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Was gehört zum notwendigen Lebensstandard und wer kann ihn sich leisten? Ein neues Konzept zur Armutsmessung | APuZ 31-32/1995 | bpb.de

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APuZ 31-32/1995 Das empirische Bild der Armut in der Bundesrepublik Deutschland -ein Überblick Sozialpolitik und arbeitsmarktbedingte Armut. Strukturmängel und Reformbedarf in der sozialen Sicherung bei Arbeitslosigkeit Armut verstehen Betrachtungen vor dem Hintergrund der Bremer Langzeitstudie Was gehört zum notwendigen Lebensstandard und wer kann ihn sich leisten? Ein neues Konzept zur Armutsmessung „Stadt“ als Ort und als Ursache von Armut und sozialer Ausgrenzung

Was gehört zum notwendigen Lebensstandard und wer kann ihn sich leisten? Ein neues Konzept zur Armutsmessung

Hans-Jürgen Andreß/Gero Lipsmeier

/ 31 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Ziel dieses Beitrages ist es, bisherige Armutskonzepte zu erweitern. Dabei geht es erstens um die Analyse der Einkommensverwendung und des sich daraus für die untersuchten Personen ergebenden Lebensstandards, zweitens um die Berücksichtigung unterschiedlicher individueller Präferenzen und drittens um die Verwendung empirischer Vergleichsmaßstäbe. Es wird die Verteilung lebensnotwendiger Dinge in einer Stichprobe von Bundesbürgern aus Ost-und Westdeutschland untersucht. Was dabei als lebensnotwendige bzw. entbehrliche Aspekte des Lebensstandards betrachtet werden soll, wird auf Grund der Meinungsäußerungen der Befragten festgelegt. Betrachtet man ausschließlich die Dinge, die mehrheitlich als notwendig erachtet werden und die sich die befragten Personen aus finanziellen Gründen nicht leisten können, dann ist das Ausmaß der Deprivation in Ost-und Westdeutschland global gesehen eher gering, in einigen Subgruppen jedoch erheblich. Insbesondere Sozialhilfeempfänger können sich viele Dinge, die nach Mehrheitsmeinung notwendig sind, nicht leisten. In bezug auf die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost-und Westdeutschland ist bemerkenswert, daß die Ost-West-Unterschiede verglichen mit den Disparitäten innerhalb der beiden Teilregionen eher gering sind.

I. Einleitung

Tabelle 1: Erfragte Aspekte des Lebensstandards (September 1994 bis Januar 1995; alte und neue Bundesländer zusammen)

Vergleicht man die empirischen Repräsentativ-untersuchungen zu Betroffenheit, Dauer und Ausmaß von Armut in der Bundesrepublik mit entsprechenden Untersuchungen in anderen Ländern, so fällt auf, daß Armut hauptsächlich als Einkommensarmut begriffen wird. Dabei fungiert das durchschnittliche Einkommensniveau der Bundesrepublik als Vergleichsmaßstab (relatives Armutskonzept), um daraus Einkommensgrenzen abzuleiten (z. B. 50 Prozent des Durchschnitts), unterhalb derer Personen und Haushalte als (einkommens) arm bezeichnet werden. Diese Konzentration auf den Einkommensaspekt führt zu mindestens zwei praktischen Problemen: Erstens können Personen in Haushalten mit gleichem Einkommen selbst bei Kontrolle der Größe und Zusammensetzung des Haushaltes einen ganz unterschiedlichen Lebensstandard besitzen. Gründe dafür sind Einkommensschwankungen im Zeitablauf, unterschiedliche Geld-und Sachvermögen, unterschiedliche Kostenbelastungen (z. B. für das Wohnen) und ähnliches mehr. Zweitens ist beim Vergleich von (Teil-) Gesellschaften mit unterschiedlichem Durchschnittseinkommen wie z. B. beim Vergleich von Ost-und Westdeutschland unklar, welchen Vergleichsmaßstab, also welches Durchschnittseinkommen man zur Bestimmung der Armutsgrenze heranziehen soll. Je nach Wahl des Vergleichsmaßstabes kommt man dann zu ganz unterschiedlichen Armutstendenzen.

Das kann man an Hand des letzten Armutsberichts des DGB und des Paritätischen Wohlfahrtsverban-des sehr gut nachvollziehen: Während sich bei Zugrundelegung eines bundeseinheitlichen Durchschnittseinkommens die Armutsquote in Ostdeutschland von 20, 3 Prozent (1990) auf 12, 7 Prozent (1992) drastisch verringert hat (zum Vergleich: Westdeutschland 6, 7 Prozent bzw. 6, 5 Prozent), erhöht sie sich bei Zugrundelegung getrennter Durchschnittseinkommen in Ost und West leicht von 2, 9 Prozent auf 4, 8 Prozent (West: 9, 1 Prozent bzw. 8, 3 Prozent) Natürlich gibt es Gründe für diese unterschiedlichen Entwicklungen jedoch sind Zweifel an einer solchen Armutsdefinition verständlich, wenn das Ausmaß der gemessenen Armut in so hohem Maße von der Wahl der Definitionskriterien abhängt, zumal die Kriterien selbst allenfalls eine Konvention der Armutsforscher sind, für den außenstehenden Beobachter jedoch relativ willkürlich gesetzt erscheinen.

Um dem genannten Problem unterschiedlicher Lebensstandards bei gleichem Einkommen zu begegnen, kann man selbstverständlich die Erhebung der Einkommen, Vermögen und Kostenbelastungen differenzieren, so daß bessere Rückschlüsse auf den Lebensstandard der untersuchten Personen möglich sind. Damit wird jedoch die einseitige Konzipierung des Armutsbegriffes nicht grundlegend geändert: Der Fokus liegt weiterhin auf den Einkommensquellen und nicht auf der Einkommensverwendung. Man bezeichnet diesen Ansatz daher auch als Ressourcen-Ansatz. Was die Personen mit ihrem verfügbaren Einkommen machen, welchen Lebensstandard sie sich leisten bzw. nicht leisten können, bleibt dabei jedoch weitgehend ausgespart. Eine mittelbare Folge der ausschließlichen Betrachtung der verfügbaren Ressourcen ist, daß wir zwar viel darüber wissen, welche soziodemographischen Gruppen über geringes Einkommen verfügen, jedoch wenig darüber, auf welche Dinge des alltäglichen Lebens im Armutsfall verzichtet werden muß bzw. wo finanzielle Einschränkungen auftreten. Der in letzter Zeit zunehmend verwendete Lebenslagen-Ansatz bietet insofern eine Erweiterung, als er nicht nur das Einkommen, sondern verschiedene andere, für die Lebenssituation relevante Lebensbereiche unterscheidet, wie z. B. Arbeit, allgemeine und berufliche Bildung, Wohnen, Gesundheit und ähnliches mehr. Armut ist hier definiert als „Unterversorgung“ in den ausgewählten Lebensbereichen, wobei der Tatbestand der Unterversorgung entweder „im Vergleich mit dem durchschnittlichen Versorgungsniveau oder anhand eines vorab normativ definierten Grund-bedarfs“ bestimmt wird. Auch wenn der Lebenslagen-Ansatz nicht frei von Problemen ist so ist er doch eine Bereicherung für die bundesdeutsche Armutsforschung, da er den Blick auf die Multidimensionalität von Armut lenkt, die eben nicht nur ein Problem geringen Einkommens ist. Insofern ergänzen sich Lebenslagen-und Ressourcen-Ansatz in hervorragender Weise.

In dieser Arbeit soll der Versuch unternommen werden, die skizzierten Armutskonzepte in dreierlei Hinsicht zu erweitern: 1. Unser Interesse richtet sich auf die Einkommensverwendung und den daraus für die untersuchten Personen resultierenden Lebensstandard. 2. Unter Armutsgesichtspunkten interessiert dabei weniger der freiwillige Verzicht auf Grund individueller Präferenzen, sondern vor allem der erzwungene Ausschluß von bestimmten Aspekten eines allgemein akzeptierten Lebensstandards. 3. Was zu einem solchen allgemein akzeptierten Lebensstandard gehört, soll möglichst wenig durch den Forscher vorbestimmt werden. Auch wird davon abgesehen, bestimmte durchschnittliche Versorgungsniveaus als Vergleichskriterien heranzuziehen, da diese bereits ein Ausdruck realer Verteilungsstrukturen sind und damit u. a. vom Ausmaß der Unterversorgung abhängen.

Was zum notwendigen Lebensstandard der Bundesbürger im Jahre 1994 gehören soll, werden wir durch eine Meinungsumfrage in einer Stichprobe von Bundesbürgern bestimmen Unser Vorgehen orientiert sich dabei an ähnlichen Untersuchungen in Großbritannien und den Niederlanden die sich alle in der Tradition der wegweisenden Studie von Peter Townsend aus dem Jahre 1979 über „Poverty in the United Kingdom“ begreifen. Townsend geht vom beobachtbaren Lebensstandard der Bevölkerung („community’s style of living“) aus und untersucht, welche Personengruppen daran in welchem Maße teilhaben können. Armut beginnt für ihn dort, wo mit fallendem Einkommen Personen disproportional von der gesellschaftlichen Teilhabe („participation of the community’s style of living“) ausgeschlossen sind In diesem Sinne definieren wir Deprivation als Ausschluß von mehr oder minder großen Teilen eines allgemein akzeptierten Lebensstandards. Unser Vorgehen (und das von Mack, Lansley und Muffels) unterscheidet sich jedoch insofern von dem Townsends, als wir das, was zum notwendigen Lebensstandard gehören soll, durch die Befragten selbst bestimmen lassen. Deprivation meint also den Ausschluß von Dingen, die die Befragten insgesamt für notwendig erachten. Dabei interessiert wohlgemerkt nicht der freiwillige Verzicht, sondern die Unmöglichkeit, sich bestimmte Dinge leisten zu können (auch das wurde bei Townsend nur unzureichend berücksichtigt). Schließlich ist Deprivation nicht notwendigerweise identisch mit Armut. Armut tritt nach unserem Verständnis erst dann ein, wenn das Ausmaß der Deprivation so groß ist, daß der Lebensstil bzw. die Lebenschancen der betreffenden Person erheblich beeinträchtigt sind. Insgesamt beruht das hier verwendete Armutskonzept also auf einem Ansatz relativer Deprivation Dabei gibt es gewisse Parallelen zu Untersuchungen subjektiver Einkommensarmut, die ähnlich wie hier die Untersuchungspopulation zu Wort kommen lassen und danach fragen, welches Einkommensniveau nach Meinung der Befragten entweder für den eigenen Haushalt oder für eine Reihe von vorgegebenen Haushaltstypen zur Wahrung eines minimalen Lebensstandards notwendig ist Wir wollen unser Vorgehen in insgesamt sechs Schritten darstellen: Im Kapitel II werden die verwendete Datenbasis und die Erhebungsmethode vorgestellt. Kapitel III beschreibt den notwendigen Lebensstandard der Bundesbürger im Meinungsbild der Befragten. Kapitel IV gibt einen Überblick über die Verteilung dieser Güter in der Stichprobe. Auf der Basis der Güter, die aus finanziellen Gründen fehlen, wird in Kapitel V ein Index relativer Deprivation erstellt und gezeigt, wie das Ausmaß der Deprivation mit anderen Lebenslage-Indikatoren variiert. In Kapitel VI wird daraus schließlich eine Armutsschwelle entwickelt und untersucht, welche soziodemographischen Gruppen in diesem Sinne als besonders arm bezeichnet werden müssen. Kapitel VII faßt die Ergebnisse zusammen und formuliert einige weitergehende Forschungsfragen.

II. Datenbasis und Methode

Abbildung 1: Besitz notwendiger Dinge (Hauptstichprobe) Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Umfrage . Alltag in Deutschland“.

1. Die Umfrage „Alltag in Deutschland“

Die hier verwendeten Daten wurden im Rahmen des DFG-Projektes „Versorgungsstrategien privater Haushalte im unteren Einkommensbereich“ erhoben. Drei Zielsetzungen standen dabei im Vordergrund: 1. eine überproportionale Berücksichtigung des unteren Einkommensbereiches, 2. die zusätzliche Erhebung armutsrelevanter Personengruppen (Sozialhilfeempfänger) und 3. ein Vergleich zwischen Ost-und Westdeutschland. Als Zielpopulation war die bundesdeutsche Wohnbevölkerung im Alter zwischen 25 und 65 Jahren vorgesehen (im folgenden als erwerbsfähige Bevölkerung bezeichnet). Zu diesem Zweck wurden von September 1994 bis Januar 1995 3600 private Haushalte in je drei (strukturähnlichen) Kommunen der alten und der neuen Bundesländer in einer nach Kaufkraft disproportional geschichteten Hauptstichprobe und weitere 700 Sozialhilfeempfänger aus neun Kommunen in Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt postalisch befragt Neben Einkommensangaben (einkommensbasiertes Armutskonzept) und soziodemographischen Merkmalen wurden im wesentlichen vier Befragungsschwerpunkte angesprochen: a) finanzielle Belastungen und Einschränkungen, b) notwendiger Lebensstandard in der Bundesrepublik und Lebensstandard des befragten Haushaltes (deprivationsbasiertes Armutskonzept), c) psychische Armutsbewältigung in Alltagssituationen sowie d) die empfangene soziale Unterstützung aus sozialen Netzwerken. 1204 Fragebögen wurden zurückgesandt. Auf Grund der stichprobentechnischen Heterogenität der beiden Subpopulationen werden im folgenden die Ergebnisse für die Haupt-stichprobe und die Sozialhilfeempfänger getrennt ausgewiesen 2. Welche Aspekte des Lebensstandards wurden erfragt?

Zunächst wurde danach gefragt, was zum notwendigen Lebensstandard eines Haushaltes in Deutschland gehören sollte: „Was von den folgenden Dingen ist Ihrer Meinung nach a) verzichtbar, b) wünschbar, c) unbedingt notwendig?“ Die insgesamt 29 Dinge (Items), nach denen dabei gefragt wurde, sind in Tabelle 1 aufgeführt. Dabei handelt es sich größtenteils um Übersetzungen aus der zitierten englischen Umfrage „Breadline Britain“ und dem holländischen Sozio-ökonomischen Panel die zum Teil an bundesdeutsche Verhältnisse angepaßt, zum Teil aber auch um neu entwickelte Items ergänzt wurden. Wie der Tabelle zu entnehmen ist, wurden dabei nicht nur materielle Dinge des alltäglichen Bedarfs (Ernährung, Haushaltsgegenstände) angesprochen, sondern auch Wohnungsversorgung, Zahlungsfähigkeit, Frei-zeitverhalten, Sozialkontakte, Qualifikation und Gesundheit sowie bei Familien die Versorgung der Kinder und bei Erwerbspersonen Arbeitsplatz-sicherheit und Arbeitsplatzmerkmale

In einem zweiten Schritt wurden die Untersuchungspersonen gefragt, wie es mit ihnen selbst bzw. mit Ihrem Haushalt bestellt sei: „Haben Sie die folgenden Dinge? Welche der folgenden drei Möglichkeiten trifft jeweils zu? a) Ja, habe ich. b) Nein, kann ich mir nicht leisten, c) Nein, habe ich aus anderen Gründen nicht.“ Erneut wurde die Liste der 29 Items vorgelegt, wobei durch die beiden Antwortmöglichkeiten (b) und (c) differenziert werden sollte, ob es sich um einen freiwilligen Verzicht auf Grund anderer Präferenzen (z. B.der Verzicht des Vegetariers auf Fleisch) oder um eine durch ökonomische Notwendigkeit erzwungene Einschränkung handelt.

Natürlich hängt die Erfassung des Lebensstandards und infolgedessen die Messung (relativer) Deprivation wesentlich von den vorgegebenen Items ab. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der hier eingeschlagene Weg der Armutsmessung nicht wesentlich von Warenkorb-Ansätzen, bei denen Experten die Zusammensetzung eines solchen Warenkorbs festlegen. Dies ist jedoch kein prinzipieller Einwand, da die Dinge, nach denen gefragt wird, nicht notwendigerweise durch den Forscher vorgegeben werden müssen. Sie können genauso-gut im Rahmen einer Voruntersuchung mit offe-nen Antworten induktiv an Hand einer repräsentativen Stichprobe gewonnen werden

Ein spezielles Problem ist die Frage, ob die Liste der Lebensstandard-Indikatoren auch Fragen zu Arbeitsplatzmerkmalen umfassen sollte. Einerseits handelt es sich dabei um „Dinge“, auf die die Person keinen oder nur geringen Einfluß hat. Man kann sich diese „Dinge“ auch nicht „kaufen“. Arbeitsplatzmerkmale können daher nicht der Einkommensverwendung zugerechnet werden, sondern zählen eher zu den Ressourcen, die der Person zur Verfügung stehen. Andererseits könnte man argumentieren, daß in einer Arbeitsgesellschaft wie der Bundesrepublik die Verfügbarkeit eines sicheren Arbeitsplatzes ohne Gesundheitsgefährdungen und mit ausreichender Altersversorgung so etwas wie ein Grundrecht ist und daher zum notwendigen Lebensstandard gehört. Wir haben uns dieser zweiten Argumentation angeschlossen Neben den genannten theoretischen Inkonsistenzen ergeben sich daraus auch praktische Schwierigkeiten bei der Datenerhebung und der Indexbildung. Erstens konnte bei den Arbeitsplatzmerkmalen lediglich erfragt werden, ob die Person über einen entsprechenden Arbeitsplatz verfügt oder nicht. Die oben beschriebene Differenzierung der Antwortmöglichkeiten -b) habe ich aus finanziellen bzw. c) aus anderen Gründen nicht -hat hier keinen Sinn. Zweitens können diese Fragen sinnvollerweise nur Erwerbstätigen bzw. Arbeitssuchenden vorgelegt werden, so daß diese Items bei der späteren Indexbildung nur für eine bestimmte Subgruppe der Befragten vorliegen 3. Zur Messung der Einkommensposition der Befragungspersonen Neben den Fragen zum Lebensstandard mußten die Befragten das Netto-Einkommen ihres HausHaltes in klassifizierter Form angeben (insgesamt 18 Einkommensklassen). Um die Einkommens-position von Personen aus unterschiedlich großen Haushalten vergleichbar zu machen, wurde ein bedarfsgewichtetes Pro-Kopf-Einkommen aus dem Netto-Haushaltseinkommen und der Anzahl der Haushaltsmitglieder berechnet, wobei für Erwachsene und Kinder unterschiedlichen Alters wie in der Sozialhilfeberechnung ein unterschiedlicher Einkommensbedarf angesetzt wurde Personen mit gleichem (bedarfsgewichteten) Pro-Kopf-Einkommen haben danach, so die Annahme, eine äquivalente Wohlfahrtsposition. Bei allen Einkommensvergleichen werden wir im folgenden dieses sogenannte Äquivalenzeinkommen verwenden. An einigen Stellen werden wir dabei sogenannte einkommensschwache Personen von dem Rest der Bevölkerung unterscheiden. Gemeint sind damit die Personen, deren Äquivalenzeinkommen weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Äquivalenzeinkommens aller Befragten beträgt.

III. Was gehört nach Meinung der Befragten zum notwendigen Lebensstandard?

Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Umfrage . Alltag in Deutschland“. Abbildung 2: Besitz notwendiger Dinge (Sozialhilfeempfänger)

1. Überblick Tabelle 1 zeigt die erhobenen Aspekte des Lebensstandards nicht in der Reihenfolge, in der sie im Fragebogen präsentiert wurden (s. dazu die Item-Nr.), sondern geordnet nach dem Anteil der Befragten, die das Item für unbedingt notwendig erachten. Auf diese Weise lassen sich drei Gruppen von Items unterscheiden. Eine Gruppe von zehn Items wird von mindestens zwei Dritteln der Befragten für notwendig gehalten: Dazu zählen vier Items zur Wohnungsversorgung (Item 14, 15, 16, 13), zwei Items zur Zahlungsfähigkeit (19, 18), zwei Haushaltsgegenstände (5, 7) sowie der Berufsabschluß (20) und ein Arbeitsplatzmerkmal (27). Hinzu kommt eine zweite Gruppe von fünf Items, die von mindestens der Hälfte der Befragten für notwendig erachtet werden, bestehend aus zwei Arbeitsplatzmerkmalen (29, 28), einer gesunden Lebensführung (23), einer warmen Mahlzeit pro Tag (1) und dem Telefon (6).

Die verbleibenden 14 Items werden dagegen nur von einer Minderheit der Befragten zum notwendigen Lebensstandard gezählt. Dazu zählen bei­ spielsweise alle Fragen, die Familien mit Kindern betreffen (24, 25, 26), aber auch der Jahresurlaub (10), das Auto (8), die Mahlzeit mit Fleisch, Geflügel oder Fisch (2) oder die gute Wohngegend (12). Die Möglichkeit, abends auszugehen (21), abgenutzte Möbel durch neue zu ersetzen (3) oder sich regelmäßig neue Kleidung zu kaufen (4), wird sogar von weniger als zehn Prozent der Befragten für notwendig erachtet. Wir werden im folgenden die ersten 15 Items, für die sich mehr als die Hälfte der Befragten ausgesprochen haben, als notwendige Dinge und die verbleibenden 14 Items als entbehrliche Dinge bezeichnen. 2. Unterschiede zwischen Ost-und Westdeutschland Die Frage der Disparität bzw. Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost-und Westdeutschland wird zur Zeit kontrovers diskutiert. Unsere Untersuchung ermöglicht einen empirischen Vergleich der beiden Regionen in bezug auf Meinungen über den notwendigen Lebensstandard und seine tatsächliche Verteilung in Ost und West. In Abbildung 1 sind alle 29 Items erneut in der Reihenfolge abgetragen, in der sie von der Gesamtheit aller Befragten der Hauptstichprobe für notwendig gehalten wurden (vgl. Tabelle 1). Die Linien geben nun jeweils für Ost und West an, wieviel Prozent der Befragten aus der jeweiligen Region das jeweilige Item für notwendig erachten bzw. das Item besitzen. Auffallend ist zunächst einmal die hohe Übereinstimmung der Einschätzungen in Ost und West bezüglich des notwendigen Lebensstandards. Bis auf einige, allerdings leicht erklärbare Ausreißer (Items 29, 6, 10, 9, 21, s. unten) sind die Abweichungen nur geringfügig. Im Durchschnitt über alle 29 Items betragen sie 6, 4 Prozentpunkte. Wie wir weiter unten zeigen werden, sind diese Abweichungen sogar geringer als Differenzierungen innerhalb der westdeutschen (Teil-) Gesellschaft. Ähnlich stellt sich die Situation auch bei der Frage dar, ob die Befragten in Ost und West die genannten Dinge auch tatsächlich besitzen. Auch hier beträgt die durchschnittliche Abweichung der Anteilswerte für alle 29 Items lediglich 7, 8 Prozentpunkte. Abweichungen sind im wesentlichen auf die Probleme am Arbeitsmarkt (Items 29, 28) und den unterschiedlichen Ausbau der Infrastruktur (6, 11, 25) zurückzuführen. Insgesamt läßt sich also eine hohe Homogenität der Einschätzungen sowie eine weitgehende Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost-und Westdeutschland konstatieren, wenn man bei der Beurteilung der Lebensverhältnisse die genannten Strukturprobleme einmal außer acht läßt.3. Welche Vorstellungen haben Sozialhilfeempfänger in Ost und West?

Abbildung 2 zeigt die entsprechenden Daten für unsere Sozialhilfeempfängerstichprobe. Sie erlaubt Rückschlüsse einerseits auf die Differenzierungen innerhalb der beiden Regionen Ost und West, andererseits über den Zusammenhang von (offiziell registrierter) Armut und Lebensstandard. An dem sehr viel „unruhigeren“ Verlauf der beiden Linien zur Einschätzung des notwendigen Lebensstandards erkennt man, daß die Rangordnung der Sozialhilfeempfänger doch erheblich von der der Hauptstichprobe abweicht. Demgegenüber sind die Unterschiede zwischen Ost-und Westdeutschland eher geringfügig. Die durchschnittliche Abweichung der Anteilswerte für alle 29 Items beträgt 5, 5 Prozentpunkte und liegt damit noch unter den Differenzen zwischen Ost-und Westdeutschen in der Hauptstichprobe. Vergleicht man dagegen die Sozialhilfeempfänger mit den Befragten der Hauptstichprobe aus der jeweiligen Region, dann sind die Differenzen sehr viel größer -zumindest im Westen: Dort unterscheidet sich die Einschätzung der Notwendigkeit der Items um durchschnittlich 8, 6 Prozentpunkte (zum Vergleich Ost: 6, 3 Prozentpunkte). Die Homogenität der Einschätzungen ist also zwischen den beiden Regionen höher als innerhalb der beiden Regionen. Anders ausgedrückt: Verglichen mit den Unterschieden zwischen den offiziell registrierten Armen und dem Rest der Bevölkerung sind die Ost-West-Differenzen eher gering. 4. Einige Erklärungsfaktoren Einige Erklärungsfaktoren für die beobachteten Tendenzen liegen auf der Hand. Zunächst einmal ist anzunehmen, daß Besitz und Einschätzung der Notwendigkeit bestimmter Dinge nicht unabhängig voneinander sind: Die Dinge, die man selber hat, werden tendenziell auch als notwendig eingeschätzt, bzw. umgekehrt formuliert, das, was man für notwendig hält, wird man auch erwerben bzw. ausführen. Von daher verwundert es für die notwendigen Dinge nicht, daß sich bei den Anteils-werten der Befragten, die das jeweilige Item besitzen (Tabelle 1, Spalte c), mehr oder weniger eine ähnliche Rangordnung ergibt wie bei den Anteils-werten der Befragten, die das jeweilige Item für notwendig erachten (Spalte a). Daß wir in einer Überflußgesellschaft leben, läßt sich insbesondere bei den 14 (nach der obigen Definition) entbehrlichen Items ablesen, die bis auf eine Ausnahme (Item 21) in mehr als der Hälfte der befragten Haushalte Vorkommen, aber nur von weniger als 50 Prozent der Befragten als notwendig eingeschätzt werden.

Wenn Besitz bzw. Wohlstand und Einschätzung des notwendigen Lebensstandards miteinander verknüpft sind, dann ist auch klar, daß Gesellschaften unterschiedlichen Modernisierungsgrades unterschiedliche Dinge zum notwendigen Lebensstandard zählen. Das läßt sich deutlich am Telefon erkennen, das zu DDR-Zeiten eher ein Ausstattungsmerkmal der Privilegierten war und erst mit dem Ausbau der Telefonnetze nach der Vereinigung eine weitere Verbreitung in den neuen Bundesländern findet. Die Ostdeutschen sind es also gewohnt, ohne das Telefon auszukommen, und dementsprechend beurteilen sie im Gegensatz zu den Westdeutschen die Notwendigkeit des Telefons eher skeptisch (39, 4 Prozent versus 64, 8 Prozent in der Hauptstichprobe und 28, 3 Prozent versus 57, 3 Prozent in der Sozialhilfeempfänger-Stichprobe).

Schließlich impliziert der Zusammenhang zwischen Besitz und Einschätzungen auch umgekehrt, daß das Fehlen bestimmter Dinge die Einschätzung ihrer Notwendigkeit beeinflußt. Das Fehlen bestimmter Dinge kann unterschiedliche Ursachen haben: Sie können entweder aus strukturellen Gründen fehlen -weitgehend unbeeinflußbar durch die Individuen -, oder sie können mangels eigener Möglichkeiten auf Grund unzureichender individueller Ressourcen (in der Regel Einkommen) fehlen. Es ist wahrscheinlich, daß beide Ursachen unterschiedliche Wirkungen entfalten. So ist zu vermuten, daß mangelnde eigene Ressourcen eher zu einer Anpassung des Anspruchsniveaus führen, während strukturelle Ursachen, insbesondere wenn das Anspruchsniveau auf Grund von Vergleichen mit anderen Zeitperioden oder anderen Bevölkerungsgruppen hoch ist, eher den Eindruck verstärken, daß der Mangel behebbar sein sollte. Das Item erscheint dann, gerade weil es fehlt, als besonders notwendig.

Beide Effekte sind in unseren Daten beobachtbar. Die Sozialhilfeempfänger sind beispielsweise eine Bevölkerungsgruppe, die per Definition nur über minimale Einkommensressourcen verfügt. Wenn man die beiden Abbildungen 1 und 2 übereinander legen würde, würde man sofort erkennen, daß die Sozialhilfeempfänger die Notwendigkeit der einzelnen Items durchgängig geringer einschätzen. Während im Durchschnitt über alle 29 Items nur ca. 48 Prozent der Sozialhilfeempfänger die Aspekte für notwendig halten (exakt: 47, 4 Prozent im Osten, 48, 4 Prozent im Westen), sind es bei den Befragten der Hauptstichprobe immerhin im Durchschnitt ca. 51 Prozent (exakt: 51, 6 Prozentim Westen, 51, 1 Prozent im Osten). Bei den Sozialhilfeempfängern ist also eine Anpassung der Einschätzungen an ihre finanziellen Möglichkeiten festzustellen.

Struktureffekte lassen sich insbesondere bei den Ostdeutschen beobachten. Die Notwendigkeit der Arbeitsplatzsicherheit liegt auf der Hand und wird an den Verhältnissen vor der Wende bzw. in Westdeutschland gemessen. Dementsprechend sagen 72, 6 Prozent der ostdeutschen Befragten, ein sicherer Arbeitsplatz sei notwendig, während es bei den westdeutschen „nur“ 56, 3 Prozent sind. Daß man sich den einwöchigen Jahresurlaub nicht leisten oder auf die Qualität der Produkte nicht achten kann, obwohl man nun freier Bürger in einem Land der offenen Grenzen und der unbegrenzten Konsummöglichkeiten geworden ist, schlägt ebenfalls auf eine überdurchschnittliche Einschätzung der Notwendigkeit dieser Dinge durch (Urlaub: 46, 5 Prozent im Osten versus 33, 5 Prozent im Westen, Qualität: 38, 6 Prozent versus 22, 3 Prozent).

IV. Welche Dinge fehlen?

Subgruppe Hauptstichprobe insgesamt Westdeutschland Ostdeutschland Lebensstandard des Haushalts vor einem Jahr: schlechter heute: mind. zufriedenstellend nächstes Jahr: besser vor einem Jahr: besser heute: max. bescheiden nächstes Jahr: schlechter Äquivalenzeinkommen 1. (unterstes) Quintil 2. Quintil 3. Quintil 4. Quintil 5. (oberstes) Quintil Finanzierung einer größeren Anschaffung aus laufenden Einnahmen aus Sparguthaben mit geliehenem Geld (Bank) durch Ratenzahlungen mit geliehenem Geld (Familie, Freundeꋐޓ̸筕

1. Überblick Wie bereits erwähnt, gibt Tabelle 1 in Spalte c einen Überblick über die Dinge, die die von uns befragten Personen besitzen. Unter Armutsgesichtspunkten interessieren uns jedoch vor allem die Personen, denen das entsprechende Item fehlt (= 100 Prozent minus Spalte c). Da Dinge aus unterschiedlichen Gründen fehlen können, haben wir versucht, unterschiedliche Präferenzen durch eine Nachfrage zu kontrollieren. Die Befragten sollten (mit Ausnahme der Fragen nach den Arbeitsplatz-merkmalen) angeben, ob sie sich das jeweilige Item nicht leisten können oder ob sie es aus anderen Gründen nicht haben. Der Anteil derjenigen, die finanzielle Gründe nannten, ist in Spalte d aufgeführt (vgl. auch die Säulen in Abbildung 1 und 2), der Anteil derjenigen mit anderen Gründen ergibt sich aus der Differenz der Summe von Spalte c und d zu 100 Prozent.

Betrachtet man die Anteilswerte in Spalte d, dann handelt es sich im wesentlichen um die entbehrlichen Items, die aus finanziellen Gründen fehlen. Bei den notwendigen Items treten allenfalls bei den Fragen, die die Zahlungsfähigkeit betreffen (Items 18, 19), in bemerkenswertem Umfang Nennungen auf (vgl. aber auch die feuchten Wände und die Waschmaschine; Items 14, 5). Dabei ist zu beachten, daß die überaus hohen Anteilswerte bei den Arbeitsplatzmerkmalen 3, 44, 9 und 35, 5 Prozent) nur deshalb zustande kommen, weil hier nicht nach den Gründen differenziert wird und alle Personen gezählt werden, die das jeweilige Item nicht haben.

Das Bild verändert sich jedoch schlagartig, wenn man einkommensschwache Personen (im Sinne der obigen Definition) oder Sozialhilfeempfänger betrachtet (vgl. Tabelle 1, Spalten e-f). In diesen Gruppen steigt der Anteil fehlender Dinge aus finanziellen Gründen dramatisch an und betrifft auch nicht mehr ausschließlich entbehrliche Items, sondern tritt genauso bei den Dingen auf, die die Mehrheit der Befragten für notwendig erachtet. Durch einen Vergleich der Abbildungen 1 und 2 wird dieser Effekt auch sehr gut optisch verdeutlicht: Nicht nur, daß die Säulen in Abbildung 2 signifikant höher sind, sie treten auch in verstärktem Maße im linken Teil der Abbildung 2 auf 21.

2. Wurden unterschiedliche Präferenzen kontrolliert?

Bevor wir im nächsten Schritt einen Deprivationsindex aus der Anzahl der fehlenden Dinge konstruieren, wäre zunächst zu prüfen, ob es mit den von uns verwendeten Antwortmöglichkeiten überhaupt gelungen ist, erzwungenen Verzicht auf Grund geringen Einkommens von freiwilligem Verzicht auf Grund anderer Präferenzen zu unterscheiden. Wenn das der Fall ist, dann sollte das Ankreuzen der Alternative „kann ich mir nicht leisten“ signifikant mit dem Einkommen variieren, das Ankreuzen der Alternative „habe ich aus anderen Gründen nicht“ sollte dagegen vom Einkommen unabhängig sein. In der Tat ergibt sich bei fast allen Items, daß vor allem Personen mit einem niedrigen Äquivalenzeinkommen die Alternative „kann ich mir nicht leisten“ angekreuzt haben, während Personen mit hohen Äquivalenzeinkommen diese Alternative kaum genannt haben. Ein Maß für diesen statistischen Zusammenhang ist der Pearson’sche Korrelationskoeffizient, dessen Werte in Spalte g von Tabelle 1 ausgewiesen sind. Alle Werte sind negativ und kleiner als -0, 10 Die Nennung anderer Gründe korreliert dagegen nur schwach (— 0, 10 bis + 0, 10) und mit wechselndem Vorzeichen mit dem Einkommen (vgl. Tabelle 1, Spalte h).

Einige Ausnahmen sind bemerkenswert, aber erklärlich: Alle kleinen Korrelationen in Spalte g ergeben sich bei Items, die fast in allen Haushalten Vorkommen, daher kaum fehlen. Eine hohe negative Korrelation ergibt sich in Spalte h beim Berufsabschluß, was damit zusammenhängt, daß Personen ohne Berufsabschluß häufig ein niedriges Einkommen erzielen, der Berufsabschluß jedoch in der Regel aus anderen und nicht aus finanziellen Gründen fehlt. Größere positive Korrelationen ergeben sich in Spalte h bei den Items „Gesund leben“ (23) und „Warme Mahlzeit“ (1). Dies scheinen Besserverdienende zu sein, die sich auf Grund von Zeitmangel und Arbeitsstreß regelmäßige warme Mahlzeiten und einen gesunden Lebenswandel nicht leisten können und dementsprechend andere Gründe ankreuzen. Diese Ausnahmen stützen also eher unsere Annahme, daß sich mit den gewählten Antwortmöglichkeiten sinnvoll unterschiedliche Präferenzen kontrollieren lassen. Wir betrachten also alle die Items, die aus finanziellen Gründen fehlen, als Indikatoren relativer Deprivation.

V. Aspekte relativer Deprivation

Quelle: Umfrage „Alltag in Deutschland“ (gewichtete Ergebnisse). Tabelle 3: Deprivations- und einkommensbasierte Armutsquoten

1. Ein Index zur Messung relativer Deprivation In diesem Abschnitt geht es nun darum, das Ausmaß der Deprivation auf der Ebene des einzelnen Haushaltes zu quantifizieren. Im Sinne unserer Eingangsdefinition (Ausschluß von mehr oder minder großen Teilen eines allgemein akzeptierten Lebensstandards) konzentrieren wir uns dabei auf die Dinge, die von mindestens 50 Prozent der Befragten für unbedingt notwendig gehalten werden (vgl. Tabelle 1). Pro Befragten wird nun gezählt, wie viele dieser insgesamt 15 Items er oder sie nicht hat. Um den freiwilligen Verzicht auf bestimmte Dinge zu kontrollieren, werden dabei nur die Items berücksichtigt, die laut Auskunft der Person aus finanziellen Gründen fehlen.

Da diese Unterscheidung bei den Fragen nach den Arbeitsplatzmerkmalen nicht existiert, wurde bei den Items 27-29 (gesunder Arbeitsplatz, Alters­ Versorgung, sicherer Arbeitsplatz) lediglich geprüft, ob das jeweilige Merkmal vorhanden ist oder nicht, und im negativen Fall die Anzahl der fehlenden Dinge um eins erhöht. Dabei entsteht das praktische Problem, daß die Items 27-29 nur einem Teil der Befragten vorgelegt wurden und somit nur ein Teil der Befragten das Risiko hat, daß diese 3 Items fehlen. Wir haben daher den Summenindex in Prozentanteile umgerechnet und messen, wieviel Prozent der insgesamt 15 Items bei Erwerbstätigen und Arbeitssuchenden bzw.der 12 Items bei allen anderen Befragten aus finanziellen Gründen fehlen. Den sich daraus ergebenden Prozentwert bezeichnen wir als das Ausmaß der Deprivation.

Eine Auszählung dieses Deprivationsindex ergibt für die Hauptstichprobe, daß bei ca. 45 Prozent der Befragten mindestens ein notwendiges Item aus finanziellen Gründen fehlt. Bei 25 Prozent der Befragten ist das Ausmaß der Deprivation größer als 10 Prozent (d. h., mind. zwei von 12 bzw. 15 Items fehlen), bei 10 Prozent der Befragten beträgt das Ausmaß mehr als 20 Prozent (mind. 3 Items fehlen) und bei 3 Prozent der Befragten beträgt es mehr als 25 Prozent (4 und mehr Items fehlen). Erwartungsgemäß ist das Ausmaß der Deprivation bei den Sozialhilfeempfängern sehr viel höher: Bei 52 Prozent der befragten Sozialhilfeempfänger fehlt mindestens ein notwendiges Item, und das Ausmaß der Deprivation beträgt bei knapp einem Achtel mehr als 25 Prozent. Durch einen Vergleich mit verschiedenen anderen Lebenslage-Merkmalen wollen wir nun zeigen, daß dieser Deprivationsindex kein meßtechnisches Artefakt ist, sondern ein valider Indikator des finanziell bedingten Ausschlusses von Lebenschancen. Die entsprechenden Daten dazu finden sich in Tabelle 2. 2. Begleitumstände relativer Deprivation Läßt man die Befragten ihren eigenen Lebensstandard insgesamt bewerten -sowohl aktuell als auch im Vergleich zur Vergangenheit und im Ausblick auf die Zukunft -, dann spiegelt sich in diesen Bewertungen das Ausmaß der Deprivation, das wir mit unserem Index messen. Personen, denen es vor einem Jahr schlechter ging, die ihre Situation zum Befragungszeitpunkt als zufriedenstellend oder ausgezeichnet beurteilen oder die erwarten, daß es ihnen in einem Jahr besser geht, sind deutlich weniger depriviert: Der Anteil der Personen, bei denen das Deprivationsmaß 20 Prozent und mehr beträgt, bewegt sich in allen drei Fällen unter 10 Prozent. Betrachtet man dagegen die Personen, denen es im Vorjahr besser ging, die ihre aktuelle Situation als bescheiden, schlecht oder unzureichend beschreiben oder die erwarten, daß es ihnen in einem Jahr schlechter geht, dann fehlen zwischen 15 und 19 Prozent dieser Personen mehr als ein Fünftel der notwendigen Items.

Natürlich ist das Ausmaß der Deprivation nicht unabhängig von der Einkommens-und Vermögenssituation der Befragten. Wie aus Tabelle 2 zu erkennen ist, nimmt die Deprivation mit fallendem Einkommen deutlich zu. Im untersten Einkommensquintil steigt sie dann sprunghaft an. Bei fast zwei Dritteln aller Befragten dieser Gruppe fehlt mindestens ein Item aus finanziellen Gründen und bei mehr als einem Fünftel (genau 23 Prozent) beträgt das Ausmaß der Deprivation mehr als 20 Prozent, d. h., es fehlen drei und mehr notwendige Dinge im Haushalt. Die Vermögenssituation läßt sich gemeinhin noch sehr viel schwieriger erfassen als das aktuelle Einkommen. Wir haben daher ein indirektes Maß verwendet und die Untersuchungspersonen danach gefragt, wie sie erstens eine größere Anschaffung (z. B. einen Kühlschrank oder Fernseher) finanzieren würden und wie lange sie zweitens über die Runden kommen würden, wenn sie plötzlich alle Einnahmen verlieren würden und auch keinerlei Unterstützung mehr bekämen. Auch hier zeigt sich, daß Personen, die Anschaffungen durch Ratenzahlungen oder mit geliehenem Geld finanzieren bzw.deren finanzielle Rücklagen nur eine kurze Zeitspanne reichen würden, überdurchschnittlich häufig depriviert sind.

Diejenigen, die nach unseren Messungen in hohem Maße depriviert sind, geben auch häufig selber an, daß sie sich aus finanziellen Gründen einschränken müssen. Betrachtet man nur diejenigen, die die Frage nach den Einschränkungen positiv beantworten, dann stellt man fest, daß bei knapp der Hälfte mindestens eines der notwendigen Items fehlt. Bei denjenigen, die sich nicht einschränken müssen, sind es dagegen nur 38 Prozent. Die finanziell bedingten Einschränkungen haben wir auch noch einmal bereichsspezifisch abgefragt, um festzustellen, wo vor allem Einsparungen vorgenommen werden. An Hand der absoluten Häufigkeiten in Tabelle 2 (Spalte N) erkennt man, daß sich die betroffenen Personen am ehesten bei Urlaub und Freizeitbeschäftigung, bei der Bekleidung, Haushaltseinrichtung und beim Auto einschränken. Am wenigsten schränken sich die Befragten bei Rauchwaren, Getränken, Nahrungsmitteln und bei der Gesundheitsvorsorge ein. Wer das jedoch tut, dem fehlen in hohem Maße notwendige Dinge. Bei 19 Prozent der Befragten, die sich bei Rauchwaren und Getränken einschränken, beträgt das Ausmaß der Deprivation mehr als 20 Prozent, d. h., sie können sich aus finanziellen Gründen drei und mehr notwendige Dinge nicht leisten. Bei denjenigen, die sich bei Nahrungsmitteln einschränken, sind es 20 Prozent und bei den Personen, die sich bei der Gesundheitsvorsorge einschränken, sind es sogar 33 Prozent.

Schließlich haben wir uns gefragt, ob die Personen, die von mehr oder minder großen Teilen eines allgemein akzeptierten Lebensstandards ausgeschlossen sind, gleichzeitig auf Dinge verzichten, die wir oben als entbehrlich bezeichnet haben. Schaut man sich also einmal die Dinge an, die nicht von der Mehrheit der Befragten für notwendig gehalten werden (neue Kleidung, Qualität, neue Möbel und ähnliches mehr, vgl. Tabelle 2), und fragt nach den Personen, die sich diese Dinge nicht leisten können, dann finden sich darunter überdurchschnittlich viele Personen, die nach unseren Messungen ein hohes Ausmaß an Deprivation aufweisen. Betrachtet man in Tabelle 2 nur einmal die Personen, denen mindestens ein notwendiges Item fehlt (Ausmaß der Deprivation größer als 0 Prozent), dann stellt man fest, daß alle Anteilswerte größer als 50 Prozent sind: 52 Prozent bei „Neue Kleidung kaufen“, 55 Prozent bei „Auf die Qualität achten“ usw. Mit anderen Worten: In den Haushalten, in denen entbehrliche Dinge nicht vorhanden sind, fehlt auch gleichzeitig mit mehr als 50 Prozent Wahrscheinlichkeit mindestens ein notwendiges Gut. Die Wahrscheinlichkeit, daß sogar drei und mehr notwendige Dinge fehlen (Ausmaß der Deprivation größer als 20 Prozent), beträgt immer noch 20 bis 29 Prozent.

VI. Armut als Ergebnis relativer Deprivation

1. Definition einer Armutsgrenze Zum Abschluß wollen wir den Deprivationsindex benutzen, um daraus einen Armutsindikator zu entwickeln. Armut tritt nach unserer eingangs beschriebenen Definition erst dann ein, wenn das Ausmaß der Deprivation so groß ist, daß der Lebensstil der betreffenden Person erheblich beeinträchtigt ist. Technisch geht es also darum, einen Schwellenwert des Index zu finden, bei dem Deprivation in Armut umschlägt. Methodisch gesehen handelt es sich dabei um ein äußerst schwieriges Unterfangen, das in der Literatur überaus kontrovers diskutiert wird Ganz grob lassen sich zwei Ansätze unterscheiden, die sich beliebig ökonometrisch verfeinern lassen: 1. Ab welchem Einkommen nimmt das Ausmaß der Deprivation überproportional zu? 2. Ab welchem Ausmaß der Deprivation wird der Lebensstandard als unzureichend bezeichnet? Der erste Ansatz geht im Prinzip zurück auf die Arbeit von Townsend und führt im Endergebnis zur Definition einer Einkommensgrenze, ab der man von deprivationsbasierter Armut spricht. Für den zweiten Ansatz benötigt man dagegen ein von der Deprivationsmessung unabhängiges Kriterium, das über die Beeinträchtigung des Lebensstils Auskunft gibt. Das könnte z. B. die auch in Tabelle 2 verwendete Frage sein, in der die befragte Person den Lebensstandard des Haushaltes insgesamt bewerten sollte. Als Antwortmöglichkeiten waren vorgesehen: ausgezeichnet, zufriedenstellend, bescheiden, schlecht und unzureichend. Eine mögliche Trennlinie könnte zwischen den Kategorien „bescheiden“ und „schlecht“ liegen, denn im Fragebogen war ein „schlechter“ Lebensstandard mit der Aussage illustriert „Ich kann mir bzw. wir können uns viele notwendige Dinge nicht leisten“, während es bei „bescheiden“ hieß: „Der Lebensstandard ist zwar bescheiden, es reicht aber für das Notwendigste.“

Für die Zwecke dieses Überblicks haben wir beide Ansätze nicht weiter verfolgt sondern relativ pragmatisch das Vorgehen von Mack und Lansley übernommen, die das Fehlen von drei oder mehr notwendigen Dingen als Armutsindikator verwenden Für unseren (prozentualen) Deprivationsindex bedeutet das, daß das Ausmaß der Deprivation mindestens 20 Prozent (3 von 15 Items) betragen muß. Schaut man zurück auf die Zahlen in Tabelle 2, dann scheint dieser Grenzwert nicht ganz unplausibel, denn mit sinkendem Einkommen sind gerade ab diesem Wert die größten Zuwächse deprivierter Personen zu verzeichnen: Im zweiten Einkommensquintil sind es gerade einmal 9 Prozent der Befragten, denen mindestens 20 Prozent der notwendigen Items fehlen, im untersten Quintil sind es bereits 23 Prozent! 2. Welche sozio-demographischen Gruppen sind von Armut betroffen?

Tabelle 3 zeigt zum Schluß die Armutsquoten verschiedener sozio-demographischer Gruppen, wobei das zuvor beschriebene deprivationsbasierte Armutskonzept mit einkommensbasierten Armutsmaßen verglichen wird. Wie eingangs erwähnt, werden dabei die Personen als arm bezeichnet, deren Äquivalenzeinkommen weit unter dem Durchschnitt liegt. Wo genau diese Grenze liegt, läßt sich nach wissenschaftlichen Kriterien nicht bestimmen -sie wird in der Regel normativ festgelegt. Nach der Definition der Europäischen Gemeinschaft liegt diese Grenze bei weniger als 50 Prozent des durchschnittlichen Äquivalenzeinkommens einer Bevölkerung Man kann die Auswirkungen dieser Festlegung dadurch abschätzen, daß man die Armutsgrenze, d. h.den gewählten Prozentsatz des Durchschnittseinkommens, variiert.

Nach den Ergebnissen in Tabelle 3 sind elf Prozent der Befragten in Westdeutschland und acht Prozent der Befragten in Ostdeutschland als arm zu bezeichnen, weil das Ausmaß der Deprivation bei ihnen mindestens 20 Prozent beträgt. Ähnlich hoch ist das Ausmaß der Einkommensarmut, wenn man die EU-Grenze (50 Prozent) zugrunde legt. Wesentlich höhere Betroffenheitsquoten ergeben sich dagegen bei der eher „großzügigen“ Einkommensgrenze von 60 Prozent des durchschnittlichen Äquivalenzeinkommens. Diese von uns als einkommensschwach bezeichneten Personen sind also nur zu einem Teil als depriviert zu betrachten.

Wesentlich höher ist dagegen das Ausmaß der Deprivation bei den Sozialhilfeempfängern, und dementsprechend höher ist die Betroffenheit von Armut: 19 Prozent der Sozialhilfeempfänger im Westen und 22 Prozent im Osten müssen nach unserem Konzept als arm bezeichnet werden. Auch wenn das Ausmaß der Deprivation im Vergleich zur Hauptstichprobe wesentlich höher ist, darf jedoch nicht übersehen werden, daß die Betroffenheit -absolut betrachtet -nicht sehr groß ist: Ca. 80 Prozent der Sozialhilfeempfänger sind nach diesem Konzept nicht arm! Auffallend ist auch, daß das Ausmaß der Einkommensarmut bei Zugrundelegung der EU-Grenze wesentlich höher ist, nämlich 56 Prozent in Westdeutschland und 64 Prozent in Ostdeutschland.

Auch wenn für die Hauptstichprobe die globalen Armutsquoten auf der Basis des Deprivationsindex einerseits und der 50-Prozent-Einkommens-grenze andererseits relativ ähnlich sind, bedeutet das nicht, daß die erfaßten Personengruppen vollständig identisch sind. Einige Unterschiede sind auffällig wenn man die Ergebnisse nach verschiedenen sozio-demographischen Merkmalen differenziert (vgl. Tabelle 3). Im Westen ist z. B. die vergleichsweise hohe Deprivation jüngerer Personen bemerkenswert: So sind 20 Prozent der unter 30jährigen, 22 Prozent der jüngeren Paare ohne Kinder und 23 Prozent der Paare mit Kindern im Vorschulalter nach unseren Messungen arm. Auf Grund der 50-Prozent-Grenze wären jedoch nur fünf Prozent der unter 30jährigen, keines der jüngeren Paare ohne Kinder und nur zehn Prozent der Paare mit Kindern im Vorschulalter als einkommensarm zu bezeichnen. Umgekehrt ist bekannt, daß (bestimmte) Ein-Personen-Haushalte und Alleinerziehende in hohem Maße von Einkommensarmut betroffen sind. Dies zeigt sich auch in unseren Daten: 16 Prozent der Ein-Personen-Haushalte im Westen und 23 Prozent der Ein-Personen-Haushalte im Osten sind bei Zugrundelegung der 50-Prozent-Grenze einkommensarm. Die Fallzahlen für die Alleinerziehenden sind nicht so hoch, um sichere Aussagen treffen zu können, aber auch hier deutet sich hohe Betroffenheit von Einkommensarmut an -insbesondere in Ostdeutschland. Das Ausmaß der Deprivation ist dagegen in diesen Gruppen eher gering: Nur drei bis acht Prozent der Ein-Personen-Haushalte und nur fünf Prozent der ostdeutschen Alleinerziehenden müssen danach als arm bezeichnet werden.

Die beobachteten Unterschiede zwischen den Subgruppen der Hauptstichprobe oder bei den Sozialhilfeempfängem insgesamt machen noch einmal deutlich, daß es sich bei den beiden Armutsmaßen -Einkommensarmut einerseits und deprivationsbasierte Armut andererseits -um unterschiedliche Meßkonzepte mit dementsprechend differierenden Ergebnissen handelt. Das gemessene Ausmaß der Deprivation hängt wesentlich davon ab, nach welchen Lebensstandard-Indikatoren gefragt wird. Die von uns verwendeten Items beziehen sich im wesentlichen auf die Versorgung des Haushaltes mit langlebigen Gebrauchsgütem und auf minimale Wohnungsstandards. Diese Dinge sind jedoch lebenszyklisch ungleich verteilt Jüngere Personen verfügen noch nicht über diese Gegenstände (z. B. weil sie ihre Einkommen für Investitionen in die Zukunft sparen), ältere Personen, die sich etwa hinter unseren Ein-Personen-Haushalten verbergen, oder Alleinerziehende, die vorher einem Paar-Haushalt angehörten, haben dagegen diese Gegenstände über einen längeren Zeitpunkt akkumulieren können.

Verstärkt wird diese Tendenz durch die Tatsache, daß nach Meinung unserer Befragten zu den 15 notwendigen Items insgesamt sechs Items gehören, die sich auf den Wohnungsstandard beziehen (vgl. Tabelle 1). Dies mag auch erklären, warum das Ausmaß der Deprivation bei den Sozialhilfeempfängern zwar relativ hoch, aber nicht so hoch ist, wie man auf Grund ihrer geringen Einkommen vermuten könnte. Bei den Sozialhilfeempfängern werden die Kosten der Wohnung nämlich vom Sozialamt bis zu bestimmten Höchstsätzen über-nommen und die Anschaffung langlebiger Gebrauchsgüter kann über Einmalzahlungen finanziert werden. Die Risiken mangelhafter Wohnungsstandards und fehlender Gebrauchsgüter sind daher (noch) vergleichsweise gut abgesichert.

VII. Zusammenfassung

In diesem Beitrag wurde die Verteilung lebensnotwendiger Dinge in einer Stichprobe von Bundesbürgern aus Ost-und Westdeutschland untersucht. Was dabei als lebensnotwendige bzw. entbehrliche Aspekte des Lebensstandards betrachtet werden sollte, wurde auf Grund der Meinungsäußerungen der Befragten festgelegt. Betrachtet man ausschließlich die Dinge, die mehrheitlich als notwendig erachtet werden und die sich die befragten Personen aus finanziellen Gründen nicht leisten können, dann ist das Ausmaß der Deprivation in Ost-und Westdeutschland global gesehen eher gering, in einigen Subgruppen jedoch erheblich. Insbesondere Sozialhilfeempfänger können sich viele Dinge, die nach Mehrheitsmeinung notwendig sind, nicht leisten. In bezug auf die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost-und Westdeutschland ist bemerkenswert, daß die Ost-West-Unterschiede verglichen mit den Disparitäten innerhalb der beiden Teilregionen eher gering sind.

Schließlich konnte gezeigt werden, daß sich aus dem Fehlen notwendiger Aspekte des Lebensstandards ein sinnvolles Armutsmaß konstruieren läßt, das zu ähnlichen, aber nicht identischen Schlußfolgerungen wie einkommensbasierte Meßkonzepte führt. In weiteren Untersuchungen wären jedoch mindestens drei Problemkreise zu vertiefen: Ist es angesichts der festgestellten Präferenzunterschiede und der Tatsache, daß wir in einer hochdifferenzierten, pluralen Gesellschaft leben, sinnvoll, von einheitlichen Vorstellungen über den notwendigen Lebensstandard auszugehen? Sollten nicht neben notwendigen Gütern auch die sogenannten entbehrlichen Dinge berücksichtigt werden, weil der Besitz dieser Dinge ein Indikator dafür sein könnte, daß das Ausmaß der Deprivation vielleicht doch nicht so hoch ist Wie kann man die Bestimmung des Schwellenwertes, ab dem Deprivation in Armut umschlägt, empirisch besser begründen?

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die in diesem Beitrag berichteten Forschungen wurden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert (Aktenzeichen An 210/1-2). Die Autoren bedanken sich bei Prof. Ruud Muffels und Kurt Salentin für wertvolle Hinweise zu den Vorarbeiten und einer ersten Fassung dieser Arbeit. U. a. in dieser Zeitschrift: Peter Krause, Einkommens-armut in der Bundesrepublik Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 49/92, S. 3-17.

  2. Vgl. Raiter Hanesch u. a., Armut in Deutschland. Der Armutsbericht des DGB und des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Reinbek 1994, S. 137 ff.

  3. Vgl. ebd., S. 139f.

  4. Beispielhaft angewendet in W. Hanesch (Anm. 2), aber auch schon in früheren Arbeiten der Arbeitsgruppe Sozial-berichterstattung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozial-forschung (zuletzt in dieser Zeitschrift: Detlef Landua/Roland Habich, Problemgruppen der Sozialpolitik im vereinten Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 3/94, S. 3-14).

  5. W. Hanesch (Anm. 2), S. 25.

  6. Erstens sind die betrachteten Lebenslage-Indikatoren weder theoretisch noch empirisch abgeleitet, sondern häufig eine Funktion der verfügbaren Variablen in den verwendeten Datensätzen. Zweitens kann die Tatsache, daß eine Person ein bestimmtes Versorgungskriterium nicht erfüllt (z. B. über keinen Berufsabschluß verfügt), ihre freiwillige Entscheidung sein, also ein Ergebnis ihrer Präferenzen. Ebenso kann die „Unterversorgung“ drittens ein Ergebnis struktureller Faktoren sein, auf die die Person keinen Einfluß hat (z. B. die schlechtere Wohnraumversorgung in Ostdeutschland).

  7. Ein solches Verfahren ist unseres Wissens in der Bundesrepublik bisher noch nicht angewendet worden, das Prinzip ist jedoch für demokratische Gemeinwesen nicht unüblich (man denke etwa an Volksbegehren und -abstimmungen).

  8. Vgl. Joana Mack/Stewart Lansley, Poor Britain, London 1985; Ruud J. A. Muffels, Welfare economic effects of social security. Essays on poverty, social security and labour market: evidence from panel data, Tilburg 1993.

  9. Peter Townsend, Poverty in the United Kingdom, Harmandsworth 1979, S. 249. „Disproportional“ meint in diesem Zusammenhang einen Ausschluß von der gesellschaftlichen Teilhßbe, der größer ist, als auf Grund des geringeren Einkommens der Person erwartet werden kann.

  10. Vgl. W. G. Runciman, The relative deprivation and social justice. A study of attitudes to social inequality in twentieth Century England, Berkeley and Los Angeles 1966, S. 10.

  11. Vgl. z. B. Aldi J. M. Hagenaars, The perception of poverty: contributions to economic analyses, Amsterdam 1986. Diese Ansätze stehen jedoch vor der Schwierigkeit, daß sich die befragten Personen entweder in die Lage anderer Haushalte oder aber in ihre eigene (imaginierte) „Armutslage“ hineinversetzen und diese dann monetär bewerten müssen. Dieses ist wahrscheinlich mit mehr Meßfehlern behaftet als das von uns verwendete Verfahren, bei dem die Befragten den notwendigen Lebensstandard der Bundesbürger und ihren eigenen realen Lebensstandard einschätzen müssen.

  12. Vgl. Hans-Jürgen Andreß/Gero Lipsmeier/Kurt Salentin, Bevölkerungsumfragen im unteren Einkommensbereich: Erfahrungen mit Direktmarketing-Adressen. Arbeitspapier Nr. 19 des DFG-Projektes „Versorgungsstrategien im unteren Einkommensbereich“, Bielefeld 1995 (DFG = Deutsche Forschungsgemeinschaft).

  13. In den Tabellen wird darüber hinaus durch eine geeignete Gewichtung die disproportionale Schichtung der Haupt-stichprobe und die unterschiedlichen Ziehungswahrscheinlichkeiten von Personen aus unterschiedlich großen Haushalten ausgeglichen. Zu den technischen Einzelheiten vgl. ebd.

  14. J. Mack/S. Lansley (Anm. 8).

  15. Wir danken Prof. R. Muffels für die freundliche Überlassung des Fragebogens der 10. Welle (1988).

  16. Da es sich dabei häufig um Aktivitäten und nicht um Gegenstände handelt, ist die Bezeichnung als „Dinge“ sachlich nicht immer zutreffend, jedoch umgangssprachlich durchaus üblich. Der Einfachheit halber werden wir im folgenden die umgangssprachliche Formulierung übernehmen und von Dingen bzw. von Items sprechen. Die hier verwendeten Items lassen sich als eine Auswahl von Indikatoren auffassen, die -wenn auch mit Meßfehlern -Aufschluß über den nicht direkt und umfassend beobachtbaren Lebensstandard des Haushaltes geben. Konkret handelt es sich bei den hier verwendeten Items um eine Auswahl aus insgesamt 48 Dingen und Aktivitäten des alltäglichen Lebens, die sich im Rahmen eines Pretestes mit 124 Befragten als besonders aussagekräftig für die Armutsproblematik erwiesen. Dazu wurden die Items unter den getesteten 48 ausgewählt, deren statistischer Zusammenhang (Korrelation) mit verschiedenen Deprivationsindizes am höchsten war (vgl. Hans-Jürgen Andreß, Pretest einer Skala zur Messung subjektiver Deprivation, Arbeitspapier Nr. 14 des DFG-Projektes „Versorgungsstrategien privater Haushalte im unteren Einkommensbereich“, Bielefeld 1994). Einer der dabei getesteten Deprivationsindizes wird in Abschnitt V. 1 erläutert.

  17. In unserer Umfrage wurde danach gefragt, welche Dinge die Befragten neben den genannten Items noch für notwendig halten. Eine Auswertung dieser offenen Antworten ist in Vorbereitung.

  18. Konsequenterweise müßte man dann aber fragen, warum immaterielle bzw. konsumfeme Dinge weitgehend auf den Arbeitsplatz beschränkt werden und beispielsweise soziale „Grundrechte“ außen vor bleiben. Im Pretest hatten wir einige dieser Dinge erfragt (z. B. „Mitgliedschaft in einer sozialen, politischen oder kulturellen Vereinigung“, „Den Anspruch auf Leistungen des Staates nach Möglichkeit wahrnehmen“, „So leben können, wie man es möchte“ und ähnliches mehr), jedoch waren die Erhebungsprobleme nicht unerheblich. Auch erwiesen sich diese Items nicht besonders aussagekräftig im oben definierten Sinn (vgl. Anm. 16). Bei der Erfassung dieser immateriellen Aspekte eines notwendigen Lebensstandards sind also noch weitere Forschungen notwendig.

  19. Das gleiche gilt im übrigen für die Fragen zu den Kindern, die nur Personen mit Kindern vorgelegt wurden.

  20. Vgl. P. Krause (Anm. 1), S. 6f.

  21. Man betrachte auch die Linien, die in Abbildung 2 den Anteil der Sozialhilfeempfänger in Ost und West kennzeichnen, die das jeweilige Item besitzen. Diese Linien sind im Vergleich zu Abbildung 1 sehr viel niedriger und überlagern zum Teil die Linien mit den Einschätzungen über den notwendigen Lebensstandard.

  22. Die möglichen Werte für einen Korrelationskoeffizienten bewegen sich in dem Intervall von -1 bis + 1. Werte größer als 0, 1 und kleiner als - 0, 1 werden üblicherweise als bedeutsam betrachtet. Ein negativer Koeffizient deutet auf eine negative Beziehung zwischen den beiden Merkmalen x und y hin: je höher x ist, desto niedriger ist y.

  23. Ein valider Indikator mißt das, was gemessen werden soll.

  24. Vgl. J. Mack/S. Lansley (Anm. 8); R. Muffels (Anm. 8); Meghnad Desai/Anup Shah, An econometric approach to the measurement of poverty, in: Oxford Economic Papers, 40 (1988), S. 505-522.

  25. Vgl. P. Townsend (Anm. 9).

  26. Vgl. jedoch Gero Lipsmeier, Zur Messung von Armut: Das Konzept der subjektiven Deprivation. Eine empirische Betrachtung mit Umfragedaten, Bielefeld 1995 (unveröffentlichte Diplomarbeit).

  27. Vgl. J. Mack/S. Lansley (Anm. 8), S. 176.

  28. Vgl. P. Krause (Anm. 1), S. 5. Der Einfachheit halber wird hier das durchschnittliche Äquivalenzeinkommen der Stichprobe (1755 DM) zugrunde gelegt.

  29. Geringfügige Differenzen sollten wegen des Stichprobenfehlers nicht überinterpretiert werden.

  30. Vgl. Aldi Hagenaars/Klaas de Vos, The definition and measurement of poverty, in: The Journal of Human Resources, 23 (1988) 2, S. 211-221.

  31. Dies würde im übrigen die Dominanz der Wohnungsitems in unserem Deprivationsindex vermindern, denn sechs der 15 notwendigen Items beziehen sich auf die Wohnungsausstattung und ihre Finanzierbarkeit.

Weitere Inhalte

Hans-Jürgen Andreß, Dr. phil., geb. 1952; Professor für Methoden und Computeranwendungen in den Sozialwissenschaften an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Veröffentlichungen u. a.: Armut im vereinten Deutschland, in: Soziologische Revue, 18 (1995) 2; (Hrsg.) Fünf Jahre danach -Zur Entwicklung von Arbeitsmarkt und Sozialstruktur in Ostdeutschland, Berlin 1995 (i. E.); (zus. mit J. A. Hagenaars/S. Kühnei) Multivariate Analyse kategorialer Daten. Modelle und Anwendungen, Frankfurt a. M. 1995 (iE.). Gero Lipsmeier, Diplom-Sozialarbeiter, geb. 1965; Studium der Sozialarbeit und der Soziologie in Bielefeld.