Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Rückblick auf Bonn | APuZ 32-33/1999 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 32-33/1999 Rückblick auf Bonn Die Berliner Republik. Erwartungen und Herausforderungen Das Herzstück der jungen Bundeshauptstadt. Die Anfänge des Deutschen Bundestages in Bonn 1949/50 Republikanische Lockerungsübungen Der Umzug nach Berlin und das Ende der Angst vor der Baugeschichte

Rückblick auf Bonn

Karl Dietrich Bracher

/ 16 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Fünfzig Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland in Bonn ist die zweite deutsche Demokratie dabei, unter mancherlei Bedenken und Schlagworten wie dem einer künftigen „Berliner Republik“ aus der länger als zunächst erwartet provisorischen in die nunmehr betont definitive Hauptstadt umzuziehen. Es war die Geschichte einer über vierzig Jahre geteilten Nation, die sich im Westen mit dem Aufbau einer neuen Demokratie erfolgreicher zu behaupten wußte als das erste Experiment von Weimar in der verhängnisvollen Zwischenkriegszeit Europas von 1918 bis 1939, als Parlamentspolitik weithin mit Krise und Scheitern gleichgesetzt und daher auch das Kommen der ersten deutschen Diktatur hingenommen oder gar erstrebt wurde. Es gibt keine einfache Antwort auf die Frage, welcher der zahlreichen Faktoren in erster Linie für die letztlich soviel glücklichere Entwicklung der Bundesrepublik -verglichen mit der kurzlebigen Weimarer Demokratie oder gar mit der allzu langdauernden zweiten deutschen Diktatur in der DDR -namhaft zu machen ist. Der Verfassung, ihrer Anerkennung und Verwirklichung sowie der Abwehr radikaler Tendenzen, kommt hohe Bedeutung zu. Eine pragmatische wie effektive Außen-, Wirtschafts-und Innenpolitik war gleichermaßen an dieser Erfolgsgeschichte beteiligt, die nun historisch mit dem Namen der rheinischen Stadt Bonn verbunden ist. Grundlegend ist und bleibt vor allem die Einfügung zuerst West-, dann Gesamtdeutschlands in den übernationalen Rahmen einer atlantisch gestützten Europapolitik, der Verzicht auf eine in der Vergangenheit so verhängnisvolle nationalistische Machtpolitik, das Streben nach Partnerschaft mit den Nachbarn und das Bewußtsein der wechselseitigen Abhängigkeit auf wirtschaftlichem und politischem wie auf geistigem und moralisch-wertbezogenem Gebiet. Diese politische Kultur der Bundesrepublik, wie sie fünfzig Jahre lang durch das föderale System im ganzen Land, nicht zuletzt aber in Bonn geprägt worden ist, sollte auch Leitbild einer Bundeshauptstadt Berlin sein.

I.

Fünfzig Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland in Bonn ist die zweite deutsche Demokratie dabei, unter mancherlei Bedenken und tönenden Schlagworten wie dem einer künftigen „Berliner Republik“ aus der längen als zunächst erwartet provisorischen in die nun betont definitive Hauptstadt umzuziehen. Sie folgt also nicht der Abneigung fast aller föderalistischen Staaten, die größte Metropole auch noch zum Sitz von Parlament und Regierung samt Präsident zu machen (Ausnahme: Wien). Es geht auch um mehr als den Streit über Nomenklaturen und Selbstbezeichnungen, wie ihn wohl kein anderer Staat führt; Bezeichnungen wie „Weimarer Republik“ wurden ja erst nachträglich für die erste deutsche Demokratie verwendet -und dann leider eher als Abschreckung denn als ehrende Erinnerung an den historischen Verfassungsort von 1919.

Es geht heute vielmehr um die 50jährige Dauer und die erwarteten Veränderungen in der Bundesrepublik, nachdem die Verfassung des Grundgesetzes sowie Parlamente und Regierungen eines freien Westdeutschland mit Sitz in Bonn dieser zweiten deutschen Republik über vier Dezennien bis zur Wiedervereinigung und dann noch ein weiteres Jahrzehnt bis heute auch Gesamtdeutschland das Gepräge gegeben haben. Dabei hoben scharfsinnige Betrachter auch von außen schon früh den betonten Unterschied oder Gegensatz der „Bonner Demokratie“ zur Weimarer Republik hervor (wie u. a. etwa Alfred Grosser) und prägten die klassische Kurzformel: „Bonn ist nicht Wei-mar“ (Fritz Rene Allemann 1956).

Nicht zuletzt war es die Geschichte einer geteilten Nation, die sich im Westen mit dem Aufbau einer neuen Demokratie erfolgreicher als das erste demokratische Experiment von Weimar in der verhängnisvollen Zwischenkriegszeit Europas von 1918 bis 1939 zu behaupten wußte, in der Parlamentspolitik weithin mit Krise und Scheitern gleichgesetzt und darum auch das Kommen der ersten deutschen Diktatur hingenommen oder gar erstrebt wurde. Doch wurde nun im selben Jahr 1949 auf sowjetisches Geheiß eine gegensätzliche „Volksdemokratie“ in Ostdeutschland gegründet: die DDR, die über 40 lange Jahre unter faktischer Einparteiherrschaft der SED eine zweite deutsche Diktatur war. Überarbeitete und aktualisierte Fassung der Studie „Deutschland in Europa“, in: Karl Dietrich Bracher, Wendezeiten der Geschichte, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1992

In dieser Doppelheit deutscher Zeitgeschichte nach der totalen Niederlage von 1945 lag eine tiefe Spannung und Problematik beschlossen, die den so unerwartet raschen Staatsbildungen wesentlich wurde. Sie war Nachkriegsgeschichte, die aus der „deutschen Katastrophe“ des Hitlerregimes herausführte, und zwar in steter Auseinandersetzung mit der Grunderfahrung der „deutschen Diktatur“ von 1933 bis 1945. Aber sie erhielt einen starken zusätzlichen Antrieb aus der höchst aktuellen Konfrontation zwischen den Supermächten in Ost und West -und aus den so gegensätzlichen politischen Werten, die sie vertraten: diktatorische Einparteiherrschaft oder freiheitliche Demokratie. Dieses Spannungsgefüge hat die Begründung und Entwicklung von zwei so unterschiedlichen Regierungssystemen auf dem Boden des durch Vertreibung und Besetzung verkleinerten deutschen Nationalstaats bestimmt, und es wurde noch kompliziert und verschärft durch die militärischen und ökonomischen Strategien eines „Kalten Krieges“, der in seinen Grundzügen trotz allen Beteuerungen der Entspannung bis ans Ende der achtziger Jahre reichte.

Zumal die Bundesrepublik Deutschland war aber nicht nur Objekt, sondern zunehmend auch Subjekt jener Entwicklung, die binnen weniger Jahre zu scheinbar unumstößlichen Entscheidungen geführt hat. Die Abhängigkeit deutscher Politik von der internationalen Machtlage trat vor allem in den großen Weichenstellungen von 1948/49 klar zutage. Von Anfang an hingen die Bewältigung der Kriegsfolgen, die Organisation des Wiederaufbaus und die Sicherung der dafür notwendigen Kooperation mit den westlichen Alliierten aufs engste mit der Einordnung des besetzten Deutschland in die bipolar gespaltene Europa-und Weltpolitik zusammen. Die Handlungsfähigkeit deutscher Politik gewann dadurch bald wieder an Gewicht.

Das galt vor allem für die politische Orientierung und demokratische Entfaltung der Bundesrepublik Deutschland. In ihr erfuhr man den wesentlichen Unterschied zur sowjetisch bestimmten Gründung der DDR und ihrer politisch-gesellschaftlichen Form als einer diktatorisch gesteuerten „Volksdemokratie“. Beide Staaten standen zwar im Zeichen der Blockbildung und unter der Kontrolle der Siegermächte, doch trat der grundlegende Unterschied von Anfang an aufs deutlichste hervor: Im Osten kam es anstelle der in den ersten Nachkriegsjahren proklamierten „Demokratisierung“ zur Durchsetzung einer von der Sowjetunion abhängigen kommunistischen Parteidiktatur, im Westen hingegen wurde die stufenweise Änderung des Besatzungsregimes in ein System der internationalen Kooperation erreicht -mit dem historisch so bedeutsamen Ziel, die negative Kontrolle Deutschlands in eine positive Integration mit europäischer und atlantischer Ausrichtung zu verwandeln. Diese Zielsetzung war denn auch die zukunftsträchtige Substanz der Verhandlungen und Verträge, die vom Marshall-Plan über die Westeuropäische Union, den Europarat, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl schließlich zu den Deutschlandverträgen und zur Europäischen Gemeinschaft geführt haben. Und hier lag auch der fundamentale Unterschied zur Nachkriegszeit von 1918/19, als der Rückfall in ein Europa der Nationalstaaten die tödliche Krise der Demokratie und den diktatorischen Aufstieg aggressiv-revisionistischer Bewegungen und Systeme, voran des italienischen Faschismus und dann des deutschen Nationalsozialismus, ermöglicht hatte. Nun aber eröffnete diesseits des sowjetischen Machtbereichs eine Politik der engen europäischen Zusammenarbeit in Anlehnung an die USA mit der Zielvorstellung ökonomisch-politischer Integration, die sich auf Pläne der Widerstandsbewegungen im Kriege und eine Vielfalt von Europa-Bewegungen in der frühen Nachkriegszeit berufen konnte, auch konkretere Perspektiven für eine übernationale, eine „postnationale“ Lösung des deutschen Staatsproblems. Sowohl mit Blick auf die Wirtschafts-und Sicherheitspolitik wie besonders auf die Stabilisierung der neuen deutschen Demokratie gewann die Europa-Idee eine machtvolle Funktion: Sie bot ein neues, weiter gefaßtes Bezugssystem, nachdem der übersteigerte Nationalimperialismus des NS-Regimes nationalstaatliches Denken als letzte Instanz in schwerste Krisen geführt hatte.

II.

Es gibt keine einfache Antwort auf die Frage, welcher der zahlreichen Faktoren in erster Linie für die letztlich so viel glücklichere Bundesrepublik, verglichen mit der kurzlebigen Weimarer Demokratie oder gar mit der allzu langdauernden zweiten deutschen Diktatur in der DDR, namhaft zu machen ist. Außen-, Wirtschafts-und Innenpolitik sind gleichermaßen beteiligt. Der Verfassung, ihrer Anerkennung und Realisierung, sowie der Abwehr diktatorischer und radikaler Tendenzen kommt ebenfalls hohe Bedeutung zu. Grundlegend ist und bleibt aber schließlich die Einfügung zuerst West-, dann Gesamt-Deutschlands in den übernationalen Rahmen der Europapolitik; ferner der Verzicht auf eine in der Vergangenheit so verhängnisvolle nationalistische Machtpolitik, statt dessen das Streben nach Partnerschaft mit den Nachbarn und das Bewußtsein der wechselseitigen Abhängigkeit auf wirtschaftlichem wie auf politischem Gebiet.

Diesen supranationalen Erfordernissen hat die Verfassung der Bundesrepublik in besonderer Weise Rechnung getragen, indem sie eine Selbstbeschränkung der nationalstaatlichen Hoheitsrechte „zugunsten zwischenstaatlicher Einrichtungen“ sowie „zur Wahrung des Friedens“ und zur Unterbindung eines Angriffskrieges (Artikel 24 bis 26 des Grundgesetzes) vorsieht. Dies ist ein Novum in der Geschichte der modernen Staaten. Es entspricht -unabhängig von den Konsequenzen aus der jüngsten deutschen Geschichte -aber durchaus der Lage eines Landes in der Mitte Euro-pas, das von den Entwicklungen im Osten und der Nord-Süd-Problematik nach wie vor in besonderem Maße betroffen ist. Die übernationale Offenheit, die auch die Verfassung zeigt, kommt der Europapolitik und den dafür grundlegenden deutsch-französischen Beziehungen zugute, die den tiefen Wandel gegenüber der früheren Geschichte besonders eindringlich demonstrieren. „Verfassungspatriotismus“ (Dolf Sternberger) lautete denn auch ein Stichwort, das neben dem problemreichen Bemühen um eine Wiederherstellung des deutschen Nationalstaats zum Kern des Staatsverständnisses erhoben wurde. Die Politik des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer, der von 1949 bis 1963 unerwartet lange (73-bis 87jährig) an der Regierung blieb, stützte sich von Anbeginn voll auf jenen supranationalen Aspekt der Europapolitik. Angesichts der machtpolitischen Verhältnisse in Osteuropa am Ausgang der vierziger Jahre wurde die nationalstaatliche Argumentation der sozialdemokratischen Opposition unter Führung Kurt Schumachers von der Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung nicht als realisierbare Alternative angenommen. Das proklamierte Ziel einer Wiedervereinigung rückte immer weiter in die Ferne, während die Stabilisierung der Kooperation mit dem Westen dem unmittelbaren Bedürfnis nach Wiederaufbau und Sicherheit entsprach. Adenauer folgte der sogenannten„Magnettheorie“, der zufolge die wachsende Anziehungskraft des westlichen Lebensstandards letztlich zur Überwindung der Teilung Deutsch-lands und Europas führen würde (nur in der Dauer täuschte er sich). Unter diesem Vorzeichen stand auch die Entscheidung für eine liberaldemokratische, marktwirtschaftlich-soziale Staatsund Gesellschaftsordnung. Zwangswirtschaft und Sozialismus waren mit dem Odium der Diktatur, des Kriegs-und Nachkriegselends belastet, und die aktuelle osteuropäische Zwangssozialisierung, die ökonomische Dauerkrisen zur Folge hatte, wirkte in unmittelbarer Nachbarschaft besonders wenig attraktiv, wie auch die unaufhörlichen Flüchtlingsströme von Ost nach West bewiesen. Im Hinblick auf die Herausbildung einer demokratischen politischen Kultur wirkte überzeugend die liberal-demokratische Erscheinung eines Theodor Heuss, der von 1949 bis 1959 erster Bundespräsident war. Die Bundesrepublik vermied verfassungspolitische Schwächen, die der Weimarer Republik schon früh zum Verhängnis geworden waren: Die Stellung von Kanzler und Regierung wurde gestärkt, das politische Gestaltungsvermögen des Präsidenten hingegen begrenzt, der parlamentarische Prozeß wurde gefestigt, indem der Sturz eines Kanzlers von der Wahl eines neuen abhängig gemacht wird -„konstruktives Mißtrauensvotum“ -, ein Verbot antidemokratischer Parteien durch das Bundesverfassungsgericht wurde ermöglicht, schließlich die Zersplitterung des Parteienfeldes durch eine Fünf-Prozent-Klausel in den Wahlgesetzen erschwert. Der Sinn all dieser Bestimmungen war, eine Zerstörung der Demokratie mit pseudodemokratischen Mitteln zu verhindern, wie dies 1933 geschehen war; die modifizierte, wehrbereite Demokratie von Bonn sollte dem prinzipiellen Gegner nicht die unbeschränkte Toleranz gönnen, an der die Weimarer Republik zugrunde gegangen war. Die Erfahrungen mit einem besser funktionierenden Parteiensystem führten -neben der Leistungsfähigkeit des Systems der Sozialen Marktwirtschaft -zu einer zunehmend positiven Bewertung der Demokratie selbst, an der es zwischen 1918 und 1933 gefehlt hatte. Über das Kanzlerregime eines großen alten Mannes mit fast patriarchalischer Autorität wurde eine Brücke von der obrigkeitsstaatlichen Tradition Deutschlands zur stabilen pluralistischen Demokratie geschlagen. Die historische Zersplitterung des Parteienwesens wurde durch eine Konzentration der politischen Gruppierungen auf zwei fast gleich große Parteien abgelöst -die alte SPD und die neue CDU -, neben denen sich als kleinere dritte Partei auf Dauer nur die Liberalen (FDP) und im letzten Jahrzehnt die „Grünen“ behaupten konnten. Das Bonner System vermochte sich von den Problemen zu lösen, die für die zerklüfteten kontinentaleuropäischen Parteisysteme typisch waren und es zum Teil noch sind. Es war das Ergebnis eines längeren Prozesses der Entideologisierung und Pragmatisierung der Parteien, der im Godesberger Programm von 1959 die Liberalisierung der SPD und schließlich -wie in den Ländern so auch im Bund -den Test eines vollen Regierungswechsels von der CDU zur SPD ermöglichte, wie dies zuerst 1969 durch die Bundestagswahl geschah. Seit Mitte der sechziger Jahre -nach dem Ende der Ära Adenauer -, im Zeichen eines Wechsels der Generationen und der Veränderung der internationalen Situation gegen Ende des Kalten Krieges, kamen freilich auch die fortdauernden deutschlandpolitischen Probleme, das Unfertige des Bonner Staates stärker zum Vorschein, besonders dann im Zeichen der Entspannungspolitik der siebziger und achtziger Jahre. Gewiß hat dag Bundesverfassungsgericht immer erneut das Offenhalten der deutschen Frage als verfassungspolitisches Gebot bestätigt. Von einer Schaukelpolitik zwischen West und Ost konnte dabei nicht die Rede sein. Die Bundesrepublik blieb angewiesen auf ihre Zugehörigkeit zu Westeuropa und auf Fortschritte der europäischen Integrationspolitik, der sie ihre Existenz und Entwicklung verdankte. Doch wenn die Möglichkeit einer gesamteuropäischen Kooperation im Zeichen der KSZE seit 1975 konkrete Formen gewann, mußte sich auch die Frage einer politischen Annäherung der zwei Staaten in Deutsch-land und ihrer Wiedervereinigung neu stellen. Dies setzte freilich Änderungen der weltpolitischen Konstellation voraus, die sich erst 1989 als Folge der Perestroika in der Sowjetunion ergaben.

III.

Wie zwangsläufig war nun die deutsche Wiedervereinigung von 1989/90? Der Begriff „Wiedervereinigung“ setzt ja voraus, daß eine solche der beiden Staaten historisch begründet ist. Wie stark war die Forderung nach staatlicher Einheit im Laufe der letzten 150 Jahre wirklich? Tatsächlich hat sich der Wille zu einem deutschen Nationalstaat als Reaktion auf die Französische Revolution und den Imperialismus Napoleons erst relativ spät entwickelt. Die Bemühungen um eine deutsche Staatsbildung waren von Anfang an geprägt vom Konflikt zwischen zwei schwer zu vereinbarenden Forderungen: dem Ruf nach Freiheit und dem Verlangen nach Einheit. Dieser Konflikt, der in seiner Komplexität hier nicht weiter zu erörternist, wurde schließlich nach langen, auch revolutionären Auseinandersetzungen erst im Krieg gegen Frankreich 1870 zugunsten der Einheit entschieden. Unter dem Eindruck der Niederlage der Hitler-Diktatur und der sowjetischen Dominanz im Osten Deutschlands und Europas rangierte in der Bundesrepublik nach der Spaltung von 1949 die Forderung nach Freiheit vor dem Ruf nach Einheit. Die Forderung nach staatlicher Einheit ist denn auch 1989 konkret eher politisch als historisch begründet worden: gerichtet gegen die Unterdrückung und Diktatur im Osten Deutsch-lands und Europas. Die westdeutschen Parteien spielten bei dieser Auseinandersetzung eine wichtige, doch unterschiedliche Rolle. Die Christdemokraten gingen mehrheitlich vom Primat der Freiheit durch Westbindung aus (Adenauer), während die Sozialdemokraten anfänglich (unter Schumacher) dadurch die Einheit gefährdet sahen. In der SPD war man der Meinung, die Partei habe nach 1918 zu wenig für die nationalen Bedürfnisse getan. Nach der Rückkehr aus der Emigration hatten führende Sozialdemokraten auch die Sorge, die SPD könne wiederum als „un-national“ gelten. Die Folge waren heftige Konflikte mit der CDU: So nannte der erste Oppositionsführer Kurt Schumacher den ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer im Bundestag einen „Kanzler der Alliierten“, während dieser im Wahlkampf von 1957 einen eventuellen Sieg der SPD ebenso polemisch als „Untergang Deutschlands“ bezeichnete. Die Position der SPD zur Einheitsfrage hat sich seitdem noch mehrfach gewandelt. In den letzten zwei Jahrzehnten tendierte sie, wie immer mehr Menschen, angesichts der Sowjetmacht zur Hinnahme der faktischen Zweistaatlichkeit, wobei die SPD noch kurz vor der Wende die Bewahrung einer gesamtdeutschen Staatsbürgerschaft überhaupt in Frage stellte. Aber war der Konflikt zwischen Freiheit und Einheit für die Bevölkerung im Westen nicht eher theoretisch? Die Tatsache, daß die SPD bei den Wahlen in den fünfziger Jahren nie über dreißig Prozent hinauskam, zeigt in der Tat, daß die Mehrzahl der Westdeutschen unter dem Druck des Kalten Krieges vor allem auf die Sicherung der Freiheit, auf den Wiederaufbau und auf den ökonomischen Aufstieg setzte. Die Forderung nach Wiedervereinigung trat immer mehr in den Hintergrund, als die Westeinbindung der Bundesrepublik in NATO und EG erfolgt war und vor allem dann gegen den Bau der trennenden Mauer keine Hilfe kam.

Unter den großen Parteien gab es nach den heftigen Auseinandersetzungen um die Deutschland-politikseit Ende der fünfziger Jahre eine Art „nationalen Konsens“: Die Bundesrepublik war Teil der westlichen Allianz. Sie spielte in der Europapolitik eine aktive Rolle. Die Sicherheit der Bundesrepublik war völlig angewiesen auf die Westbindung, der ihre demokratische Wertbindung entspricht.

Fragt man, ob 1989 nicht eine deutsche Konföderation eine echte Alternative zum im Ausland befürchteten „großdeutschen“ Einheitsstaat gewesen wäre, so ist doch offensichtlich, daß von „großdeutsch“ bei dieser Vereinigung nicht die Rede sein kann. Eine Konföderation war in der ersten Phase der „Wende“ sehr stark im Gespräch. Dann aber überholte die aktuelle Entwicklung diese theoretische Möglichkeit. Das war allerdings nicht allein eine Folge des politischen Willens der Bundesrepublik, sondern lag vor allem an der inneren Schwäche der DDR, deren Bevölkerung aus der politisch-ökonomischen Not so rasch wie möglich herauswollte und an das Zusammengehörigkeitsgefühl aller Deutschen appellierte. Besonders aber hatte Bundeskanzler Kohl den Blick dafür, daß das „Zeitfenster“ für das „unerhörte Ereignis“ der staatlichen Einheit vielleicht nicht unbegrenzt lang geöffnet war.

Angesichts dieses raschen Drängens nach staatlicher Einheit dürfen wir historische Erfahrungen mit früherem deutschem Nationalismus nicht überbewerten. Es ging den Menschen in der DDR zuallererst darum, eine Diktatur durch ein freiheitlich-demokratisches Staatswesen zu ersetzen. Dieses Ziel war ihnen viel wichtiger als die nationale Komponente. Heute stehen wir -anders als in früheren Perioden -unter dem Eindruck einer primär demokratischen Entwicklung. Bereits 1953 versuchte die Bevölkerung der DDR den Aufstand gegen ein undemokratisches System. Die Ereignisse von 1953 und 1989 sind also durchaus vergleichbar. Der Unterschied besteht darin, daß 36 Jahre zuvor die sowjetischen Truppen eingriffen und im November 1989 nicht. Der Motor war bei beiden Entwicklungen die Befreiung von einem totalitären Regime und die Aufhebung der künstlichen Trennlinie zwischen den beiden deutschen Staaten. Vor allem der Wunsch nach Befreiung und Selbstbestimmung und nicht zuerst die Sehnsucht nach nationaler Einheit hat die Menschen in der DDR auf die Straße getrieben. Die nationale Sehnsucht kam erst danach hinzu. Zunächst hieß es: „Wir sind das Volk“, dann: „Wir sind ein Volk“. Das Wesentliche war die Ablehnung des eigenen, diktatorischen Staatswesens.

Die damalige Wiedervereinigungsstimmung in beiden Teilen Deutschlands erweckte den Eindruck, daß die nationale Einheitskomponente wiederstärker geworden war. Aber weder in der DDR noch in der Bundesrepublik gab es eine große nationalistische Welle. Die Parolen und Transparente in Leipzig waren weniger national als menschenrechtlich und ökonomisch begründet: Die Vereinigung wurde als Weg zu einem menschenwürdigen Leben verstanden. Die freiheitliche Komponente war -wie schon im Juni 1953 -auch im November 1989 der dominierende Faktor. Es war in der Tat „ein Aufstand gegen Zwang und Lüge“, wie Helmut Schmidt sagte. Wiedervereinigungsforderungen fanden dann vollen Widerhall, nachdem der Umfang der Wirtschaftsmisere sich immer stärker abzeichnete und der gigantische Unterdrückungsmechanismus des eigenen Staates immer mehr offenbar wurde.

IV.

Auch nach den Ereignissen von 1989/90 und nach der wiedergewonnenen staatlichen Einheit befindet sich Deutschland weiterhin auf dem Weg zu einer supranational orientierten Demokratie, in der eine wünschenswerte Relativierung des Nationalstaatsprinzips gelingt. Gewiß besteht auch im größer gewordenen demokratischen Europa erneut die Gefahr eines Rückfalls in nationalistische Interessenkonflikte. Diese Gefahr scheint mir aber im deutschen Fall nicht sehr groß, da unsere europapolitische Einbindung überaus stark ist und auch die „Wiedervereinigung“ seit je an konkrete Vorbedingungen geknüpft war: Wir wollten unsere Bindungen zur Europäischen Gemeinschaft, zu unseren westlichen Nachbarn, zu den USA nie in Frage stellen und entschieden uns deshalb stets eindeutig gegen ein „neutrales“ Deutschland. Wir wollten nicht einfach heraus aus diesem Beziehungsgeflecht oder gar aus den Westverträgen. Das vereinigte Deutschland wird, wie bis 1989 die Bundesrepublik, weiterhin eine föderale, supranational orientierte Demokratie sein. Auch die so rasch mögliche Einbeziehung der DDR mittels einer Wiederherstellung ihrer Länder lief klar auf eine föderalistische Lösung hinaus. Wir sind uns dabei bewußt, daß Deutschland keine Großmacht ist und dies auch nicht mehr anstrebt. Es ist ein Gebilde entstanden, das nicht als Machtstaat auftritt, sondern das mit vielen Aufgaben und Belastungen behängen ist, wobei die zentralen Fragen der Europa-und Sicherheitspolitik vorrangig sind. Eines aber ist mit aller Deutlichkeit zu sagen: Der Europäische Binnenmarkt und die Europäische Union sind für Deutschland von erstrangiger Bedeutung. Die Wiedervereinigung ist uns aus Gründen der nationalen Solidarität wie der demokratischen Verfassung, aber auch unserer europäischen Loyalität unmittelbar zugewachsen. Wir leben in einem interdependenten europäischen Staatensystem, in dem die nationalstaatliche Souveränität zunehmend relativiert wird. Auch der Entspannungs-und Abrüstungsprozeß ist in Gang gekommen. Daß die Bundesrepublik durch eine nationalistische Wende zur neuen Gefahr werden könnte, ist faktisch ausgeschlossen.

Inzwischen zeigte sich freilich auf schmerzhafte Weise, so auf dem Balkan, daß auch die ältere Weltgeschichte durchaus weitergeht, und damit die Gefahr einer Wiederkehr nationalstaatlicher Konflikte auf Kosten funktionsfähiger Demokratien. Es besteht die Möglichkeit einer Störung demokratischer Rekonstruktion durch nationalfundamentalistische Bewegungen, also eines Rückfalls in die Zwischenkriegszeit mit dem Vorrang nationalistischer vor demokratischer Politik.

Den alt-neuen Problemen des Nationalstaats kann auf Dauer nur durch eine Föderalisierung Europas mit abgestuften Formen politischer und ökonomischer Integration begegnet werden. Dies ist die Aufgabe, vor der wir heute vor allem stehen. Dafür bietet das Vorbild der Europäischen Gemeinschaft, der Europarat sowie der KSZE-Prozeß institutionell bessere Voraussetzungen denn je zu einer Modifizierung sowohl des Nationalstaatswie auch des Souveränitätsprinzips. Nur so kann es auch zu einer Entschärfung der historischen Minderheiten-und Regionalprobleme kommen, sowohl in menschenrechtlicher wie in ökonomischsozialer Hinsicht. Diese geschichtliche Aufgabe, an der das 20. Jahrhundert bislang gescheitert war, ist auch mit dem Jahr 1989 nicht gelöst, vielmehr erneut bewußt und aktuell geworden. Zumal der plötzliche Übergang von diktatorischer Plan-zu sozialer Marktwirtschaft ist allenfalls europäisch zu verkraften. Nur soweit es gelingt, diesen Prozeß zu fördern und zu befestigen, ist die Wende Euro-pas zur Demokratie von Dauer, sind die Gefahren neuer Machtkonflikte zu bannen, in denen das vereinigte Deutschland erneut in die problematische Lage einer Zwischenmacht zwischen West und Ost hineingedrängt werden könnte.

Eine solche Perspektive bietet keinen Grund für Pessimismus, aber um so mehr für eine entschieden fortschreitende Politik der europäischen Einigung und Föderation, in steter Verbindung mit der bewährten atlantischen Gemeinschaft. Ein deutscher Parteiführer hat dies in einer für die meisten Politiker repräsentativen Weise vor dem Deutschen Bundestag erklärt: „Wir wollen nicht in Europa stark sein, wir wollen für Europa stark sein“ (Graf Lambsdorff am 2. April 1992).Thomas Mann, der nach zwei Jahrzehnten des Exils zu Beginn der fünfziger Jahre aus den USA zurüokkehrte, entwarf 1953 in einer Ansprache vor Hamburger Studenten eine auch heute wieder aktuelle Vision für die Deutschen in Europa, als er sagte: „Uns ist nicht bange, daß die wirkende Zeit nicht ein geeintes Europa mit einem wiedervereinigten Deutschland in seiner Mitte bringen wird. Wir wissen nicht, wie es geschehen, wie das unnatürlich zweigeteilte Deutschland wieder eins werden soll. Es ist uns dunkel, und wir sind auf den Glauben angewiesen, daß die Geschichte schon Mittel und Wege finden wird, das Unnatürliche aufzuheben und das Natürliche herzustellen: ein Deutschland, als selbstbewußt dienendes Glied eines in Selbstbewußtsein geeinten Europas -nicht etwa als sein Herr und Meister. . . Tauschen wir uns nicht darüber, daß zu den Schwierigkeiten, die die Einigung Europas verzögern, ein Mißtrauen gehört in die Reinheit der deutschen Absichten, eine Furcht anderer Völker vor Deutschland und vor hegemonialen Plänen, die seine vitale Tüchtigkeit ihm eingeben mag ... Sache der heraufkommenden deutschen Generation, der deutschen Jugend ist es, dies Mißtrauen, diese Furcht zu zerstreuen, indem sie das längst Verworfene verwirft und klar und einmütig ihren Willen kundgibt -nicht zu einem deutschen Europa, sondern zu einem europäischen Deutsch-land.“

Die aus den Katastrophen zweier Weltkriege entstandene Leitidee eines neuen Europas bietet zum ersten Mal konkret und praktikabel nach Jahrhunderten der Kriege und Unterdrückung der Welt ein Modell der übernationalen Konfliktlösung und Zusammenarbeit zur Sicherung sowohl der Freiheit wie des Friedens und des wirtschaftlichen Wohlstands. Uns, den Deutschen, bleibt die Erfahrung und Verantwortung einer Epoche mit so schrecklichen Folgen für die Völker Europas; es bleibt die Verpflichtung auf die Grundwerte europäischer Kultur, voran die Bewahrung und Verteidigung der Menschenrechte. Und so versteht sich das Vermächtnis der politischen Kultur der Bundesrepublik (die Kurt Sontheimer jüngst in seinem lesenswerten Buch: „So war Deutschland nie. Anmerkungen zur politischen Kultur der Bundesrepublik“ gegen überzogene, realitätsferne Kritik verteidigte) auch für die kommende Zeit einer Bundeshauptstadt Berlin -mit einer Bundesstadt Bonn.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Karl Dietrich Bracher, Dr. phil., Dr. h. c. mult., geh. 1922; 1950-1958 an der FU Berlin; seit 1959 an der Universität Bonn Professor für Wissenschaft von der Politik und Zeitgeschichte; Mitglied des Ordens Pour le merite. Veröffentlichungen u. a.: Die Auflösung der Weimarer Republik, Stuttgart -Düsseldorf 1955 (7. Aufl. 1984); (zus. mit W. Sauer und G. Schulz) Die nationalsozialistische Machtergreifung, Opladen 1960 (3. Aufl. 1974); Deutschland zwischen Demokratie und Diktatur, Bern -München -Wien 1964; Die deutsche Dikatur, Köln 1968 (8. Aufl. 1997); Das deutsche Dilemma, München 1971; Die Krise Europas, Berlin 1976 und 1979 (Neuausgabe 1993); Zeitgeschichtliche Kontroversen, München 1976 (5. Aufl. 1984); Schlüsselwörter in der Geschichte, Düsseldorf 1978; Geschichte und Gewalt, Berlin 1981; Zeit der Ideologien, Stuttgart 1982 (2. Aufl. 1985); Wendezeiten der Geschichte, Stuttgart 1992. Seit 1977 mit Hans-Peter Schwarz und Horst Möller Hrsg, der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte.