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Wege in die und Wege aus der Politik(er) verdrossenheit. Von der Zuschauerdemokratie zur demokratischen Bürgergesellschaft | APuZ 31/1993 | bpb.de

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APuZ 31/1993 Wege in die und Wege aus der Politik(er) verdrossenheit. Von der Zuschauerdemokratie zur demokratischen Bürgergesellschaft Die Kritik der Politischen Klasse und die Bürgergesellschaft. Muß die Bundesrepublik neugegründet werden? Parteien im eigenen Saft? Von der Krise zur Reform Politik-und Parteienverdrossenheit: Modeworte behindern berechtigte Kritik. Zur Notwendigkeit gesellschaftspolitischer Reformen An der Schwelle zu einer neuen Epoche Die Vision der Verantwortungsgesellschaft. Orientierung auf dem Weg zur inneren Einheit Deutschlands und Europas Die Krise der Politik als Krise des Menschen

Wege in die und Wege aus der Politik(er) verdrossenheit. Von der Zuschauerdemokratie zur demokratischen Bürgergesellschaft

Hildegard Hamm-Brücher

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Zusammenfassung

Die Ursachen und Folgen der „Politik(er) verdrossenheit“ liegen in der vom Bürger alltäglich erlebten Diskrepanz zwischen „Buchstaben und Geist des Grundgesetzes“ einerseits und der „Verfassungswirklichkeit“ andrerseits. Auf Grund langjähriger parlamentarischer und politischer Erfahrungen wird vor der Illusion gewarnt, dies sei ein „vorübergehendes Zeitphänomen“, das sich „von allein“ beheben werde: Vielmehr handelt es sich um tiefgreifende „Kreislaufstörungen“ im repräsentativen System unserer Demokratie zwischen der „Staatsgewalt des Volkes“ (Art. 20 GG), der „Mitwirkung der politischen Parteien“ (Art. 21 GG) und dem Selbstverständnis des „Volksvertreters“ (Art. 38. 1 GG). Sie könnten zu einer „Akzeptanz-Krise“ der Parteiendemokratie führen, wenn nicht alsbald tiefgreifende Reformen auf den Weg gebracht werden. Dazu sind die verantwortlichen Politiker und Parteien derzeit offenkundig nicht fähig und bereit. Ein Erneuerungsprozeß ist dringend notwendig: Die Gesellschaft muß von der „Zuschauerdemokratie“ Abschied nehmen und sich als demokratische Bürgergesellschaft zugunsten der überfälligen Veränderungen „einmischen“. Erste Ansätze und Aktivitäten hierfür werden im Beitrag beschrieben.

I. Vorbemerkungen

Dreieinhalb Jahre nach der Öffnung der Mauer befindet sich unsere Demokratie in keiner guten Verfassung, und dies in zweierlei Hinsicht: einmal wegen des unbefriedigenden Verlaufs der öffentlichen Diskussion über die Notwendigkeit einer allen Deutschen gemeinsamen Verfassung, und zum anderen wegen jenes diffusen Zustands der Gesellschaft, der mit dem „Wort des Jahres“ 1992 als „Politikverdrossenheit“ nur unzulänglich umschrieben ist. In Wirklichkeit handelt es sich um eine Mischung aus Enttäuschung, Resignation, Ohnmachts-und Denkzettel-(Res) sentiments, die keineswegs nur an Stammtischen, vielmehr unter immer mehr engagierten Demokraten die Runde machen.

Es besteht für mich kein Zweifel daran, daß sich Deutsch-Land und -Leute nicht nur in einer tiefen wirtschaftlichen Rezession, sondern auch in einem Demokratietief befinden, dessen Ursachen zwar immer wieder erörtert, in ihrer komplizierten Vernetzung aber noch kaum gedeutet wurden. Dies wäre jedoch die Voraussetzung für eine Überwindung des Teufelskreises wechselseitiger Verdrossenheit, Entfremdung und Abkehr.

Leider ist ein solcher umfassender und neuer Ansatz bisher nicht in Sicht. Nach dem jähen Ende unserer auf Wachstum und Wohlstand gegründeten Schönwetter-Demokratie herrscht bei allen Verantwortlichen Rat-und Tatlosigkeit. Dagegen anzuschreiben -selbst wenn man sich dabei wiederholt -erscheint mir dringend geboten Noch dringender ist es allerdings, dagegen anzugehen, bevor Politikverdrossenheit zur Demokratieverdrossenheit eskaliert

II. Zu den Ursachen der Politik(er) verdrossenheit

1. Reglementierung, Bürokratisierung und Verkrustung des parlamentarischen Alltags

Als ich mich vor etwa zehn Jahren im Deutschen Bundestag für innerparlamentarische Reformen zu engagieren begann, geschah dies zunächst aus Frust über die geradezu unvorstellbare Reglementierung, Bürokratisierung und Verkrustung des parlamentarischen Alltags. Damals waren es vergleichsweise vordergründige Ärgernisse, die eine kleine Gruppe von Abgeordneten Anfang 1984 in der „Interfraktionellen Initiative Parlamentsreform“ zusammenführte: Wir wollten die Rechte des Parlaments und des einzelnen Abgeordneten gegenüber der Exekutive stärken, unsere Ohnmachtsgefühle im Räderwerk des Parlamentsbetriebs überwinden, die sterilen Debatten durch freie Interventionen beleben usw. usw. Hierzu machten wir zahlreiche Vorschläge und drangen mit immer neuen Vorstößen auf deren Realisierung. Trotz oft frustrierender und vergeblicher Anläufe gegen die Wände allmächtiger Fraktions-Hierarchien und Bundestags-Bürokratien gelang es uns im Laufe der Jahre, einige wenige äußere Verbesserungen durchzusetzen

2. Die tieferliegenden Ursachen für Vertrauensverlust und Politikverdrossenheit Im Laufe unserer Bemühungen entdeckte ich aber noch etwas anderes: Es wurde mir klar, daß es für die nachlassende Funktionsfähigkeit in den Abläufen parlamentarischer und demokratischer Verfahren noch weit tiefere Ursachen und Zusammenhänge geben müßte als eine restriktive Geschäftsordnung und die Ohnmacht des einzelnen Volksvertreters. Diese Ursachen entdeckte ich erstens in der oft geradezu grotesken Diskrepanz zwischen Buchstaben und Geist unserer Verfassung und der politisch/parlamentarischen Wirklichkeit und zweitens in den Deformationen des Kreislaufs zwischen demokratischer Machtezteilung/Machtverteilung und Machtbalance durch Kontrolle und Korrektur, zwischen Exekutive und Legislative -zwischen Parteienherrschaft und demokratischer Bürgerbeteiligung. Überall fehlt es an „checks and balances“ -wie die Angelsachsen diese Grundbedingungen einer funktionsfähigen parlamentarischen Demokratie nennen. Angesichts dieser fundamentalen Defizite und Fehlentwicklungen mußte unsere damalige Abgeordneten-Initiative scheitern.

3. Das Syndrom „Politikverdrossenheit“ als Ausdruck einer schleichenden Akzeptanzkrise unserer Parteiendemokratie

Heute -fast drei Jahre nach dem Abschluß der „Initiative Parlamentsreform“ -habe ich keinen Zweifel, daß es diese Funktionsstörungen sind, die -zunächst nur für „Insider“ erkennbar -nun offenbar geworden sind und in unserer demokratischen Wirklichkeit zu einer krisenhaften Entwicklung geführt haben. Viele meiner damaligen, überwiegend parlamentsinternen Erkenntnisse und Besorgnisse sind heute so offenkundig geworden, daß sie -zum Syndrom „Politikverdrossenheit“ verkürzt -im öffentlichen Bewußtsein zu tiefen Einbrüchen in das Ansehen und in die Glaubwürdigkeit unserer demokratischen Ordnung geführt haben. „Politikverdrossenheit“ ist zum (Un) Wort des Jahres 1992 geworden. Eine veritable Akzeptanzkrise unserer so genannten Parteiendemokratie liegt in der Luft, wie Umfragen und Wahlergebnisse immer alarmierender signalisieren.

4. Akzeptanzkrise der Parteiendemokratie darf nicht zur Demokratiekrise werden

Das alles läßt sich nicht länger bagatellisieren. Es wird vielmehr höchste Zeit, nach konkreten Wegen aus der schwelenden Akzeptanzkrise zu suchen. Bevor dies jedoch gelingen kann, müssen wir den tieferen Ursachen und Zusammenhängen dieser besorgniserregenden Symptome auf den Grund gehen.

Andernfalls könnte aus Politik-und Parteienverdrossenheit, aus Vertrauens-und Ansehensverlusten, aus unaufgearbeiteten und folgenlosen Affären und Skandalen eine veritable Demokratiekrise entstehen, ähnlich der, die Ende der zwanziger Jahre zum rühmlosen Ende der ersten deutschen Republik geführt hat.

Das aber darf sich nicht -auch nicht in Ansätzen -wiederholen, und deshalb ist es höchste Zeit, der noch schleichenden Krise nicht länger tatenlos zu-zusehen, sondern ihr durch Nachdenken und tätiges Handeln zu begegnen.

5. Die Diskrepanz zwischen Buchstaben und Geist unserer Verfassung und der politisch-parlamentarischen Wirklichkeit: erste Ursachen für Vertrauensverlust und Politikverdrossenheit

a) Deformation der im Grundgesetz vorgeschriebenen demokratischen Bestimmungen und Abläufe Vor allem möchte ich vor der Illusion warnen, daß sich die Wogen der Kritik und Entfremdung schon „von alleine“ legen werden: Es handelt sich nicht um vordergründige Ärgernisse, sondern -wie schon beschrieben -um gravierende Deformationen und Funktionsstörungen im Kreislauf des parlamentarisch-repräsentativen Systems unserer Demokratie. Darunter verstehe, ich die Deformation der im Grundgesetz vorgeschriebenen demokratischen Bestimmungen und Abläufe in unserer Verfassungswirklichkeit. Sie beginnt mit dem in der Realität verkümmerten und verkürzten Artikel 20 „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt“, setzt sich im extrem und skrupellos überinterpretierten Artikel 21 „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung mit...“ fort und kulminiert in jenem bis zum Zynismus mißachteten Artikel 38, der am Anfang des Verfassungskapitels über den Bundestag steht: „... Der Abgeordnete ist Vertreter des ganzen Volkes. Er ist an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur seinem Gewissen unterworfen.“

Diese von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes sinnvoll und abgewogen konzipierten Einzelbestimmungen, die zusammengefügt den Kreislauf unserer gelebten Verfassung vorzeichnen, sind -im Ergebnis ihrer beinahe willkürlich praktizierten Anwendung -in sich und in ihren Bezügen zueinander zutiefst gestört, ja zerstört:

1. Die „Staatsgewalt des Volkes“ erschöpft sich . alle vier Jahre im Ankreuzen unveränderbarer Kandidatenlisten, die parteiintern von Parteifunktionären aufgestellt wurden. Die Auswahl unter Bewerbern aus der gewählten Partei ist nicht möglich. Damit ist die „Ausübung aller Staatsgewalt“ für vier Jahre beendet. Eine weitere Beteiligung an der Willensbildung gibt es nicht -abgesehen vom „Petitionsrecht“ des Bürgers, das zwar in Artikel 17 Grundgesetz garantiert, in der parlamentarischen Praxis aber zu einem bürokratischen Verfahren verkümmert ist. 2. Aus der „Mitwirkung“ der Parteien ist die Inbesitznahme aller Staatsgewalt, unkontrollierte Ämterpatronage und „Selbstbedienung“ (der Parteien, Fraktionen, Abgeordneten und öffentlicher Positionen) geworden. Sie haben sich „den Staat zur Beute gemacht“ -wie Richard von Weizsäcker lange vor seiner Wahl zum Bundespräsidenten freimütig festgestellt hat. Und neuerlich hat er hinzugefügt: Die Parteien kontrollieren alles, wer aber kontrolliert die Parteien? 3. Aus den Volksvertretungen als „Erster Gewalt“ im demokratischen Staat ist im Laufe der Jahrzehnte eine (mehr oder weniger) nachgeordnete Dienststelle von Parteizentralen und Regierungen geworden, aus dem Volksvertreter ein Partei-und Fraktionsfunktionär, der strikt an „Aufträge und Weisungen“ gebunden ist. Von seinem „freien Mandat“ kann -selbst in Sonntagsreden -nicht mehr gesprochen werden, ohne Hohngelächter oder Protest zu ernten. Die Diskrepanz im Reden, Handeln und Verhalten der Politiker ist so kraß geworden, daß man ihnen einfach nichts mehr glaubt. Hierzu verweise ich noch einmal auf meinen Bericht über die Reformbemühungen im Deutschen Bundestag 1984 bis 1990. -b) Überwindung der Krise durch Wahlrechts und Parlamentsreformen sowie durch mehr Demokratie „von unten“

Diese drei im Grundgesetz vorgeschriebenen „Eckwerte“ demokratischer Verfahren und Abläufe sind also im Laufe der Jahrzehnte in der Verfassungswirklichkeit so total deformiert worden, daß sie ständige „Kreislaufstörungen“ im politisch-parlamentarischen System zur Folge hatten, die wiederum Glaubwürdigkeit zerstört haben und schließlich zur grassierenden „Politikverdrossenheit“ eskaliert sind.

Meine Prognose lautet: Solange der Kreislauf zwischen demokratischer Machte/teilung/Machtverteilung und Machtbalance durch Kontrolle und Korrektur nicht ins Lot gebracht, neu belebt und wieder funktionsfähig gemacht wird, kann die Krise nicht überwunden werden, wird es kein neues Vertrauen zwischen Wählern und Gewählten geben und hat demzufolge die repräsentative Parteiendemokratie keine Zukunft.

Zur Erneuerung dieses Kreislaufes sind Wahlrechts-und innere Parlamentsreformen, wie sie bisher vergeblich versucht wurden, ebenso unerläßlich wie die Einführung partizipatorischer Rechte der Bürger und eine spürbare Stärkung ihrer Petitions-und Mitwirkungsrechte zwischen den Wahlen.

6. Deformation des Kreislaufes zwischen Parteienherrschaft und demokratischer Bürgerbeteiligung: zweite Ursache für Vertrauensverlust und Politikverdrossenheit

Die zweite Ursache, die zum Vertrauensverlust und zur Politikverdrossenheit geführt hat, ist eine Folge der ersten: Es ist dies die nicht mehr erkennbare Teilung der Gewalten im demokratischen Staat mit der Folge, daß sich die Macht-und Entscheidungszentren Von den hierfür in der Verfassung vorgesehenen Gremien (Parlamente, Kabinette, Exekutive) in „Elefantenrunden“, Küchenkabinette und Geheimzirkel verlagern. Deshalb ist es vordringlich, dies zu ändern. So dürfte beispielsweise ein Vertreter der Legislative nicht gleichzeitig ein Regierungsamt ausüben, doppelt besoldet werden, über seine eigenen Bezüge abstimmen usw.

Die bisherige Praxis hat zur Folge, daß die demokratischen Kontroll-, Initiativ-und Mitwirkungsrechte der hierfür eigentlich zuständigen Institutionen und Personen nur unzulänglich ausgeübt werden, ja oft sogar außer Kraft gesetzt sind, daß Parlamentsdebatten zu reglementierten Deklamationen und zum Schlagabtausch verkommen, Abstimmungen zur Farce werden. Wehe dem Abgeordneten, dessen Gewissen „beim Reden und Handeln, bei Wahlen und Abstimmungen“ (Art. 38 GG) von der Fraktionsorder abweicht. Er hat keine Zukunft.

Hauptverursacher der schwelenden Vertrauensund Akzeptanzkrise zwischen Bürgern und demokratischen Institutionen sind zweifellos die politischen Parteien bzw. ihre -weit über ihren Verfassungsauftrag hinaus -angemaßte Allmacht in der Verfassungswirklichkeit. Mit weniger als vier Prozent der Wahlbevölkerung als Mitglieder repräsentieren sie quantitativ und qualitativ nur einen Bruchteil des Volkes, nehmen jedoch das ganze demokratische Spektrum in Staat, Gesellschaft und Öffentlichkeit in Beschlag. Sechs Mal hat ihnen das Bundesverfassungsgericht schwere Verstöße bei der Selbstfinanzierung ins Stammbuch geschrieben. Vor allem aber: Ihre Repräsentanten leben zu wenig vor, was für das Gedeihen jeder demokratischen Kultur unverzichtbar ist: Verfassungstreue, auch und vor allem in eigener Sache, Fairness und Toleranz, Glaubwürdigkeit im Reden, Handeln und eigenen Verhalten. Über aller berechtigten Parteienkritik darf jedoch nie vergessen werden, daß demokratische Parteien für unser repräsentatives System unverzichtbar sind.

III. Von der Zuschauerdemokratie zur demokratischen Bürgergesellschaft

Der Befund der Innenansicht unserer Verfassungswirklichkeit kann also nicht besonders optimistisch stimmen. Dennoch darf uns dies nicht zur Resignation verleiten. Vielmehr stellt sich die dringliche Frage, wie der überfällige Erneuerungsprozeß in Gang gesetzt werden kann.

Das gelänge natürlich am ehesten, wenn alle Beteiligten und Betroffenen -Bürger, Parteien und demokratische Institutionen -zu der Einsicht kämen, daß gegenseitige Schuldzuweisungen nicht weiterführen, daß es vielmehr gemeinsamer Anstrengungen -bildlich gesprochen: der Runden Tische bedarf, an denen sich Bürger und ihre derzeit ungeliebten, oft kaum noch respektierten Repräsentanten zusammenfinden. Das aber ist leichter gesagt als getan, denn es setzte einmal die Einsicht in den Emst der Lage und in das Ausmaß der Akzeptanzkrise voraus, und zum anderen erforderte es einen Grundkonsens über allfällige Konsequenzen.

Da beides derzeit nicht in Sicht ist, plädiere ich dafür, daß die Anstöße hierzu von unabhängigen Bürgern aller demokratischen Richtungen kommen, von Bürgern, die es nicht mit Verdruß und Verdrossenheit, mit Schuldzuweisungen und Lamentieren bewenden lassen wollen, sondern aus eigener Kraft und Einsicht Initiativen zur Abhilfe ergreifen und neue Formen ihrer Durchsetzung entwickeln.

Auf diese Weise könnte die Vision einer demokratischen Bürgergesellschaft -wie sie beispielsweise Richard von Weizsäcker beschworen hat -zur Realität werden. Angesichts der realen Macht-bzw. Ohnmachtsverhältnisse zwischen Parteien und Bürgern mag das zunächst wie ein David-Goliath-Kampf erscheinen. Dennoch muß er gewagt werden.

Erste Ansatzpunkte zur Einmischung der Bürger-gesellschaft gibt es bereits. So hat sich zum Beispiel in München eine BÜRGERAKTION VERFASSUNG 93: WIR MISCHEN UNS EIN gebildet: Sie wird zum einen versuchen, den Fehlentwicklungen und Versäumnissen der Parteiendemokratie Paroli zu bieten und der gelebten und erlebbaren Verfassung neue Schubkräfte zu verleihen. Zum anderen bereitet sie, im Vorfeld des Super-Wahljahres 1994, konkrete Aktionen zur Befragung von Kandidaten und zur Begrenzung der Wahlkampfkosten vor. Dafür sucht sie nach Bündnispartnern bei Verantwortlichen in Parteien und Organisationen -vor allem bei Presse und sonstigen Massenmedien -und hofft, daß ihre Aktionen auch in anderen Städten Schule machen.

Auf jeden Fall müssen wir von der „Zuschauer-demokratie“ Abschied nehmen, uns einmischen, wenn nötig Druck machen. Erst dann und nur dann wird die Vision von der demokratischen Bürgergesellschaft wirklich Gestalt annehmen.

Sicher wird dieser Weg von der Zuschauerdemokratie zur demokratischen Bürgergesellschaft kein Sonntagsspaziergang auf ebener Straße sein; vor uns liegt vielmehr ein langer und steiniger Weg. Er muß beschritten werden, wenn wir unsere demokratische Ordnung erhalten, festigen und künftigen Generationen anvertrauen wollen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Hildegard Hamm-Brücher, Bürgergesellschaft versus Parteiendemokratie. Damit unsere Verfassungswirklichkeit wieder verfassungskonform wird, in: Gunter Hofmann/Werner A. Perger (Hrsg.), Die Kontroverse. Weizsäckers Parteienkritik in der Diskussion, Frankfurt am Main 1992, S. 187-197; dies., Bürgergesellschaft versus Parteienherrschaft, in: Hans Wallow (Hrsg.), Die verdrossene Gesellschaft, Düsseldorf 1993.

  2. Vgl. u. a. dies., Von der Zuschauerdemokratie zur Bürgergesellschaft. Die Initiatorin der „Aktion Verfassung ’ 93“ ruft dazu auf, die übermächtig gewordenen Parteien in die Schranken zu weisen, in: Süddeutsche Zeitung vom 18. Mai 1993.

  3. Die ganze Leidensgeschichte der „Parlamentsreform von unten“ habe ich in einem Buch „Der freie Volksvertreter -Eine Legende?“ (München 1990) dokumentiert.

Weitere Inhalte

Hildegard Hamm-Brücher, Dr. rer. nat., Dr. h. c., geb. 1921; seit 1948 in parlamentarischen und politischen Ämtern; Stadträtin, Landtags-und Bundestagsabgeordnete bis 1991; 1970-1976 Staatssekretärin im Hessischen Kultusministerium; 1969-1972 Staatssekretärin im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft; Dezember 1976-September 1982 Staats-ministerin im Auswärtigen Amt; Gründerin und Sprecherin der „Interfraktionellen Initiative Parlamentsreform“ 1984-1990. Veröffentlichungen u. a.: Der Politiker und sein Gewissen, München 1983; Kämpfen für eine demokratische Kultur, München 1986; Der freie Volksvertreter -eine Legende?, München 1990; Wider die Selbstgerechtigkeit, München 1991.