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Politik-und Parteienverdrossenheit: Modeworte behindern berechtigte Kritik. Zur Notwendigkeit gesellschaftspolitischer Reformen | APuZ 31/1993 | bpb.de

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APuZ 31/1993 Wege in die und Wege aus der Politik(er) verdrossenheit. Von der Zuschauerdemokratie zur demokratischen Bürgergesellschaft Die Kritik der Politischen Klasse und die Bürgergesellschaft. Muß die Bundesrepublik neugegründet werden? Parteien im eigenen Saft? Von der Krise zur Reform Politik-und Parteienverdrossenheit: Modeworte behindern berechtigte Kritik. Zur Notwendigkeit gesellschaftspolitischer Reformen An der Schwelle zu einer neuen Epoche Die Vision der Verantwortungsgesellschaft. Orientierung auf dem Weg zur inneren Einheit Deutschlands und Europas Die Krise der Politik als Krise des Menschen

Politik-und Parteienverdrossenheit: Modeworte behindern berechtigte Kritik. Zur Notwendigkeit gesellschaftspolitischer Reformen

Wolfgang Thierse

/ 17 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Eine wirkliche und umfassende „Politikverdrossenheit“ gibt es nicht. Der Begriff ist inzwischen zu einem medialen Mülleimer degeneriert, in den alles gepackt wird, was auch nur entfernt an Kritik, Umzufriedenheit, Ängste, Unbehagen oder auch an antipolitische Vorurteile erinnert. Wir leben in einer Zeit der Paradigmenwechsel, die eine Vielzahl von Unsicherheiten produzieren. Die Bürger erkennen die alltäglichen Veränderungen und fragen sich besorgt, wann die Politik endlich darauf reagieren wird. Sie wenden sich nicht von der Politik oder den Parteien schlechthin ab, sondern empfinden, daß in viel zu großem Ausmaß auf eine veränderte Realität mit alten Verfahren und Rezepturen geantwortet wird und die rhetorische Omnipotenz der Politiker der Wirklichkeit nicht standhält. Sie verlieren deshalb die Lust, zwischen den Parteien zu unterscheiden. Politische Entscheidungen müssen wieder sehr viel mehr Richtungs-und Werteentscheidungen werden. Nur dann können die Parteien in der Kontroverse wieder Ideale anbieten, für die Engagement lohnend erscheint. Die Bürger müssen stärker in die politische Willensbildung -auch zwischen den Wahlen -einbezogen werden. Den Sorgen derjenigen, die befürchten, daß Veränderung vielfach Verschlechterung bedeuten kann und wird, muß durch ein neues gesellschaftspolitisches Reformprogramm begegnet werden.

I. Vorbemerkungen

Alle reden von „Politikverdrossenheit“, von „Parteienverdrossenheit“ -es sind die Modeworte dieser Monate geworden. Aber gibt es diese Verdrossenheit wirklich? Nach dem geglückten Abenteuer einer Mitgliederbefragung der SPD über ihren Vorsitzenden ist es wahrscheinlich nicht mehr so überraschend, wenn ich die Behauptung wage: Es gibt keine wirkliche und umfassende Politikverdrossenheit.

Das Wort „Politikverdrossenheit“ ist inzwischen längst zu einem medialen Mülleimer degeneriert, in den alles hineingepackt wird, was auch nur entfernt an Kritik, Unzufriedenheit, Ängste, Unbehagen oder auch an anti-politische Vorurteile erinnert. Die vermeintlichen und tatsächlichen Skandale um Politiker dienen als „Beweise“ für die Unzulänglichkeit jeder Partei und jeder Politik.

Verdruß, sogenannte Politikverdrossenheit, kommt auf wegen bestimmter Inhalte, wegen bestimmter Defizite in der Politik der Parteien und Regierungen. Von einer Abkehr von der Politik und von den Parteien indes kann nicht die Rede sein, eher von ihrer wacheren, kritischeren Beobachtung. Der stellvertretende Müntzer Landrat Udo Knapp hat wahrscheinlich recht: Selten wurde soviel über Politik diskutiert wie heute, der Unterschied zu früher besteht nur darin, daß die Politik dabei in aller Regel schlecht wegkommt.

Aus dem Munde mancher Politikerkollegen dagegen klingt die Rede von der Verdrossenheit wie ein Vorwurf an die Wähler, sich immer mehr von den Volksparteien abzuwenden.

Die Diffamierung der Kritik der Menschen als demokratiegefährdende Politikverdrossenheit muß einer offenen Auseinandersetzung mit der Kritik selbst weichen. Das aber können nur wir Politiker einleiten. Solange wir offenbar nicht zur Diskussion einladen, schaffen wir die Gefahr selbst, die daraus erwächst, daß „die Politik“ zu einem abwertend verwendeten Begriff geworden ist. Gerade weil er auf jede Differenzierung verzichtet, die Unterschiede zwischen den Parteien geradezu leugnet und berechtigte Kritik zur pauschalen Diffamierung herabwürdigt, wird er Munition für alle, die mit rechtsextremen Scheinantworten locken. Die Suggestion der Rechtsextremisten, sie seien die bisher fehlende Alternative zu „den“ unterschiedslos schlechten Politikern, wird ungemein erleichtert.

II. Zeit des Paradigmenwechsels

Wir leben in einer Zeit des Paradigmenwechsels. Alle scheinbaren Gewißheiten der letzten 40, die der fetten achtziger Jahre vor allem, sind ins Wanken geraten oder stimmen nicht mehr. Die Geschichte ist über sie hinweggegangen. Zum einen: Der Feind steht nicht mehr im Osten; der für die alte Bundesrepublik konstitutive Antikommunismus hat kein Objekt mehr, damit fehlt manchen das für sie notwendige Feindbild. Zum anderen: Die meisten Menschen können nicht mehr damit rechnen, im nächsten Jahr ihren Lebensstandard zu sichern oder gar auszubauen. Das ist für westliche Gesellschaften dramatischer als es klingt, denn die relativ sichere Erwartung von Wohlstandswachstum war ein entscheidendes Element der Akzeptanz von Politik und der gesellschaftlichen Kohäsion.

Die heutige Schülergeneration ist wohl die erste seit den zwanziger Jahren -vorsichtiger geschätzt: seit 1945 -, die nicht mehr erwarten kann, daß es ihr im Erwachsenenalter materiell besser gehen wird als ihren Eltern. Das aber ist nicht nur ökonomisch, sondern auch kulturell von Bedeutung. Die Verteilung des scheinbar unbegrenzten Wachstums konnte mehr Gerechtigkeit schaffen, der wachsende Wohlstand war die Grundlage und Triebfeder für die weitgehende Differenzierung, Segmentierung und Individualisierung der Industriegesellschaften in den letzten 20 bis 30 Jahren.

1. Von Leistungsorientierung zu erbarmungsloser Erfolgsorientierung

Die These Hans Peter Dürrs, daß durch die westdeutsche Kulturrevolution“ der sechziger Jahre, die das Individuum von überkommenen Zwängen und Begrenzungen seiner Entfaltung befreien wollte, der Kapitalismus zu sich selbst gefunden habe, ist nicht einfach von der Hand zu weisen. Allerdings sind die „ 68er“ nicht die Verursacher des heute vorherrschenden Egoismus. Die elf Jahre konservativer Politik seit 1982 sind der eigentliche Geburtshelfer dieser mentalen Entwicklung. Grundlage dafür ist eine Leistungsorientierung, die längst zur erbarmungslosen Erfolgs-orientierung geworden ist, ein schonungsloser individueller Wettbewerb, der seinen Gewinnern jene faktische oder scheinbare Unabhängigkeit gewährt, die der Wohlstand des einzelnen erst ermöglicht.

Es ist zum Beispiel nicht dasselbe, ob mit 1968 bestimmte gesellschaftliche Tabus gebrochen wurden und gleichzeitig an Gemeinwohlorientierung und praktizierter Solidarität festgehalten werden soll oder ob das Brechen von Tabus aus kommerziellen Gründen zum Selbstzweck wird, wie bei den blutigen Gewaltszenen, ohne die kaum ein Fernsehsender auf der Jagd nach Einschaltquoten auszukommen glaubt. Es ist auch ein Unterschied, ob man sich in dem Spannungsfeld von Freiheit und Gleichheit bewegen will oder ob allein der individuelle Vorteil zum Maßstab gesellschaftlichen Verhaltens wird. Diese Entwicklung ist durch die sogenannte geistig-moralische Wende enorm befördert worden: materiell, weil sich der Anteil der Einkommen aus unselbständiger Arbeit erheblich zugunsten der Vermögen verringert hat, kulturell, weil Fehlverhalten von Ministern (zu oft) nicht zu angemessenen Konsequenzen führt. Es gibt die Erinnerung an Beförderungen auf gutbezahlte Positionen außerhalb des Bundeskabinetts, nachdem die Begünstigten durch Fehler oder zweifelhafte Amtsführung ins Gerede gekommen waren.

2. Sozio-kulturelle Umorientierung als Folge von Wachstumseinbußen

Wachstumseinbußen mögen für sich noch als hinnehmbar erscheinen. In ihrer Folge aber muß die in den vergangenen Jahrzehnten funktionale Zukunftsperspektive ersetzt werden, eine sozio-kulturelle Umorientierung kann notwendig werden. Mit dem Ende der Teilung Deutschlands und Europas entstehen zusätzliche Kosten für die Gemeinschaft der Bürger und Staaten, von der notwendigen Begrenzung des deutschen und europäischen West-Ost-Prosperitätsgefälles bis zu der größer werdenden Zahl von Zuwanderern, von veränderten -und wohl teureren -Rahmenbedingungen der internationalen Politik bis zur Überdehnung der sozialstaatlichen Sicherungssysteme.

Kurt Biedenkopf hat richtig beobachtet, daß die Delegierung gesellschaftlicher Solidarität an zwangsläufig bürokratische Institutionen von vielen Betroffenen als „soziale Kälte“ empfunden wird. Die tiefere Ursache von Verunsicherung aber ist, daß auf die Hilfen, die diese Systeme objektiv bieten, immer weniger Verlaß ist. Sozialversicherung, Kündigungsschutz und Mitbestimmung sind noch Grundpfeiler des Sozialstaats, aber sie bekommen Risse. Die weitgehende Sicherheit, die sie vor unverschuldeten Lebensrisiken in der kapitalistischen Marktwirtschaft bieten, wird -der Realität vorgreifend -schon vermißt. Wer im schwedischen Wohlfahrtsstaat und im „Modell Deutschland“ den dritten Weg zwischen diktatorischem Sozialismus und rücksichtslosem Kapitalismus erkennen konnte, der muß nun das absehbare Ende dieses Weges befürchten.

In Ostdeutschland existierte eine vom Weltmarkt abgeschottete, fast künstliche Wirtschaft mit einer nur trügerischen Sicherheit. Im Westen geht eine fast elfjährige, durch den Einheitsboom verlängerte Phase der Hochkonjunktur zu Ende. Die Deutschen stehen vor ungeahnten Veränderungen. In den neuen Ländern ist außer den Jahreszeiten alles anders, als es noch vor drei Jahren war; aber auch im Westen wird der Staat nicht mehr Rettungsanker bei allen Problemen bleiben können. (Undenkbar, daß z. B. die aktuelle Stahlkrise noch einmal so gelöst wird wie in den sechziger Jahren.) Die Bundesregierung hat das nicht an dem Versprechen gehindert, niemandem werde es schlechter gehen, wenn erst die Einheit vollzogen sei.

Die Kritik an der politischen Gestaltung der Einheit hat von Anfang an darauf gezielt, daß wir es zwar mit völlig veränderten Problemen zu tun haben, die Bundesregierung aber an hergebrachten Verfahren und Rezepten festhält. Das erinnert an den Arzt, der trotz einer neuen Diagnose weiter die bisherigen Medikamente verschreibt. Diese Kluft zwischen der Realität und ihrer falschen Wahrnehmung führt zur Selbstblockade der Politik. Die Regierung sah sich 1990 nicht in der Lage, offen und ehrlich Einschränkungen zu verlangen. Sie ignorierte die Bereitschaft dazu, weil sie vor dem Hintergrund der Individualisierung und der auch von ihr politisch betriebenen Stärkung des partikularen und individuellen Egoismus an diese Bereitschaft der Menschen nicht glauben konnte. Jetzt aber wird möglicherweise einschneidenderer Verzicht verordnet, als vor drei Jahren notwendig gewesen wäre. So wird der Wille und die Bereitschaft vieler Menschen, die unerhörte Begebenheit der Einheit Deutschlands anzunehmen, auf eine harte Probe gestellt.

3. Außen-und Verteidigungspolitik

Aber die Liste der fälligen Paradigmenwechsel ist noch länger:

Für beide deutsche Staaten hatte die Außen-und Verteidigungspolitik einen besonders hohen Stellenwert, in beiden hat sie die Bürger entsprechend stark interessiert. Das Interesse der Regierten hatte dabei ebenso verschiedene Motive wie die Gründe der Regierenden verschieden waren. Trotzdem sind seit den späten sechziger Jahren in einem mühsamen Prozeß außenpolitische Ziele und Werte konsensfähig geworden, die heute ungeprüft vernachlässigt werden. 40 Jahre lang gab es keine wirklich militärische Rolle .der Bundesrepublik Deutschland außerhalb des NATO-Gebiets; stolz propagierte die Bundeswehr ein Selbstverständnis, daß die Soldaten ihr Handwerk nur erlernten, um es niemals ausüben zu müssen. Jetzt aber wird wie selbstverständlich der Erprobung deutschen militärischen Handwerks in aller Welt das Wort geredet, und die Soldaten sind bereits in Afrika unterwegs. Das atomare Gleichgewicht des Schreckens in der bipolareh Welt hatte zu einer Außenpolitik der Entspannung, des Aushandelns, der Zusammenarbeit über bestehende Gegensätze und potentielle Feindseligkeiten hinweg gezwungen; jetzt werden in Europa Konflikte wieder mit archaischer Gewalt ausgetragen, obwohl die atomare Drohung fortbesteht.

Welch ein weiter Weg liegt zwischen den Debatten der siebziger und achtziger Jahre, wie aus dem bestehenden „Nicht-Krieg“ ein Zustand des „wirklichen“ Friedens gestaltet werden könne, und unserer heutigen Ohnmacht angesichts des Krieges im ehemaligen Jugoslawien. Mir fehlt die umfassende gesellschaftliche Debatte darüber, ob und warum die Werte und die Moralität der Verständigungspolitik verlassen werden sollten, ob nicht lediglich andere Instrumente ziviler, nichtmilitärischer deutscher Außenpolitik gefunden werden müssen. Die Bonner Politik verweigert diesen politischen Diskurs, solange sie solche Grundfragen allein durch das Verfassungsgericht auszufechten versucht.

III. Aktion und Reaktion von Regierung und Opposition auf die Paradigmenwechsel

Aktion und Reaktion der Regierungspolitik auf diese Umbrüche sind kurzatmig, wechselhaft schwankend zwischen aktionistischem Pragmatismus und Abwarten. Auch der Opposition gelang es bisher nicht, ein Gegenbild zu entwerfen, weil sie lieber am Gewohnten festzuhalten scheint, als sich auf die neue Realität konsequent einzustellen. Im Gegensatz dazu spüren die Bürger, daß die so vorgegaukelte Sicherheit trügerisch ist. Sie erkennen die alltäglichen Veränderungen und fragen sich besorgt, wann Bonn oder die Landesregierungen endlich darauf reagieren werden. Sie wissen längst, daß der Arzt die falschen Medikamente verschreibt. Deshalb verlieren sie die Lust, zwischen den Parteien zu unterscheiden, deshalb kam die Vokabel Politikverdrossenheit in aller Munde.

1. Die beiden großen Volksparteien CDU und SPD

Und doch unterscheiden sich die Parteien in der Art und Weise ihres Umgangs mit der veränderten Welt. Die Volkspartei CDU erlebt einen Mißerfolg nach dem anderen bei ihren ständigen Versuchen, sich und den Wählern diese komplizierte neue Welt schönzureden. Immer wieder muß sie über Nacht den Kurs wechseln, eine „Stunde der Wahrheit“ ausrufen, nach der nichts mehr gilt, was gestern noch beschworen wurde. Aus „Keine Steuererhöhungen“ wurden erst Abgabenerhöhungen und dann spürbare Steuererhöhungen; aus „blühenden ostdeutschen Landschaften in zwei bis drei Jahren“ wurde „die Rettung industrieller Kerne“, tatsächlich eine ostdeutsche Industriebrache innerhalb von knapp 36 Monaten; aus „Keinem wird es schlechter gehen“ wird ein drastisches sozialpolitisches Sparpaket; aus einem Solidarpakt wurde ein föderales Haushaltskonsolidierungsprogramm. Kürzungen bei der Arbeitsmarktpolitik, beim Arbeitslosengeld und der Sozialhilfe um 21 Mrd. DM sind jetzt Beschlußlage der Koalitionsparteien. Die versprochene Begrenzung der Neuverschuldung bleibt dennoch aus. Dieser führungslose, kurzatmige Pragmatismus bestimmt auch das Entscheidungsverhalten in so grundlegenden Fragen wie der des Asylrechts oder des „großen Lauschangriffs“. Besinnungslose Anpassung an eine vermeintliche Wirklichkeit wird ohne Prüfung anderer Lösungswege vollzogen.

Die SPD erlebt ihre Niederlagen auf ganz andere Weise. Sie diskutiert -oft stellvertretend für die ganze Gesellschaft -und offenbart so das Spannungsverhältnis zwischen programmatischem Wunsch und Pragmatismus erheischender Wirklichkeit in den eigenen Reihen. Das dramatischste Beispiel dafür ist die Zuwanderungspolitik. Einerseits sind die Lehren der antifaschistischen Emigration in der SPD äußerst lebendig, andererseits aber werden weder die Wähler mental noch die Gemeinden finanziell und organisatorisch mit der Zuwanderung fertig. Tanker können keine spitzen Kurven fahren, und so bleiben manche Antworten zu lange aus und andere wurden den Zielen der Regierung zu ähnlich. Enttäuschte Abwendung trat an die Stelle interessierter Aufmerksamkeit.

Das Fazit des bisher Gesagten: Es kann nicht länger darum gehen, sogenannte Politikverdrossenheit zu beklagen. Die Bürger wenden sich nicht von Politik oder den Parteien schlechthin ab, sondern sie erkennen und empfinden, daß in viel zu großem Ausmaß auf eine neue Realität mit alten Verfahren und Rezepturen reagiert wird. Gefährlich wird diese Entwicklung erst dann, wenn wir uns weiterhin dem Umbruch nicht in ausreichendem Maße stellen.

2. Veränderung: Voraussetzung für Bewahrung

Neben dem Paradigmenwechsel werden die Strukturen insbesondere der Volksparteien zunehmend problematisch. Während sich die Gesellschaft zunehmend ausdifferenziert und segmentiert, müssen die großen Parteien wegen ihres eigenen Anspruchs weiter versuchen, möglichst viele Interessen zu bündeln und parallel zu vertreten. Die Entdeckung der „sozialen Milieus“ durch die bekannten Sinus-Studien und andere zeigt, wie schwierig dieser Versuch inzwischen geworden ist.

Auf die Tatsache, daß Politik nur ein Lebensbereich unter vielen ist, haben die Parteien mit ihrem Allzuständigkeitsanspruch noch keine Antwort gefunden. Viele Menschen engagieren sich lieber in Bürgerinitiativen als in Parteien. Das Engagement ist punktueller; unmittelbare Betroffenheit setzt Energien frei, und man kann sich spätestens dann anderen Dingen zuwenden, wenn der Streit um ein Verkehrsprojekt, ein Naturschutzgebiet, ein Bauvorhaben, einen Truppenübungsplatz oder ein neues Gesetz beendet ist. Die SPD hat dieses Defizit gerade zu schließen begonnen. Durch eine für die Satzung der Partei vorgeschlagene Mitbestimmung der Mitglieder bei Personal-und wesentlichen Richtungsentscheidungen kann die Parteimitgliedschaft wieder attraktiver werden.

Angesichts der Umwälzungen und Ungleichzeitigkeiten in Deutschland und Europa, angesichts des wachsenden ökologischen Problemdrucks und der größer werdenden Kluft zwischen dem Norden und dem Süden der Erde kann das Festhalten am Gewohnten keine kompetenten Lösungen anbieten. Die Erhard Eppler zugeschriebene Einsicht, daß Bewahrung Veränderung voraussetzt, wird sich als die zutreffende heraussteilen.

Die Mitgliederbefragung wird die SPD verändern. Der Parteivorstand in Bonn oder in den Bezirken wird nicht mehr allein von den Funktionären und den auf ihnen lastenden Zwängen abhängig sein. Diese müssen ihre Arbeit und ihr Selbstverständnis neu bestimmen. Parteiarbeit wird dadurch eher , attraktiver werden, weil die Partei offener wird. Das käme denjenigen entgegen, die nicht zuletzt wegen hoher beruflicher Leistungsanforderungen nur gelegentlich in die Politik eingreifen möchten. Optimal wären die Folgen, wenn die Fähigkeit der Partei wachsen würde, aus der unmittelbaren Kommunikation mit anderen mehrheitliche Stimmungen und Interessen früher zu erkennen. Die verheerende Herrschaft anonymer und einseitiger Demoskopie über die Politik könnte begrenzt werden. Auch die Medien, die längst nicht mehr dem Ethos der Vierten Gewalt, sondern den harten Gesetzen des Wettbewerbs unterworfen sind, verlören ihr Monopol auf die Vermittlung zwischen Wähler und Politik. Das alles wird nicht von heute auf morgen geschehen. Die Übellaunigkeit gegenüber der Politik wird sich folglich noch eine Weile halten, aber ein Anfang ist gemacht.

Diese Übellaunigkeit hat schließlich noch weitere Ursachen: Auf die rechtsextremistische Gewalt wissen wir keine abschließende Antwort. Auf die Arbeitslosigkeit reagiert die Bundesregierung nur noch mit der Ankündigung ihres weiteren Anwachsens. Die tiefe Kluft zwischen Ost-und Westdeutschen wird erfahrbarer, der Wunsch Willy Brandts, daß jetzt zusammenwachsen möge, was zusammengehöre, erfüllt sich derzeit nicht.

IV. Die Aufgaben der Politik angesichts des schwächer werdenden Zusammenhalts der Gesellschaft

Das alles sind Folgen und Indikatoren für die schwindende Integrationskraft, den schwächer werdenden Zusammenhalt der Gesellschaft. Die Individualisierung als ein Kennzeichen aller hoch-entwickelten Industriegeseilschaften stellt sehr hohe Anforderungen an die Menschen, an ihre Entscheidungsfähigkeit und ihre Orientierung. Sie sind mit nahezu allen wesentlichen Lebensentscheidungen auf sich selbst gestellt. Das Signal lautet, jeder sei sich selbst der Nächste, das Wichtigste sei nicht, richtig zu handeln, sondern sich erfolgreich durchzusetzen. Da aber dieser Verlust an gesellschaftlicher Orientierung mit den krisenhaften Umbrüchen und Paradigmenwechseln unserer aufregenden Zeit korrespondiert, kumuliert sie in einer Befindlichkeit der Verwirrung, der Unsicherheit und der Überforderungsängste. Die „Risiko-gesellschaft“ ist offensichtlich kein Paradies.

Menschen wenden sich in ihrer Suche nach Orientierung zu Recht auch an die Politik und an Politiker. Unsympathisch ist es vielleicht nicht, daß auch die sogenannte Politische Klasse eher mit der Suche nach Orientierung befaßt ist als mit entsprechenden Vorschlägen. Unsere Aufgabe erfüllen wir damit allerdings nicht. Eine authentischere Sprache, der Mut zur Unterscheidbarkeit, zur Kontroverse, eine Zurücknahme des Technokratischen und Verrechtlichten in der Selbstdarstellung der Parteien löste noch keines der Probleme des Umbruchs, brächte aber Volk und Volksvertreter einander wieder näher.

Wir diskutieren nicht über Werte und Gestaltungsmöglichkeiten, sondern versuchen uns in technisch und pragmatisch perfekten Regelungen. Die politische Entscheidung muß wieder sehr viel mehr eine Richtungs-und Werteentscheidung werden. Nur dann können die Parteien in der Kontroverse wieder Ideale anbieten, für die Engagement lohnend erscheint. Philip Rosenthal hat sicher recht, wenn er sagt, er sei Hitleijunge geworden, weil die demokratischen Parteien keine Ideale anzubieten hatten. Die Jugend folge dann eben falschen Idealen, warnt er die demokratischen Parteien heute. Das ist ein eindringlicher Appell, den demokratischen Grundkonsens immer wieder neu zu stiften.

Es gibt viele Wünsche und Hoffnungen, die wir Politiker nicht erfüllen können, und die Erfahrung der eigenen Ohnmacht ist für jeden Politiker schmerzlich. Die Grenzen der politischen Handlungsspielräume können wir aber den Menschen nur erklären, wenn die tatsächlichen Handlungen akzeptabel sind. Ein Beispiel aus meiner eigenen Erfahrung mag das illustrieren:

Ich sah mich einer Versammlung unzufriedener Mieter im Osten Berlins gegenüber, denen ich zu erklären hatte, daß es in der nun westdeutschen Art, Wohnungen zu finanzieren, unmöglich ist, ganz auf Mieterhöhungen zu verzichten. Die PDS, die zu der Versammlung mobilisiert hatte, gönnte sich, wie immer, die leichte aber unverantwortliche Rolle des Sozialpopulisten. Nicht „mit dem Gesicht zum Volke“ steht sie dann da, sondern „dem Volke nach dem Munde“ redet sie bloß. Die PDS weiß, daß sie nie wieder politische Verantwortung wird tragen müssen; sie kann sich deshalb leisten, alles auf einmal zu versprechen: rasche Wohnungsmodernisierung, schnelles Ende der Wohnungsnot und Mieten auf DDR-Niveau. Die Frage nach der Finanzierung stellt sich dabei kaum oder wird leichter Hand durch Verweis auf andere Etats abgetan. Die jubelnden Anhänger der PDS vergessen nur zu rasch, daß es der SED 40 Jahre lang nicht gelungen war, das Recht auf Wohnung zu verwirklichen. Der so geschürte falsche Glaube hilft niemandem, sondern vermehrt am Ende nur die Enttäuschung. In dem Meinungsklima einer solchen Veranstaltung ist verantwortliche, verantwortbare Politik, die sich stets in einem Rahmen relativer machtpolitischer Möglichkeiten und begrenzter finanzieller Machbarkeiten bewegt, nur noch schwer zu vermitteln. Und trotzdem ist dieser Versuch gerade auch in einer Atmosphäre gleichermaßen heftiger Wünsche und Enttäuschungen immer wieder neu zu unternehmen.

Sonst sind Politiker meistens selbst dafür verantwortlich, wenn ihnen Grenzen ihres Einflusses entweder nicht geglaubt oder kritisch angekreidet werden. Ihre rhetorische Omnipotenz hält der Wirklichkeit nicht Stand. Trotz der verschleiernden Reden mancher Amtsträger wissen die Wählerinnen und Wähler zumeist sehr gut, wann ihnen gerade Sand in die Augen gestreut wird. Beispiele gibt es genug: Die Zukunft zu sichern, ist ein unverbindlicher Werbespruch: Welche Sicherheit ist gemeint? Die vor Kriminalität und Gewalt? Hat denn derjenige, der sie verspricht, auch beantwortet, wie er z. B. das Geld für eine materiell und personell besser ausgestattete, bürgernahe und freundliche Polizei beschafft? Oder ist die soziale Sicherheit gemeint? Wie vertragen sich dann aber Einschnitte in das soziale Netz mit diesem Versprechen? Beliebt ist in diesem Zusammenhang der Verweis auf die nötige Stärkung des Marktes und der Wirtschaftskraft. Aber verspricht eine so werbende Partei Sicherheit für den kleinen und mittelständischen Unternehmer, den die Rezession in den finanziellen Ruin treibt?

Selbstorganisation, Eigenarbeit sind Begriffe, die im letzten Jahrzehnt den westdeutschen Sprachschatz bereichert haben und auch in der DDR Zuspruch fanden. Sie beinhalten früher Selbstverständliches. Solange Menschen in wechselseitigen Abhängigkeiten Zusammenleben, wird nicht nur aus der Gemeinschaft genommen, sondern auch etwas in die Gemeinschaft gegeben. John F. Kennedy hat schon Anfang der sechziger Jahre daran erinnert: „Fragt nicht, was der Staat Euch gibt, sondern fragt Euch, was Ihr dem Staat geben könnt.“Da offenbar nichts neu ist in der Geschichte, kann ich auch mit einem noch viel älteren Zitat dienen. In seinem berühmten Gesellschaftsvertrag schreibt Jean-Jacques Rousseau: „Sobald die öffentliche Betätigung im Dienste des Staates aufhört, die Hauptangelegenheit der Staatsbürger zu sein, und sie ihm lieber mit ihrem Geld als mit ihrer Person dienen, ist der Staat schon seinem Untergang nahe. Zum Kampf schicken sie Söldner und bleiben zu Hause, zur Beratung ernennen sie Abgeordnete und bleiben wieder zu Hause. Durch ihre Trägheit und ihr Geld haben sie schließlich Soldaten, die das Vaterland unterjochen, und Volksvertreter, die es dann verkaufen.“

Der Versuch, die mündigen Bürger stärker an der politischen Willensbildung auch zwischen den Wahlen zu beteiligen, ist von der konservativen Mehrheit der Gemeinsamen Verfassungskommission vereitelt worden. Eine wichtige Chance ist vertan worden, durch Einführung von Formen direkter Bürgerbeteiligung in das Grundgesetz unsere Demokratie zu verlebendigen! Die Erfahrungen des DDR-Herbstes 1989 (aber auch der bayrischen Praxis von Volksbegehren) zeigen: Es ist hoch an der Zeit, „das Volk“ stärker an politischen Entscheidungen zu beteiligen, ihm verbriefte Rechte dazu einzuräumen.

V. Neue Kapitalismuskritik anstelle von westlichem Triumphalismus

Vieles, was wir beklagen -Egoismus, Vereinzelung, Bürokratisierung -, sind Triebkräfte oder gar Wesensmerkmale der marktwirtschaftlichen Gesellschaft. Die Kritik an diesen Symptomen müßte folgerichtig zu einer neuen Kapitalismuskritik werden. Das aber paßt (noch) nicht in die Zeit des westlichen Triumphalismus. Die Erkenntnis, daß die Marktwirtschaft den Systemwettstreit gar nicht gewonnen hat, sondern daß sie bloß übriggeblieben ist, muß sich erst noch Bahn brechen.

Wir leben in Europa in einem Zwischenstadium: Alles ist offen, nichts steht fest, kaum etwas wird bleiben, wie es in den letzten Jahrzehnten war. Eine für Intellektuelle, Jugendliche und alle Neugierigen spannende Lage, sollte man meinen; aber die Freude bleibt doch arg verhalten. Es überwiegen die Sorgen derjenigen, die befürchten, daß Veränderung vielfach Verschlechterung bedeuten kann und wird. Wenn einer Gesellschaft, in der alles käuflich ist und an spezialisierte Instanzen delegiert werden kann, das Geld zum Kaufen und Delegieren ausgeht, befindet sie sich in einer Krise: subjektiv und tatsächlich. Die Voraussetzung für den zum Egoismus überdrehten Individualismus war der wachsende Reichtum. Individuelle Unabhängigkeit, die Befreiung von den lästigen Bindungen oft intoleranter Gemeinschaften, Familien, Nachbarschaften, die für das Angebot der Geborgenheit und Verwurzelung den Preis schwer erträglicher Kontrolle verlangen, bedarf entweder des Konsumverzichts oder aber hinreichender materieller Ausstattung und sozialer Entpflichtung der einzelnen.

Wir spüren, daß wir den dabei und dazu erreichten Standard kaum werden halten können, und wissen nicht, wie wir damit umgehen sollen. Die sozialen und individuellen „Techniken“ für die Bewältigung dieses Umbruchs stehen uns anscheinend nicht mehr zur Verfügung. Möglicherweise sind sie bei den Ostdeutschen mit ihrer jahrzehntelangen Erfahrung in einer Mangelgesellschaft leichter zu reaktivieren, als bei allen anderen. Gelingt das, könnte sich der Verdruß an der Politik rasch wieder legen.

VI. Fazit

Die Politik kann -selbstverständlich -nicht ungleich besser sein als die Gesellschaft, aus der sie ihr Personal bezieht. Sie kann den Umbruch allein überhaupt nicht bewältigen. Aber sie muß wenigstens damit beginnen, die Kräfte, die wir alle dafür brauchen, freizusetzen. Sie kann und soll klare und verläßliche Rahmenbedingungen für das Wirtschaften und das Zusammenleben der Menschen schaffen durch Gesetze und Maßnahmen. Jede Politik wird scheitern, die ihre Entscheidungen nicht begründen, ihr Konzept nicht darlegen, ihre Ziele nicht definieren kann. Nur wer ein auf Grundwerten basierendes Konzept hat, wird beweisen können, daß Parteienverdrossenheit noch nicht die Abkehr der Bürger von der Demokratie bedeutet.

Entwarnung kann aber nicht gegeben werden. Rechtsextreme Jugendliche und Wähler, die falschen Idealen folgen, sind ein Alarmzeichen erster Ordnung. Der 30-Prozent-Anteil der Nichtwähler ist dagegen keine Katastrophe für die Demokratie, aber eine für die Politik. Sie leidet offensichtlich so an Konturenlosigkeit, daß sich auch gut informierte und engagierte Bürger nicht mehr zwischen den politischen Angeboten entscheiden können.Die Zeit ist reif für ein neues, gesellschaftspolitisches Reformprogramm, das die gegenwärtigen Debatten von ihrer Oberflächlichkeit befreit, sich den Zukunftserwartungen stellt, Verkrustungen aufbricht und Perspektiven öffnet. Ziele sind die ökologische Umorientierung der Industriegesellschaft, die Sicherung des Sozialstaates, ein einfacheres, aber gerechteres Steuersystem.

Notwendig ist auch die Bündelung der Kräfte, die unser Wirtschaftsleben bestimmen, das heißt die richtige Kombination staatlicher und privatwirtschaftlicher Verantwortung bei Forschung, Infrastrukturausbau, Technologiepolitik, Bildung und Ausbildung, um wieder Beschäftigung zu schaffen und den Standort Deutschland zu sichern. Kriminalitätsbekämpfung und eine wohlverstandene Förderung des geistigen und kulturellen Lebens und nicht zuletzt die Beteiligung der Bürger auch zwischen den Wahlen an grundlegenden Entscheidungen, wie zum Beispiel dem „out-of-area“ -Einsatz der Bundeswehr, sind weitere Aufgaben eines solchen Reformprogramms.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Wolfgang Thierse, geb. 1943; Studium der Kulturwissenschaften und Germanistik an der Humboldt-Universität zu Berlin; 1975-1976 Mitarbeiter im Ministerium für Kultur der DDR; danach wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Akademie der Wissenschaften der DDR, im Zentralinstitut für Literaturgeschichte; Anfang Oktober 1989 Unterschrift beim Neuen Forum; Januar 1990 Eintritt in die SPD; Vorsitzender des Bezirksparteirates der SPD/DDR, Juni bis September 1990 Vorsitzender der SPD; Mitglied der Volkskammer vom 18. März bis 2. Oktober 1990; Mitglied des Bundestages seit 3. Oktober 1990; stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion. Veröffentlichungen u. a.: Mit eigener Stimme sprechen, München 1992; (Hrsg. zus. mit Michael Müller) Deutsche Ansichten. Die Republik im Übergang, Bonn 1992; Von den Ursachen rechtsextremer Jugendgewalt in Ostdeutschland, in: Hubertus Heil/Muzaffer Perik/Peter-Ulrich Wendt (Hrsg.), Jugend und Gewalt, Marburg 1993.