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„Stadt“ als Ort und als Ursache von Armut und sozialer Ausgrenzung | APuZ 31-32/1995 | bpb.de

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APuZ 31-32/1995 Das empirische Bild der Armut in der Bundesrepublik Deutschland -ein Überblick Sozialpolitik und arbeitsmarktbedingte Armut. Strukturmängel und Reformbedarf in der sozialen Sicherung bei Arbeitslosigkeit Armut verstehen Betrachtungen vor dem Hintergrund der Bremer Langzeitstudie Was gehört zum notwendigen Lebensstandard und wer kann ihn sich leisten? Ein neues Konzept zur Armutsmessung „Stadt“ als Ort und als Ursache von Armut und sozialer Ausgrenzung

„Stadt“ als Ort und als Ursache von Armut und sozialer Ausgrenzung

Jens S. Dangschat

/ 25 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die bundesdeutsche Armutsforschung hat (mindestens) zwei „blinde Flecken“: Erstens wird kaum einmal die Stadt als Ort zunehmender Verarmung thematisiert, und zweitens bleibt die „Ursachen“ forschung den Anlässen verhaftet. Beides steht in engem Zusammenhang, denn die Ursachen der Ausweitung von Verarmung liegen einerseits in den Logiken des krisenhaften Wirtschaftssystems, andererseits in der Regulation der neuen Herausforderungen, insbesondere auf der Ebene des „lokalen Staates“. Städte verstärken durch ihre von Konkurrenz geprägten unternehmerischen Optimierungsstrategien die Armutsprozesse und sorgen insbesondere durch eine für standortpolitische Zwecke instrumentalisierte Stadtplanung und Stadtentwicklungspolitik für die räumliche Konzentration von Armut in benachteiligenden Wohn-und Lebensbedingungen. Auf diese Weise wird zudem die soziale Ausgrenzung gefördert. Am Beispiel Hamburg -der wohl am stärksten polarisierten Großstadt in Deutschland -werden Stadtentwicklung und die statistische Entwicklung von Armut analysiert.

I. Armut durch Wohlstand

Quelle: Statistisches Landesamt der Freien und Hansestadt Hamburg, Lohn-und Einkommensteuerstatistik. Tabelle 1: Niedrige, hohe und Durchschnittseinkommen, Hamburg 1980-1989

Dieser Aufsatz hat eine zweifache Zielsetzung: Zum einen soll deutlich gemacht werden, daß die Städte zunehmend die Orte sind, an denen Armut und soziale Ausgrenzung sichtbar werden. Es scheint nun auch für deutsche Großstädte zu gelten, daß mit einer erfolgreichen Umstrukturierung der regionalen Ökonomie -quasi als Kehrseite der Medaille -auch die Armut zunimmt („Armut im Wohlstand“). Dies soll am Beispiel Hamburgs gezeigt werden, einer Stadt, die zu Beginn der neunziger Jahre als „Boomtown“ gefeiert wurde, was auch ihrem Erster Bürgermeister, Henning Voscherau, gut gefiel. Aber schon 1994 kam derselbe Bürgermeister zu einem ganz anderen Urteil über seine Stadt: „Großstadt als sozialer Brennpunkt.“ „Boomtown“ und „sozialer Brennpunkt“ liegen nicht nur zeitlich eng beisammen, sondern sie bilden auch räumlich segregierte Lebenswelten in einer Stadt unter den gegenwärtigen Modernisierungsbedingungen. Daß Reichtumsentwicklung auch kausal mit zunehmender Armut zusammenhängt, soll zum anderen gezeigt werden. Armut und soziale Ausgrenzung sind demnach Folgen kräftiger Wohlstands-und Reichtumsentwicklung („Armut durch Wohlstand“).

Ich werde im folgenden zuerst ganz knapp den Argumentationsgang städtischer Umstrukturierung darstellen, der dem Stand der internationalen Regionalökonomie, Stadt-und Regionalsoziologie und Ungleichheitsforschung entspricht. Er ist nur in den ersten beiden genannten Disziplinen auch national aufgenommen worden -in der Ungleichheitsforschung oder gar der Armutsdiskussion fehlt er meist vollständig. Es geht mir daher um zweierlei: erstens um eine stärkere Politisierung der Diskussion über Ursachen der zunehmenden Armut und zweitens um den Hinweis, daß die Armutsentwicklung zunehmend ein (großstädtischer Phänomen ist. Beginnen will ich jedoch mit dem Dilemma der Armutsforschung auf der Suche nach den Ursachen von Armut.

II. Das doppelte Dilemma der bundesdeutschen Armutsforschung

Quelle: Lohn-und Einkommenssteuerstatistik, Freie und Hansestadt Hamburg. Abbildung 1: Entwicklung der durchschnittlichen versteuerten Einkommen in den fünf reichsten und fünf ärmsten Stadtteilen in Hamburg (Durchschnitt = 0) 1980,1983, 1986, 1989

Die bundesdeutsche Armutsforschung beschäftigt sich in der Hauptsache mit zwei Sachverhalten

Erstens mit der Analyse des Umfangs und der Dynamik, der sozialen Zusammensetzung, der Risikofaktoren und der Biographien von Sozialhilfeempfängem oder von Menschen mit geringem Einkommen: Diese empirischen Studien bleiben theoretisch hinter dem in der Regel akzeptierten Lebenslagen-Ansatz zurück. Zudem ist der Bezug von Sozialhilfe ein schlechter Armuts-Indikator, erstens weil sich dahinter eine schwankende Dunkelziffer verbirgt, zweitens weil ein wachsender Teil der Bevölkerung den Bezug von Sozialhilfe als eine vorübergehende Notsituation ansieht und in der Lage ist, diese zeitweise in die Gestaltung der Biographie einzubauen. Drittens ist es politisch umstritten, ob der Bezug von Sozialhilfe gerade nicht mehr („bekämpfte Armut“) oder schon Armut anzeigt, wie es beispielsweise die Hamburger Sozialbehörde in ihrem ersten Armutsbericht ganz offiziell vertritt Viertens werden „Sozialhilfebezug“ und „Armut“ oftmals unkritisch einander gleichgesetzt. Die Bremer Ergebnisse zur Analyse von Sozialhilfedauer („Dynamische Armutsforschung“, sic!) stehen daher immer unter der Gefahr, unter fahrlässiger Gleichsetzung als Armutsentwicklung interpretiert zu werden

Zweitens mit Lebensweltanalysen armer Menschen: Zumeist basierend auf qualitativen Interviews werden „Lebenslagen der Armut“ analysiert. Hierbei kommt man der Forderung nach einer komplexeren Betrachtung des Armutsphänomens zumindest auf der Erscheinungsebene nach, kann aber kaum verallgemeinerbare Aussagen und keine quantitativen Schätzungen geben.

Weder bei der Individual-noch bei der aggregierten Betrachtung gerät jedoch „Stadt“ in angemessenem Umfang in das Blickfeld der Analysen; in Studien auf nationaler Ebene „verschwindet“ die stadtspezifische Armut gänzlich, in anderen Studien sind Städte lediglich der Ort der Phänomene, wobei die Bedeutung des Ortes, dessen Institutionen, Akteure und Interaktionen nicht thematisiert werden. Sie sind nur indirekt -durch eine Aggregation der Statistik über Sozialhilfeempfänger oder Arbeitslose -repräsentiert. Da jeder Ort in seinen Strukturen und seinem Regelsystem gesellschaftlich bestimmt ist, ist auch die dort vorfindbare Armut und soziale Ausgrenzung spezifisch gesellschaftlich determiniert.

Ein weiteres, eng damit zusammenhängendes Dilemma ist die Analyse der Ursachen von Armut. In der Regel werden als „Ursachen“ die Kategorien genannt, welche in der Sozialhilfestatistik angeführt werden: Das sind vor allem Arbeitslosigkeit (ca. ein Drittel), dann -deutlich seltener -Ausfall des Ernährers, unzureichende Versicherungs-oder Versorgungsansprüche und -wieder mit einigem Abstand -Krankheit und unzureichende Erwerbs-einkommen. Die unbestimmte Kategorie „Sonstiges“ nimmt dabei von der Menge her entweder den ersten oder den zweiten Rang ein

Diese hier genannten „Ursachen“ sind jedoch allenfalls Anlässe dafür, Sozialhilfeempfänger zu werden. Daß es sinnvoll ist, sie in ihrer Bedeutung im historischen Verlauf respektive im Verlauf einer „Armutskarriere“ zu untersuchen, ist unbestritten, doch sollte sich die Ursachenforschung hierin nicht erschöpfen.

Die Frage ist also, warum der Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssysteme seit dem Ende der siebziger Jahre zunehmend versagen und warum dies seit etwa zehn Jahren offensichtlich geworden ist -trotz oder wegen unterschiedlicher konjunktureller Verläufe in der jüngsten Vergangenheit. Es sind also die determinierenden Kräfte des Arbeitsmarktes und die gesellschaftliche und politische Regulation -nicht nur der Wohlfahrtsstaat -zu analysieren. Insbesondere ist der Frage nachzugehen, warum das Erfolgsmodell „Soziale Marktwirtschaft“ nicht mehr richtig funktioniert. Beides soll für die städtische Ebene näher erläutert werden.

Ein letzter Punkt betrifft das Auseinanderklaffen von theoretischen Ansprüchen und empirischer Praxis. Das Lebenslagenkonzept „Armut“ ist überstrapaziert worden und birgt selbst bei besserer empirischer Abbildung eine Fülle methodologischer Probleme (beispielsweise der Indexbildung, was Ausnahmen über die Substitution einzelner Armuts-Dimensionen umfaßt). International ist es bereits üblich, zwischen „Armut“ (als ökonomischem und wohlfahrtsstaatlichem Kern) und „sozialer Ausgrenzung“ zu unterscheiden Das hat den Vorteil, die beiden Komplexe analytisch besser trennen und ihre wechselseitige Einflußnahme empirisch analysieren zu können. Damit soll jedoch nicht der Versuch unternommen werden, das komplexe Problem der Armut zu zersplittern, zu reduzieren oder zu verharmlosen. Es soll vielmehr deutlich werden, daß mehr notwendig ist, als Qualifizierungsstrategien und staatliche Transfers zu initiieren; es bedarf einer völlig neuen gesellschaftlichen und politischen Übereinkunft, will man diese Problemlagen nicht nur eindämmen, sondern auch abbauen.

III. Ursachen (städtischer) Armut

Abbildung 2: Relatives durchschnittliches versteuertes Einkommen, nach Hamburger Stadtteilen, 1980 Quelle: Eigene Darstellung.

In dem angesprochenen internationalen Diskurs werden die Ursachen städtischer Armut und sozialer Ausgrenzung in der Um-und Neuorganisation der weltweiten Wirtschaftsbeziehungen gesehen sowie in der politischen und gesellschaftlichen Reaktion auf diese neuen Herausforderungen. In diesem Zusammenhang wird die Zunahme von Armut als Bestandteil einer deutlicher hervortretenden sozio-ökonomischen Polarisierung aufgefaßt sowie als Zunahme sozialer Ausgrenzung als Folge von Entsolidarisierungen und sozialräumlichen Sortierungen (Segregation).

Die internationale Arbeitsteilung hat in altindustrialisierten Ländern wie der Bundesrepublik Deutschland zu einem Abbau der Arbeitsplätze in traditionellen Fertigungen (Textil, Kohle, Stahl, Schiffbau, teilweise Automobilbau und Chemie) zugunsten der sogenannten Schwellenländer geführt, die günstigere Produktionsbedingungen bieten: hohe Arbeitslosigkeit und qualifizierte respektive qualifizierbare Arbeitnehmer, geringerer Arbeitnehmerschutz, kaum tarifliche Regelungen (Lohnhöhe und Arbeitszeit), geringere Umweltschutz-Auflagen, Steuervorteile sowie autoritärere Regimes.

Gleichzeitig steigt der Bedarf an Arbeitsplätzen in der Produktion moderner Güter und in bestimmten Dienstleistungssektoren. Dieses wird vereinfacht als „Tertiärisierung“ oder als „Übergang von einer Arbeiter-in eine Dienstleistungsgesellschaft“ gedeutet. Das ist insofern irreführend, als die Orte des ökonomischen Niedergangs und des wirtschaftlichen Aufstieges weder im regionalen noch im nationalen Maßstab die gleichen sind und daß die beruflichen Qualifikationen der einen sozialen Gruppe entwertet werden, während für die neuen Arbeitsplätze teilweise gänzlich andere Qualifikationen notwendig sind.

Das bedeutet, daß bereits die erste Phase der Umstrukturierung von Wachstum und Niedergang durch gleichzeitige Armut und Prosperität gekennzeichnet war und im Rahmen des Süd-Nord-Gefälles in der Bundesrepublik die „, neue‘ alte“ Armut erzeugte. Armut und Reichtum entwickelten sich nun nicht mehr zwischen „Stadt“ und „Land“ auseinander, sondern zwischen Regionen.

Diese Ausgangsposition ist eine neue Herausforderung für (Stadt-) Regionen. Daraus resultierte eine neuartige Konkurrenz unter den Regionen um die weltweit nach Anlagemöglichkeiten suchenden Kapitalströme. Immer wichtiger wurden dabei die regionalen Produktions-und Reproduktionsbedingungen. Für die Städte ergab sich in dieser weit-, zumindest europaweiten Konkurrenz die Hoffnung, diese Investitionen in die eigenen Mauern zu lenken.

Das „neue Geld“ ist weniger standortgebunden und hat u. U. überhaupt keine Bindungen an die Region und/oder den Nationalstaat. Die Investitionen richten sich in der Produktion zunehmend auf innovative Produkte respektive deren vor-(Forschung und Entwicklung) und nachgelagerte Funktionen (Marketing). Gleichzeitig hat die zu­ nehmend globalisierte Wirtschaft einen stark wachsenden Bedarf an Steuerungs-, Entscheidungs-, Finanzierungs-, Vermarktungs-und Kontrollfunktionen. Diese sogenannten „untemehmensbezogenen Dienstleistungen“ wurden fortan zum Wachstumsmotor " der Volks-, insbesondere der Stadtwirtschaften („global city“ -Thesen). 1. Umbau der Stadtgesellschaften Gerade in Großstädten entstehen neue Berufsbilder und Rekrutierungswege, neue berufliche Milieus und Wertvorstellungen. Es sind vor allem Berufe, die ein Mehr an Flexibilität, Mobilität, Kreativität, Entscheidungs-und Teamfähigkeit verlangen. Da sie zudem eine bessere Ausbildung voraussetzen, ist mit ihnen eine stärkere Karriereorientierung verbunden. Dieses setzt „neue Menschen“ voraus -zumindest neue Wertestrukturen, die die Stärken, Präferenzen und Prägungen des Berufslebens im Privatleben nicht ablegen.

Sehr häufig sind bei ihnen beide Bereiche ohnehin miteinander verschränkt (business lunch, dining out). Das bedeutet: Die „neue Dienstleistungsklasse“ setzt karriereorientierte, gut gebildete Menschen voraus, die sowohl im Beruf als auch in ihrer Freizeit unter hohem Effizienzdruck stehen.

Das führt zu Haltungen, die mit demonstrativem '* *Konsum, Hedonismus, Individualismus, Flexibilität und Entsolidarisierung beschrieben werden.

Der „neue“ Arbeitsmarkt erzeugt jedoch nicht nur die angesprochenen hochqualifizierten Arbeitsplätze, sondern in noch stärkerem Maße auch Arbeitsplätze am unteren Rand der beruflichen Hierarchie. Die haushaltsbezogenen Dienstleistungen nehmen in dem Maße zu, in dem die Zahl der karriereorientierten Menschen wächst. Sie organisieren die Reproduktion eben nicht nach dem Ehe-und Familienmodell (sprich: die Frau macht die Arbeit), sondern sie kaufen sich den größten Teil als Dienstleistungen (Saubermachen, Waschen und Reinigen, Kochen, Kinder erziehen). Aber auch die wachsende Zahl der untemehmensbezogenen Dienste erfordert ein zunehmendes Heer an reinigenden, wartenden, zur Hand gehenden, Dienste abnehmenden, Sicherheit bewahrenden Kräften, die wiederum von spezialisierten Dienstleistern angeboten werden.

Diese Art von Arbeit hat die höchsten Zuwachsraten in einer modernen Stadtwirtschaft. Hier, wie in den haushaltsbezogenen Dienstleistungen, sind jedoch die marginalisierten Beschäftigungsverhältnisse zu finden: Tagelöhner, befristete Beschäftigung, Saisonarbeit, (unfreiwillige) Teilzeitarbeit, Beschäftigung unterhalb der Pflichtgrenze zur zialversicherung etc. Sie haben eines gemeinsam: Die Entlohnung reicht nicht aus, um davon in einer Großstadt eigenständig zu wirtschaften. Wenn kein (Ehe-) Partner, keine Eltern oder Kinder einstehen, dann sind es die Kommunen mit ihrer Sozialhilfe. 2. Der „lokale“ Staat Städtische Verwaltungen, Kommunalpolitiker, Kammern und Verbände interpretieren „ihre“ Stadt nicht mehr als ein Gemeinwesen, sondern zunehmend als Wirtschaftsstandort. Sie sind bemüht, für diesen ein individuelles Profil zu entwikkeln. Stadtverwaltungen sind nach eigenem Verständnis nicht mehr länger nur der „verlängerte Arm“ des Nationalstaates, nicht mehr nur exekutierende Verwaltung, sondern Akteur, Promotor und Manager ihrer selbst.

Dieses neue Selbstverständnis führt zu Strategien und Logiken, welche die hergebrachten Formen der Orientierung am Gemeinwesen in Frage stellt. An deren Stelle tritt eine betriebswirtschaftliche Optimierung städtischer Politik und Verwaltung, was zur Folge hat, daß für eine Standortpolitik andere Politikfelder (Stadtentwicklungsplanung, Wohnungsbau und Stadtemeuerung, Kultur-und Bildungspolitik, neuerdings Sozialpolitik) instrumentalisiert werden.

Die Benutzung der Kulturpolitik für ein Hervorheben des eigenen Images durch „Festivalisierung“ ist am offensichtlichsten. Am nachhaltigsten dürfte jedoch die Instrumentalisierung der Stadtentwicklung sein. Hier werden durch Handeln und Unterlassen die Räume der Sieger und der Verlierer der ökonomischen Umstrukturierung geformt; es werden die „Bühnen der Selbstdarstellung der Lebens-stile“ ebenso herausgebildet wie die „Inseln der Armut“, bisweilen auch „soziale Brennpunkte“ genannt

Vor dem Hintergrund einer allgemeinen Wohnungsknappheit in den Ballungszentren bewirken die zunehmende Attraktivität der innenstadtnahen Wohnlagen sowie die privat und öffentlich finanzierten Aufwertungen dieses Wohnungsbestandes einen hohen Nachfragedruck und, daraus folgend, Verdrängungen aus diesem (ursprünglich preisgünstigen) Segment. Diese Verdrängungsketten setzen sich in Richtung des weniger attraktiven Wohnungssegmentes fort und führen an ihrem Ende zu Konzentrationen von sozial Benachteiligten

Die Wohnstandorte dieser Gruppe sind schlechter angebunden, wenig attraktiv, gekennzeichnet von De-Investitionen der privaten Unternehmen und vom Rückzug des öffentlichen Sektors. Die Konzentration auf die Entwicklung der Innenstädte hat die Kräfte und Mittel der Stadtplanung gebunden; Wohnungsgebiete der fünfziger Jahre und viele der Großsiedlungen der siebziger Jahre wurden so zu vernachlässigten Stadtteilen. Die bei dem erheblichen Wohnraummangel nahezu wirkungslosen Instrumente einer sozial verträglichen Belegungspolitik verschärfen die soziale Situation -nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund zunehmender Zahlen von Übersiedlern und Asylsuchenden, die bevorzugt in diesen Wohngebieten untergebracht werden.

Globalisierungen erzeugen und verschärfen also nicht nur die „alte“ Armut, sondern sie erzeugen auch neue Formen. Unmittelbar davon betroffen sind die regionale Wirtschaft und die lokale Politik, die sich den neuen Strukturen und Herausforderungen anpassen. Der „lokale Staat“ reagiert mittels unternehmerischer Strategien und forciert den Umbau des regionalen Arbeitsmarktes, fördert dadurch indirekt neue Formen der Armut und integriert immer weniger die traditionelle, instrumentalisiert neben anderen Politikfeldern die Stadtentwicklung und unterstützt somit eine räumliche Konzentration von Armut.

IV. Armut in Hamburg

Abbildung 3: Relatives durchschnittliches versteuertes Einkommen, nach Hamburger Stadtteilen, 1989Quelle: Eigene Darstellung.

Diese allgemein anerkannten Thesen zur gegenwärtigen und künftigen Stadtentwicklung sollen nun am Beispiel Hamburgs verifiziert werden. Hamburg ist -verglichen mit den anderen bundesdeutschen Großstädten -in vieler Hinsicht die modernste, weil hier zentrale Prozesse der Stadt­ entwicklung (u. a. Suburbanisierung, Tertiärisierung, Arbeitsplatzverluste im tertiären Sektor) zuerst und am intensivsten einsetzten. Hamburg ist daher auch ein gutes Fallbeispiel zur Illustration (stadt-) gesellschaftlicher und stadträumlicher Polarisierungen. Zudem verfügt ein Stadtstaat eher über die politischen Gestaltungskräfte eines „lokalen“ Staates, was nicht bedeutet, daß andere Großstädte diese Prozesse nicht auch durchlaufen oder künftig stärker durchlaufen werden. 1. Die herausgeforderte Stadt Hamburg galt bis in die siebziger Jahre hinein als die nach der Wertschöpfung und der Kaufkraft stärkste Region der damaligen EWG. Der Anteil an Beschäftigten im Dienstleistungssektor war weitaus der höchste in der Bundesrepublik. Die Krise des Schiffbaus, des Hafens mit seinen hafen-bezogenen Industrien fand auf hohem Niveau der Beschäftigung, auf Basis privaten Reichtums und umfangreicher Steuerungsmöglichkeiten des Stadt-staates statt. Doch die Entwicklungstrends waren -obwohl lange wenig beachtet -schon damals deutlich negativer als im Süden der Bundesrepublik. Hamburg rutschte letztlich auch aufgrund eines verfehlten Programms der Industrialisierung der Unterelbe frühzeitig in eine massive Umstrukturierungskrise Zwischen 1961 und 1987 verlor die Stadt -auf niedrigem Ausgangsniveau -180000 Arbeitsplätze im produktiven Sektor, was vom Dienstleistungssektor, der in Teilen selbst Arbeitnehmer freisetzte (Handel, Transport und Kommunikation), nicht entsprechend kompensiert werden konnte. Insgesamt hatte Hamburg am Ende dieser 26 Jahre dauernden Periode etwa 70000 Arbeitsplätze für sozialversicherungspflichtig Beschäftigte weniger als zuvor.

Trotz eines bis heute relativ starken Engagements im Zweiten Arbeitsmarkt und in Qualifizierungs-Strategien wuchs die Zahl der Arbeitslosen rasch an; 1982 lag der Arbeitslosenanteil der Stadt erstmalig über dem Bundesdurchschnitt (alt), den die Stadt nie wieder erreichte. Das nachhaltige Problem in der Stadt war jedoch weniger die Arbeitslosigkeit selbst, als vielmehr der Absturz vom unangefochtenen Spitzenplatz ins obere Mittelfeld der nationalen Liga der Städte.

Er bedeutete das Ende der Zeit von Ulrich Klose als Erstem Bürgermeister, der zuletzt die Krise mit mehr Sozialstaatlichkeit, einem Ausstieg aus der Kernenergie und mit der Warnung vor dem Entstehen von „sozialen Brennpunkten“ regulieren wollte. Die Hamburger SPD holte sich als Nachfolger den Bundespolitiker und Manager Klaus von Dohnanyi, der kurz danach seine erste Wahl gegen die eher schwache lokale CDU verlor (und daher zum Erhalt der Regierungsmehrheit mit der von ihm ungeliebten, damals noch sehr fundamentalistischen und basisverpflichteten GAL koalieren mußte). Der sehr bald provozierte Bruch der Koalition führte zu Neuwahlen, aus denen von Dohnanyi als Sieger hervorging.

Damit war der Weg frei für eine neue Politik (zusammen mit der FDP), die in der programmatischen „Unternehmen-Hamburg“ -Rede in ihrer grundlegenden Skizze formuliert wurde. Von Dohnanyi brach mit der traditionellen Orientierung auf den Hafen und forderte eine Orientierung an neuen Dienstleistungen. Ihm ging es darum, eine Politik zu betreiben, „die den Wettbewerb Hamburgs gegenüber anderen Städten ... in allen Bereichen offensiv aufnimmt“ Zwar forderte von Dohnanyi, „daß wir in Hamburg eine Politik betreiben müssen, die stets an der Spitze des sozialen Ausgleichs steht“ machte aber auch deutlich, daß die „sozial Starken, also die Besserverdiendenden, das heißt, die kräftigeren Steuerzahler, sich (nicht) abgewiesen fühlen“ dürften, denn „die sozial Schwachen in Hamburg werden nur dann wirklich geschützt werden können, wenn die Starken in Hamburg auch als Steuerzahler bleiben“ -ein nachdrückliches Bekenntnis zur (veralteten) keynesianischen Wohlfahrtspolitik.

Nach heftigen Auseinandersetzungen innerhalb der regierenden SPD und der Handelskammer Hamburg um die neue wirtschaftspolitische Richtung legte die Handelskammer Hamburg ein halbes Jahr später nach und konkretisierte die Forderungen: Konsolidierung des Haushalts durch Einsparungen der öffentlichen Hand, Wirtschaftsförderung auch gegen Ziele des Umweltschutzes und der Sozialverträglichkeit, „negative Beschäftigungseffekte“ sollten notfalls in Kauf genommen werden, die Innenstadt und die knappen angrenzenden Wohnungen sollten für kaufkräftige Kunden aufgewertet werden Viele dieser Forderungen wurden umgesetzt, insbesondere die von der Handelskammer vorgegebenen Leitlinien für eine Stadtentwicklung -eine bemerkenswert offene Einmischung in sachfremde Gebiete, Übernahme fremder Kompetenzen und ein noch willigeres Befolgen der einseitigen Interessen „des Wirtschaftsstandortes Hamburg“ seitens der Stadtplanung, der städtischen Verwaltung und der kommunalen Politik 2. Die arme Stadt Für die Messung von Armut werden in der Regel der Bezug von Sozialhilfe und niedrige Einkommen herangezogen. Auch wenn der Bezug von Sozialhilfe das Ausmaß der Abhängigkeit von staatlichen Transfers nicht angemessen wiedergibt, muß auf diesen groben Schätzwert zurückgegriffen werden. 1970 bezogen erst 23167 Personen in Hamburg Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU), 1980 waren es bereits 56545, d. h., die Anzahl hat sich in den siebziger Jahren mehr als verdoppelt. Weitere zehn Jahre später war diese Zahl erneut, nun knapp um das Dreifache, angestiegen (151000). Gegenwärtig (1993) beziehen in Hamburg 159030 Personen HLU außerhalb von Einrichtungen.

Mit dieser Zahl von Sozialhilfeempfängern hat Hamburg -neben Bremen -die höchste Sozialhilfedichte (HLU-Bezieher im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung) und mit dem wesentlich größeren Berlin die etwa gleiche Zahl von Empfängern. Da Hamburg pro Empfänger die höchsten Beträge zahlt, ist es die Stadt mit den höchsten Belastungen aus der Sozialhilfe. Dies wird durch den Stadtstaat-Status noch verschärft: Hamburg erhält -im Gegensatz zu den anderen großen Großstädten -keine zusätzlichen Landesmittel. Die Kosten für Sozialhilfe (aller Hilfearten) sind in Hamburg von knapp 137 Millionen DM (1970) über 540 Millionen DM (1980) und ca. 1, 7 Milliarden DM (1990) auf heute (1993) knapp 2, 12 Milliarden DM ange­ stiegen -damit haben sich die Kosten der Sozialhilfe für die Kommune seit 1980 etwa vervierfacht.

Unter den Sozialhilfeempfängem haben insbesondere die Anteile der Einpersonenhaushalte (darunter jedoch nicht die Beninerinnen), der Allein-erziehenden und der großen Familien erheblich zugenommen. Das steht in engem Zusammenhang mit der sehr deutlichen Zunahme der Sozialhilfe-abhängigkeit unter Nicht-Deutschen (insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene) und unter deutschen Kindern und Jugendlichen. Kinder im Vorschulalter leben mehr als doppelt so häufig in Familien, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, als der durchschnittliche Hamburger, und auch bei Schulkindern und Jugendlichen liegt das Risiko um 50 Prozent höher.

Sozialhilfebezug wird häufig im Zusammenhang mit Arbeitslosigkeit betrachtet. Sie ist Folge von Dauerarbeitslosigkeit respektive ein zusätzliches Einkommen, wenn Arbeitslosenhilfe und Arbeitslosengeld nicht ausreichen. Dieser Zusammenhang spiegelt sich auch in den Armuts„bekämpfungs“ -strategien, mit denen über eine Verbesserung individueller Qualifikationen das Arbeitslosigkeitsund Armutsrisiko gemindert werden soll.

Diese Strategie mag für vergangene Krisenphasen sinnvoll gewesen sein, auch wenn die Erfahrung schon in den achtziger Jahren bestand, daß jeder folgende wirtschaftliche Aufschwung mit einem höheren Sockel an Arbeitslosigkeit beginnt. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre wurden die Hoffnungen, Armut (gemessen an Sozialhilfe-bezug) und Arbeitslosigkeit als ein geschlossenes Problembündel ansehen und bekämpfen zu können, jedoch zerstört.

In Hamburg sind Arbeitslosigkeit und Sozialhilfe-bezug bis 1987 nahezu parallel angestiegen. Danach sank die Zahl der Arbeitslosen (von knapp 100000) auf knapp 60000 (1992); seither steigt sie wieder an. Die Zahl der Sozialhilfeempfänger nahm jedoch weiter und nahezu kontinuierlich zu. Ein Grund hierfür sind die Zuzüge, die seit 1985, insbesondere nach 1987 deutlich anstiegen. Unter den Zuziehenden gab es viele Asylsuchende, die -weil ihnen der Zugang zum Arbeitsmarkt verweigert wurde -zwangsläufig zu Sozialhilfeempfängem wurden.

Ein weiterer Grund für die Zunahme der Armut ist der städtische Wohnungsmarkt, der insbesondere vom Auslaufen der Belegungs-und Mietpreisbindungen sowie durch den Verlust preisgünstigen Wohnraumes gekennzeichnet ist. Nach Daten des Ringes Deutscher Makler (RDM) sind die Mietenbei Neuvermietungen in Hamburg zwischen 1985 und 1989 nahezu unverändert gebheben. Zwischen 1989 und 1992 -also in der Boomtown-Phase -stiegen sie um 14, 7 bis 22, 2 Prozent pro Jahr (!).

Damit erhöhte sich die Mietbelastung für viele Haushalte erheblich. Hohe Mietbelastungen erzwingen Konsumverzicht und begünstigten soziale Isolation oder ziehen einen Wohnungswechsel nach sich. Gerade Zwangsmobilität verstärkt jedoch die prekäre Lage der Haushalte; bei den gegenüber den Bestandsmieten rasch ansteigenden Neuvermietungspreisen in allen Preissegmenten verschlechtert sich bei einem Umzug die finanzielle Situation jedes Haushalts. Entweder droht eine Abhängigkeit von Wohngeld oder Sozialhilfe, oder der Haushalt wird in wenig attraktive Wohnviertel und/oder Wohnungen abgedrängt. Da dieses keine individuell verschuldeten Risiken sind, sondern die Folge struktureller Mängel, sind hohe Konzentrationen von Armut und Sozialhilfeabhängigkeit in solchen Wohngebieten vorgegeben, welche die Integrationschancen der Armen zusätzlich verschlechtern.

Der innerstädtische Wohnungsmarkt birgt unter den gegenwärtigen und mittelfristig nicht zu lösenden Knappheitsbedingungen also sehr hohe Verarmungsrisiken und beschleunigt den irreparablen Prozeß der Segregation, der zusätzlich stigmatisierend und sozial ausgrenzend wirkt. Vor diesem Hintergrund sind Armut-Bekämpfungsstrategien in Wohngebieten mit hohen Konzentrationen von Armut zwar von der Logik her sinnvoll, müssen im Hinblick auf die erwartbaren Ergebnisse jedoch zwangsläufig enttäuschen.

Der Wohnungsmarkt verfestigt also Armutsrisiken und weitet sie für solche Menschen aus, die über geringe (aber über formellen Armutsgrenzen liegende) Einkommen verfügen. Zieht man die Ergebnisse der Lohn-und Einkommensteuerstatistik heran, muß man sich mit einer Reihe von Problemen dieser Datensammlung auseinandersetzen, da sie nicht für Analysen von Armut ausgelegt ist Dennoch muß diese Statistik zu einer Interpreta­ tion von Armut und sozioökonomischer Polarisierung herangezogen werden, weil sie die einzige Quelle ist, die flächendeckende Informationen zu diesem Sachverhalt liefert. Die Interpretation dieses umfangreichen Datenmaterials muß jedoch etwa bei Veränderungen der Besetzung der niedrigsten Einkommensklassen -die aus unterschiedlichen Gründen verzerrt sein können -sehr vorsichtig erfolgen. Wenn sich zwischen 1980 und 1989 (dem Jahr mit dem gegenwärtig aktuellsten Wert) der Anteil der versteuerten Einkommen von unter DM 16 000 pro Jahr von knapp 25 auf 22 Prozent verringert (s. Tabelle 1) hat, bedeutet das also nicht, daß die Armut in Hamburg geringfügig abgebaut wurde, denn im gleichen Zeitraum ist ein deutlicher Anstieg der Zahl von Sozialhilfeempfängern zu verzeichnen. 3. Die polarisierte Stadt Bedeutsam an der „neuen“ Armut ist, daß ihr eine deutliche Wohlstands-und Reichtums-Entwicklung gegenübersteht, respektive -so die Thesen des hier gewählten Ansatzes -Armut Folge der Wohlstandsentwicklung ist, die eine Modernisierung der Wirtschaft, der (städtischen) Verwaltungen und schließlich der Gesellschaft voraussetzt. Um dieses zu überprüfen, wird erneut die Lohn-und Einkommenssteuerstatistik der Jahre 1980, 1983, 1986 und 1989 herangezogen; auf dieser Basis werden die niedrigen, die hohen und die durchschnittlichen versteuerten Einkommen analysiert (s. Tabelle 1).Die Zahl der Steuerbürger mit niedrigen Einkommen hat sich -wie erwähnt -nur unwesentlich verändert. Der Anteil der höheren versteuerten Einkommen (über DM 75000 pro Jahr) ist dagegen von 6, 9 auf 16, 2 Prozent angestiegen (s. Tabelle 1) und hat sich damit mehr als verdoppelt.

Analysiert man die einzelnen Stadtteile, so zeichnet sich in den achtziger Jahren, insbesondere in der Zeit zwischen 1986 und 1989, eine deutliche Polarisierung der versteuerten mittleren Einkommen ab (s. Abbildung 1).

Damit ist als weiterer Aspekt der städtischen Polarisierung die sozial-räumliche Sortierung angesprochen. Im letzten Schritt der Analyse soll daher das durchschnittliche versteuerte Einkommen in seiner räumlichen Verteilung und zeitlichen Entwicklung analysiert werden.

In Hamburg gab es 1980 zwei „arme“ Stadtteile (St. Pauli und Dulsberg) mit einem mittleren Einkommen, das knapp 70 Prozent des durchschnittlich in Hamburg versteuerten Einkommens betrug (siehe Abbildung 2). Dem standen zehn „reiche“ Stadtteile (in den Elbvororten im Westen und den Walddörfern im Norden) gegenüber, deren durchschnittliches Einkommen das der Stadt um mehr als 150 Prozent überstieg (Spitzenreiter ist derElbvorort Nienstedten mit dem 2, Stachen des Hamburger Durchschnitts). Neun Jahre später (siehe Abbildung 3) sind die „armen“ Stadtteile nicht nur zahlreicher (jetzt 14), sondern auch ärmer geworden (St. Pauli hat nun nur noch 56 Prozent des in Hamburg versteuerten mittleren Einkommens, Dulsberg 58 Prozent). Die Konzentration der Armut hat sich in die von der Stadtplanung Hamburgs vernachlässigten Wiederaufbaugebiete im östlichen Teil der inneren Stadt und nach Wilhelmsburg und Harburg im Süden ausgedehnt, wie es in einer Analyse der wirtschaftlichen, politischen und demographischen Entwicklungen schon 1986 vorhergesagt worden war

Auf der anderen Seite gibt es immer noch zehn reiche Stadtteile, die ihrerseits -insbesondere in den Elbvororten -sehr viel reicher geworden sind (die Nienstedtener haben nun das 13, 6fache des Hamburger Durchschnittseinkommens versteuert, die Blankeneser gut das Sechsfache, die Othmarschener das 5, 7fache). Allein zwischen 1986 und 1989 -also zu Beginn der Boomphase -hat sich das mittlere versteuerte Einkommen in Nienstedten von knapp DM 130000 auf DM 316000 mehr als verdoppelt, was eine mittlere jährliche Steigerungsrate von DM 62000 bedeutet. Im gleichen Zeitraum stieg das Einkommen im Hamburger Durchschnitt nur um DM 4000.

Die sehr reichen Stadtteile haben sich trotz gleich-bleibender Zahl jedoch verändert. Die „zweite Reihe“ der Elbvororte (d. h. jene mit größerer Entfernung zur Elbe) und ein Teil der Walddörfer haben an Boden verloren. Zugelegt haben mit Rotherbaum und Harvestehude zwei Altbau-Stadtteile westlich und nördlich der Außenalster. Trotz erheblicher kleinräumiger Unterschiede (insbesondere für Rotherbaum) schlägt sich hier die starke Nachfrage nach Wohnraum im Innenstadtbereich (Gentrification) in einem deutlichen Wachstum der mittleren Einkommen nieder. Generell ist die innere Stadt entlang der Außenalster und des Alsterlaufes kontrastreicher geworden -ein weiterer Hinweis auf die polarisierende Wirkung der gestiegenen Nachfrage nach innenstadtnahen Wohnungen.

Die Aufwertung der innenstadtnahen Wohnviertel wird besonders deutlich, wenn man die Veränderungsraten zwischen 1980 und 1989 betrachtet (s. Abbildung 4). Die Armut nimmt dagegen rasch im Osten und Süden der Stadt sowie in Osdorf zu -hier liegen die problematischen innenstadtnahen Wohngebiete (St. Georg, Wilhelmsburg), die Auf­ baugebiete der fünfziger Jahre (Hamm, Horn, Barmbek) sowie viele Großsiedlungen (Osdorfer Born, Mümmelmannsberg, Kirchdorf-Süd).

V. Schlußfolgerungen

Abbildung 4: Relative Veränderungen des durchschnittlichen versteuerten Einkommens, nach Hamburger Stadtteilen, 1980-1989 Quelle: Eigene Darstellung.

Zwei Zielsetzungen hatte dieser Aufsatz: Zum einen sollte dargestellt werden, daß Armut zunehmend ein Problem in Städten ist (und damit in zweifacher Hinsicht zum Problem der Städte wird -soziale Integration und Finanzierung), und zum anderen, daß die Entwicklung der „neuen“ Armut durch die Reichtumsentwicklung in unmittelbarer Nachbarschaft erzeugt wird („Armut durch Wohlstand“).

Globalisierungen und die internationale Arbeitsteilung haben einen erheblichen Druck auf die Städte ausgeübt, die alle mit ähnlichen Strategien darauf reagierten, in dem Bemühen, die eigene „Individualität“ zu betonen. Die daraus resultierenden Modemisierungsprozesse beschleunigen die Umstrukturierung der regionalen Wirtschaft, wodurch zugleich vermehrt Armut „produziert“ wird. Dazu trägt auch die zielgerichtete Instrumentalisierung verschiedener Politik-, Verwaltungsund Planungsfelder durch eine einseitig auf betriebswirtschaftliche Effizienz ausgelegte Standortpolitik bei, die insbesondere zur räumlichen Konzentration von Armut geführt und damit eine soziale Ausgrenzung verursacht bzw. verschärft hat.

Diese Prozesse wurden am Beispiel von Hamburg -der wohl am stärksten polarisierten Großstadt in Deutschland -verdeutlicht. Wer eine Stadt zum Unternehmen erklärt, verliert das Gesamtwohl des Gemeinwesens aus den Augen, auch wenn eine Großstadtverwaltung in der Umsetzung der Ideen des „Unternehmens Stadt“ nicht so effizient ist. Wer das Ziel verfolgt, die Besserverdienenden zu schonen, sie zu fördern und nötigenfalls Mittel zu ihren Gunsten umzuverteilen, und wer dabei hofft, daß Arbeitsplätze geschaffen, Steuereinnahmen erhöht und damit der Spielraum der Sozialpolitik erhöht wird, der irrt, durchschaut die Zusammenhänge nicht oder will die Gemeinschaft bewußt hinters Licht führen.

Wie wenig Politik und Planung an einer Analyse von Armut innerhalb gesellschaftlicher Zusammenhänge interessiert ist, zeigt die extrem schlechte Datenlage. „Gesellschaft“ existiert zudem nicht als Politikfeld, sondern Sozialpolitik tritterst dann auf den Plan, wenn „das Kind in den Brunnen gefallen“ ist. Es bleiben nur Feuerwehr-Politiken („sozialer Brennpunkt“), weil es Frühwarnsysteme oder gar die Möglichkeit zur Gestaltung nicht gibt. Würden andere Politikfelder derart vernachlässigt, müßte sich beispielsweise Wirtschaftspolitik auf das Unterstützen nicht wettbewerbsfähiger Firmen oder Umweltpolitik auf das Kalken übersäuerter Böden beschränken.

Das Beispiel Hamburg zeigt, wie die „reichen“ Stadtteile reicher wurden, während sich andere Stadtteile relativ, phasenweise auch absolut verschlechterten. Die Stadt konnte ihre Versprechen, eine soziale Verteilungspolitik zu betreiben, die „stets an der Spitze des sozialen Ausgleichs“ steht, nicht einlösen. Jetzt, wo die Stadt selbst verarmt ist und aus fiskalischen Gründen kaum noch Spielraum zur Gestaltung besitzt (und diesen zudem durch Abbau sozialer Einrichtungen und die weitere Schwächung vorhandener Unterstützungssysteme auch noch einseitig zu Lasten der Armen und insbesondere der sozial Ausgegrenzten geringfiigig ausgeweitet hat), wird die Schuld für die Misere nach Bonn verschoben.

Formal ist das sicherlich richtig, denn die Bundesregierung hat in fataler Weise die Kosten der Vereinigung der beiden deutschen Staaten unterschätzt. Sie hat nun selbst nicht mehr genug Spielraum, um den Kommunen entgegenzukommen. Das bedeutet, daß die politische Regulation im Sinne der „sozialen Marktwirtschaft“ obsolet geworden ist. Der Wohlfahrtsstaat ist auf dem Rückzug -Lean Administration?

Die Politik kann und soll sich diese sozial ausgleichende Regulation weder auf Bundes-noch auf der Stadtebene mehr leisten. Sie kann es nicht mehr, weil das Sozialsystem auf Annahmen über die Gesellschaft aufbaut, die für weite Teile der Bevölkerung nicht mehr zutreffen (nivellierte Mittelstandsgesellschaft, Generationenvertrag, Familienmodell, Normal-Erwerbsbiographie). Da soziale Ungleichheiten zunehmen, die Versorgungseinheit „Familie“ immer mehr erodiert und von einer durchgängigen Vollzeitbeschäftigung kaum ausgegangen werden kann, sind die jeweiligen Lastenausgleiche unzureichend. An deren Stelle tritt häufig die Sozialhilfe, die von den Kommunen getragen wird. Dieses „Sicherungssystem“ ist so nicht mehr finanzierbar, es muß rasch um-, nicht jedoch abgebaut werden.

Der Staat soll auch nicht mehr sozial ausgleichend regulieren, weil dies die Lohnnebenkosten nach oben und die internationale Wettbewerbsfähigkeit nach unten treibt. In diesem Zusammenhang wird ein neoliberales Modell angestrebt, das jedoch international weniger wettbewerbsfähig ist (wie beispielsweise die USA oder Großbritannien) und das zudem die soziale Polarisierung weiter verschärft

Zwei Folgerungen sind aus der gesamten Problem-lage ableitbar: Erstens, das Schlagwort vom „thinking globally, acting locally“ ist ein schöner Traum. Vielmehr gilt das immer wieder von Niklas Luhmann thematisierte Problem der Reduktion von Informationen in einer im Verlaufe des Modemisierungsprozesses immer komplexer werdenden Welt. Doch seine Hoffnung der „intelli-geilten“ Reduktion einer selbstreflexiven Moderne kollidiert mit den Denktraditionen der Akteure. Bei überfordemden Problemkonstellationen werden die Probleme in der Weise reduziert, daß sie wieder vertraut erscheinen und mithin geeignete und erfolgreiche Strategien zu deren Lösung (scheinbar) zur Verfügung stehen.

Armut wird daher von den Ursachen des Entstehens, des Ausweitens und Verfestigens abgetrennt (so lange, wie es finanzierbar erscheint), sozial-staatlich-technokratisch bearbeitet und im Zweifelsfall an die sozial Ausgegrenzten oder „übergeordnete Mächte“ zurückverwiesen -das Manifest der Oberbürgermeister gibt hier eine Fülle von Unterstützungen dieser These.

Zweitens werden die Möglichkeiten des Marktes und der politischen Regulation der „sozialen Marktwirtschaft“ unter der Bedingung zunehmend globalisierter Märkte überschätzt. Die erfolgreiche Phase von etwa 15 Jahren (etwa 1960 bis Mitte der siebziger Jahre) wird als Grundlage auch künftiger Wachstums-und Ausgleichserwartungen herangezogen. Diese Phase scheint jedoch die Ausnahme gewesen zu sein. Die deutsche Volkswirtschaft wird auf absehbare Zeit nicht wieder in eine Position zurückkehren können, in der dieses hohe Maß an sozial ausgleichender Regulation möglich ist. Die gegenwärtige Krise ist also kein „Betriebsunfall“, sondern eher die Regel.

Es geht künftig also nicht mehr um Einkommens-und Freiheitszuwächse in herkömmlicher Form („Mehr vom Gleichen“), nicht um einen einseitigen Sozialabbau und auch nicht um die Privatisierung von Risiken (Pflege, Rente etc.) -ein neuer Gesellschaftsvertrag ist notwendig, der alle Aspekte gleichermaßen berücksichtigt.

Dieser hat jedoch drei Voraussetzungen, die bislang nicht gegeben sind: erstens eine gründliche und ehrliche Analyse der Gesellschaft (was notwendigerweise ein Interesse daran voraussetzt), zweitens die Einsicht, daß wir uns in Deutschland in erheblichem Maße von Wachstumsvorstellungen (ökonomischen und bezüglich der eigenen Freiheiten) werden verabschieden müssen und drittens Personen und Institutionen, die einen solchen Diskurs aufnehmen und führen können. Hierzulande neigen wir dazu, eine solche Rolle „der Politik“ zuzuschieben, obwohl sie gegenwärtig dazu als nur wenig geeignet erscheint. Wer sagt also dem Volk, das diese Botschaft nicht hören möchte, die Wahrheit?

Fussnoten

Fußnoten

  1. Henning Voscherau, Die Großstadt als sozialer Brennpunkt -am Beispiel Hamburg, in: Georg Kronawitter (Hrsg.), Rettet unsere Städte jetzt! Das Manifest der Ober-bürgermeister, Düsseldorf u. a. 1994.

  2. Jeder der beiden Ansätze ist in diesem Heft vertreten; siehe die Beiträge von Monika Ludwig/Lutz Leisering/Petra Buhr und von Hans-Jürgen Andreß/Gero Lipsmeier.

  3. Vgl. Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales (BAGS) der Freien und Hansestadt Hamburg, Armut in Hamburg, Hamburg 1993, S. 9.

  4. Vgl. kritisch zur Sprach-und Wesensverschiebung sowie zur empirischen Basis der Bremer Studie Wolfgang Völker, Let’s talk about... what? Armut? Sozialhilfe?! Bemerkungen zur Konjunktur der „Dynamischen Armutsforschung“, in: Widersprüche, 54 (1995), S. 61-66.

  5. Vgl.den Beitrag von M. Ludwig/L. Leisering/P. Buhr in diesem Heft. In der Hamburger Sozialhilfestatistik werden unter der Sammelkategorie „Sonstiges“ über die Hälfte aller „Ursachen“ geführt; gleichzeitig werden für „Tod des Ernährers“ und „unwirtschaftliches Verhalten“ deutlich weniger als ein Prozent angegeben. Das zeigt, daß die Beschäftigten der Sozialdienststellen entweder völlig ratlos über die wahren Ursachen des Sozialhilfebezuges sind oder aber selbst Gründe haben, diese nicht in die Statistik einfließen zu lassen.

  6. Als Beispiel hierfür mag der gerade aufgelegte Forschungsschwerpunkt der EU (DG XII) dienen (Targeted Socio-Economic Research -TSER), mit dem das Ziel verfolgt wird, Prozesse der sozialen Ausgrenzung sowie Politiken und Strategien der sozialen Integration gerade in Städten zu analysieren.

  7. Strukturell handelte es sich um die „alte Armut“ über Arbeitslosigkeit in nicht mehr produktiven Branchen; neu war lediglich die große Zahl der Arbeitslosen, ihre rasche Zunahme aufgrund der sich zuspitzenden Krise, die deswegen überraschend kam, weil man glaubte, die Probleme der Armut in der Bundesrepublik überwunden zu haben.

  8. Vgl. ausführlich hierzu Jens S. Dangschat/Jörg Blasius (Hrsg.), Lebensstile in den Städten, Opladen 1994; Jens S. Dangschat, Raum als Dimension sozialer Ungleichheit und Ort als Bühne der Lebensstilisierung? -Zum Raumbezug sozialer Ungleichheit und von Lebensstilen, in: Otto G. Schwenk (Hrsg.), Lebensstil zwischen Kulturwissenschaft und Sozialstrukturanalyse, Opladen 1995.

  9. Vgl. ausführlich Monika Alisch/Jens S. Dangschat, Die solidarische Stadt. Ursachen von Armut und Strategien für einen sozialen Ausgleich, Darmstadt 1993.

  10. Vgl. ebd.

  11. Vgl. beispielsweise Hartmut Häußermann/Walter Sie-bei, Neue Urbanität, Frankfurt a. M. 1987; Jens S. Dangschat, Zur Armutsentwicklung in deutschen Städten, in: Wendelin Strubelt/Peter Schön (Hrsg.), Chancen und Risiken für die Agglomerationen in Deutschland, Hannover 1995; Stefan Krätke, Stadt, Raum, Ökonomie, Basel u. a. 1995.

  12. Vgl. Jens S. Dangschat/Thomas Krüger, Hamburg im Süd-Nord-Gefälle, in: Jürgen Friedrichs/Hartmut Häußermann/Walter Siebei (Hrsg.), Süd-Nord-Gefälle in der Bundesrepublik? Sozialwissenschaftliche Analysen, Opladen 1986.

  13. Klaus von Dohnanyi, Unternehmen Hamburg, in: Der Übersee-Club Hamburg (Hrsg.), Vorträge vor dem ÜberseeClub von Dr. Klaus von Dohnanyi, Hamburg 1983, S. 11.

  14. Ebd., S. 13.

  15. Ebd., S. 21.

  16. Vgl. Handelskammer Hamburg, Herausforderungen für den Norden. Zur Diskussion um das wirtschaftliche Süd-Nord-Gefälle, Hamburg 1984.

  17. Für weitere Beispiele der Forderungen seitens der Handelskammer Hamburg, das Herausbilden von Kooperationen zwischen der Stadt, den Kammern und Verbänden, der Banken und anderer Privatfirmen als typische Versionen deutscher „public-private partnerships“ vgl. Jens S. Dangschat/Thomas Wüst, Entwicklungen und Probleme der Agglomerationsräume in Deutschland -Fallstudie Hamburg, in: W. Strubelt/P. Schön (Anm. 11).

  18. Hier wird „Armut“ als Einkommensarmut und Abhängigkeit von Sozialhilfe betrachtet (häufig auch „Einkommensarmut“ genannt); davon abzugrenzen ist „soziale Ausgrenzung“, die häufig -aber nicht nur -Folge von Einkommensarmut ist. Da soziale Ausgrenzung auch andere Ursachen hat, zudem Verstärkungseffekte auf Einkommensarmut angenommen werden können, sind die kausalen Bezüge zwischen beiden Konstrukten zu analysieren und nicht definitorisch als ein komplexer Armuts-Begriff zusammenzuziehen.

  19. Sie umfaßt erstens alle Steuer-Einheiten, also auch Personen-Firmen (was die Spitze überschätzt). Bei Unterstützung durch Steuerberater kann zweitens dessen Büro-Adresse der Bezugs-Ort sein. Bei den niedrigen zu versteuernden Einkommen dürften Lohnsteuerkarten der Klasse V überwiegen -ob drittens dieses „Hinzuverdienen“ (meist von Frauen) Ausdruck enger finanzieller Spielräume ist oder zur Absenkung der Steuerlast des Hauptverdieners (mit vorgetauschten Beschäftigungsverhältnissen der Ehefrau) dient, ist kaum abzuschätzen. Die Statistik beinhaltet viertens keine Personen, die aufgrund ihres geringen Verdienstes von einer Besteuerung freigestellt sind.

  20. Vgl. J. S. Dangschat/T. Krüger (Anm. 12).

  21. Die Zeitschrift „The Economist“ (vom 5. 11. 1994) -eigentlich der Politik von Frau Thatcher eher wohlgesonnen -analysierte in einem Artikel „Inequality -for richer, for poorer“ die wirtschaftliche und insbesondere soziale Entwicklung in verschiedenen Industrieländern. Sie kam zu der These, daß eine Volkswirtschaft und insbesondere die soziale Integration in einem Land um so schlechter abgeschnitten hatten, je konsequenter das neoliberale Modell umgesetzt wurde.

  22. Vgl. G. Kronawitter (Anm. 1).

Weitere Inhalte

Jens S. Dangschat, Dr. phil., Dipl. -Soz., geb. 1948; Professor für Allgemeine Soziologie sowie Stadt-und Regionalsöziologie an der Universität Hamburg; Leiter der Forschungsstelle Vergleichende Stadtforschung. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg. zus. mit Jörg Blasius) Gentrification -Die Aufwertung innenstadtnaher Wohngebiete, Frankfurt a. M. -New York 1990; Soziale Ungleichheit und die Armut der Soziologie, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (1994) 7; (Hrsg. zus. mit Jörg Blasius) Lebensstile in den Städten. Konzepte und Methoden, Opladen 1994.