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Parlamentarismuskritik im Zeichen politischer Theologie. Carl Schmitts „Sakralisierung“ der Demokratie zum totalen Staat | APuZ 51/1996 | bpb.de

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APuZ 51/1996 Die Weimarer Staatsrechtsdebatte zwischen Legendenbildung und Neubesinnung Parlamentarismuskritik im Zeichen politischer Theologie. Carl Schmitts „Sakralisierung“ der Demokratie zum totalen Staat Bataille statt Debatte Zu Carl Schmitts „Metaphysik“ des Politischen und des Liberalen Ortung und Ordnung Carl Schmitt im Nationalsozialismus

Parlamentarismuskritik im Zeichen politischer Theologie. Carl Schmitts „Sakralisierung“ der Demokratie zum totalen Staat

Kurt Lenk

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Schmitts Parlamentarismuskritik knüpft an die im 19. Jahrhundert von de Bonald und Donoso Cortes entwickelte These einer politisch-theologischen Parallele von Metaphysik und Staatstheorie an. Dieser Auffassung zufolge geht der fortschreitende Schwund des monotheistischen Glaubens mit einer entsprechenden Abfallbewegung des politischen Ordnungsgefüges einher. Vor dem Hintergrund dieser in einer radikal pessimistischen Anthropologie verankerten Verfallsgeschichte der Moderne sieht Schmitt das liberale Bürgertum vor eine unausweichliche Entscheidung gestellt: Entweder begeht es aus Angst vor dem Tode Selbstmord, indem es die Dinge entscheidungslos weiter treiben läßt mit der Folge, in der totalen politisch-theologischen Dekadenz des Bolschewismus zu enden, oder es wendet sich vom kompromißlerischen Politikbegriff eines anachronistisch gewordenen Liberalismus entschlossen ab und bejaht den autoritären Staat. Dessen nominell zwar „demokratische“, in Wirklichkeit jedoch diktaturförmig homogenisierende Gewalt soll den letzten politischen Notbehelf gegen eine sich immer weiter zuspitzende Bindungslosigkeit darstellen.

Ein Verständnis der Motive, aus denen sich Carl Schmitts Kritik des Parlamentarismus speist, ist nur möglich, wenn die ihr zugrunde liegende politische Anthropologie in die Analyse einbezogen wird. Es zeigt sich, daß der politische Angriff auf die liberale rechtsstaatliche Verfassung der Weimarer Republik auf einer Reihe von metapolitischen Vorentscheidungen beruht, die Schmitt mit vielen Vertretern seiner Generation teilt. Was ihn aber von den meisten gleichgesinnten Theoretikern abhebt, ist vor allem der Extremismus seiner Argumentation, die von Grund auf polemisch genannt werden muß.

Während Oswald Spengler mit seiner Kulturmorphologie den weltanschaulichen Hintergrund des krisenbewußten Bürgertums der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg repräsentierte, leitet das Denken Schmitts theoretisch zum faschistischen Staat über. Keineswegs vollzog sich dieser Übergang abrupt, von heute auf morgen, wie es das Geschehen der Machtübertragung an das Kabinett Hitler im Januar 1933 suggerieren könnte. Vielmehr enthalten bereits die Schriften zu Anfang der zwanziger Jahre einschlägige Stellungnahmen zugunsten einer diktaturförmigen Staatsgewalt.

Die eindeutigsten Äußerungen in dieser Richtung finden sich in einer 1922 erschienenen schmalen Schrift mit dem Titel „Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität“. Dort gibt es im Schlußkapitel einen Abschnitt über Schmitts geistige Ahnen: die beiden Franzosen de Maistre und de Bonald sowie den Spanier Donoso Cortes. Da Schmitt auf den letztgenannten als seinen eigentlichen Gewährsmann und „Schutzengel“ immer wieder zurückkommt, diesem noch unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg eine eigene Monographie gewidmet hat, ist es gerechtfertigt, einen Grundgedanken von Donoso Cortes im Blick auf Schmitts Theorie der Diktatur kurz zu umreißen.

Donoso Cortes war vor seinem Lebensende von 1850-1953 spanischer Gesandter in Paris, wo er als einzigen Ausweg aus der Revolution von 1848 den Staatsstreich Napoleons III. begrüßte. Den Verlust des Friedens in Europa deutet er als eine Folge von drei Negationen: 1.der deistischen Negation mit der Parole: „Der König existiert, der König herrscht, aber er regiert nicht“; dem entspricht als Regierungsform die konstitutionelle Monarchie; 2.der pantheistischen Negation mit der Losung:

„Die Macht existiert, aber die Macht ist nicht eine Person, noch herrscht, noch regiert sie“:

die Republik und 3.der atheistischen Negation: „Es gibt keinen Gott, daher auch keine rechtmäßige Staatsgewalt“: der Sozialismus.

Im Blick auf die Liberalismuskritik Schmitts könnte man diese Geschichtsphilosophie des Autoritätsverfalls gegen die Weimarer Republik wenden. Da hier die Verfassung keine eindeutige Entscheidung, weder zugunsten des bürgerlichen noch des proletarischen Klasseninteresses, gebracht hat, befindet man sich auf der Stufe der „pantheistischen Negation“. Sie ist dadurch gekennzeichnet, daß man keinen Begriff von politischer Macht mehr kennt, sondern einem neutralisierten Politikbegriff des Kompromisses und der Diskussion huldigt. Das führe zu einer permanenten Schwäche der republikanischen Instanzen gegenüber dem neuen politischen Angreifer: das organisierte Proletariat. Man weicht zurück, wo man Flagge zeigen müßte. Man macht Zugeständnisse, um die reale politische Lage zu verwischen, ohne zu bedenken, daß Machtverzicht und Macht-verlust -im Sinne von Hobbes -den Rückfall ins Chaos des anarchischen Naturzustandes bedeutet. Der Liberale sieht -Schmitt zufolge -Macht als einen Diskussionsgegenstand, über den verhandelt werden kann, und schließt -politikunfähig geworden -die Augen davor, daß die bürgerlichen Bastionen bereits verloren sind, entsprechend Donoso Cortes’ Losung der pantheistischen Negation republikanischen Musters: „Die Macht existiert, aber die Macht ist nicht eine Person, noch herrscht, noch regiert sie.“

Wäre die Macht in der Hand einer Person, so müßte der Staatspräsident das Parlament auflösen und souverän über Notverordnungen Ruhe im Staat schaffen, um durch eine Art „kommissarische Diktatur“ einen Zustand wiederherzustellen, in dem Legalität überhaupt eine Chance besitzt. Da dies nicht geschieht, so Schmitt, droht die „atheistische Negation“, für die es weder Gott noch Staat, sondern -wie bei dem russischen Anarchisten Bakunin -nur Empörer und Emanzipierte gibt. Sein Urteil über die Bourgeoisie lautet somit: „Eine Klasse, die alle politische Aktivität ins Reden verlegt, in Presse und Parlament, ist einer Zeit sozialer Kämpfe nicht gewachsen.“ Schmitt stellt damit, unter Zuhilfenahme der Diktaturtheorie des Donoso Cortes, dem Weimarer Bürgertum den Totenschein aus. Der Befund seiner prospektiven Obduktion lautet: „Tod durch Entscheidungsschwäche! “

Bei Donoso Cortes findet Schmitt auch jene Anthropologie, die zum Fundament seiner eigenen Staatslehre geworden ist. Das augustinische Dogma von def Erbsünde wird bei beiden radikalisiert „zu einer Lehre von der absoluten Sündhaftigkeit und Verworfenheit der menschlichen Natur“ Schon die Unvollkommenheit des Menschen mache es erforderlich, seine Triebe und Leidenschaften zu bändigen. Man habe nur die Wahl zwischen staatlicher Repression oder blutigem Bürgerkrieg. Laut Donoso Cortes ist die natürliche Verworfenheit und Gemeinheit des Menschen so dominant, daß es nur durch zwei eiserne Fesseln gelingen könnte, diese Bestie in Schach zu halten: durch den bedingungslosen Glauben an ein höheres Wesen, das gewaltiger ist als menschliche Kreatur -oder/und durch souveräne Herrschaft in einem absoluten Regiment, dessen Entscheidungsbefugnisse durch keine konstitutionelle Behinderung beeinträchtigt werden.

Die durch diese Einsicht politikfähig gewordene Alternative laute daher: Entweder die Menschen werden durch eine religiöse oder aber durch die Autorität des Staates daran gehindert, sich gegenseitig umzubringen. Am besten wäre beides zugleich; da dies aber, infolge des unaufhaltsamen Niedergangs der Religion („moralisch-sittliche Dekadenz“) nicht mehr möglich erscheine, müsse die Repression der Staatsgewalt ersetzen, was durch den Schwund religiösen Gehorsams verloren worden sei.

Donoso Cortes behauptet deshalb, „daß, wenn das religiöse Thermometer hoch steht, das Thermometer der Unterdrückung tief steht, und wenn das religiöse Thermometer niedrig steht, dann steht das politische Thermometer, die politische Unterdrückung, die Tyrannei, hoch.“ Im Klartext besagt dieses „Thermometergleichnis“: Solange sich die Menschen gehorsamsbereit aus Glauben an die

Obrigkeit zeigten, konnte diese mit ihnen umgehen wie mit artigen Kindern. Da sich dieser Glaube aber verliert, was in der ebenso katastrophalen wie ausweglosen Fatalität des modernen Zivilisationsprozesses begründet liegt, da die Kinder also gottlos geworden sind, muß in die metaphysische Lücke der Staat einspringen. Das bedeutet jedoch: Wo die Religion es nicht mehr schafft, muß die Polizei her.

In seiner Parlamentarismusschrift reflektiert Schmitt die Funktionsverschiebungen im politischen System der Republik, wie sie mit dem Strukturwandel des Honoratiorenparlamentarismus zur modernen Massendemokratie eingetreten sind. Fundament des klassischen Parlamentarismus war das liberale Konzept von Gesellschaft und Staat, das ursprünglich auf folgenden Prämissen beruhte: 1. Trennung von Gesellschaft und Staat, die sich im Blick auf die politischen Parteien darin ausdrückt, daß diese zwar als zwischen Volk und Regierung vermittelnde Instanzen gelten, deren Einfluß aber auf den Bereich gesellschaftlicher Interessen beschränkt bleiben soll; 2. Teilung (= Balancierung) der Gewalten mit dem Ziel, die Exekutive vom dynamischen Prozeß der wechselnden parlamentarischen Mehrheiten freizuhalten, um dadurch politische Entscheidungen der Regierung zum Wohle der Nation zu ermöglichen; 3. ein Modell bürgerlicher Öffentlichkeit, innerhalb dessen das Parlament einen geistigen Mittelpunkt bildet, an dem die Bürger orientiert und auch vital interessiert sind; 4. Glaube an ein „government by discussion“ als des legitimatorischen Fundaments liberaler Wahrheitsfindung.

Schmitts Behauptung, daß die parlamentarischen Formen politischer Willensbildung historisch überholt seien, konzentriert sich darauf, die legitimatorischen Säulen des Parlamentarismus als anachronistisch zu erweisen. Dies geschieht u. a. dadurch, daß er dessen als „klassisch“ ausgegebene Wesens-prinzipien im einzelnen daraufhin untersucht, ob sie unter den Bedingungen der modernen Massen-demokratie noch tragfähig erscheinen. Sein Beweisgang läuft über die folgenden Thesen: -Öffentliches Verhandeln von Argument und Gegenargument, wie es in der bürgerlichen Öffentlichkeit des klassischen Parlamentarismus aufgrund der sozialen Homogenität der Parlamentarier noch geschehen konnte, ist der Konfrontation heterogener sozialer Interessen in einander feindlich gegenüberstehenden Parteioligarchien gewichen. Entgegen bloß rhetorisch vorgetragener Überzeugungen ist die Mediatisierung des Parlaments durch mächtige Interessengruppen (Kirchen, Gewerkschaften-, Unternehmerverbände) getreten. -Analog zum Funktionsverlust des Parlaments als einer Stätte freier Willensbildung vollzieht sich ein Verfall der bürgerlichen Öffentlichkeit durch den Einbau plebiszitärer Elemente in die Verfassung: Der Sinn des Plebiszits ist die Entscheidung durch einen Willensakt des Volkes, das zu einer vorgelegten Alternative nur Ja oder Nein sagen kann. Hierdurch verliert die mit dem liberalen Rationalitätsbegriff verknüpfte Erwartung ihren Boden, „daß aus dem freien Kampf der Meinungen die Wahrheit entsteht als die aus dem Wettbewerb von selbst sich ergebende Harmonie“ An die Stelle dieses liberalen Glaubens an die Diskussion tritt der dezisionistische Glaube an das plebiszitäre Diktat der unmittelbaren Demokratie, vor der geheime Wahlen, Parlament und freie Diskussion keinen Bestand haben. -Die mit der liberalen Konzeption verbundene Vorstellung einer Teilung und Balancierung der verschiedenen Staatstätigkeiten wird in einer parteimäßig organisierten Massendemokratie hinfällig. Da Parteien nicht mehr auf den Raum der Gesellschaft beschränkt bleiben, sondern im modernen Parteienstaat selbst die Regierungen stellen, ist der liberale Dualismus von Staat und Gesellschaft hinfällig geworden („Vergesellschaftung des Staates“) . Dies führt zum Übermächtigwerden des Staates durch die Polyarchie der Gesellschaft und damit zu einer latenten Bereitschaft zum Bürgerkrieg, zu dessen Verhinderung die Institution des Staates entstanden war.

Zentrale Prämisse der Parlamentarismuskritik Schmitts ist die rigide begriffliche Auseinanderreißung von Liberalismus und Demokratie. Ist das ideelle Fundament der parlamentarischen Regierungsform das „liberale Einzelmenschbewußtsein“, so beruht die Demokratie auf jenem der „Homogenität“ des Volkes. In der Zeit der Weimarer Republik hieß diese Homogenität für Schmitt noch „Gleichartigkeit“, nach 1933 wurde sie zur „Artgleichheit“.

Um hinter den Sinn der Trennung von Liberalismus und Demokratie zu kommen, ließe sich der Gegensatz auf der Ebene politischer Theorie auch als der zwischen Freiheit und Gleichheit beschreiben, wobei Freiheit konkretisiert werden müßte in Freiheit der Individuen vom staatlichen Zugriff, Freiheit des Eigentumserwerbs und der Nutzung des Eigentums im Rahmen des Gesamtwohls sowie Freiheit des Glaubens, der Meinung, des Gewissens usw.

In solchen Freiheiten des liberalen Rechtsstaates sieht Schmitt nur mehr Rechtfertigungsideologien, die in einer homogenen Demokratie der Artgleichen, in welcher der ursprüngliche liberale Dualismus von Staat und Gesellschaft beseitigt wurde, substanzlos geworden sind: „In der Demokratie gibt es nur die Gleichheit der Gleichen und den Willen derer, die zu den Gleichen gehören. Alle andern Institutionen verwandeln sich in wesenlose sozialtechnische Behelfe, die nicht imstande sind, dem irgendwie geäußerten Willen des Volkes einen eigenen Wert und ein eigenes Prinzip entgegenzusetzen.“

Hier wird Schmitts Argumentationsstrategie deutlich: Dadurch, daß er als letzte Konsequenz der demokratischen Homogenitätsidee eine Art Jakobinerdiktatur beschwört, bringt er die Liberalen in eine heikle Defensivposition. Durch den Aufweis der Inkonsequenz aller liberal-demokratischen Vermittlungsfiguren stellt er die Bürger seiner Zeit vor die unausweichliche Alternative: entweder eine pluralistische Herrschaftsform klassischer liberaler Art -die der Geschichte angehört -oder Identität als Weg in den (bolschewistischen/faschistischen) Einheitsstaat.

Die Pointe dieser von Schmitt geforderten Entscheidungsnotwendigkeit besteht nun darin, daß, wie er zeigt, die Entscheidung eigentlich schon gefallen ist. Zwar nicht in den Köpfen der entscheidungsunfähigen Bourgeoisie, aber in der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Hier haben nämlich infolge von Wahlrechtsreformen, organisierten Klasseninteressen der Arbeiter und sozialstaatlichen Maßnahmen längst fundamentale Veränderungen stattgefunden, die eine Entscheidung für den parlamentarisch-liberalen Rechtsstaat als illusorisch erscheinen lassen müssen. Schmitt weiß also längst, worauf der Zwang zu dieser Entscheidung hinausläuft: entweder auf das panische Erschrecken über die bedrohliche Wirklichkeit mit der dann folgenden Rückwendung zum starken Staat oder aber auf die Verlängerung der Unentschiedenheit des Weimarer Sozial-Liberalismus mit der Gefahr, die letzten Bastionen bürgerlicher Hegemonie im massendemokratischen Kontext zu verlieren. Das Ende kann nur, so suggeriert Schmitt, die Entscheidung für eine diktatorialfaschistische Lösung sein, andernfalls drohe der Bolschewismus.

So hat Schmitt schließlich erreicht, was er von Anfang an wollte: den Nachweis des Endes der parlamentarischen Epoche als der politischen Konsequenz des ausgehenden Liberalismus. Das liberale Bürgertum sollte vor die Alternative gestellt werden: Entweder es läßt die Dinge weiter treiben, was schließlich unweigerlich im Kommunismus enden müsse; oder es wendet sich entschieden gegen die für seine Interessen kontraproduktiv gewordenen Einrichtungen anachronistischer liberaler Provenienz und sagt ja zum autoritären, starken Staat nach faschistischem Muster. Der Faschismus stellt gewissermaßen die politische Kompensation des Monotheismus in vollendeter Gottlosigkeit dar.

Die Parlamentarismusschrift endet denn auch konsequent mit einer Hymne auf den Duce Benito Mussolini. Für Schmitt gilt dessen Sieg als Beweis dafür, „daß die Energie des Nationalen größer ist als die des Klassenkampfmythus“ „Wo es zu einem offenen Gegensatz der beiden Mythen gekommen ist, in Italien, hat bis heute der nationale Mythus gesiegt. . . Wie ... im 16. Jahrhundert hat wieder ein Italiener das Prinzip der politischen Wirklichkeit ausgesprochen.“

Das Gemälde, das Schmitt von der aktuellen politischen Wirklichkeit entwirft, ist der Weltbürger-krieg. Mindestens seit dem Ende der absoluten Monarchien, wo die Autorität eines Monarchen noch die eindeutige Entscheidung über oben und unten herbeigeführt hatte, ist die europäische Welt ins Wanken geraten. Der Konstitutionalismus der liberalen Bourgeoisie hat durch das Prinzip der Gewaltenteilung jede verbindliche Staatsautorität aufgelöst: Zwar wird dem König noch sein Thron belassen, aber seine Macht soll drastisch beschnitten werden. Schmitt kann darin -hier eines Sinnes mit Donoso Cortes -nur eine Inkonsequenz erblicken, die sich vor einer grundsätzlichen Entscheidung herumdrückt.

Mit der Behauptung, der Liberalismus sei zutiefst unpolitisch, meint Schmitt, er weiche jener unabwendbaren Entscheidungsschlacht aus, die im Zeitalter der Massen den beiden Parteien bevorstehe: der der Ordnung gegen jene der Anarchie. Ordnung ist deshalb der höchste politische Wert, weil sie auf einer definitiven Entscheidung beruht, die von allen, für die entschieden wurde, akzeptiert wird. In diesem Sinne heißt es in der „Politischen Theologie“, „.. . daß in der bloßen Existenz einer obrigkeitlichen Autorität eine Entscheidung liegt und die Entscheidung wiederum als solche wertvoll ist, weil es gerade in den wichtigsten Dingen wichtiger ist, daß entschieden werde, als wie entschieden wird“

Die Schriften Schmitts durchzieht eine Aura von eschatologischer Dramatik, die von Anfang an das Signum der Menschheitsgeschichte sei. Da ist von einer Endkatastrophe die Rede, von bevorstehenden Entscheidungen und von den Abgründen der politischen Realität. Was seine Konzeption des Politischen von früheren unterscheidet, ist die den gesamten Menschen erfassende und damit existentielle Bestimmung des Politikbereichs. Wenn „politisch“ grundsätzlich jeder Bereich des menschlichen Zusammenlebens werden kann und wenn es nur der Intensitätsgrad, nicht aber eine bestimmte materiale Qualität ist, die für das Politische das Kriterium darstellt, so bedeutet dies ein Höchstmaß an formalisierter, d. h. inhaltsleerer Unbedingtheit.

Die von Schmitt konzipierte Theorie des Politischen arbeitet mit Kategorien, die sich von der Vorstellung eines rationalen Begründungszusammenhangs politischen Handelns lösen. So soll sich jede politische Ordnung letztlich einer Entscheidung „aus dem Nichts“ verdanken, die von allen ethisch-normativen Erwägungen absieht. In diesem Gleichgültigwerden aller Inhalte zugunsten der reinen Dezision kommt ein Begriff von politischer Wirklichkeit zur Geltung, wie ihn schon Georges Sorel entwickelt hat. Auch der von Schmitt vorgetragene Generalangriff auf den liberalen Parlamentarismus vollzieht sich in der Form einer Rezeption der Sorelschen Mythenlehre. War es bei Sorel der Glaube der Massen an einen Generalstreik, der sie zur Aktion motivieren sollte, so tritt bei Schmitt an dessen Stelle der Glaube an die Nation; darin sieht er sich durch den Sieg Mussolinis in Italien bestärkt.

Wie Sorel sieht Schmitt die Fähigkeit zum politischen Handeln in der Kraft zum Mythos. Als historische Beispiele nennt er u. a. die Vorstellung von Ruhm bei den Griechen; die Erwartung des Jüngsten Gerichts im alten Christentum; den Glauben an die Fügenden in der Französischen Revolution sowie die nationale Begeisterung in den deutschen Befreiungskriegen gegen Napoleon 1813. „Nur im Mythus liegt das Kriterium dafür, ob ein Volk oder eine andere soziale Gruppe eine historische Mission hat.. .“

Da es in aller Politik nicht aufs Diskutieren und Verhandeln, sondern allein auf Entscheidungen ankomme, ist die vom Mythos auf die Aktionsbereitschaft ausgehende Energie unverzichtbar. Solche Mythen („idees forcees“) sind primär Kampfesmythen, die einen absoluten Feind imaginieren. Sie schaffen das Gefühl der elementaren Bedrohung, die sich aus der bloßen Existenz der Anders-artigkeit des jeweiligen Feindes ergibt. Da es Schmitt zufolge in der „großen Politik“ nur um existentielle Situationen geht, die Situation des Kampfes und des Krieges deshalb die höchste und intensivste Steigerung des Politischen darstellt, kommt alles auf die zur Tat inspirierenden Mythen an. Der moderne Mythos der Nation erhält damit den Rang eines verpflichtenden politischen Absolutums, das in den Spielformen des zeitgenössischen Nationalismus ebenso als Rasse wie in der ihr entsprechenden Form der politischen Ethnokratie auftreten kann.

Das Faszinosum von Schmitts Texten hat offenbar seinen Grund in der Kunst, moderne Formen und Methoden des Denkens und des sprachlichen Ausdrucks in den Dienst einer Rückversicherung bei tradierten institutionellen bzw. mythischen Größen zu stellen. Die gegenmodern motivierte Abwehr aller emanzipatorischen Bewegungen beschwört scheinbar uralte und angeblich bereits durch ihre Dauer erhabene Lebensmächte (Mythen, Symbole), die sich jedoch -entgegen ihrem ideologischen Selbstverständnis -bekanntlich erst relativ späten historischen Perioden verdanken. Das trifft vor allem auf Kollektivsubjekte wie die „Nation“ zu. Solche Kollektivsubjekte, deren bevorzugte Verwendung ein Hauptmerkmal der „Konservativen Revolution“ darstellt, beziehen ihre emotionale Kraft aus quasi religiösen Energien und Aufladungen. Sie sollen auf eine unverfügbare Bindung der Individuen an wesen-hafte Substanzen verweisen, die schon darum keiner begrifflichen Definition bedürften, weil sonst jene Aura des Unaussprechlichen und ganz anderen schwände, auf der ihre mobilisierende politische Wirkung gerade beruht.

Der mythenträchtige Bedeutungsgehalt solcher Arkan-Begriffe läßt sie für die Legitimation politischer Herrschaft besonders geeignet erscheinen. In ihnen drückt sich die Sehnsucht nach festen Orientierungsmustern in krisenhaften Perioden der neueren Geschichte aus; sie stellen ein Gehäuse vor allem für eine von Deklassierung bedrohte, obdachlos gewordene junge mittelständische Intelligenz dar, die darin eine Rechtfertigung für ihren ansonsten diffusen Tatendrang zu finden glaubt. Als institutioneile Symbolbegriffe stiften sie imaginäre Gemeinschaften bei denen, die nach „Erlösung“ aus dem Gefühl der Vereinzelung, der Isolation und individuellen Verlorenheit suchen. Solche Kollektivbegriffe verdanken sich sowohl einer „Entzeitlichung“ als auch einer ihr entsprechenden „Verräumlichung“ von Geschichte. Entzeitlichung meint die Verselbständigung und Isolierung des begrifflichen Konstrukts aus dem historischen Kontext als Grundlage ihrer mythischen Überhöhung. Durch die Ausblendung der Genese wird -ähnlich wie in der christlichen Denkweise des Mittelalters -die zeitliche Trennung von Vergangenheit und Gegenwart ebenso eliminiert wie die Unterscheidung von Ursache und Wirkung. Schmitt und der „Konservativen Revolution“ gilt alles Wirkliche als zugleich vorgegeben und aufgegeben. Diese Prämisse, so demütig-bescheiden sie sich auch gibt, ist doch von Grund auf polemisch gegen die Aufklärungsthese von der Erkennbarkeit und Veränderbarkeit der Welt gerichtet. „Vorgegeben“ ist die Wirklichkeit, weil sie, konservativer Prämisse gemäß, gar nicht auf Rationalität und Vernünftigkeit hin angelegt ist, sondern in ihrem erhabenen So-und-nicht-anders-Sein aller menschlichen Versuche spottet, sie auf den Begriff zu bringen.

Sehen um vorauszusehen, das Programm moderner Wissenschaft, bildet nicht etwa darum den Gegenstand konservativer Polemik, weil die Ergebnisse dieser Anstrengung weit hinter den Erwartungen Zurückbleiben, weil Anspruch und Einlösung gerade auf den Gebieten des sozialen Lebens auseinanderklaffen; die aufklärerische Intention selbst gilt bereits als Anmaßung, als ein bloßer „Intelligibilitätswahn“, den einer der heutigen Protagonisten der „Konservativen Revolution“ „die meistverbreitete geistige Störung in der Geschichte der Menschheit“ nennt.

Aus der unleugbaren Begrenztheit menschlichen Daseins wird auf die prinzipielle Inkompetenz der menschlichen Vernunft geschlossen, Wirklichkeit zu erkennen. Als subjektiv sei sie bloß zum Vergleichen, Unterscheiden und Ordnen geschaffen. Vernunft heißt in solch politischer Phonetik vorab horchend-gehorchendes „Vernehmen“. Was im emphatischen Sinne „vernünftig“ genannt zu werden verdiene, sind allein institutionelle Ordnungen: Familie, Verwandtschaft, Boden, Sprache, Sitte und Volk. Auf sie sind Deutungskategorien der Vernunft jedoch gerade nicht anwendbar, da sie eben schlicht Wirklichkeit, d. h. problemlose Gegebenheit sind. Sie gehorchen ihren eigenen Gesetzen, welche die individuelle Vernunft transzendieren. Alles, was diese angesichts der autonomen Wirklichkeit tun kann, ist, sie anzuerkennen und damit die eigene Bedingtheit, Abhängigkeit und Ohnmacht einzubekennen. Daher gilt im konservativ-revolutionären Selbstverständnis der Grundsatz: anerkennen statt erkennen. Daß das Wirkliche aber nicht nur vorgegeben, sondern zugleich auch aufgegeben ist, faßt Schmitt bekenntnishaft in der Maxime Konrad Weiß’ zusammen, die ausdrücklich gegen den promethei-10 sehen Lichtbringer-Mythos gewendet ist: „So wird . . . aus dunkler Haft die Seele geführt zur Welt. Vollbringe, was du mußt, es ist schon immer vollbracht und du tust nur Antwort.“ Damit wird zwar kein Verzicht aufs Handeln überhaupt ausgesprochen, kein „romantischer“ Rückzug in die Innerlichkeit, doch jeder Anspruch auf ein eigenmächtiges Verändernwollen der Welt dementiert.

Die anthropologische Voraussetzung der Abwehr und Verneinung des menschlichen Strebens nach autonomer Erkenntnis und Weltbemächtigung ist die von Schmitt vorgetragene Überzeugung von der Riskanz der menschlichen Natur, die sich im Wunsch nach Selbstermächtigung kundtut. In ihm sieht Schmitt, der Bewunderer Donoso Cortes’, eine Versuchung des Bösen, die zur apokalytischen Verfinsterung in moderner Gottferne geführt habe. Vor diesem Hintergrund gewinnt jede menschliche Tat ihren Sinn als Entscheidung für oder gegen das Verderben, das sich im unwiederholbaren Geschichtsverlauf ankündigt. Es kann nicht abgewendet, wohl aber hinausgezögert werden: Dies meint Schmitt mit der Idee des Katechon.

Auch die für das Politische konstitutive Unterscheidung in Freund und Feind gewinnt erst aus der Optik dieser Politischen Theologie ihre Konturen. Die Frage der Anerkennung oder Nichtanerkennung des Feindes bildet zugleich das Kriterium für die Existenz oder Nichtexistenz eines moralischen Bewußtseins. Es gelangt zur Identität erst auf dem Umweg über die Anerkennung eines -stets nur vom eigenen Kollektiv zu bestimmenden -Feindes, der in seinem Fremd-und Anders-sein zur politischen Identität verhelfen soll. Sie gilt Schmitt nicht mehr nur als ein innergeschichtlicher Vorgang, sondern als eine Frage von Sein oder Nichtsein.

Weltgeschehen ist, so will es die Politische Theologie, die beständige Anfechtung durch das Satanische. Solange der Feind als Feind erkannt wird, besteht Hoffnung; erst wenn er maskiert auftritt, besteht höchste Gefahr. So tritt der Teufel in Gestalt des betrügerischen Fortschritts auf, der die Menschen mit Versprechungen materieller Wohlfahrt blendet. Ist erst einmal die Reduktion alles Ideellen auf materielle Interessen vollzogen, so fehlt jeglicher Halt, der der Zerstörung geistiger Autorität entgegenstehen könnte. In diesem Sinne pflichtet Schmitt Donoso Cortes bei, wenn dieser behauptet, „daß mit dem Theologischen das Moralische, mit dem Moralischen die politische Idee verschwindet und jede moralische und politische Entscheidung paralysiert wird in einem paradiesi-sehen Diesseits unmittelbaren, natürlichen Lebens und problemloser , Leibhaftigkeit’“ Was Schmitt hier beschwört, bildet das Theorem einer weltgeschichtlichen Dekadenz -zugleich Zentralmotiv der „Konservativen Revolution“, das hier in der Form radikaler Liberalismuskritik eine besondere Zuspitzung erfährt.

Das Verdikt über den Liberalismus ergibt sich bereits aus Schmitts früher Schrift über den „Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen“. Als tragender Gedanke findet sich hier jene Dichotomie, die sein gesamtes Werk durchzieht: der fundamentale Gegensatz zwischen einer bloß natürlichen und einer moralisch-politischen Existenz des Menschen. Während jene ihm in ihrer Faktizität als nichtswürdig gilt, ist es ihm um den Nachweis zu tun, daß allein der Staat als Institution dazu in der Lage ist, die ihrer Natur nach korrupten Menschen in einen Zustand zu bringen, der sie als sittliche Wesen ausweist: „Jeder Wert, der mit dem einzelnen Menschen verknüpft werden kann, besteht in der Hingabe an den überindividuellen Rhythmus einer Gesetzlichkeit.“ Politisch schlägt sich diese Option als eine Werthierarchie nieder, in der dem Staat als politischer Einheit und Institution der Rechtsverwirklichung aufgrund seiner sinn-und ordnungsstiftenden Funktion eine sakrale Würde zugesprochen wird. Demgegenüber sqi „das leiblich konkrete Individuum ... eine gänzlich zufällige Einheit, ein zusammengewehter Haufen von Atomen, dessen Gestalt, Individualität und Einzigkeit keine andere sind, wie die des Staubes, der vom Wirbelwind zu einer Säule gefügt wird“

In solch rechtshegelianischer Suprematstellung der Institution des Staates drückt sich mehr aus als im gewöhnlichen Begriff des „Etatismus“. Betont dieser, im Sinne von Hobbes, den Gehorsamsanspruch an die Bürger unter Hinweis auf die Schutzfunktion des Staates, so gerät bei Schmitt die Verherrlichung der Staatsgewalt zu deren Deifizierung. Nicht allein vollzieht der Staat die Verbindung des Rechts mit der Macht; er repräsentiert darüber hinaus -als immanente Transzendenz -„das einzige Subjekt des Rechtsethos“ Demgegenüber besitzt das empirische Einzelwesen Mensch keinerlei Subjektqualität, es sei denn die des Unterworfenen. Es lebt gänzlich von Gnaden seines essentialistischen Pflichtethos, das zum Dienst am Staat nötigt, der stets schon, qua Existenz, ordnungsstiftender Rechtsstaat sei. Die Dichotomie von transpersonaler Institution und empirischer Natürlichkeit menschlichen Daseins erlaubt keine wie immer geartete Vermittlung. Denn die Erkenntnis der objektiven Gesetzlichkeit von Recht und Staat bleibt dem Verstand des einzelnen von vornherein verschlossen. Er steht, wie bei Donoso Cortes, aufgerufen zur Entscheidung, vor einem Entweder -Oder, Gut oder Böse, Gott oder Teufel, Leben oder Tod. Gemäß der obersten Maxime sowohl Schmitts als auch der „Konservativen Revolution“, daß außerhalb der konkreten Lebensordnungen, Institutionen und „Ganzheiten“ kein Heil sei, gilt die Bindung ans eigene Kollektiv selbst dann als gerechtfertigt, wenn dieses sich unter Berufung auf demokratische Homogenität nötigenfalls zur „Vernichtung des Heterogenen“, des „Fremden und Ungleichen, die Homogenität Bedrohenden“ anschickt. Die damit unterstellte Transzendenz des rechtsverwirklichenden Staates gehört zu den ontologischen Prämissen nicht bloß der Schmittschen Staatslehre, sondern der gesamten „Konservativen Revolution“.

Wie prägend dieser rigid antisubjektivistische Grundcharakter der Schmittschen Staatslehre bei einem repräsentativen Wortführer der „Konservativen Revolution“ wie Wilhelm Stapel werden konnte, erweist sich etwa an dessen kategorischem Diktum: „Die irdische Kreatur an sich hat durchaus keinen Anspruch auf Wert. Der Mensch als irdischer Mensch, und sei er der , geistigste, ist wertlos. Er hat als bloßes Individuum, von sich aus, keinerlei Recht auf Leben,... Dieses Individuum erhält erst seinen Wert aus dem Sinnzusammenhang eines Ganzen, dem es angehört. Es erhält relativen Wert erst durch die Beziehung, in der es zu einem Ganzen steht.“

Ist es in der Staatsschrift von Schmitt die Dichotomie zwischen einem bloß natürlichen und insofern nichtigen einzelnen und dem mit allen Insignien transzendenter Würde ausgestatteten Staat, so erscheint diese bei Stapel als Gegensatz von sinnloser irdischer Existenz und einem sinnhaften „Ganzen“, an dem der einzelne teilhat. Bei beiden Autoren erhalten „der Staat“ und „das Ganze“ die Attribute des Absoluten, von dem her Rang und Wertordnung der daran partizipierenden einzelnen sich überhaupt erst ableiten. Ob „Reich“, „Nation“, „Volk“, „Volksgemeinschaft“ oder „Rasse“: stets erfüllen sie die Funktion, die einzelnen als Glieder einer Totalität zu mediatisieren und zu mobilisieren, um so den staatlichen Verband als politisch homogene Einheit zu sanktionie­ ren. Diese Setzung gerät schließlich zur pluralismusfeindlichen Fundierung von „Demokratie“ als „Vertrauensdiktatur“. Denn in beiden wird die bloße Akklamation des als homogen vorgestellten Volkes gegenüber dem Führerwillen zur entscheidenden Legitimationsgrundlage von „Demokratie“. Daß die damit gegebene Transformation von der Identitätsrepräsentation zum „totalen Staat“ keine sachfremde Zuschreibung ist, beweist etwa die Mühelosigkeit, mit der bei Schmitt nach der Machtübertragung des Jahres 1933 aus „Gleichartigkeit“ „Artgleichheit“ werden konnte.

Die Beschwörung einer Einheits-und Ganzheitsmetaphorik im Sinne einer erhabenen, transpersonalen und zugleich heroisch-ästhetischen Dimension bezeichnet eine Gemeinsamkeit, die viele der akademischen Wortführer der nationalistisch-bellizistischen Diskurse zur Zeit der Auguststimmung 1914 mit den Autoren der „Konservativen Revolution“ verbindet, wie sie während der Endzeit der Weimarer Republik etwa im „Tat-Kreis“ um Hans Zehrer auftraten.

Das bis heute anhaltende Interesse an Schmitt wird indessen offenbar nicht nur durch jene gedanklichen Motive bestimmt, die sein Denken seit der Zeit des Wilhelminischen Reiches charakterisieren, sondern auch durch einen spezifischen argumentativen Gestus, der sich als mehrstufige Einheit konkretisiert: Der hohe Formalitätsgrad seiner Kategorien (Ernstfall, Freund-Feind, Ausnahmezustand, Souveränität usw.), die allen möglichen inhaltlichen Auffüllungen offenstehen, ermöglicht eine multifunktionale Anwendung seiner Lehrsätze. So etwa kann die bekannte Formel, wonach souverän sei, wer über den Ausnahmezustand entscheide, sehr vielschichtig gedeutet werden. Man könnte sie so lesen: „Wem die Kompetenz zur Feindbestimmung zusteht, der muß als souverän gelten“, aber auch so: „Wo es im Ernstfall um Leben und Tod eines Kollektivs geht, durchbricht schicksalhaft die Ausnahme jede Regel.“ Der der Legitimität verliehene Wertprimat gegenüber jedweder Legalität läßt Schmitts Denken in einem ausgeprägten Sinne als realpolitisch und politiknah erscheinen.

Wo immer die Moderne als Chaos erlebt wird, wächst oft auch die Sehnsucht nach neuer Ganzheit und absoluten Wertmaßstäben. Die von zunehmender Komplexität bewirkten Verunsicherungen verleihen dann dem Versprechen scheinbarer Eindeutigkeit neuen Glanz. Allerdings ist Schmitts Dezisionismus von besonderer Art. Seine ontologisch kaschierte Inhaltsleere macht ihn instrumentalisierbar für jedweden aggressiven Nationalismus, der sich unter Berufung auf „Demokratie“ zur völkischen Homogenität bekennt und damit zu Ausschaltung ethnisch Fremder hindrängt.

Die existentielle Überhöhung des Politischen hypostasiert jede politische Einheit zum Absolutum, wodurch implizit der „totale Staat“ als Fluchtburg normiert wird. Weil jede obrigkeitliche Autorität als ordnungsstiftende Instanz fungiert, bleiben besonders in unserem Jahrhundert auftretende Phänomene wie Staatsunrecht und Staatsterror von vornherein ausgeblendet. Da einem jeden Volk kraft Souveränität das Recht zugebilligt wird, durch eigene Bestimmung Freund und Feind zu unterscheiden, gerinnen in Zeiten der Krise und im „Ausnahmezustand“ öffentliche Feinderklärungen zur Normalität politischen Handelns.

War es das erklärte Ziel Schmitts, mit den Mitteln der Moderne deren Dynamik stillzustellen, so ermöglicht sie die Instrumentalisierung seiner Politiktheorie zur Rechtfertigung aggressiver Ressentiments gegen alles als fremd, andersgeartet und daher als bedrohlich Wahrgenommene. Kollektive Selbstbehauptung gerät zur obersten Maxime politischen Handelns, und die daraus entstehenden Katastrophen werden als ein Kampf um letzte Dinge verklärt, der mit der Vernichtung des „Bösen“ -und dies ist immer „die Moderne“ -enden soll. Dieses zentrale Motiv der Politischen Theologie Schmitts läuft letztlich auf eine Sakralisierung des „totalen Staates“ unter Einsatz der äußersten Mittel hinaus. Hierin offenbart sich der Sinn der von ihm proklamierten „katholischen Verschärfung“.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Carl Schmitt, Politische Theologie, Berlin 1922 (1985), S. 75; vgl.ders., Donoso Cortös, Köln 1950, S. 30.

  2. Ders., Politische Theologie, ebd., S. 73.

  3. Donoso Cortös, Drei Reden, Zürich 1948, S. 37.

  4. Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Berlin (1923) 1961, S. 45 f.

  5. Ebd., S. 22.

  6. Ebd., S. 88.

  7. Ebd., S. 89 f.

  8. C. Schmitt (Anm. 1), S. 71.

  9. Ebd., S. 80.

  10. Armin Mehler, Lehre und Leere im Liberalismus, in: Volker Beismann/Markus Josef Klein (Hrsg.), Politische Lageanalyse, Bruchsal 1993, S. 216.

  11. Carl Schmitt, Ex captavitate salus, Köln 1950, S. 53.

  12. Ders. (Anm. 1), S. 82.

  13. Ders., Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, Tübingen 1914, S. 93.

  14. Ebd., S. 102.

  15. Ebd., S. 2.

  16. C. Schmitt (Anm. 4), S. 14.

  17. Wilhelm Stapel, Volksbürgerliche Erziehung, Hamburg -Berlin -Leipzig 1928, S. 180 f.

Weitere Inhalte

Kurt Lenk, Dr. phil., geb. 1929; Politikwissenschaftler; Professor emeritus der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen; z. Zt. Lehrbeauftragter an der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen -Nürnberg. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Politischen Theorie und Politischen Soziologie. Zuletzt erschien: Rechts, wo die Mitte ist. Studien zur Ideologie: Rechtsextremismus, Nationalsozialismus, Konservatismus, Baden-Baden 1994.