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Warum ist die DDR untergegangen? Legenden und sich selbst erfüllende Prophezeiungen | APuZ 46/1996 | bpb.de

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APuZ 46/1996 Warum ist die DDR untergegangen? Legenden und sich selbst erfüllende Prophezeiungen Kollektiv und Eigensinn: Die Geschichte der DDR und die Lebensverläufe ihrer Bürger Klassenlagen und soziale Ungleichheit in der DDR Öffentlichkeit in der DDR? Die soziale Wirklichkeit im „Eulenspiegel“

Warum ist die DDR untergegangen? Legenden und sich selbst erfüllende Prophezeiungen

Jens Reich

/ 14 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die DDR ist in die Misere gerutscht und untergegangen, keineswegs aus naturgesetzlicher Notwendigkeit. Schuld sind vor allem die Machtträger, die Herrschenden, ihr stumpfsinniges Weiterwursteln. Aber auch die Untertanen haben dazu beigetragen, indem sie meinten, gar nichts ändern zu können, nur Objekt der Politik zu sein, und 1990 wieder in Passivität verfielen. Zu Klagegeheul wegen Entmündigung besteht kein Anlaß: Selbstentmündigung ist das richtige Wort. Der Aufsatz entwickelt am Beispiel von Schlüsselsituationen der DDR-Geschichte die These, daß Gesellschaften stets alternative Entwicklungsmöglichkeiten haben und der historische Ablauf nicht streng determiniert ist. Erst durch Trägheit und mangelnde Kreativität der Beteiligten entsteht ein Ablauf, der eindimensional-alternativlos und fatal aussieht, im nachhinein.

Ereignisse, die zu Geschichte werden, laufen nach einem dynamischen Schema ab, das mir analog aus der theoretischen Biologie wohlbekannt ist. Das Auf und Ab von kurzzeitigen Schwankungen um eine langfristige mittlere Lage dauert scheinbar endlos. Im Hintergrund verändern sich jedoch nahezu unmerklich die Randbedingungen. Dann plötzlich, aus scheinbar nichtigem Anlaß, wird die Lawine ausgelöst und bringt dramatische Änderungen hervor, die nicht mehr rückführbar sind.

Bei der Beobachtung historischer Abläufe wie des Niedergangs des Ostblocks drängen sich ähnliche Deutungsfiguren auf. In langer, quälend langer Vorzeit bereitet sich der Durchbruch des Neuen vor. Alexis de Tocqueville hat dafür die Metapher: „L’ancien regime et la Revolution“ gefunden. Im Geschichtsunterricht, den wir junge DDR-Bürger in endloser Ödnis über uns ergehen lassen mußten, wiederholte sich diese Bewegung monoton: Durch alle Zeiten und Regionen „reifte“ stets etwas „heran“, „brach sich das Werdende seine Bahn“, „wuchs im Schoße des Alten das Neue, Fortschrittliche heran“ -immer die gleiche Bewegungsmühle. Eine Variante davon ist das Bild vom „Aufstieg und Fall“, der Stadt Mahagonny bei Berthold Brecht ebenso wie „Rise and Fall of the Roman Empire“ bei Edward Gibbon. Verwandte Muster sind die organismischen, bei denen eine Zivilisation als Lebenszeit betrachtet, unterteilt und strukturiert wird; Oswald Spenglers Theorie etwa oder die des britischen Sozialreformers und Historikers Arnold J. Toynbee.

Bei der analytischen Beschreibung der DDR-Geschichte trifft man auf eine ähnliche stereotype Art der Darstellung. Zum Beispiel: Langsam ging es abwärts. Unmerklich verlor das System an Stabilität. Immer mehr Leute wurden immer unzufriedener. Die herrschende Klasse wurde träge; der Wachhund Stasi immer aufgeregter, biß aber nicht mehr richtig zu. Langsam nahm die Zahl der Nein-Wähler zu, blieb aber immer im Promille-Bereich. Es wuchs die Zahl der Ausreiseanträge. Die Wachstumsrate des Nationaleinkommens der DDR wurde immer geringer, mußte ständig frisiert werden. Die Auslandsschulden nahmen zu. Aufstieg und Integration ins System wurde für junge Menschen immer weniger attraktiv. Und dann: Genau im Sommer 1989, da begann die Abstimmung mit den Füßen, der Exodus, die Demonstrationen in Leipzig, da löste sich die Lawine, donnerte ins Tal hinab, und die Bewegung kam erst am 3. Oktober 1990 zur Ruhe, als die DDR beendet und die Einheit hergestellt war.

Solche Bewegungsbögen des Aufstiegs und Falls und des Heranreifens von qualitativen Sprüngen begegnen mir nun überall, wenn über die DDR verhandelt wird. Bei der Gesamtanalyse ebenso wie bei Perioden, Abschnitten der DDR-Geschichte. Es ist sicher denkökonomisch, solche kontinuierlichen Bewegungsabläufe zu konstruieren, wenn man die Geschichte nicht einfach als Faktenfriedhof ansehen will. Aber es entstehen auch Stereotype dabei: in den urteilenden Begriffen, die das ganze Geschehen einhüllen, wie auch in der Deutung, als sei da etwas kausal bestimmt abgelaufen. Die DDR-Gesellschaft als Diktatur zum Beispiel, als totalitäre gar, als bürokratisches Gesellschaftssystem, als Kommandowirtschaft. Das sind so stereotype Begriffe. Als sei die DDR ein Prozeß, bei dem alles vorhersagbar ablief und auch nachträglich so interpretierbar ist. Der britische Zeithistoriker Timothy Garton Ash hat das in einem Artikel über die Wahl des polnischen Ministerpräsidenten Kwasniewski vergnüglich formuliert: Ursachen werden für jedes Ereignis gefunden, wie außerordentlich und unerwartet es auch sei. Was immer geschieht, es wird hinreichend erklärt.

Ich will Beispiele nennen, weshalb mich diese Denkfigur mit festen Ursachen so zum Widerspruch reizt, auch worin ich ihre logische Inkonsistenz sehe.

Ich bin der Überzeugung, daß wir, alle Betroffenen, das Ende des ganzen Ostblocks viel zu spät herbeigeführt haben. Die Agonie hat viel zu lange gewährt; schon viel früher hätte der Koloß zusammensacken können. Auf das Wann will ich mich nicht festlegen. Vielleicht nur soweit, daß ich bekenne, daß es mich betrübt, daß ich erst mit fünfzig Jahren und nicht schon mit dreißig aus dem Käfig entlassen wurde. Damals flogen die Pulse noch schneller; damals hätte ich etwas mit der Freiheit anfangen können. Inzwischen habe ich mich daran angepaßt, ein Baum zu sein und kein Vogel, der seinen Ort wechseln kann. Ich bin der Meinung, daß wir alle den tranigen Zustand überlange ertragen haben. Und daß es genau die Denkfigur „Es ging nicht anders!“ war, die uns vom Handeln abgehalten hat.

Das ist nämlich die Antwort, die ich stets erhalte, wenn ich meine These, daß wir früher hätten aufwachen müssen, vor östlichem Publikum vortrage. Es ging nicht anders, heißt es. Und wenn du etwas unternommen hättest, dann wäre das und das geschehen. Sieh doch den Prager Frühling an, sieh doch die Solidarno. Die Zeit war nicht reif. Die Kausalkette nicht geschlossen. Gorbatschow, Mischka, der Wundertäter, war noch nicht an der Macht. Die Sowjetunion hatte sich noch nicht tot-gerüstet, wir hatten ihr den Nato-Doppelbeschluß noch nicht vor den Latz geknallt (das sagen meistens ältere Bundesrepublikaner und haben dabei den haßerfüllten Blick auf die „Chaoten von der Friedensbewegung“, die diese Politik verhindern wollten). Das Honecker-System mußte noch länger eingeweicht werden, die Schuldenhöhe über 20 Milliarden Westmark wachsen, Ökologie und Ökonomie vor den Kollaps kommen. Vorher ging es nicht. Es war eine Diktatur, bis an die Zähne bewaffnet. Stasi. Panzer. 17. Juni. Ungarns Oktober 1956. Prag 68. Danzig 1970. Es wäre dir noch gut ergangen, wenn du aus der DDR gejagt worden wärest, wie Wolf Biermann, wahrscheinlich hätten sie dich (weil weniger prominent) nach Bautzen verfrachtet. Es ging nicht eher, glaube uns.

Da sind sie alle, die Selbstfesselungsargumente. Wir wußten, daß es nicht ging, also ging es nicht. Wir wissen heute, daß es erst 1989 geschah, also ging es nicht bereits 1983. Wir lebten unter der Diktatur. Etwas war unmöglich, weil es unmöglich war.

Solchem sich selbst erzeugenden Fatalismus habe ich selbstverständlich auch angehangen. Viele Jahre lang. Seit meiner Jugend. Meine Eltern haben ihn mir nahegebracht, gesättigt mit Erfahrungen aus Nazizeit und Weltkrieg. Es gibt jedoch Anzeichen dafür, daß die Freiheitsgrade der Bevölkerung größer waren, als diese kollektiv annahm. Wenn sie nur kooperativ reagiert hätte (wie dann später, im Herbst 1989) und sich nicht mit diesen Argumenten selbst gelähmt hätte. Kooperatives Handeln ist etwas Wunderbares, wenn es aufwärts geht, weil eins das andere mitreißt. Es ist aber verheerend, wenn die Tendenz abwärts geht, dann reißt eins das andere verstärkend mit in den Abgrund.

Es gibt Anzeichen dafür, wie wacklig die Herrschenden der DDR auf ihrem Kamel saßen. Der Kaffeeaufstand etwa, und auch der Wäschekrieg. Ich muß erklären, was ich damit meine. Beides geschah zu Honeckers Zeiten, in den mittleren und späteren siebziger Jahren. Das eine Mal versuchten Mittags Heerscharen die Bettwäsche-preise zu verdoppeln, vermutlich um irgendeinen Finanzposten auszugleichen. Das andere Mal ging es um den Kaffee, dessen Import aus dem Westen für Erich zu teuer wurde (obwohl er ihm selbst ausgiebig zusprach, wie er Helmut Schmidt am Telefon kokett gestanden hat). Jedenfalls wurde der Einzelhandelspreis von einem Tag auf den anderen nahezu verdoppelt.

Das war die Art Störung, die der träge Mechanismus nicht mehr abdämpfte. In beiden Fällen entstand eine unerwartete und bedrohlich anwachsende Unruhe. Die Leute reagierten vor dem Inkrafttreten der Verordnungen mit Hamsterkäufen und erzeugten eine Lawine von „Stimmungen und Meinungen“, wie so etwas im Parteijargon hieß. Die Machthaber sahen sich in beiden Fällen gezwungen, den Rückzug anzutreten und die Verordnungen zurückzunehmen. Es sind dies banale Anlässe, aber als Beleg dafür gut geeignet, wie empfindlich die angeblich so totalitären Diktatoren auf die Stimmung in der Bevölkerung reagierten, sobald sie nur Anzeichen wahrnahmen, daß der Druck gefährlich anstieg. Daß die Bevölkerung aus dem normalen „Aggregatzustand“ in den angeregten überzugehen drohte.

Es gab noch andere episodische Begebenheiten dieser Art. Auch die gegensinnigen: wenn die Machthaber einen Konflikt energisch austrugen, zum Beispiel den Kampf gegen die kulturtragende Klasse 1965 (11. Plenum) oder 1976 (BiermannAffäre). Hier meine ich, daß sie die Intelligenz zu den eigenen Truppen rechneten und daher schärfer gegen Renegaten vorgehen konnten. Die würden aufmucken, aber nicht ernsthaft zur Lawine werden. Das Volk übt nicht den Aufstand für einen verbotenen Film.

Es lohnt auch, solche Fälle zu untersuchen, bei denen die Behörden nicht beweglich genug waren, dem Druck ein Ventil zu öffnen. So etwa in Polen, wo mehrmals Unruhen durch Lohnkürzungen bzw. Erhöhung der Fleischpreise ausgelöst wurden und fast das ganze System zum Einsturz brachten. Der Spätsommer 1989 gehört in diese Kategorie, als Honecker krank und nicht mehr in der Lage war, dem konzentrischen Druck der Ausreise-oder Westbesuchsbegehrenden elastisch zu begegnen.

Den Selbstfesselungsmechanismus bei potentiellen Reformern aus dem Inneren der SED habe ich am 4. November 1989 dramatisch vor die eigenen Augen geführt bekommen: mit dem Auftritt von Günter Schabowski, dem Politbüromitglied, einem von denen, die im Westen als DDR-Gorbatschow-Kandidaten gehandelt wurden. Er versuchte, am 4. November 1989 den Tiger zu reiten und sich an die Spitze der Reform zu stellen. Auf der Kundgebung wurde er heftig ausgepfiffen. Ich stand neben ihm und konnte den plötzlichen, totalen Verfall seiner Gesichtszüge beobachten: Das war für ihn das Ende. Er resignierte. Ein Politiker wie Helmut Kohl steckt massenhafte Pfiffe weg und schreibt sie dem „Pöbel“ und mangelnder Vorbereitung der Demonstration seitens der Jungen Union zu. Aber für einen Marxisten war dies das Ende: Das Volk geht auf die Straße. Das war die Petrograder Revolution von 1917, jetzt war es aus.

Die Angst vor dem aufständischen Volk erzeugte übrigens auch die seltsame Reaktion der Machthaber auf die ersten Proklamationen des Neuen Forum. Wurden diese in Betrieben ausgehängt, dann gab es Untersuchungen, Verhaftungen, Verfolgungen. Nach Feierabend dagegen griff die Staatsmacht nicht ein. Sie war das Opfer des Mythos von der entscheidenden Bedeutung der Produktionsverhältnisse und der unbesiegbaren Arbeiterklasse. Ein paar Feierabend-Bürgerbewegte dagegen -Kleinbürger? Die nahm nur die Abteilung XX der Stasi einigermaßen ernst, und das, weil sie dafür zuständig war. Die Herrschenden sahen die Gefahr, erwarteten sie aber aus der falschen Richtung: Gewerkschaft, Streik, Solidarno. Darauf waren sie vorbereitet. Aber eine Feierabendrevolte? Lächerlich. Wieder der selbstfesselnde Determinismus, der elastische Reaktion verhinderte.

Jürgen Habermas sagte Anfang 1992 in einer Diskussion in der Akademie der Künste Ost, mit Christa Wolf: Ihm sei nicht so wie ihr rätselhaft, warum das Volk die DDR so leichtherzig auf den Müllhaufen geworfen habe, sondern umgekehrt, warum die ganze Konstruktion überhaupt so lange gehalten habe. Genau das war auch die Frage der kopfschüttelnden DDR-Bürger (und zwar nicht nur derer, die „dagegen“ waren, sondern auch vieler Anhänger des Staates, die Einblick hatten): Wie kommt es nur, daß die Karre immer wieder weiterläuft? Wir sind doch längst pleite! Weit gefehlt: Ein sozialistisches System ist strukturell zur Pleite unfähig (siehe Nordkorea); es sei denn, es öffnet sich nach dem Westen. Dann gerät es unter das ökonomische Gesetz des Kapitalismus und ist bankrottfähig.

Solche Fragen bringen mich zu der Überlegung, wieviel von dem Arrangement des DDR-Bürgers mit seinem Staat (das, zugespitzt formuliert, nach dem Kontrakt funktionierte: euch die Macht und uns die Nische!) tatsächlich erzwungen war und welcher Anteil daran der unbefragten Akzeptanz der kausalen Deutungsfigur entstammt: Wir können ja doch nichts ändern! Eine fatalistische Selbstentschuldigung, nebenbei bemerkt, die nicht nur von der DDR-Bevölkerung der siebziger und achtziger Jahre vorgebracht wurde, sondern auch von der bundesrepublikanischen von heute. Wer weiß, ob nicht in 25 Jahren diejenigen unter uns, die dann noch dabei sind, sich dieselbe ratlose Frage stellen: Wie konnten wir so lange sehenden Auges die Rutschpartie mitmachen?

Zur Vorgeschichte des sich selbst erfüllenden Fatalismus der Herrschenden eine kleine Anekdote: Vor Jahren wurde uns als kleines Juxgeschenk bei einer Geburtstagsfeier ein Zeitungsfoto aus den sechziger Jahren überreicht, das Walter Ulbricht auf der Leipziger Messe mit all seinen Politbürokraten zeigt. Walter doziert, und die Zuhörenden stehen beflissen um ihn herum und sehen etwas verdrießlich aus. Der uns das Foto schenkte, hatte dem Walter eine Sprechblase dazugemalt: Genossen, nu guckt mich doch nicht so skeptizistisch an, es sind doch 21 Jahre Zeit bis zum November 89!! Die Anekdote postuliert auf komische Weise den umgekehrten Fatalismus der Machthaber. Hatten sie wirklich keine Wahl, als starr am Konstruktionsversuch eines absolutistischen Fürstentums mit zu Engagement nicht mehr bereiter herrschender Klasse festzuhalten, bis das Ganze zusammenfiel, implodierte? Gab es nach 1961 keine Möglichkeit, in dem geschlossenen System den Versuch zu machen, auf die Bevölkerung mit Reformen zuzugehen? War es unausweichlich, daß die weltweite Anerkennung der DDR nur ein paar Reisekadern die mit allerlei Auflagen und jämmerlicher Geld-ausstattung vergällte Freizügigkeit brachte, die Untertanen dagegen verdrossen im Käfig nach Intershop-Schecks Ausschau hielten? Wären die Massen tatsächlich bei jeder sich bietenden Gelegenheit in Massen abgehauen?

Ich stelle mir solche Fragen, weil ich sehe, daß hinter der offensichtlichen Verdrießlichkeit des Staatsvolks der DDR ja doch auch noch eine Art von schwankender Legitimation dieses Staates vorhanden war, die sich heute darin zeigt, daß die weltanschaulichen Kategorien, die der Sozialismus zwei Generationen von Menschen eintrainierte, immer noch das eigene Hirn strukturieren. Wieviel sozialistische Ideologie ist noch wie selbstverständlich in unseren Köpfen, im Volk? In allen postsozialistischen Reformstaaten (die östlichen Bundesländer eingeschlossen) wählt ein halbes Jahrzehnt nach dem stürmischen Ende fast die Hälfte der Bevölkerung die gewendeten Nachfolgeparteien und kreuzt ein noch größerer Anteil bei dem Satz „Dieses westliche System schafft es also auch nicht!“ das „Ja“ an. War das also gar keine kategorische Abwicklung, 1989? Wie repräsentativ ist der Ausspruch: „Jetzt ha’ ick ’n Opel Astra, und die Reise nach Mallorca, das Dach is’ jedeckt und allet Mobiljar neu einjerichtet -jetze kann Honi mein’twejen wiederkommen!“?

Ich will noch ein letztes Beispiel von deterministischer Selbstfesselung bringen: Gab es eine Chance der Akzeptanz der Bürgerbewegungen des Herbstes 1989? Worin bestand deren Unfähigkeit zur politischen Strukturbildung, das Versagen, die Gelegenheit, das „window of opportunity“ -das Zeitfenster -zu nutzen?

Als politische Bewegung hatten Neues Forum und die anderen Protestbewegungen Ersatzfunktion. Sie sprangen ein für die nicht einsetzende Reformbewegung innerhalb der SED. Nach deutscher Politiktradition kann ein Wechsel nur „von oben“ stattfinden, also durch einen Macht-oder Struktur-wechsel der politischen Eliten. Das kam nicht zustande, trotz einiger Ansätze und trotz Perestroika-Vorbild und der bereits vorhandenen Varianten in den anderen sozialistischen Ländern.

Die potentiellen Reformer versagten beim Generationswechsel und ließen sich statt dessen in die PDS-Matte tragen, in der sie heute das postsozialistische Comeback auf die gleiche Weise versuchen wie in den anderen Reformländern, mit deutschen Besonderheiten wegen der vorhandenen SPD. Erst das Fehlen der inneren Reformbewegung in der SED, für die im Westen und auch im Volk durchaus Sympathie zu erreichen gewesen wäre (man erinnere sich der zahlreichen Verbeugungen der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit vor dem „Zukunftsträger“ Hans Modrow vor dem Herbst 89!), erst dieses Versagen löste zu später Stunde die Volksbewegung aus. Und diese konnte nur gelingen, wenn sie sich an die Regel hielt: Nicht zu nahe an den Kettenhund heran. Deshalb der Gandhiismus der Bewegung, „keine Gewalt“, die Berufung auf die papierene DDR-Verfassung, die vorsichtige Richtung auf den dritten Weg. Es waren stets Meidbewegungen, die die Auslösung eines Desasters wie 1953 (Berlin), 1956 (Ungarn), 1968 (Prag) usw. umgehen sollten.

Die Bürgerbewegung auf den Straßen konnte mit ihren beschränkten politischen Mitteln und der notwendigen Ungeordnetheit (Spontanität) nur als Reformbewegung Erfolg haben, die das System nicht in Frage stellte. Nur so konnte sie auch innerhalb der SED Gegenbewegung auslösen und den Schlagarm der Hardliner lähmen. Es war eine Strategie, die zur fatalistischen Selbstfesselung führte, als die Bürgerrechte erkämpft waren, als freie Presse, freie Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit, freie Wahlen erreicht waren. Danach hätte nur harte politische Organisation die Macht, die auf der Straße lag, ergreifen und halten können. Das aber war nach dem Gesetz, nach dem sie angetreten, der Bewegung verwehrt. Sie wurde überrannt.

Die Bürgerbewegung war eine teils intellektuelle, teils basisdemokratische Bewegung. In der Sowjetunion hat sie sich dem Glasnost-Perestroika-Kurs angeschlossen und ihn für eine gewisse Zeit mit theoretischer und moralischer Legitimation versehen. In der DDR fiel ihr die Hauptrolle im Herbst bis zum Jahresende 1989 zu. Diese Bewegungen hatten niemals ein „window of opportunity“ für die Machtübernahme. Sie waren von Anfang an chaotisch und zerstritten, unorganisiert. Freie Spontanität war ihre Existenzbedingung. Die Träger der Bewegung wurden niemals von der Bevölkerung akzeptiert, nicht einmal der reputierliche „synodale Zweig“ von den Mitgliedern der evangelischen Kirche. Die das Tor aufstießen, waren Randfiguren der Gesellschaft. Sie waren wegen der einzig möglichen Strategie (Unterlaufen der Gewaltschwelle, Gandhiismus, Diskussionsforum ohne Programm) überhaupt nicht befähigt zur späteren Machtergreifung. Sie waren Krisenvögel.

Die Bürgerbewegung hat dabei genau das erreicht, was sie nach objektiver Lage zu erreichen imstande war. Ihr einziges Zeitfenster war die Bewegung zur Herstellung der bürgerlich-demokratischen Freiheiten. Das wurde erreicht. Daß sie ihrer inneren Struktur nach (und nicht wegen äußerer Ereignisse, auch nicht, weil die DDR-Bevölkerung nach dem Westen gelaufen wäre) unfähig war, etwas anderes als Auslöser zu sein, sieht man an der Parallelität der Verfallsbewegungen nach 1989 in den Reformländern, bei denen die Abwicklung des Sozialismus nicht mit nationaler Wiedervereinigung verbunden war: Die CSSR ist der ähnlichste Fall. Hier übernahm das Bürger-forum die Macht, wurde Partei und stellte den Präsidenten und Außenminister. Aber auch das konnte ihren schnellen politischen Niedergang nicht aufhalten.

Es ist eine andere Frage, ob die westdeutschen politischen Lager gut daran tun, den moralischen Kredit der Bürgerbewegung unterzupflügen. Das tun sie, jedes auf seine Weise, CDU, SPD, Grüne. Aber das ist keine aktuell-machtpolitische Frage mehr, allenfalls eine Frage des ideologischen Haushalts der Zukunft. Die Erfolge der PDS sind für den siegreichen Westen die „Strafe“, daß er im Siege nicht taktisch großzügig verfuhr, sondern die volle Kapitulation durchsetzte. Was aus all dem werden wird, ist wieder völlig offen. Erst wenn es geschehen ist, werden wir uns einbilden, genau zu wissen, warum es so geschehen mußte.

Die Versuchung ist heute groß, die DDR nur von ihrem Ende her zu betrachten. Sozusagen mit einer Jahreszählung mit negativen Zahlen. Da sieht es dann zwangsläufig so aus, als ob der Konus sich stets verengt und auf das unausweichliche, aber nicht vorverlegbare Ende zugespitzt hätte. Tatsächlich ist das Handlungsfeld zu allen Zeiten und in allen Situationen weit offen, sind stets prinzipielle Alternativen möglich, können wir an Scheidewegen andere Richtungen einschlagen. So betrachtet, hätte auch die DDR ein anderes als das klägliche Ende nehmen können.

Zwänge gibt es immer, auch ökonomische Zwänge. Aber sie wirken nur, wenn die Handelnden sie als solche verinnerlichen. Es war auch nicht so sehr die stagnierende wirtschaftliche Situation und die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit ihrem Lebensniveau, das den politischen Innendruck verstärkte, sondern vielmehr der Vergleich dieser Größen mit der Bundesrepublik. Unsere Urgroßeltern vor 100 Jahren haben (im Mittel) weit bescheidener und unsicherer gelebt und sind dabei geduldig geblieben -was ihnen fehlte, war der Vergleich. Andererseits zeigt die Erfahrung mit strukturschwachen Gebieten, daß die Bevölkerung auch bei vorhandener Vergleichsmöglichkeit nicht in Massen auswandert, wenn Kompensationen da sind: Heimat, Ruhe, Tradition, kreative Entfaltungsmöglichkeit usw. Hier liegen die Ursachen, daß die herrschenden Eliten des Ostblocks ihr historisches Spiel verloren haben: Sie verschmähten es, auf das Volk zuzugehen, ihm Freiheiten zu lassen und für Kompensation zu sorgen. Sie ließen sich auf den eindimensionalen Poker ein, in dem es nur noch um Waffenproduktion, „Tonnenideologie“ und leer-laufenden Defekt-Konsumismus ging.

So ist die DDR in die Misere gerutscht und untergegangen, keineswegs aus naturgesetzlicher Notwendigkeit. Schuld sind vor allem die Machtträger, die Herrschenden, ihr stumpfsinniges Weiterwursteln. Aber auch die Untertanen haben dazu beigetragen, indem sie meinten, gar nichts ändern zu können, nur Objekt der Politik zu sein, und 1990 wieder in Passivität verfielen. Zu Klagegeheul wegen Entmündigung besteht kein Anlaß; Selbst-entmündigung ist das richtige Wort.

Fussnoten

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Jens Reich, Prof. Dr. med., geb. 1939; Studium der Medizin an der Humboldt-Universität Berlin; 1961-1968 Mitarbeiter am Institut für Biochemie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; 1968-1990 Mitarbeiter an der Akademie der Wissenschaften in Berlin-Buch, Zentralinstitut für Molekularbiologie; 1989 Mitbegründer des Neuen Forum; 1990 Volkskammerabgeordneter für das Neue Forum (Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN); seit 1992 wissenschaftlicher Arbeitsgruppenleiter am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin Berlin-Buch; 1991 Auszeichnung mit dem Theodor-Heuss-Preis und 1993 mit dem Anna-Krüger-Preis des Wissenschaftskollegs zu Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Rückkehr nach Europa, München-Wien 1991; Abschied von den Lebenslügen, Berlin 1992; Jens Reich im Gespräch mit Mathias Greffrath und Konrad Adam, München -Wien 1994.