Problemlösungen müssen von den Realitäten ausgehen, humanen und demokratischen Grundsätzen entsprechen und müssen der Bevölkerung vermittelbar sein. Somit verbieten sich alle idealistisch-realitätsfremden, aber auch populistischen Lösungen. Da eine uneingeschränkte Asylgewährung und Zuwanderung unmöglich ist, müssen andere Bewältigungsstrategien gefunden werden, die nur in einem verantwortbaren policy-mix aus nationalen, europäischen und globalen Lösungen bestehen können. Ohne eine neue Partizipation und ohne die Bereitschaft zum Teilen wird es jedoch auch keine auch nur annähernd befriedigende Lösung geben können.

I. Einleitung

Abbildung 1

Das politische System der Bundesrepublik steht vor der vielleicht größten Herausforderung seiner jungen Geschichte. Und das Bild der Deutschen droht sich erneut zu verdunkeln. Die Ausländer-frage ist -neben den Anpassungsproblemen von Ost und West -zur wichtigsten Frage der Politik geworden. Sie scheint sich derzeit unvermeidlich auf das Thema „Asyl“ zu verengen. „Hoyerswerda“ und „Mölln“ sind Symbole dafür und gleichzeitig Menetekel einer Entwicklung, die an die Grundfeste unserer Gesellschaft rührt. Zumal die Übergriffe dort nur die Spitze eines Eisbergs sind: Radikalisierung, Brutalisierung und Haß als Merkmale einer ausgeprägten Xenophobie, die nicht nur das Zusammenleben im Innern, sondern auch die Beziehungen zu den Nachbarstaaten im höchsten Maße belasten.

Mit dieser Erkenntnis scheint die Übereinstimmung der Demokraten und der politischen Klasse der Bundesrepublik aber auch schon erschöpft zu sein. Sowohl die Erforschung der Gründe für die tatsächlich exponential wachsende Zuwanderung als auch die Ursachenforschung des Fremdenhasses liegen weithin im argen. Die Reaktionen der Zeitgenossen, einschließlich der Politiker, sind dementsprechend von Unsicherheit, Angst und Abwehr geprägt. Die daraus folgenden Irritationen -z. B.der Streit um Asylrecht und Einwanderungspolitik -fördern aber wiederum das irrationale Verhalten frustrierter Gruppen. Ressentiments und Reaktionen schaukeln sich hoch. Diese zirkulären Prozesse beziehen ihre Dynamik zu einem wesentlichen Teil aus dem Streit der politischen Parteien, die lieber den „Schwarzen Peter“ weiterspielen, statt gemeinsam Problemlösungen zu suchen.

Die Ursachen der Paralysierung staatlichen Handelns sind gewiß vielschichtig. Zu einem wesentlichen Teil aber gründen sie in dem Dilemma, den humanitären Selbstanspruch immer weniger mit der sozioökonomischen Realität zur Übereinstimmung bringen zu können -und zwar innerstaatlich wie auch weltweit. Erstaunlicherweise beschränkt sich die öffentliche Diskussion dabei fast ausschließlich auf binnenstaatliche Aspekte, obwohl der Problemdruck von außen kommt. Diesen Druck individuell und in seinem globalen Zusammenhang zu verstehen, d. h. auch, „mit den Augen der anderen“ zu sehen, ist Anliegen dieses Beitrags. Nur so können die „Optionen der Armen“ und die „Reaktionen im Wohlstandsstaat“ verstanden werden -als Vorbedingung für eine Versachlichung der Diskussion und für erträgliche Lösungen.

II. Das Fremde in uns und um uns

Abbildung 2

Ausländer sind offenbar nicht gleich Ausländer wie die Einschätzung aller Mitbürger zeigt, die z. B. auf Urlaubsreisen fremde Kulturen erleben und dennoch zu Hause an fremden Bräuchen Anstoß nehmen. Deshalb erreicht der hintersinnige Slogan „Jeder ist Ausländer -fast überall“ keineswegs alle Adressaten. So sehr alle Bestrebungen, dem anderen mitmenschlich zu begegnen und das Fremde anzunehmen, zu begrüßen sind, bleibt doch ein tiefgründiger Vorbehalt.

1. Angst vor dem Fremden

Der Grund für die Abwehr des Fremden mag ebensosehr in der stammesgeschichtlichen Entwicklung liegen, wie in der Verhaltensunsicherheit, die uns das Unbekannte beschert. Trotzdem kann es verwundern, daß z. B. die Probleme der Ausländerbeschäftigung in Deutschland heute fast wie vor 100 Jahren diskutiert werden, auch wenn sich Begriffe und Problemschwerpunkte geändert haben. Waren es vor der Jahrhundertwende die „Ruhrpolen“ im Bergbau und die „Wanderarbeiter“, danach die „Fremdarbeiter“ der Weimarer Republik sowie die „Zwangsarbeiter“ im Nationalsozialismus, sind es später die „Gastarbeiter“ der Nachkriegszeit und heute die „ausländischen Arbeitnehmer“, an denen sich positiv die Integrationsbereitschaft, negativ die soziale Ablehnung der heimischen Bevölkerung studieren läßt Tatsächlich gab es immer beides, wobei der Grad der Ablehnung offenbar mit der ethnischen und kulturellen Abweichung, also mit der zunehmenden Fremdheit, wächst.

Damit wäre ein erster sozialpsychologischer Erklärungsansatz angedeutet: Angst vor dem Unbekannten, Fremden, die immer auch Angst vor dem verborgenen Fremden im Menschen selbst und Angst vor dem eigenen Fremdwerden und dem Identitätsverlust, z. B. in Form der Vereinsamung, ist (Ehe Wiesel). Nicht zufällig wird die Aggression gegen Andersartige fast immer in Gruppen ausagiert -von Personen mit beschädigter Identität, denen die Gruppe Stütze und Halt in einer bedrohlich erlebten Welt verspricht. Dazu muß allerdings das Opfer zum Täter, die Gewalt zur befreienden Tat umdefiniert werden -wie Pogrome und Terror aller Zeiten zeigen, einerlei, mit welch ideologischer Verbrämung oder politischer Farbe auch agiert wurde.

Weitere Ursachen sind offensichtlich eine schmerzlich empfundene gesellschaftliche Benachteiligung (Frustrations-Aggressions-Hypothese) und eine prekäre wirtschaftliche Lage. Die Diskussion um Ausländerbeschäftigung wurde immer dann heftiger, wenn die eigene „Wohlstandsfestung“ bedroht schien -ein Zusammenhang, der in sozioökonomischen Erklärungsansätzen berücksichtigt wird.

Schließlich läßt sich das latente Mißtrauen allem Fremden gegenüber unter bestimmten Bedingungen aber auch instrumentalisieren und demagogisch ausbeuten und tritt dann in der extremsten Form als Xenophobie oder Fremdenhaß auf was am ehesten soziopolitisch zu erklären wäre. Die theoretischen Deutungen sollen hier jedoch nicht weiter verfolgt werden. Viel mehf interessieren die tatsächlichen Integrationsleistungen, die auch in unserer jüngeren Geschichte belegt sind.

2. Ausländer in Deutschland -Deutsche im Ausland

Eine gelungene soziale Integration setzt die Bereitschaft zum Zusammenleben und gegenseitige Akzeptanz voraus, sowohl im kleinen, überschaubaren Lebenskreis oder Soziotop, wie Nachbarschaft, Arbeitsstätte, Stadtteil und Gemeinde, als auch in makrosozialen Zusammenhängen, wie Gesetzgebung, Politik und öffentlicher Meinung. Oft zitiertes Beispiel für die erfolgreiche Eingliederung auch großer Zahlen von Menschen ist die Flüchtlingspolitik der unmittelbaren Nachkriegszeit. Zwischen 1945 und 1950 flohen schätzungsweise 12 Millionen Menschen aus den ehemaligen Ostgebieten und angrenzenden sozialistischen Staaten nach Westdeutschland. Lebensmittelrationierung, Lastenausgleich, Wohnungsbewirtschaftung und Zwangszuweisung von Flüchtlingen auch in bestehende Privathaushalte waren einige politische Steuerungselemente, mit denen die gewaltige Aufgabe gelöst wurde. Ohne die Reibungen, Vorurteile und Anfeindungen zwischen Alteingesessenen und Zugereisten jener Zeit zu verharmlosen, kann insgesamt doch von einer gelungenen Integration gesprochen werden. Selbstverständlich aber waren die Rahmenbedingungen andere als heute, wobei die damalige gemeinsame Not und die Gemeinsamkeit in Sprache und Kultur besonders hervorzuheben sind

Um der sogenannten „Deutschtümelei“ zu begegnen, sei aber ausdrücklich darauf hingewiesen, daß in der jüngeren Geschichte Wanderungsbewegungen in beide Richtungen stattfanden Betrachten wir diese grenzüberschreitende Mobilität über einen längeren Zeitraum, zeigt sich für die letzten 150 Jahre überraschenderweise eine fast ausgeglichene Bilanz (vgl. Abbildung 1). Zwischen 1840 und 1900 wandelten per Saldo nahezu fünf Millionen Deutsche in zwei großen Wanderungswellen aus, vorzugsweise in Richtung USA. Allein in der Dekade 1881-1890 waren dies 1, 3 Millionen Menschen. Ursachen waren im wesentlichen Armut und Arbeitslosigkeit, also wirtschaftliche Gründe. Zwischen 1950 und 1990 betrug der „Wanderungsgewinn“ (Saldo aus Zuwanderung und Abwanderung) in umgekehrter Richtung etwa sechs Millionen Ausländer, die ebenfalls in zwei großen Wellen nach Deutschland kamen: Zunächst „Gastarbeiter“, dann deutschstämmige Aussiedler aus Osteuropa und Asylbewerber. Im letzten Jahrzehnt 1981-1990 betrug der Wanderungsgewinn 2, 2 Millionen Menschen. Allein 1991 und 1992 kam eine weitere Million, was den steigenden Problemdruck erklären mag.

Zweierlei verdient dabei festgehalten zu werden: 1. Auf der Zeitschiene von 150 Jahren ergibt sich annähernd ein Gleichgewicht der Zu-und Abwanderungen; 2. Deutsche waren vor nicht allzu langer Zeit in einer ähnlichen Lage wie die heutigen „Wirtschaftsflüchtlinge“ -auf der Suche nach (Über-) Lebensmöglichkeiten in der Fremde. Allerdings nahmen sie dort nicht die Sozial-und Wohnungsämter in Anspruch, sondern bauten ein weitgehend menschenleeres Land auf. Überdies haben sich die Rahmenbedingungen dramatisch verändert: Das Wohlstands-und Zivilisationsgefälle zwischen aufnehmenden und abgebenden Staaten steigt, d. h., die Kluft zwischen Arm und Reich sowie zwischen hochspezialisierten einheimischen Facharbeitern und ungelernten Zuwanderern wird ständig größer, außerdem finden die Wanderungsbewegungen auf einem ungleich höheren Niveau der (Über-) Bevölkerung statt. Schon deshalb müssen die weltweiten Zusammenhänge bei der Beurteilung der Migration und ihrer Folgen viel stärker einbezogen werden, als das bisher der Fall war.

III. Globale Trends

Abbildung 3

Wanderungsbewegungen können politisch, ökonomisch, ökologisch oder soziokulturell motiviert sein. Bei genauerer Betrachtung sind die Ursachen aber meist multifaktoriell, wie komplexe Wirkungsketten und globale Trends zeigen. Dabei ist von zwei Thesen auszugehen: -Der Nord-Süd-Konflikt steht noch am Anfang und wird mit Sicherheit zumindest das nächste Jahrhundert bestimmen. -Die globalen Trends sind stochastische Prozesse, die kurzfristig überhaupt nicht und langfristig nur bei optimaler Abstimmung aller Beteiligten zu beeinflussen sind.

W. Kernig zeigt dies an aufschlußreichen Zeitreihen für die folgenden Variablen

1. Bevölkerung und Fruchtbarkeit

Das rasche Wachstum der Weltbevölkerung seit der Mitte unseres Jahrhunderts ist bekannt. Es hält weiter an, beschleunigt sich sogar noch, wie der Weltbevölkerungsbericht 1992 der UNO (United Nations Population Fund [UNPFA]) zeigt. 1940 lebten 2, 2 Mrd. Menschen auf der Erde -ein langsamer Anstieg über einen Zeitraum von 12000 Jahren seit der letzten Eiszeit; der gleiche Zuwachs wird heute in 25 Jahren erreicht, also noch nicht einmal innerhalb der Zeitspanne einer Generation: von 4, 09 Mrd. 1975 auf 6, 35 Mrd. im Jahr 2000. Für die Mitte des kommenden Jahrhunderts erwarten die UNO-Experten mit großer Sicherheit die Zahl von 10 Mrd. Menschen, also fast die Verdoppelung der heutigen Menschheit von 5, 48 Mrd. Diese Entwicklung ist fast unvermeidlich, wie vor allem die Altersstruktur der Weltbevölkerung zeigt: Der gewaltige Geburtenzuwachs in der jüngsten Generation Asiens, Afrikas und Lateinamerikas bedeutet, daß dort 50-60 Prozent der Bevölkerung jünger als 18 Jahre sind, also in der nächsten Dekade ins gebärfähige Alter kommen. Das generative Verhalten in tropischen Zonen ist aber -im Gegensatz zu den nördlich-gemäßigten Zonen -kulturell seit Jahrtausenden durch Fruchtbarkeits-Stimulierung geprägt und deshalb außerordentlich resistent, wie viele gescheiterte Versuche zur Geburtenkontrolle zeigen. Im übrigen haben tatsächlich die Industriestaaten den Keim zur Über-bevölkerung gelegt, seit sie mittels Medizin, Hygiene und Nahrungsmittelhilfe die Sterberaten der Dritten Welt drastisch senkten, während sich die hohen Geburtenraten nur langsam ändern. Das Ergebnis ist ein exponentielles Wachstum der Bevölkerung -z. B. in Indien, wo diese Störung der langfristigen Balance von hoher Geburten-und Sterberate die Zahl der Menschen in diesem Jahrhundert innerhalb von zwei Generationen schnell von 200 Millionen (1930) auf 400 (1960), 600 (1973) bis heute auf über 800 Millionen anwachsen ließ -mit rasch weiter steigender Tendenz in Richtung einer Milliarde nach der Jahrtausendwende.

2. Sozialprodukt und Verteilung

Das Sozialprodukt und die Verteilung des Volks-einkommens klaffen im Nord-Süd-Vergleich ebensoweit auseinander wie das generative Verhalten, wobei die Zeitreihen ebenfalls exponentielle Trends zeigen. Auch hier verläuft die Bruchstelle entlang des Gegensatzes von Moderne versus Traditionalität, der im wesentlichen den Klima-zonen entspricht. Das Welt-Bruttosozialprodukt 1975 von rund 6000 Mrd. US-Dollar verteilte sich im Verhältnis 4: 1 auf die Nord-und Südhemisphäre. Inzwischen hat es sich fast verdreifacht. Dabei wird die Kluft -gerechnet pro Kopf der Bevölkerung -immer breiter: In den westlichen Industriestaaten werden pro Kopf und Jahr durchschnittlich etwa 20000 US-Dollar erwirtschaftet, in Afrika und Asien dagegen kaum 500 US-Dollar, dies entspricht global einem Verhältnis von 40: 1. Differenzierter aufgeschlüsselt war das „Welt-Einkommen“ 1990 verteilt, wie es die Welt-Einkommenspyramide in Abbildung 2 zeigt.

Ziemlich genau die Hälfte der Menschheit muß demnach mit weniger als 500 US-Dollar pro Kopf und Jahr auskommen. Dem stehen die „Super-reichen“ gegenüber, die etwa drei Prozent der Weltbevölkerung ausmachen und über 25 000 US-Dollar pro Kopf verfügen.

3. Nahrung und Energie

Nahrung und Energieverbrauch spiegeln diese Un-gleichgewichte ebenfalls wider. So beträgt der Pro-Kopf-Verbrauch von Getreide im Norden rund 1000 kg, im Süden dagegen nur etwa 200 kg, in Afrika noch weniger. Der Hauptgrund für den hohen Verbrauch ist die Veredelung. Zur Produktion von Fleisch ist beispielsweise ein Verfütterungsfaktor von 5: 1 realistisch. Ähnliche Relationen gelten für den Energieverbrauch in der Landwirtschaft, wo die Industriestaaten das Fünffache (USA) bis Fünfzehnfache (Japan) pro Hektar aufwenden, verglichen mit Entwicklungsländern wie Brasilien oder Indien. Tatsächlich aber wird die Benachteiligung erst dann ganz deutlich, wenn bei diesen Un-gleichgewichten auch die für ökologische Faktoren typischen Kreisprozesse erkannt werden. Kernig illustriert dies so: Für die Nahrungsproduktion ist Kapitaleinsatz (Dünger, Maschinen) nötig, dafür Energie, diese wird noch überwiegend durch fossile Brennstoffe erzeugt, dabei wird CO; freigesetzt, welches zum Klimawandel beiträgt, der wiederum eine Verringerung der nutzbaren Böden (Versteppung, Überschwemmung) bewirkt. Reduzierte Anbauflächen aber bedingen wieder höheren Kapitaleinsatz, womit sich die Spirale auf einer höheren Stufe weiterdreht.

Wie lange die Erde das noch aushält, ist allerdings auch für die Wohlhabenden die Frage Die unmittelbaren Konsequenzen für die Armen sind jedenfalls offenkundig: nicht nur weitere Verarmung, sondern massenweise Verelendung und Verhungern. Konkret: In Süd-Asien werden zwischen 1975 und 2000 bis zu 20 Prozent der Bevölkerung verhungern, also jeder Fünfte -das sind mehr als 200 Mio. Menschen. In Afrika sind Somalia und Äthiopien von einem Massensterben in den Ausmaßen eines Genozids betroffen, der allerdings auch politisch bedingt ist.

Aufs Ganze gesehen werden die Reichen immer weniger, älter und noch reicher, mit immer mehr Kapital und Technik; die Armen werden weltweit immer mehr, jünger und -relativ -ärmer, mit immer weniger Ressourcen und Wirtschaftskraft pro Person Die Konsequenzen lassen sich absehen.

IV. Migration und Migrationspotential

Auch wenn subjektiv meist zugestanden wird, „daß niemand seine Heimat ohne Not verläßt“, wird der enorme Wanderungsdruck in den Armutszonen von den Industriestaaten in der Regel unterschätzt oder verharmlost. Tatsächlich aber hat eine globale Völkerwanderung -vom Norden fast unbemerkt -schon begonnen. Sie wird sichnoch dramatisch verstärken und immer mehr die „Weltinnenpolitik“ bestimmen

1. Migration

Migration ist der dauerhafte, „freiwillige“ Wechsel einzelner Menschen oder ganzer Gruppen in eine andere Region oder Gesellschaft Ziel der großen Wanderungsbewegungen sind seit Mitte des vorigen Jahrhunderts stets die industrialisierten Staaten der Welt. Die Migrationsforschung unterscheidet Push-und Pu//-Faktoren. Als primär, d. h. für den Aufbruch aus der angestammten Heimat entscheidend, gelten Schubkräfte wie Verfolgung, Hunger und Krieg. Erst danach, also sekundär, wirken sich Sogfaktoren wie Wohlstand und Stadtkultur bei der Wahl eines Zufluchtsortes aus. Deshalb vertritt die UNO schon seit 1980 die These, daß Fluchtprävention bei den Push-Faktoren ansetzen muß: -Menschenrechtsverletzungen (in 130 Staaten der Welt), -Bedrohung von Minderheiten, -Krieg und Bürgerkrieg, -absolute Verelendung, -wachsende Umweltprobleme (Wasserknappheit, Bodenerosion),-wirtschaftliche Not und Perspektivlosigkeit (auch ohne direkte Existenzgefährdung).

Wie groß die Existenznot und wie komplex die Problemstruktur sind, die bewältigt werden müßten, ist angesichts dieser Faktoren klar. Gleichzeitig wird dabei aber auch deutlich, daß Wanderungsbewegungen gesellschaftliche Antworten auf Problemlagen und Herausforderungen sind und keineswegs bloß eine Summe individueller Entscheidungen. Schon deshalb ist eine Immigrationspolitik verfehlt, die die Asylfrage nur unter dem Aspekt der Einzelfallentscheidung behandelt.

2. Armutswanderungen intern und extern

Der jetzt schon gewaltige Umfang der Wanderungsbewegungen wird vor allem deshalb verkannt, weil bestimmte Binnenprozesse sozialer Mobilität bisher negiert werden, die zusammengenommen erst das gesamte Wanderungspotential erahnen lassen. a) Interne Migration -Landflucht:

Immer mehr Bewohner der armen Länder suchen ihr Heil in den Städten, vorzugsweise der Metropole des eigenen Landes. Die Folge sind Mammut-Städte, die auf Kosten des übrigen Landes wuchern und damit die Entwicklungsmöglichkeiten auf dem Lande weiter verschlechtern. Waren 1960 unter den zehn größten Städten der Welt noch acht Zentren der Industriestaaten (sechs bis zehn Millionen Einwohner), so werden es im Jahr 2000 nur noch zwei sein (New York und Tokio), die übrigen acht sind dann Mega-Städte der Dritten Welt, von denen z. B. Mexico City und Säo Paulo jeweils bis zu 25 Millionen, Kalkutta und Bombay je sechzehn Millionen Einwohner haben werden. Erstmals in der Geschichte wird dann die Hälfte der Menschheit in Städten leben, was den Sog weiter verstärken dürfte. b) Politische Migration-Verfolgung, Vertreibung:

Zu Recht gilt das 20. Jahrhundert als „Jahrhundert der Flüchtlinge“. Allein seit 1945 wurden 500 kriegerische Auseinandersetzungen gezählt, davon sind derzeit noch 70 virulent und neue kommen hinzu Die UNO (UNHCR = United Nations High Commissioner on Refugees) spricht derzeit von 17, 2 Millionen politischer Flüchtlinge. Das sind allerdings nur grenzüberschreitend Flüchtende. Daß diese überwiegend in die unmittelbaren Nachbarstaaten fliehen, also ebenfalls in Entwicklungsländer (z. B. Afghanen, Kurden, Somali), wo sie wiederum den Verelendungsdruck verstärken, ist vielfach nicht bekannt. Politisch verfolgt und auf der Flucht innerhalb des eigenen Landes sind laut UN-Flüchtlingskommissar weltweit bis zu 100 Millionen Menschen -mit steigender Tendenz. c) Ost-West Migration:

Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus und der Desintegration der früheren Sowjetunion wächst der Auswanderungsdruck auch dort. Nach EG-Umfragen dachten im Sommer 1992 etwa 13 Millionen Bürger daran, Zuflucht in Westeuropa zu suchen; neun von zehn Rußlanddeutschen, also mehr als zwei Millionen, wollen direkt nach Deutschland. Eine Verschärfung der Nationalitätenkonflikte und der Zusammenbruch der Volkswirtschaften ließen auch diese Zahlen noch erheblich steigen. d) Ökonomisch-ökologische Migration:

Hierzu fehlen genauere Zahlen. Allerdings dürfte dies der größte Teil der legal und illegal nach Europa, Kanada und den USA Einwandernden sein, einschließlich der meisten Asylbewerber. Der UNFPA-Bericht spricht derzeit von einer Million Menschen, die pro Jahr formell einwandem, und einer weiteren Million, die offiziell Asyl beantragen. Schätzungen über illegale Zuwanderer gehen von einer weiteren knappen Million aus. Grundsätzlich gehören hierher aber alle, die unterwegs sind, weil sie für sich und ihre Familie im Herkunftsland keine Lebensperspektive sehen. Bei 1, 156 Milliarden Menschen, die gegenwärtig in absoluter Armut leben, erwartet z. B. die Deutsche Welthungerhilfe „eine völlig neue Dimension“ des Flüchtlingsproblems -nicht zuletzt aus ökologischen Gründen.

Die Zahl der nichterfaßten Fluchtbewegungen läßt sich allerdings nur sehr schwer schätzen. Insgesamt geht das Internationale Komitee des Roten Kreuzes derzeit von rund 500 Millionen Menschen aus, die weltweit auf der Flucht sind -eine Zahl, die sich bis zum Jahr 2000 sogar verdoppeln könnte Gemessen an diesem Wanderungspotential ist die Zahl derer, die bisher in den Industriestaaten Aufnahme fanden, fast zu vernachlässigen -und dennoch sind die Zuwanderer hier schon das zentrale innenpolitische Problem Solange aber die Fluchtursachen nicht beseitigt sind, werden weder schärfere Gesetze noch Kontrollen der Wohlstandsgesellschaften den Aufbruch auf Dauer verhindern. Das heißt, daß selbst bei einer rigideren Durchführung der Asylverfahren der Problem-druck weiter zunehmen wird.

3. Optionen der Armen

Angesichts der Existenznot in den meisten Entwicklungsländern kann die Migration im Weltmaßstab nicht überraschen. Erstaunlich ist eher, daß sie noch keine dramatischeren Formen angenommen hat, was vermutlich nur durch den Mangel an kollektiver Willensbildung in den Armutszonen und durch die räumlichen Entfernungen zu erklären ist. Schon auf mittlere Sicht haben die Armen wohl nur folgende Optionen:

Stilles Verhungern. So muß man das noch vorherrschende Verhalten deuten, das -trotz des täglichen Kampfes ums Überleben -in Schicksals-ergebenheit ausharrt. Die Menschen in Somalia sind das derzeit traurigste Beispiel dafür.

Individueller Aufbruch. Die oben geschilderten Migrationsströme beruhen, trotz der großen Zahlen, auf individuellen Entscheidungen, die allenfalls von der Familie oder Sippe (auch materiell) gestützt werden. Selbst diese werden mit wachsender Quantität in eine neue Qualität Umschlägen, zumal dann, wenn die Binnenmigration zur „Megapolis“ künftig nur als Zwischenschritt erfolgen sollte, um von dieser Basis aus den Weg in ein „gelobtes Land“ anzutreten.

Kollektiver Aufbruch. Eine völlig neue Dimension würde erreicht, wenn sich die Abwandernden organisieren, um gemeinsam Zuflucht in entwickelten Regionen zu suchen. Nur einen Vorgeschmack davon gab die Flucht einiger Tausend Albaner nach Italien -und die brutale Abwehr der dortigen Hafenbehörden.

Gewaltsame Aneignung. Die Anwendung organisierter Gewalt zur Erzwingung der Teilhabe ist bisher nur als Szenario beschreibbar, auch wenn es Anzeichen dafür gibt, daß politischer und religiöser Fundamentalismus mit dieser Zielsetzung erstarkt. Von Hungeraufständen bis hin zu militärischen Erpressungen oder Invasionen sind dann eskalierende Konflikte zwischen armen und reichen Ländern vorstellbar.

Vernichtungsstrategien. Bei anhaltender Abschottung einerseits und wachsender Hoffnungslosigkeit andererseits sind schließlich auch irrationale Reaktionen nicht auszuschließen. Der Gedanke an vollständige Ausrottung von Stämmen und Völkern, oder gar an Weltvernichtungstendenzen, mag weit hergeholt erscheinen. Die Gefahr globaler militärischer und ökologischer Katastrophen ist jedoch spätestens seit dem Golfkrieg offenkundig. Und die Vernichtung des Regenwaldes wäre z. B. eine furchtbare Waffe im Nord-Süd-Kampf. Demgegenüber müssen die vermutlichen Folgen einer rapide zunehmenden Immigration in die Industriestaaten bedacht werden.

V. Immigrationsfolgen

Ich gehe von der These aus, daß eine vernünftige und ethisch vertretbare Einstellung gegenüber den Zuwanderern und den Immigrationsproblemen notwendig und eine angemessene politische Gestaltung möglich ist. Voraussetzung dafür ist allerdings, daß die öffentliche Diskussion versachlicht wird und die politischen Optionen klargelegt werden. Die Einigung der Parteien an der Jahres-wende 1992/93 auf eine gemeinsame Lösung („Asylkompromiß“) ist zumindest ein Hoffnungszeichen. Unabhängig davon kann der Versuch einer Bilanzierung der Migrationseffekte bzw.der Immigrationsfolgen hier nur angedeutet werden: In sozioökonomischer Perspektive wäre dies ein Nutzen-Kosten-Vergleich, in soziokultureller Perspektive die Abwägung von Chancen und Schwierigkeiten des Zusammenlebens.

1. Die sozioökonomische Perspektive

Auch wenn eine Kosten-Nutzen-Analyse im strengen (betriebswirtschaftlichen) Sinne nicht möglich ist, muß die Frage nach der Effizienz der Eingliederung von Ausländern gestellt werden. Dabei wären auf der Kostenseite unter anderem sowohl die Kosten für Administration (1992 ca. 8 Mrd. DM) und Alimentierung (1992 Sozialhilfekosten ca. 10 Mrd. DM) als auch die der notwendigen Infrastruktureinrichtungen aufzuführen. Ließen sich diese monetär noch recht gut zuordnen, sind die Verteilungsprobleme (z. B. Wohnungsmarkt) und Verdrängungsängste (z. B. Arbeitsmarkt) schon nicht mehr zu quantifizieren; ebensowenig die Effekte der Umweltbelastung, Übervölkerung und sozialen Spannungen.

Auf der Nutzenseite wäre festzuhalten, daß ausländische Arbeitnehmer in bestimmten Branchen unverzichtbar sind, zur Mehrung des Sozialprodukts beitragen, die Risikostruktur der Sozialversicherung (speziell der Rentenkasse) verbessern sowie entsprechend der Kaufkrafttheorie den Konsum stützen und die Konjunktur ankurbeln. Vieles davon ist quantifizierbar, nicht jedoch der Zugewinn an kultureller Vielfalt (z. B. Gastronomie) und die Korrektur der demographischen Entwicklung, insoweit Ausländer der Überalterung unserer Gesellschaft entgegenwirken. Das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung bilanziert in einer quantitativen Analyse die Folgen der Zuwanderung von Aussiedlern und Asylanten in den letzten Jahren positiv. Für 1991 werden dort (per Mehrbeschäftigung und Wachstumsimpulse) Steuer-und Beitragsmehreinnahmen von insgesamt 50 Mrd. DM errechnet. Dem stünden Leistungen an die Zuwanderer von 16 Mrd. und weitere 20 Mrd. DM zusätzlicher Staatsausgaben gegenüber, woraus sich eine Entlastung der öffentlichen Haushalte von gut 13 Mrd. DM ergibt. Auch wenn diese Rechnung nicht alle oben genannten Faktoren erfassen und auch nicht ohne weiteres für die kommenden Jahre fortgeschrieben werden kann, folgt daraus doch eine wichtige Erkenntnis für die öffentliche Meinungs-wie für die politische Willensbildung.

2. Die soziokulturelle Perspektive

Damit ist allerdings auch schon die soziokulturelle Perspektive angesprochen, die in der Perzeption unserer Zeitgenossen äußerst ambivalent ist. Die öffentliche Diskussion schwankt zwischen ängstlicher Abwehr und freudiger Zustimmung, was in der Polarisierung „Bedrohung der Identität“ versus „kulturautonome Integration“ Ausdruck findet -Die Bedrohung der Eigeninteressen, der Verlust der prägenden Kraft gemeinsamer Geschichte und Kultur, die Angst vor sozialem Wandel und Beeinträchtigungen -all dies sind verbreitete Einstellungen von Bürgern, denen Berührungsängste und Abwehrhaltungen gegen fremde Einflüsse eigen sind, gekoppelt mit einer Tendenz zur generellen Problematisierung der Ausländerfrage. Leitbild ist der Nationalstaat. Ausländern wird allenfalls eine Assimilation, und zwar in begrenzter Zahl, zugestanden, mit der Konsequenz, die Kultur ihrer Herkunft abzulegen und in der Kultur des Gast-landes aufzugehen -Dagegen wird die Chance eines soziokulturellen Pluralismus gesetzt, in dem die Vielfalt des Zusammenlebens von Menschen verschiedener Abstammung, Religion und Bräuche sich mit der Hoffnung auf Austausch, gegenseitige Be-fruchtung und Bewahrung der unterschiedlichen Identitäten verbindet -mit einer Tendenz zur Romantisierung, ja Idealisierung des Fremden. Wanderungsbewegungen werden in diesem Sinne weniger als „Arbeitsmigration“, vielmehr als „Kulturmigration“ verstanden -entsprechend einem Leitbild internationaler Solidarität, dem zufolge die Kultur des Herkunftslandes auch im Aufnahmeland gleichberechtigt sein soll, als kulturautonome Integration

Dazwischen läßt sich eine vermittelnde Position finden, die auch ich vertrete. Sie geht von einem akzeptierenden Verhalten im Zusammenleben aus aber auch von der Einsicht, daß Angst und Abwehr nicht einfach wegdiskutiert werden können. Das xenophobe „Ausländer raus“ und das xenophile „Die Grenzen auf“ sind ohnehin nur zwei Seiten derselben Medaille eines politischen Fundamentalismus. Das bedeutet: „Multikulturelle Gesellschaft“ ist allenfalls die Vision einer fernen Zukunft, im Hier und Jetzt wäre schon ein tolerantes Miteinander von Ausländern und Deutschen ein lohnendes Ziel. Realistischerweise müssen dazu die ethisch-moralischen und kulturellen Werte des Aufnahmelandes den Rahmen bilden, innerhalb dessen den Zuwanderem möglichst große Freiräume für die Pflege ihrer kulturellen Identität bleiben.

Konkret bedeutet dies, daß es keinen gleichberechtigten Wettbewerb der Kulturen im Gastland geben kann, also z. B. nicht Kroatisch als gleichberechtigte Sprache neben Deutsch oder islamisches Recht neben dem Grundgesetz. Eine so verstandene Integration verlangt nicht nur Offenheit der aufnehmenden Gesellschaft, sondern auch eine gewisse Einordnungsbereitschaft der Hinzukommenden. Nur so läßt sich eine Überforderung der einheimischen Bevölkerung vermeiden und die Angst vor Überfremdung verringern, womit auch der Fremdenfeindlichkeit der Boden entzogen würde -immer vorausgesetzt, daß auch die sozialen und ökonomischen Bedrohungen reduziert werden. Ein solches Zusammenleben könnte dann auch als Offene Gesellschaft bezeichnet werden Eine solche im Innern offene Gesellschaft erscheint jedoch nur möglich, wenn nach außen hin eine begrenzte und geregelte Zuwanderung erfolgt.

VI. Reaktionen im Wohlstandsstaat

Nicht ohne Grund wird in der jüngsten Auseinandersetzung von „Wohlstandsinseln“ (Johannes Dyba) gesprochen, die sich anschicken, „Wohlstandsfestungen“ zu werden. Tatsächlich aber sind die Reaktionen in Deutschland facettenreich. So spannt sich die politische Diskussion (und Aktion!) vom unverhüllten Ausländerhaß bis zur Idealisierung der Ausländer, ja bis zum Selbsthaß der Deutschen und wird deshalb gern simplifizierend in ein Rechts-Links-Schema gepreßt, dessen Koordinaten durch „Neonazis“ und „Antifaschisten“ definiert sind. Historisch wie ideologisch fehlt jedoch ganz offensichtlich die Verbindung zu den entsprechenden „Ismen“, und so fragt man sich, wem diese Politarithmetik eigentlich nützen soll. Da politische Extreme immer einen Gegenpol brauchen, scheint mir dies eher auf eine Instrumentalisierung des Phänomens hinzudeuten, zumal sich die Gewaltbereitschaft „rechter“ Skinheads von der „linker Autonomer“ kaum unterscheidet.

1. Meinungsklima und Sündenbockfunktion

Bedenklicher ist, daß sich eine Lagermentalität auch bei den Volksparteien entwickelte, für die der Streit um die richtige Ausländerpolitik und speziell um das Asylrecht mittlerweile eine zentrale Bedeutung gewann -mit Artikel 16 GG als Fetisch, an dem sich scheinbar alles entscheidet. Die (partei-) politische Inszenierung ist allerdings wiederum nur auf dem Hintergrund des Meinungsklimas und des Drucks der Öffentlichkeit zu verstehen, die seit 1989 ständig kritischer wurden -offenbar nicht einfach gegenüber Ausländern, wohl aber gegenüber Aussiedlern und insbesondere gegenüber „Asylanten“. Seitdem ist von einer wachsenden Ablehnung die Rede: Einer EMNID-Umfrage zufolge glaubte im Dezember 1991 weit mehr als die Hälfte der Bevölkerung, daß Ausländer, die jetzt nach Deutschland kommen, die Arbeitslosigkeit der Deutschen verschärfen, und zwei Drittel waren der Meinung, „sie mißbrauchen die Leistungen unseres sozialen Systems“

Diese Entwicklung ist ganz offensichtlich von der Wiedervereinigung Deutschlands und dem Problem der Angleichung der Lebensverhältnisse von Ost und West überlagert worden, was sich im Problemschwerpunkt der „Anti-Asyl-Bewegung“ in den ostdeutschen Bundesländern zeigt. Daran wird gleichzeitig deutlich, daß eben nicht undifferenziert von „den Reichen“ in den Industrieländern gesprochen werden kann. Arbeitslosigkeit und relative Armut sind auch hier anzutreffen -und die für den Selbstrespekt so wichtigen sozialen Vergleichsprozesse beziehen sich natürlich in erster Linie auf die eigene Gesellschaft. Damit stellt sich auch die Frage, welche Bevölkerungsteile die Last der Immigration vor allem zu tragen haben. Es sind jene, die ohnehin an den Rand gedrängt und von sozialen Einbußen bedroht sind. Sie müssen dann nicht nur die Konkurrenz der Zuwanderer fürchten, sondern finden in ihnen gleichzeitig einen Grund für die eigene Misere und die neuen „Underdogs“. Sozialpsychologisch gesprochen, werden so die Fremden in die klassische Funktion des Sündenbocks gedrängt, um das eigene beschädigte Selbstbild aufzuwerten.

2. Einstellungen und Einstellungswandel

Die Einstellung der Bevölkerung gegenüber Ausländem ist sehr facettenreich. So bereitet die Akzeptanz der schon länger hier Lebenden offenbar kaum Schwierigkeiten; neu Ankommende dagegen werden -zum Teil vehement -abgelehnt. Eine genauere Unterscheidung wäre jedoch nach Schichtzugehörigkeit, sozioökonomischer Lage, Branche und Region, aber auch nach Geschlecht und Lebensalter nötig Gewaltbereitschaft gegenüber Fremden ist z. B. fast ausschließlich bei männlichen Jugendlichen anzutreffen und wird nur zeitweise von aktuellen Ereignissen überlagert -wie im November 1992 unter dem Schock der Todesopfer von Mölln. „Einstellung“ wird in der Sozialpsychologie als erlernte, relativ dauerhafte Wahrnehmungsorientierung verstanden, die eine positive oder negative Bewertung und Handlungsdisposition gegenüber Personen oder sozialen Objekten beinhaltet. Dabei wirken notwendig kognitive und affektive Komponenten zusammen, also z. B. Vorstellungen und Urteile über den Fremden, verknüpft mit positiven oder negativen Gefühlen. Dazu kommt die Handlungskomponente der Einstellung als eine bestimmte, wiederkehrende Tendenz des Handelns -in unserem Falle gegenüber Ausländern. Da die drei Einstellungskomponenten tendenziell gleichgerichtet sind, genügt meist eine negative Besetzung, z. B. ästhetische Ablehnung oder mangelndes Wissen oder Voreingenommenheit, um die gesamte Einstellung zu prägen.

Eine Einstellungsänderung setzt dementsprechend positive Korrekturen dieser Komponenten voraus, z. B. durch persönliche Begegnungen oder Aufklärung. Politik, Kirche, Medien, Schule und Jugendhilfe sowie alle Gutmeinenden müßten ihren Beitrag dazu leisten, wenn ein spürbarer Einstellungswandel erreicht werden soll. Tatsächlich aber leisten die Zuwandererzahlen und die damit verknüpften Umstände (z. B. Not-und Massenquartiere, Übergriffe, Mißbrauch) jenen Ängsten und Vorurteilen Vorschub. Schon der rasante Anstieg der Zuwanderungsquoten ist erschreckend (und wird deshalb politisch virulent) -obgleich auch dieser Trend nicht einfach extrapoliert werden kann. Die absoluten Zahlen der Asyl-bewerber in der Bundesrepublik stiegen in den letzten Jahren sprunghaft von 57000 (1987) über 121000 (1989) und 256000 (1991) auf ca. 450 000 im Jahre 1992.

Ohne Zweifel ist eine Zuwanderung auf diesem Niveau von knapp einer halben Million Menschen pro Jahr auf Dauer nicht ohne schwerste innenpolitische Konflikte möglich. Daher ist es verständlich, wenn das Asylrecht mit seiner eigentümlichen Verquickung von Völkerrecht (Recht des souveränen Staates auf Asylgewährung), Verfassungsrecht (individuell einklagbares Grundrecht) und Verwaltungsrecht (Anerkennungsverfahren zur Feststellung der Asylberechtigung) ins Zentrum der Auseinandersetzung geriet. Sie ist in mehrfacher Hinsicht bezeichnend für die gereizte Diskussion im geeinten Deutschland, kann hier allerdings nicht weiter referiert werden. Statt dessen sollen abschließend Lösungsvorschläge zur Bewältigung des Migrationsproblems erörtert werden.

VII. Politische Antworten

Angemessene Problemlösungsstrategien müssen von den Realitäten ausgehen, müssen humanen und demokratischen Grundsätzen entsprechen und müssen der Bevölkerung vermittelbar sein. Somit verbieten sich alle radikalen, aber auch rein populistische Lösungen. Die wichtigsten Vorschläge auf unterschiedlichen Niveaus sind derzeit folgende:

1. Nationalstaatliche Lösungen

-Kompromißlose Abschottung: Eine Politik geschlossener Grenzen wird nicht nur an Stammtischen gefordert, auch wenn die aggressive Variante des „Deutschland den Deutschen“ allenfalls von einer extremistischen Minderheit propagiert wird. Aber zehn bis fünfzehn Prozent der Bevölkerung stimmen kompromißlos der These zu: „Das Boot ist voll.“ Das entspricht ziemlich genau dem Wählerpotential rechtsextremer Parteien -übrigens nicht nur in der Bundesrepublik, sondern in ganz Europa. -Kontrollierte Zuwanderung: Teils aus Überzeugung, daß Deutschland schon aus demographischen Gründen einen Wanderungsüberschuß braucht teils aus der Einsicht, daß eine völlige Abschottung gar nicht möglich ist, solange es die bekannten Migrationsursachen gibt, wird ein Konzept der kontrollierten Zuwanderung vertreten. Als Modell einer solchen geregelten Im-migration gelten die USA und Kanada, wobei oft übersehen wird, daß hierbei stets mit Kontingenten oder Quoten gearbeitet werden muß, die allenfalls einen Teil des Problemdrucks kanalisieren, das Grundproblem aber ungelöst lassen. Denn jeder Zuwanderer über diese Quote hinaus müßte abgelehnt werden. -Restriktive Abwicklung! Abschreckung: Eine Verschärfung des administrativen Verfahrens und Kürzung der sozialen Leistungen für Zu-wanderer wird in unterschiedlicher Weise seit langem praktiziert, allerdings mit zweifelhaftem Erfolg. Die vielfachen Modifikationen des Ausländerrechts und die geplanten Änderungen des Asylrechts sind Belege dafür: Von der Beschleunigung des Anerkennungsverfahrens und Abschiebung abgelehnter Asylbewerber bis zur Ergänzung oder Abschaffung der Artikel 16 (Individualrecht auf Asyl) und 19 GG (Rechtswegegarantie), von der Unterbringung in Sammelunterkünften bis zur Umstellung der Sozialhilfe auf Sachleistungen. -Sozialpolitische Verbesserungen: Sofern die Zuwanderung nur unter dem Aspekt der Fremdenfeindlichkeit gesehen und diese primär als sozioökonomisches und gruppendynamisches Problem im Gastland verstanden wird, müßten verstärkt Wohnungen, Arbeitsplätze und sonstige Integrationshilfen geschaffen werden. Sozialpolitik und Sozialarbeit wären dabei die Instrumente, mit denen die politische und soziale Integration als zentrale Aufgabe einer prinzipiell offenen Gesellschaft bewältigt wird. Inwieweit dies zu einer spürbaren Entlastung im Binnenland führen kann, ist schwer zu sagen. Gewiß ändert sich aber auch hierdurch nichts an den globalen Ungleichgewichten.

2. Europäische Lösungen

Da ein nationaler Alleingang offenbar nicht möglich ist, wie schon die Verhältniszahlen im europäischen Vergleich zeigen wird seit längerem eine gemeinsame Lösung für die Europäische Gemeinschaft gefordert -zumal im Schengener Abkommen von 1985 der Abbau der Binnengrenzen und die Gemeinsamkeit der Außengrenzen festgelegt ist. So plausibel diese Forderung ist und so positiv die politische Einigung Europas unter dem Aspekt der Überwindung des alten Nationalismus auch sein mag, das Zuwanderungsproblem wird damit auf Europa als Ganzes verlagert. Für die EG stellt sich dann die gleiche Frage: Will sie ein offenes Gemeinwesen oder eine abgeriegelte Wohlstands-festung sein?

Angesichts der bisherigen Ausländerpolitik der Einzelstaaten und der Umfragen des „Eurobarometers“ ist eher mit verstärkter Restriktion zu rechnen Im übrigen stehen hier praktisch dieselben Optionen zur Wahl, wie bei nationalstaatlichen Lösungen. Aufgrund des größeren Wirtschaftsraumes, der geringeren Bevölkerungsdichte und der schon jetzt beachtlichen Vielfalt ist aller-dings die Vision faszinierend, Europa könne zu dem gesuchten Hort der Demokratie, der Zuflucht und Integration für Migranten werden. Aber auch diese europäische Solidarität wäre notwendig begrenzt und stünde vor dem gleichen Dilemma: Die Aufnahme allen Elends dieser Welt ist nicht möglich, die globale Hilfe nach dem Gießkannenprinzip unwirksam, die Beeinflussung der Herkunftsländer so gut wie ausgeschlossen -von der mangelnden Bereitschaft zur Redistribution unseres Wohlstands einmal ganz abgesehen

3. Globale Lösungen

Die Größenordnung des Migrationspotentials und die globalen Trends belegen, daß die Wanderungsprobleme weder in Deutschland noch in Europa gelöst werden können und auch weder durch Restriktion noch durch Freizügigkeit noch durch Sozialpolitik im Innern. Als zwingende Konsequenz folgt daraus, daß die fundamentalen Fluchtursachen (Pu^Zi-Faktoren) bekämpft werden müssen. Dies aber ist nur in mittel-und langfristigen Strategien zur Beeinflussung der Herkunftsländer möglich. Eine abgestimmte Politik im Weltmaßstab und eine reformierte UNO sind dazu unerläßlich. Wie oben gezeigt, müßte diese vorzugsweise der Garantie von Menschenrechten und Minderheitenrechten sowie den ökonomischen Überlebenschancen dienen. Dazu ist -neben politischen und rechtlichen Garantien -zumindest eine enorme Ausweitung der wirtschaftlichen Entwicklungshilfe und ein ökologisches Umdenken in den Industrienationen notwendig. Eine grundlegende Umsteuerung aber wäre nur in den Dimensionen einer Weltsozialpolitik und einer neuen Welt(wirtschafts) ordnung vorstellbar, die bisher nicht einmal annähernd oder auch nur in Konturen erkennbar ist.

VIII. Fazit

Da eine uneingeschränkte Asylgewährung und Zuwanderung unmöglich ist, weil dann jede noch so engagierte Integrationspolitik rasch an Schranken stößt, müssen andere Strategien der Problembewältigung gefunden werden, die nur in einem verantwortbaren policy mix der genannten Lösungsvorschläge bestehen können:

Innenpolitisch stellt sich dabei die Aufgabe, mit restriktiven Mitteln (Zuwanderungsbeschränkungen) plus Sozialpolitik (Umverteilung) plus psychosozialen Hilfen (Einstellungswandel) den Problemdruck im Innern zu senken und die soziale Akzeptanz zu erhöhen. Eine gewaltige Aufgabe, die nur in einer gut abgestimmten Aktion aller gesellschaftlichen Kräfte gelingen kann, wobei einer klaren politischen Führung, der politischen Bildung sowie den Medien eine herausragende Rolle zukäme.

Geopolitisch besteht die Aufgabe darin, die internationale Solidarität zu einer völlig neuen Dimension zu entwickeln. Auch dies ist zuerst und vor allem innerhalb der Industriegesellschaften zu leisten, also ebenfalls letztlich ein binnenpolitisches Problem. Die Einsicht in die globalen Zusammenhänge und den ungeheuren Migrationsdruck könnte allerdings den notwendigen Bewußtseinswandel stützen, dies um so mehr, als schon mittelfristig auch das Wohlergehen der entwickelten Staaten -z. B. ökologisch -von den Ländern der Südhemisphäre abhängt.

In diesem Sinne sitzen tatsächlich alle gemeinsam in einem Boot. Geopolitisch ist daher sowohl eine neue internationale Zusammenarbeit als auch eine neue Weltwirtschafts-und Weltsozialordnung notwendig. All dies läuft jedoch letztlich auf eine neue Partizipation und damit auf die Bereitschaft zum Teilen hinaus. „Teilung ist nur durch Teilen zu überwinden“ -das gilt auch global. Auch wenn Skepsis angesichts der jüngsten Erfahrungen mit der deutschen Einigung angebracht ist: Es gibt dazu keine Alternative, die humanen Ansprüchen und der Werteordnung demokratischer Gesellschaften genügt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. K. J. Bade (Hrsg.), Deutsche im Ausland -Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart, München 1992; U. Knight/W. Kowalsky, Deutschland nur den Deutschen? Die Ausländerfrage im internationalen Vergleich, Erlangen 1991; F. Blahusch, Zuwanderer und Fremde in Deutschland, Freiburg 1992.

  2. Vgl. U. Herbert, Geschichte der Ausländerbeschäftigung in Deutschland 1880 bis 1980. Saisonarbeiter -Zwangsarbeiter -Gastarbeiter, Berlin-Bonn 1986.

  3. Vgl. K. Pröbsting, Wohlstandsfestung oder multikulturelle Gesellschaft?, in: Arbeit und Sozialpolitik, (1992) 1-2, S. 44-51.

  4. Vgl. L. Hoffmann/H. Even, Soziologie der Ausländer-feindlichkeit. Zwischen nationaler Identität und multikultureller Gesellschaft, Weinheim-Basel 1984; K. Möller, Von „normaler“ Ausgrenzung bis zu rigorosem Fremdenhaß. Formen der Xenophobie, in: Sozialmagazin, (1992) 7-8.

  5. Die erstaunliche Erfahrung, daß in wirtschaftlicher Not größere Aufnahmebereitschaft als im Wohlstand besteht, ist nicht neu. Vielleicht hat der Volksmund recht, wenn er sagt: „Reichtum macht ein Herz schneller hart, als kochendes Wasser ein Ei.“

  6. Vgl. K. J. Bade (Hrsg.), Auswanderer -Wanderarbeiter -Gastarbeiter. Bevölkerung, Arbeitsmarkt und Wanderungen in Deutschland seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, 2 Bde., Ostfildern 1984.

  7. Vgl. Stiftung Entwicklung und Frieden (Hrsg.), Globale Trends. Daten zur Weltentwicklung, Düsseldorf 1991; W. Kernig, Welttrends 2000, in: Zentralblatt für Jugendrecht (ZfJ), (1992) 1, S. 1-48; M. F. Jischa, Herausforderung Zukunft, Heidelberg 1992.

  8. W. Kernig im „Fachgespräch zur Sozialarbeit“ der Fachhochschule Heidelberg am 9. April 1991.

  9. Donella und Dennis Meadows legten 20 Jahre nach dem weltweit verbreiteten Appell „Die Grenzen des Wachstums -Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit“ (Stuttgart 1972) nun eine aktualisierte Mahnung vor: Die neuen Grenzen des Wachstums. Letzte Chancen für das Überleben der Menschheit, Stuttgart 1992; vgl. auch A. Mühlum, Ökologie und Sozialarbeit, in: Z£J, (1991) 7-8, S. 358-368.

  10. Eine andere Auffassung vertritt J. H. Wolff, Zur langfristigen Wirtschaftsentwicklung der Dritten Welt, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 50/92, S. 24-30. Danach hat die Ausdifferenzierung des Wohlstandes auch dort erheblich zugenommen. Die obige These behält ihre Richtigkeit aber für die bekannten Problemregionen.

  11. Diese Entwicklung realistisch einzuschätzen und zu benennen, ohne in Panikmache zu verfallen, ist nicht ganz leicht. Sprache und Sprachbilder spielen bei der politischen Meinungsbildung bekanntlich eine wichtige Rolle. Bezogen auf unser Thema vgl. M. Ritter, Sturm auf Europa -Asylanten und Armutsflüchtlinge. Droht eine neue Völkerwanderung?, München 1990.

  12. Vgl. A. Treibei, Migration in modernen Gesellschaften, Weinheim-München 1990; M. Wagner, Räumliche Mobilität im Lebensverlauf. Eine empirische Untersuchung sozialer Bedingungen der Migration, Stuttgart 1989; K. J. Bade (Anm. 1).

  13. Detailliert dazu F. R. Pfetsch (Hrsg.), Konflikte seit 1945, 5 Bde., Freiburg 1991.

  14. Vgl. Stiftung Entwicklung und Frieden (Anm. 7), S. 94f.

  15. Daß die soziale Mobilität auch für die Auswandemden gewaltige Probleme mit sich bringt, ist eigentlich selbstverständlich, wird aber in der innenpolitischen Diskussion meist unterschlagen. Eine seriöse Betrachtung muß jedenfalls die psychosozialen Kosten beider Seiten berücksichtigen; vgl. H. Esser/J. Friedrichs (Hrsg.), Generation und Identität. Theoretische und empirische Beiträge zur Migrationssoziologie, Opladen 1990; W. Kälin/R. Moser (Hrsg.), Migrationen aus der Dritten Welt, Bern 1989.

  16. Vgl. A. Schulte, Multikulturelle Gesellschaft: Chance, Ideologie oder Bedrohung?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 23-24/90, S. 3-15; H. Esser (Hrsg.), Die fremden Mitbürger. Möglichkeiten und Grenzen der Integration von Ausländem, Düsseldorf 1983; C. Leggewie, Multi-Kulti: Spielregeln für die Vielvölkerrepublik, Nördlingen 1990.

  17. Zur Problematisierung dieser Position vgl. A. Bayaz u. a. (Hrsg.), Anpassung an die Deutschen?, Weinheim-Basel 1984.

  18. So D. Oberndorfer, Vom Nationalstaat zur offenen Republik. Zu den Voraussetzungen der politischen Integration von Einwanderern, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 9/92, S. 21-28; S. Alber u. a. (Hrsg.), Multikulturelle Zukunft Europas, Graz 1990.

  19. So beispielhaft schon H. Geissler (Hrsg.), Ausländer in Deutschland. Für eine gemeinsame Zukunft, 2 Bde., München-Wien 1982/83; vgl. auch die materialreiche aktualisierte Dokumentation von K. J. Bade, Ausländer, Aussiedler, Asyl in der Bundesrepublk Deutschland, Bonn 1992 (Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung).

  20. Zur grundsätzlichen Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen -teils extremen -Positionen sei hingewiesen auf: H. Boehncke/H. Wittich (Hrsg ), Buntesdeutschland. Ansichten zu einer multikulturellen Gesellschaft, Reinbek 1991; J. Miksch (Hrsg.), Deutschland -Einheit in kultureller Vielfalt, Frankfurt 1991; S. Ulbrich (Hrsg.), Multikultopia. Gedanken zur multikulturellen Gesellschaft, Vilsbiburg 1991; J. Geier u. a. (Hrsg.), Vielfalt in der Einheit. Auf dem Weg in die multikulturelle Gesellschaft, Marburg 1991; K. J. Bade (Anm. 1, Anm. 19).

  21. Die Forderungen nach Änderung oder Beibehaltung des Grundrechts auf Asyl werden noch immer mit missionarischem Eifer verfochten, auch wenn führende Vertreter der Parteien pragmatische Lösungen anstreben. Worin unterscheidet sich im übrigen Klaus Wedemeier (SPD), der 1991 den „Asylunterbringungsnotstand“ erklärte, von Bundeskanzler Kohl (CDU), der den „Staatsnotstand bei weiterhin ungebremster Zuwanderung“ kommen sieht? Vgl. auch H. Tremmel, Grundrecht Asyl. Die Antwort der christlichen Sozialethik, Freiburg 1992.

  22. Zit. nach K. Möller, Von . normaler 1 Ausgrenzung bis zu rigorosem Fremdenhaß. Formen der Xenophobie, in: Sozial-magazin, (1992) 7-8; vgl. auch B. Winkler (Hrsg.), Zukunftsangst Einwanderung, München 1992.

  23. Vgl. die 92er Jugendstudien (Shell-Studie, IBM-Studie) und die erste einschlägige Langzeituntersuchung von H. Heitmeyer u. a., Die Bielefelder Rechtsextremismus-Studie, Weinheim 1992. Ursächlich sind danach nicht nur sozioökonomische Benachteiligungen, sondern auch Modemisierungskrisen und Orientierungsnot.

  24. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung beziffert den erforderlichen positiven Wanderungssaldo für das nächste Jahrzehnt auf ca. 300000 pro Jahr.

  25. Aufgrund der Verfassungsgarantie des Artikels 16 GG werden in der Bundesrepublik Deutschland derzeit rund zwei Drittel aller Asylbewerber Europas aufgenommen.

  26. Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaft (Hrsg.), Eurobarometer. Die öffentliche Meinung in der EG. Sonderausgabe Rassismus und Ausländerfeindlichkeit, Brüssel 1989; K. Barwig u. a. (Hrsg.), Asylrecht im Binnenmarkt. Die europäische Dimension des Rechts auf Asyl, Baden-Baden 1989.

  27. Vgl. H. Afheldt, Europa vor dem Ansturm der Armen. Ist der liberale Sozialstaat noch zu retten?, in: Süddeutsche Zeitung vom 10. /11. Oktober 1992, S. 17-20; vgl. auch seinen Beitrag in dieser Zeitschrift.

  28. Wenn die Bundesrepublik im Jahr 1991 z. B. rund 16 Mrd. DM für Zuwanderer und 100 Mrd. DM für die neuen Bundesländer, aber nur 7, 9 Mrd. DM für staatliche Entwicklungshilfe aufwandte, wird klar, in welchem Maße die internationale Hilfe verstärkt werden müßte. Grundsätzlich dazu: W. Korff, Ethische Probleme einer Weltwirtschaftsordnung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 50/92, S. 3-12.

Weitere Inhalte

Albert Mühlum, Dr. phil., geb. 1943; Professor für Soziologie und Sozialpolitik an der Fachhochschule Heidelberg, Fachbereichsleiter Sozialarbeit; Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Sozialarbeit. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit E. Kemper) Rehabilitation in Berufsförderungswerken, Freiburg 1992; (Hrsg. zus. mit H. Oppl) Handbuch der Rehabilitation, Neuwied u. a. 1992.