Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Die Krise der Politik als Krise des Menschen | APuZ 31/1993 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 31/1993 Wege in die und Wege aus der Politik(er) verdrossenheit. Von der Zuschauerdemokratie zur demokratischen Bürgergesellschaft Die Kritik der Politischen Klasse und die Bürgergesellschaft. Muß die Bundesrepublik neugegründet werden? Parteien im eigenen Saft? Von der Krise zur Reform Politik-und Parteienverdrossenheit: Modeworte behindern berechtigte Kritik. Zur Notwendigkeit gesellschaftspolitischer Reformen An der Schwelle zu einer neuen Epoche Die Vision der Verantwortungsgesellschaft. Orientierung auf dem Weg zur inneren Einheit Deutschlands und Europas Die Krise der Politik als Krise des Menschen

Die Krise der Politik als Krise des Menschen

Friedrich Schorlemmer

/ 15 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Neben der überall zu beobachtenden Politikverdrossenheit, dem Zerbröseln der Institutionen und der (Selbst-) Demontage der politisch handelnden Personen liegt ein bewußter oder unbewußter Grund für die Abstinenz einer großen Mehrheit von Bürgern gegenüber Politik darin, daß sie glauben, die Probleme würden allmählich so groß und so komplex, daß sie nicht mehr lösbar seien. Das „Projekt Aufklärung“, das in der Politik des „Neuen Denkens“ der achtziger Jahre ansatzweise Gestalt gewann und schließlich zu einer Auflösung der Ost-West-Konfrontation beitrug, hat uns national und international in eine Krise gestürzt, weil es eine institutionell abgesicherte, politische, mentale und psychosoziale Konzeption für „die Zeit danach“ nicht gab. Die auf eine „solidarische Überlebensvemunft“ abzielende Weltgesellschaft ist ferner als in der Zeit der Ost-West-Blockrivalität. Es ist nicht eo ipso eine konservative Schimäre, wenn man den fortschreitenden Verlust verbindlicher und verbindender Werte beklagt. Keine noch so gute Gesetzgebung und keine noch so gut funktionierende Verwaltung kann ersetzen, was an Wertbildung und einer ihr entsprechenden Verhaltensdisposition im einzelnen und im Klima der gesellschaftlichen Beziehungen Gestalt findet. Wird die Schere zu groß, muß die Gesellschaft in sich labil werden. Die wertevermittelnden und -gestaltenden Institutionen, die normalerweise den gesellschaftlichen Visionen konkrete Konturen und Gestaltungsrahmen geben, sind in eine Plausibilitätskrise geraten. Wenn der demokratische Diskurs über schwierige (Grund-) Fragen der Demokratie durch Abstinenz, Gleichgültigkeit, „Privatisierung des Gemeininteresses“, aus Enttäuschung und Verachtung abgebrochen wird, gebt es an den Lebensnerv der Demokratie. Wenn es weiterhin die primäre Frage bleibt, auf wen sich Parteien einigen, und die Frage, worauf man sich verständigt, sekundär wird, bleibt es bei einer vertikalen Struktur von Politik und der Personalisierung von Sachfragen. Wenn sich immer weniger Bürger dem Konsensfindungsprozeß in demokratischen Institutionen stellen, ist sie akut in Gefahr. Die Gefahr ist noch zu bannen.

I. Politiker-und Politikverdrossenheit: zu den Ursachen

Neben der überall zu beobachtenden Politikverdrossenheit, dem Zerbröseln der Institutionen und der (Selbst-) Demontage der politisch handelnden Personen liegt ein bewußter oder unbewußter Grund für die Abstinenz einer großen Mehrheit von Bürgern gegenüber Politik darin, daß sie glauben, die Probleme würden allmählich so groß und so komplex, daß sie nicht mehr lösbar seien. Dafür möchte man nicht verantwortlich sein -weder vor sich selbst noch vor der Öffentlichkeit. Die resignative „Ethik der sauberen Hände“ durch Nichtstun, verbunden mit dem blanken Finger beim Zeigen auf die, die etwas tun und häufig versagen, scheint in Mode zu kommen.

Der Verantwortungsverweigerung zu vieler entspricht ein Verantwortungsgefühl zu weniger, die meinen, sich einer Pflicht nicht entziehen zu können. Dabei ahnen oder wissen sie, daß sie sich überforden! und daß sie vielfach ihren Prinzipien zuwiderhandeln (müssen). Das Tempo der Zeit und das allgegenwärtige Mikrophon führen zum Sprechen vor dem Denken. Der politisch Handelnde scheint gezwungen zu sein, gewissenlos zu werden. Wenn er sich kompromißlos verhält, kann er praktisch am Handeln nicht mehr teilnehmen und wird marginalisiert: Nur wer etwas und wer sich durchsetzen kann, bleibt auf der Bühne. Der sensible und nachdenkliche, zögerliche und abwägende Politikertyp besteht in der Härte der Auseinandersetzungen immer weniger.

Ist einer zu wenig entschlossen und machtbewußt, sagt man, er habe „Angst vor der Macht“ und er müsse sie doch wollen. Ist einer bereit, Verantwortung zu übernehmen und stellt sich der Macht in ihrer ganzen Ambivalenz ohne erkennbare Skrupel, bekommt er flugs das Etikett des Machthungrigen angeheftet. Was Politiker in der Öffentlichkeit auch tun -es gibt ausreichend Stoff für jedwede publizistische Vermarktung: je skandalträchtiger, desto besser. Um so mehr kann sich der Nichthandelnde am „wahren Gesicht“ oder am Versagen der Handelnden ergötzen. Das führt wiederum zu einer noch größeren Verweigerung vieler „im Prinzip“ politisch interessierter Bürger, sich aufs politische Geschäft einzulassen. Das eigene Geschäft zu machen, wird zum Lebensinhalt.

Politik wird schließlich auch immer häufiger als „Geschäft“ betrieben oder von außen als solches betrachtet. Für den Verzicht auf alles Private, für den Dauerstreß, für Erfolglosigkeit, Undankbarkeit und Vereinsamung meinen viele, viel zu viele Politiker, sich Entlastung und zusätzliche Vergütung beschaffen zu müssen. Staatliche Zuwendung wird auf allen erdenklichen Wegen erschlichen, Politik mehr und mehr als Selbstbedienungsladen (miß-) verstanden.

Inzwischen wächst in der Bevölkerung der ambivalente Wunsch nach immer weniger Staat, um eigene Interessen besser durchsetzen zu können, und gleichzeitig nach mehr Staat, verbunden mit der Sehnsucht nach einem entschlossenen, wenn nicht diktatorischem Zupacken und Durchgreifen einer „Führungspersönlichkeit“; noch nicht nach einem „Führer“. Nicht diese oder jene Personengruppe denkt oder fühlt so; das tiefe Ambivalenzgefühl teilen -tagesstimmungsbedingt -viele ganz unterschiedlich vorgeprägte Bürgerinnen miteinander.

Sehr beunruhigend waren Ergebnisse und Begleitumstände der Hessenwahl am 7. März 1993. Der dort beobachtete erste große Dammbruch nach rechts brachte eine gewichtige Nebenerkenntnis: Die Demoskopie versagte, weil viele sich ihr verweigerten. Sie vertrauten ihr wahres Denken den Wahlkabinen an, nicht den Befragern: Es gibt ein verborgenes schlechtes Gewissen, rechts oder gar „ganz rechts“ zu wählen. Eine gewisse Scham ist noch da. Das Denken läuft wieder „recht“ -winkliger; je unübersichtlicher die Situation wird, desto mehr wird die Zweiteilung, die klare Alternative gesucht, werden Freund und Feind beschrieben, werden Schuldige für die Misere ausgemacht, wird Deutschsein und Nicht-Deutschsein wieder wichtig. Fast ein Drittel geht erst gar nicht zur Wahl; es läßt andere rechts wählen. Die Nichtwähler „Protestwähler“ zu nennen, täte vielen von ihnen zu viel Ehre an. Sie halten Abstinenz für Moral. Diese Gruppe zu einem „demokratischen Erkenntnis-druck“ zu bringen, ist ebenso wichtig wie die kritische Selbstbefragung der demokratischen Institutionen, besonders der Parteien.Ob die etablierten Institutionen erneuerungsfähig sind, hängt davon ab, ob Menschen sich in diesen Institutionen einbringen können. Wichtig ist, daß sie die Erfahrung machen, persönlich mit ihrer Begabung und ihrem Engagement gefragt zu sein, und erleben, daß es sinnvoll und wirksam ist, mitzumachen. Gelingt dies nicht, müßten sich neue Institutionen bilden. Sonst erlischt Demokratie allmählich. Für alle am Gemeinwohl Interessierten stellt sich die Aufgabe, die Selbstorganisation der Gesellschaft als ziviler Gesellschaft zu befördern, statt durch Rückzug aus den demokratischen Institutionen die Demokratie selbst zu gefährden oder durch andere buchstäblich fahr-lässig gefährden zu lassen.

Im audiovisuellen Zeitalter geht die politische Kultur beinahe zwangsläufig in die Personalisierungsfalle. Politiker aller Parteien tappen hinein, oder sie lassen sich -ganz entgegen ihrem eigenen öffentlichen Bekunden -die Publicity allzugerne gefallen. Personen ersetzen Programme, bis die am meisten Gesendeten kaum noch erkennen lassen, wofür sie einstehen, außer für sich. Sie entwickeln einen sicheren Instinkt dafür, wer gerade hinter ihnen steht und wie sie ihre besondere Flexibilität am wirkungsvollsten mit dem Eindruck führungsstarker Standhaftigkeit -machtbewußt -verbinden können. Die diversen wöchentlichen Politbarometer geben ihnen jeweils Noten dafür, wie gut oder schlecht sie es vermocht haben, den wechselnden Stimmungslagen der Bevölkerung mit Biegsamkeitsreflexen und medienwirksamen Sprechblasen zu entsprechen. Politik wird auf diese Weise eine Variation von Werbung, zu einem bestimmten Personalangebot mit immer weniger Programminhalt. Die Wechselwirkungen zwischen „Politiker“ und „Publikum“ bei dieser Entwicklung sind unübersehbar. Mit einer einseitigen Verantwortungszuweisung würde das Problem verfehlt. „Es gibt keinen Weg zur Demokratie -die Demokratie ist der Weg.“ Mit dieser Abwandlung eines berühmten Martin-Luther-King-Satzes ist das Dilemma angezeigt, in dem unsere Demokratie steckt. Demokratie ist ein bewahrenswerter und hoher Wert, der davon lebt, daß Menschen sich zusammenfinden, um diesen Wert beständig auszufüllen und dadurch zu verteidigen. Eine Delegation der Demokratie auf Institutionen führt letztlich zu dem einschneidenden Kommunikationsproblem, das gegenwärtig zwischen den etablierten Institutionen und den Bürgern des Volkes besteht: „Politik ist ein schmutziges Geschäft“ und „Politik verdirbt den Charakter“, sagt der Volksmund. Liest man die Zeitungen, bestätigt sich dies -beinahe täglich. Der Allerweltsname eines besonders cleveren ostdeutschen Politikers wurde zum Inbegriff von Absahnmentalität. „Lässige“ Unwahrheiten und dicke Lügen, kleine Erinnerungslücken und großzügige Urlaubsreisen bestimmen die Abendnachrichten. „Halte dich raus, laß machen, laß aufdecken!“ -das ist die fatale Konsequenz der großen Mehrheit der Politik-Beobachter. „Bestätige dich täglich in deinem Urteil über ein Geschäft, an dem du dich selbst nicht beteiligst. Betreibe lieber relativ unbehelligt deine eigenen Geschäfte! So kannst du von den schmutzigen Geschäften der anderen mit einem bestimmten Unterhaltungs-, Empörungs-und Selbstentlastungswert -stets in Bunt und in entlarvender Nahaufnahme -hören und sehen.“

Geradezu genüßlich und stets auflagensteigernd werden Politikerinnen von den Medien vorgeführt. Allen wird eine -nach Parteien allerdings durchaus unterschiedlich hohe -moralische Meßlatte angelegt; dann wird gemeldet, wie hoch sie jeweils gesprungen, wie tief sie gefallen sind. Privates und Familiäres wird eingemengt* bis die Zermürbung das ganze soziale Umfeld erreicht hat. Wehe, wenn einer den von der Öffentlichkeit oder gar vor der Öffentlichkeit aufgestellten Ansprüchen entspricht. Auch ihm muß etwas nachgewiesen werden, wird etwas nachzuweisen sein: sei es politisch, sei es finanziell, sei es persönlich. So wird schließlich Misanthropie als eine Philosophie totaler Veröffentlichung etabliert. Aus der Zuschauerposition läßt sich bequem urteilen: „Alle sind Schweine und ich -ein Unbeteiligter! -weiß das.“ Wer auch nur ansatzweise nach einer Ethik der Medien, nach einem Schutz der Privatsphäre auch für öffentliche Personen fragt, kommt allzu-leicht in den Verdacht undifferenzierter Medien-schelte oder gefährlicher Zensurwünsche.

Wenn es kein gesellschaftliches Gesamtklima mehr gibt, das letztlich vom Respekt der einen gegenüber den anderen geprägt ist, dann werden auch gesetzliche Regelungen kaum helfen. Da die politischen Skandale von den demokratischen Institutionen nicht mehr verhindert oder aufgedeckt werden, bleibt dies den Medien überlassen. Dann aber muß man sich nicht über den sensationslüstern-süffisanten Enthüllungsjournalismus wundern. Wenn andererseits alle irgendwie politisch Tätigen auf allen Ebenen zu bevorzugten Vorführobjekten werden, werden gerade diejenigen die politische Bühne verlassen, die sich bei ihrem kräftezehrenden Engagement ein Gewissen bewahrt haben: Nur der Unempfindliche, der „etwas abkann“, wird sich der Politik noch zur Verfügung stellen.

Die vielen, vielen Tausend, die sich in Kommunen, Ländern oder beim Bund bereitgefunden haben, in der res publica aktiv mitzuwirken, fühlen sich inzwischen durch die Medien pauschal diffamiert, reagieren trotzig, depressiv oder beleidigt, bis die Bereitschaft immer geringer wird, sich für die öffentlichen Belange in den Institutionen der Demokratie zu engagieren. Wenn Politik auf diese Weise undifferenziert in Mißkredit gerät, führt das zu Parteienverdrossenheit, atomisiert sich die Gesellschaft in die totale Single-Kultur, in der Selbstverwirklichung und persönliches Fortkommen weit höher geschätzt werden als das kurz-und längerfristige Gemeininteresse, das immer weniger Anwälte findet.

Politik stellt sich für diejenigen, die sich etwa in kommunale Volksvertretungen oder Verwaltungen hineinbegeben haben, als ein recht mühsames, kräfteverschleißendes, zermürbendes, undankbares Geschäft dar. Politikerinnen benötigen permanent nicht nur nahezu unerreichbare Sachkompetenz zu ganz unterschiedlichen zur Entscheidung anstehenden Sachverhalten, sondern sie müssen auch zu vollem persönlichem Engagement bereit und in der Lage sein. Politisch Handelnde sind heute strukturell und persönlich beinahe ständig überforden. Private und familiäre Beziehungen werden schweren Belastungsproben ausgesetzt. Die Kinder verfluchen „die Politik“, die ihnen die Eltern wegnimmt.

Die Politik kommt innerhalb der (zu kurzen) Wahl-perioden in immer mehr Dilemmasituationen, die durch das parteibesessene Hin und Her nochmals verstärkt werden. Eines der schwierigsten Dilemmata in der „Erwartungsdemokratie“ besteht darin, daß die Mehrheit von einigen wenigen, die Politik „machen“, erwartet, daß ihre Bedürfnisse befriedigt werden. Nähern sich Wahlen, haben Politiker jeweils abzufragen, was die „Wähler-masse“ sich -durchaus disparat -wünscht, bis Politbarometer den politischen Opportunismus zum Ersatzprogramm machen. Dabei wissen die Bürgerinnen zumeist zu genau, daß die Politikerversprechungen vor Wahlen (gutgemeinte) Lügen sind: Die Belogenen wissen also, daß sie „Lügner“ wählen, weil sie von ihnen etwas wünschen, was nicht erfüllbar ist. Diese Form der moralischen Entlastung geht auf Kosten konkreter Menschen und schließlich der Demokratie.

Die Demokratie braucht mehr Menschen, die bereit sind, das Wagnis des Handelns einzugehen und in Dilemmasituationen schwierige Kompromisse zu suchen, der Öffentlichkeit zu vermitteln und mutig durchzusetzen. Wer nicht konkret entscheiden muß, hat meist gut reden. Je weniger er sich über Interessenkonflikte, Rahmenbedingungen, Kosten, Kurz-und Langzeitfolgen informiert, desto sicherer bleibt er in seinem Urteil. Der Stammtisch ist das Bestätigungsritual derer, die sich nicht in die Streitkultur begeben, sondern lediglich die Selbstbestätigung unter ihresgleichen konsequenzenlos, ressentimentsgeladen und stimmungsbetont betreiben.

Politik-und Politikerkritik ist der Demokratie nur solange zuträglich, wie sie auch von der menschlichen Barmherzigkeit und einer bestimmten Verständnisbereitschaft für ihre Schwierigkeiten als unseren Schwierigkeiten getragen bleibt. Unsere eigenen Ratlosigkeiten können wir nicht unentwegt auf „die Poliker“ projizieren. Wer wird denn sonst übermorgen noch bereit sein, sich öffentlich vorführen zu lassen? Bisweilen werden doch an Politiker Maßstäbe angelegt, an denen sie geradezu scheitern müssen, womit sie dann einem bigotten moralischen Entrüstungsbedürfnis der Öffentlichkeit Genüge tun. Bei der -demokratisch gebotenen! -Kritik an Politikern muß der richtige Maßstab gefunden werden: der, den der Kritiker auch an sich selbst anzulegen bereit ist. Wenn weiterhin der hämische Zeigefinger, eine zynisch eingefärbte „Medio“ -Kratie die politische Szene bestimmt, wird einerseits jedes entschiedene Tun und andererseits jede zögerliche Unterlassung zum Fehltritt. Wenn jeder, der in der Öffentlichkeit steht, gewärtig sein muß, ins Glashaus des SPIEGEL zu kommen oder groß ins BILD gesetzt zu werden, dann wird Öffentlichkeit zu einer Art Jagdrevier.

Wer bekannt wird, wird zur Ware, zum Frischfleisch, täglich feilgeboten. Die Relationen zwischen den kleinen Unachtsamkeiten, den in der Hektik eines permanent überfordernden Geschäfts übersehenen oder falsch bewerteten Aufgaben, falschen Ratschlägen, „taktischen“ Ängsten und großen Skandalen verschwimmen. Alles wird in veröffentlichter Stimmungsmache zu gleicher, dicker Schlagzeile, bis schließlich die Konkurrenz um die Schlag-Zeile die Konkurrenz bei der Suche nach der Wahrheit völlig ersetzt.

II. Zu den Aufgaben der Politik unter veränderten Rahmenbedingungen

Das „Projekt Aufklärung“, das in der Politik des „Neuen Denkens“ der achtziger Jahre ansatzweise Gestalt gewann und schließlich zu einer Auflösung der Ost-West-Konfrontation beitrug, hat uns national und international in eine Krise gestürzt, weil es eine institutionell abgesicherte, politische, mentale und psychosoziale Konzeption für „die Zeit danach“ nicht gab. Die auf eine „solidarische Überlebensvernunft“ abzielende Weltgesellschaft ist heute ferner, als sie in der Zeit der Ost-West-Blockrivalität war.Die Menschheit scheint wieder zu versinken in anachronistische Nationalismen und territorial-ethnische Ausschließlichkeitsansprüche. Dahinter ist ein instinktiver Abwehrvorgang gegenüber einer Welt zu vermuten/in der alle von allen immer abhängiger werden, in der die ökologische Existenzbedrohung ebenso grenzüberschreitend ist, wie die sozialökonomische Weltkrise (plus Bevölkerungsexplosion) an nationalen Grenzen nicht halt macht. Der politische, territoriale und geistige Partikularismus ist letztlich Ausdruck einer panischen Angst. Im Nationalismus drückt sich gleichzeitig dreierlei aus: eine krampfhafte Suche nach Identität (als Form der Selbstbehauptung und Aufbau neuen Selbstbewußtseins), Angst (als Abschottung nach außen, als Angst vor Nivellierung des Eigenen oder als Angst vor Überfremdung) und schließlich Sehnsucht nach etwas archaisch-emotional Verbindendem.

In einer Welt, in der alle religiösen oder ideologisch verbürgten Gewißheiten dahinschwinden, wächst die Anfälligkeit von Individuen, Gruppen und ganzen Gesellschaften für irrationale „Sicherheiten“. Hinzu kommt die heikle Frage, ob auch „aufgeklärte“ Menschen nicht viel stärker mit „revierbezogenen“ Verhaltensdeterminanten zu rechnen haben. Emotionale Bindungen an überschaubare, genau abgrenzbare Großgruppen werden offenbar in dem Maße stärker, wie die Umwelt-oder Umfeldkonflikte zunehmen. National-soziale Kohäsion führt zu Abweisungs-und Abstoßungsprozessen: auch zu Kriegen. Über das Entsetzen über nationalistische oder ethnische Kriegsorgien hinaus ist es für die Menschheit geradezu tragisch, daß genau in dem Moment, wo Politik in sinnvoller Weise nur noch Welt-Politik sein kann, wo wir auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden sind, Zeit-und Rauminseln des friedlichen Wohl-Standes keinen dauernden Bestand haben können, die partikularen Tendenzen weltweit zunehmen. Und doch kann verantwortliche Politik nur unverdrossen den aberwitzigen Versuch machen, das Eine-Welt-Bewußtsein zu fördern, was ohne Schritte zu einer neuen Weltwirtschaftsordnung hoffnungslos wäre.

Die Politik hat die Aufgabe, Menschen Mut zu machen, sich zu organisieren, zu einer wirklich freien Assoziation freier Individuen zu kommen, sich in den politischen und demokratischen Diskurs einzubringen. Das Verschieben der Probleme auf „die da oben“ offenbart die Langzeitschädigung durch eine inzwischen verinnerlichte autoritäre Struktur. Dieser zu widerstreben und zu widersprechen bleibt Gestaltungsaufgabe praktischer Politik: Es geht um die Formulierung des Erwarteten, Wünschbaren, auch Nichtwünschbaren und die Übersetzung in das Machbare. Dabei kommt es nicht zuletzt darauf an, das Gefahrenbewußtsein mit einer Gestaltungsvision zu verschwistem. Das wird schwierig, aber unumgänglich sein, wenn wir vor Depressionen einerseits und Zynismus andererseits bewahrt bleiben wollen.

III. Werteverlust und Politik

Es ist nicht eo ipso eine konservative Schimäre, wenn man den fortschreitenden Verlust verbindlicher und verbindender Werte beklagt. Keine noch so gute Gesetzgebung und keine noch so gut funktionierende Verwaltung kann ersetzen, was an Wertebildung und einer ihr entsprechenden Verhaltensdisposition im einzelnen und im Klima der gesellschaftlichen Beziehungen Gestalt findet. Wird die Schere zwischen beidem zu groß, muß die Gesellschaft in sich labil werden. Nur was von einer Mehrheit von Menschen in der Gesellschaft freiwillig eingehalten wird und als Recht oder Unrecht Allgemeingut ist, wird auch eingefordert und kann bei Verletzung notfalls mit staatlichen Machtmitteln durchgesetzt werden. Wo aber der von einer Mehrheit akzeptierte Wertehimmel zerbrochen ist, ist eine Gesellschaft existentiell gefährdet. In einer pluralistischen Gesellschaft braucht eine solche Konsensfindung beständigen Dialog als Form ihrer Selbstvergewisserung.

Mit den Werten welken längst auch die Gewißheiten dahin. Dies führt zu einer inneren Verunsicherung über das, was diese demokratische Gesellschaft trägt und wer ihre Garanten sind. Die Versuche von Parteien, Kirchen und anderen werteimplizierenden Institutionen, dies von oben neu zu bestimmen, sind von vornherein zum Scheitern verurteilt. Programme von gestern, die für die Gestaltung der nächsten Zukunft formuliert worden waren, wirken wie schal gewordene Worte aus der Welt von vorgestern. Neue Programme zu formulieren, fehlt es an Zielvisionen, Gestaltungskraft und Konsensfähigkeit. Wo Ziele entschwinden, entschwinden auch Handlungsprinzipien, die den Zielen zu entsprechen suchen. Die praktische Konsequenz ist, daß Politiker vor schwierigen Entscheidungen zu schmierigen Kompromissen kommen.

Ein Symptom für den Zielverlust trotz eines elementaren Handlungsbedarfs ist das Gerangel bei der Formulierung der künftigen gesamtdeutschen Verfassung etwa um das „Staatsziel Umweltschutz“. Das „Recht auf Arbeit und Wohnung“ wurde als Verfassungslyrik abgetan. Politik wurstelt zerstritten vor sich hin, und man ist froh, wenn wenigstens ein stabiler Mann an der SpitzeMacht verkörpert und Richtungskompetenz suggeriert. Die wertbildenden Institutionen sind in eine Zerreißprobe zwischen totalpragmatischer Öffnung einerseits und fundamentalistisch-restaurativer Ab-und Ausschließung andererseits geraten. Inzwischen laufen den Politikern die Wähler, den Parteien und den Gewerkschaften die Mitglieder, den Kirchen die Gläubigen und den Bürgerbewegungen die Bewegten scharenweise davon. Die wertevermittelnden und wertegestaltenden Institutionen, die normalerweise den gesellschaftlichen Visionen konkrete Konturen und Gestaltungsrahmen geben, sind in eine Plausibilitätskrise geraten.

Die Alternative „Sozalismus“, die in praxi keine war, wirkte doch als solche und brachte neben der wissenschaftlich-technischen, politischen und ideologischen, militärischen und ökonomischen auch eine Konkurrenz bei der Gewährung sozialer Rechte unter Beibehaltung des Wertes „freiheitlicher Demokratie“. Der Zusammenbruch des Sowjetimperiums hat sich als ein klassischer Pyrrhus-sieg erwiesen, weil nicht eine befriedete „neue Weltordnung“ das Ergebnis ist, sondern lokale wie globale Instabilität mit bedrohlichen Unbekannten. Es ist grotesk: Der Zusammenbruch einer „Utopie“, die keine war, hinterläßt bei den Siegern eine Leere. Die westlichen Gesellschaften sind sich ihres Wofür und ihres Wogegen nicht mehr sicher. Der Zerfall des Ostens fängt an, den Zerfall des Westens qach sich zu ziehen. Die westliche Integration scheint nicht unwesentlich durch den Wettkampf mit dem Osten bedingt gewesen zu sein.

Das Menetekel Jugoslawien bringt alles durcheinander, was sich international als politisch-moralische Richtlinie herausgebildet hatte. Die individuellen Menschenrechte, zusammen mit der Selbstbestimmung der Völker, kommen nun in einen schroffen Gegensatz zum Recht der Minderheiten. Der Interventionskrieg macht den Krieg als Mittel der Politik wieder hoffähig. Dabei bleibt die Eskalationsgefahr beim Eingreifen fremder Truppen in dem Maße außer acht, wie die Situation durch die Greuel eines erbarmungslosen Bürgerkrieges emotionalisiert ist. Indes geht es um ein viel umfassenderes Problem: Die kollektive Verdrängung, daß unser Zivilisationsweg in eine Sackgasse geraten ist, führt zur Verdrängung von Wahrheit aus der Politik: Politiker stehen vor Ziel-konflikten, in denen sie fast nur noch zwischen falschen Entscheidungen abzuwägen haben und die allenfalls weniger falschen suchen. Weder unser Bewußtsein noch -oder schon gar nicht -unser individuelles oder kollektives Verhalten zeigt sich den von uns selbst verursachten (Welt-) Risiken gewachsen.

IV. Herausforderungen an die Politik

Unsere Demokratie ist durch nichts mehr gefährdet als durch die Gleichgültigkeit ihr gegenüber, die nicht zuletzt wegen des Fehlverhaltens vieler Politiker in Verachtung -vor allem innerhalb der jüngeren Generation -umschlägt. Eine noch nicht näher bezifferbare Zahl der Deutschen droht damit, „rechts“ zu wählen, emotionsgeladen und erinnerungslos, wohin uns das führte. Wer Demokraten als „Schlaffis“ denunziert, weil sie sich mit der konkreten Ausgestaltung der Asyl-und Einwanderungsgesetzgebung herumschlagen, ist tendenziell rassistisch. Wenn der demokratische Diskurs über schwierige (Grund-) Fragen der Demokratie durch Abstinenz, Gleichgültigkeit, „Privatisierung des Gemeininteresses“, aus Enttäuschung und Verachtung abgebrochen wird, geht es an den Lebensnerv der Demokratie. Ich fürchte am meisten, daß gerade dies nur wenigen bewußt ist. Sie müßten aufwachen, ehe es zu spät ist. Die Demokratieabstinenz zu überwinden, wird nicht leicht sein. Folgenden Herausforderungen haben wir uns zu stellen:

1. Es gilt, die Welt aus der Perspektive derer wahrzunehmen, die „unten“ sind, damit sie nicht unten bleiben: Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, daß die einen immer weniger, die anderen immer mehr „haben“.

2. Demokratie braucht Ziele, und Demokraten müssen mehr für möglich halten als den Status quo: eine Vision. Wenn diese nicht zu einer wie auch immer gearteten Ideologie werden soll, die stets an Wirklichkeitsverlust zugrunde geht, muß sie selbstkritisch hinterfragt werden. Realistisch bleibt die zielorientierte Demokratie, soweit es ihr nicht um das Maximum, sondern -vielleicht -um das Optimum geht: Die eigene Gesellschaft und die Weltgesellschaft etwas gerechter, etwas sozialer und etwas partizipatorischer zu machen, kann das erreichbare Handlungsziel sein, nicht aber, sie total „in Ordnung“ zu bringen.

3. Die Prinzipien des sozialen und demokratischen Rechtsstaates müssen unantastbar bleiben und sind beständig auf die veränderte Wirklichkeit zu beziehen. Grundrechte dürfen nicht an den Zeitgeist, schon gar nicht an Politbarometer oder aktuell aufwallende Volksstimmungen verraten werden.

4. Das Ziel, die Welt zu verändern, und die Notwendigkeit zur Selbstveränderung müssen zusammenfallen. Nach dem Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ ist der Weg zu sozialer Gerechtigkeit unter Bedingungen freiheitlicher Demokratie frei.

5. Nachdem die Wissenschaftlich-technische Revolution so viele (auch fragwürdige) Erfolge gebracht hat, muß die Menschheit sich auf „soziale Erfindungen“ konzentrieren. Wenn wir die Selbstbeherrschung und Selbstbegrenzung im Sinne der „Konvivialität“ (Ivan Illich) der Gattung,'d. h. im Stoffwechselprozeß mit der Natur so zu leben, daß sie beim Verändern erhalten bleibt, weiter vernachlässigen, werden wir infolge der extensiven Herrschaft unserer Machtmittel weiter an dem Lebensast sägen, auf dem wir sitzen. Die ersten Freigelassenen der Schöpfung werden sonst tragische „Zauberlehrlinge“ sein, weil der Meister weitab ist.

6. Wenn es weiterhin die primäre Frage bleibt, auf wen sich Parteien einigen, und die Frage, worauf man sich verständigt, sekundär wird, bleibt es bei einer vertikalen Struktur von Politik und der Personalisierung von Sachfragen. Unter diesen Bedingungen werden fortgesetzt „abgehobene“ Politiker produziert, wird die Kommunikation mit der Basis erschwert, werden Politiker auf ein Podest gehoben, als Idole einerseits, frei zum medial-genüßlichen Abschuß andererseits.

7. Demokratie macht Mühe und ist der Mühe wert. Wenn sich immer weniger Bürger dem Konsensfindungsprozeß in demokratischen Institutionen stellen, ist sie akut in Gefahr. Die Gefahr ist noch zu bannen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Friedrich Schorlemmer, geb. 1944; Studium der Theologie in Halle; von 1978-1992 Dozent am Evangelischen Prediger-seminar und Prediger an der Schloßkirche in Wittenberg; seit Anfang der siebziger Jahre engagiert in der Friedens-und Umweltbewegung der DDR; 1989 Auszeichnung mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille der Internationalen Liga für Menschenrechte; seit Mai 1990 SPD-Fraktionsvorsitzender im Stadtparlament von Wittenberg; seit März 1992 Studienleiter an der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt; Mitglied der Deutschen UNESCO-Kommission und des P. E. N.; Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1993. Veröffentlichungen u. a.: Träume und Alpträume. Einmischungen 1982-1990, Berlin 1990; Olle DDR. Eine Welt von gestern, Berlin 1990; Bis alle Mauern fallen -Texte aus einem verschwundenen Land, Berlin 1991; Wittenberg -Bildband, Halle 1991; Worte öffnen Fäuste. Die Rückkehr in ein schwieriges Vaterland, München 1992; Versöhnung in der Wahrheit. Vorschläge und Nachschläge eines Ostdeutschen, München 1992; Freiheit als Einsicht. Bausteine für die Einheit, München 1993 (erscheint im September).