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Die Berliner Republik. Erwartungen und Herausforderungen | APuZ 32-33/1999 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 32-33/1999 Rückblick auf Bonn Die Berliner Republik. Erwartungen und Herausforderungen Das Herzstück der jungen Bundeshauptstadt. Die Anfänge des Deutschen Bundestages in Bonn 1949/50 Republikanische Lockerungsübungen Der Umzug nach Berlin und das Ende der Angst vor der Baugeschichte

Die Berliner Republik. Erwartungen und Herausforderungen

Arnulf Baring

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Im In-wie im Ausland wird in letzter Zeit auffällig oft von der „Berliner Republik“ gesprochen, auch mehr von „Deutschland“, während das eher administrative Konstrukt „Bundesrepublik“ mehr und mehr aus dem allgemeinen Sprachgebrauch verschwindet. In dieser veränderten Wortwahl spiegelt sich ein Bewußtseinswandel, der mit zeitlicher Verzögerung der neuen Situation unseres Staates seit der Wiedervereinigung 1990 Rechnung trägt. Natürlich bleiben die Verfassung, unsere Institutionen, die Parteien und Verbände vom Regierungs-und Parlamentsumzug nach Berlin in ihrer Substanz unberührt. Doch im Laufe der Zeit wird die verbreitete Erwartung zumal junger Menschen, die sich mit den neuen, alten Namen verbindet, eine veränderte politische Wahrnehmung und Praxis nach sich ziehen. In Berlin wird deutlicher werden als in Bonn, daß die Rückkehr der Bundesrepublik als erneuerter Nationalstaat in die europäische Mittellage nicht nur innerdeutsch neue Verantwortungen mit sich bringt, sondern gerade auch außenpolitisch große Herausforderungen beinhaltet. Nachdem sich die Bundesrepublik jahrzehntelang zentral auf die Westintegration konzentrieren konnte, muß Deutschland jetzt -im eigenen Interesse wie in dem unserer Nachbarstaaten und dem unserer Allianzen -eine konzeptionell neue, umfassende Ostpolitik zu entwickeln versuchen. Die potentielle politische Erdbebenzone, die sich zwischen Albanien und Weißrußland ausdehnt, muß in den nächsten Jahren politisch, wirtschaftlich und sozial dauerhaft stabilisiert werden. Andernfalls besteht die Gefahr, daß die dortige Instabilität uns und das westliche Europa in Mitleidenschaft zieht. Die Deutschen werden allerdings nur dann eine konstruktive, beherzte Rolle in Europa spielen können, wenn sie auch emotional ihren Frieden mit sich selber schließen, ihre Selbstachtung zurückgewinnen.

I.

Wir Deutschen müssen uns in erster Linie darum bemühen, unsere Umgebung zu stabilisieren -in ihrem wie im eigenen Interesse. Sobald Parlament und Regierung in Berlin sind, wird vermutlich die alte, neue Nachbarschaft aller Deutschen -Ostmitteleuropa -nach und nach intensiver wahrgenommen werden. Das ist jetzt, neben der Pflege unserer erprobten Westbindungen, unsere vordringliche, zusätzliche Aufgabe. Denn die Oder, früher die Mitte der Monarchie, bildet nun unsere östliche Grenze. Die Polen sind nach den Franzosen unser größter, wichtigster Nachbar.

Weshalb aber sind so wenige bei uns neugierig, wie es dort und weiter östlich aussieht? Schon die Atlanten behandeln den Raum zwischen uns und den Russen stiefmütterlich. Hindert der verdrängte Schmerz über den Verlust vieler Gebiete, in denen die Deutschen einst zu Hause waren, ihre architektonischen Spuren hinterlassen haben, unsere sonst doch unbändige Reiselust? Ist es die Furcht, Landschaften zu betreten, die einst von Deutschen und Juden geprägt wurden? Die einen sind ermordet, die anderen hat man vertrieben. Nur wenn wir uns alles Verlorene vor Augen führen, innerlich aneignen, werden wir imstande sein, uns einen vernünftigen, zuversichtlichen Reim auf unsere alte, schwierige Mittellage zu machen. Das wird, wie gesagt, nach dem Umzug in die neue, alte Hauptstadt verstärkt die Aufgabe Deutsch-lands sein. Wir haben in der weiten Welt politisch nicht viel zu bestellen. Unser vordringliches Tätigkeitsfeld liegt in Europa. Fest in der Europäischen Union verankert, müssen wir uns tatkräftig um die Stabilisierung Ostmitteleuropas bemühen.

Was bedeutet der Umzug sonst noch? Nicht nur gegenüber Ostmitteleuropa brauchen wir ein neues, einfühlsames Bewußtsein unserer Rolle. Auch uns selbst sollten wir künftig differenzierter wahrnehmen. Die Masse der Westdeutschen wird erst mit der Regierung in der Hauptstadt Berlin überhaupt merken, was sich 1990 ereignet hat. Nach dem Umzug wird man hoffentlich allmählich erfahren, was von der „Berliner Republik“ zu hal-ten ist, von der man jetzt so viel hört. Die erste Regierungserklärung des neuen Bundeskanzlers Gerhard Schröder enthielt nur unsichere Hinweise, was er sich unter einer „Republik der Neuen Mitte“ vorstellt, die von Berlin aus gestaltet werden soll. Er pries das weltoffene Klima der Stadt, Berlin als Anziehungspunkt für Jugend und kulturelle Avantgarde, sah in Berlin eine „heitere und aufregende Stadt“ für jüngere Deutsche und Europäer, „die sie von Fußballspielen und der Love Parade her kennen. Auch und gerade an diesen Traditionen werden wir anknüpfen, wenn wir Berlin zur Hauptstadt einer Republik der Neuen Mitte machen wollen.“

Das wird sicherlich nicht reichen. Dieser Ortswechsel fordert mehr heraus, da er zugleich eine Rückkehr in unsere lange Geschichte ist, auf die man sich so oder so neu einstellen muß. Wer einen neuen Stil deutscher Politik entwickeln, sich offener, unbefangener, souveräner geben möchte als im eher kleinstädtisch zugeschnittenen Bonn, muß sich an einem hohen Anspruch messen lassen. Er muß mehr im Blick haben als die letzten fünfzig Jahre. Aber er darf gleichzeitig keinen Augenblick die Tugenden vergessen, die der „alten“ Bundesrepublik Respekt und Zustimmung der Welt eingetragen haben: die Bescheidenheit des Auftretens, den kooperativen Arbeitsstil, die Fähigkeit, anderen zuzuhören, ihre Interessen wahrzunehmen, behutsam am Konsens mitzuwirken.

Falls sich jedoch eine selbstbewußte StiUosigkeit durchsetzt, wird das auch die Substanz der Bundesrepublik verändern, obwohl die etablierten Institutionen -das Grundgesetz, die Parteien, die Apparate -natürlich bestehen bleiben. „Berliner Republik“ -das sind bisher nur zwei Worte. Aber sie spiegeln eine verbreitete, vage Erwartung. Es fällt auf, daß immer weniger von der „Bundesrepublik“ die Rede ist, ihre 50-Jahr-Feier nur müdes Interesse findet. Mehr und mehr wird von „Deutschland“, von der „Republik“ gesprochen. Schröder hat recht: Auffällig viele junge Menschen -und nicht nur junge -blicken erwartungsvoll auf Berlin, ziehen dorthin. Massenmedien, Zeitungen, Verlage rechnen mit einer neuen Metropole, stellen sich auf sie ein. Diese breite, mächtige Erwartung ist in sich schon ein Element der Veränderung. Sie wird uns das Bestehende mit anderen Augen wahrnehmen lassen. Sie schafft eine AtmoSphäre, in der Neues die Chance erhält, zum Thema zu werden, sich durchzusetzen.

Bonn war immer untypisch für die Bundesrepublik, weil es bürgerlicher, gesetzter, provinzieller war als große Teile des Landes. Man bekam dort wenig von dem mit, was die Deutschen bewegte. Berlin ist der umgekehrte Fall: Es ist schlechter beieinander als alle anderen Großstädte. Es ist arm. Vieles liegt im argen, muß und wird unbedingt geändert werden. Auf der anderen Seite ist die kulturelle, künstlerische Vielfalt außerordentlich. Soziale Spannungen sind sichtbar, die Ghettobildung in einigen Bezirken ist weit fortgeschritten. Zugleich regt die Stadt an und auf, inspiriert Gespräche, Auseinandersetzungen. Die Geschichte Deutschlands ist hier überall unausweichlich näher als sonstwo. Das wird, wenn jetzt Parlament und Regierung in Berlin sein werden, vor allem das Ausland intensiv vor Augen haben. Kaum jemand dachte in Bonn an das Dritte Reich, niemand fühlte sich dort unmittelbar an den Nationalsozialismus erinnert. In Berlin jedoch werden viele Bilder der Hitler-Herrschaft wieder in der Erinnerung auftauchen -allerdings hoffentlich auch frühere, bessere Phasen unserer Geschichte das Bewußtsein prägen. Ohnehin wird die noch sehr präsente Nachkriegszeit augenfällig sein. Sichtbar leben das alte West-Berlin und die frühere Hauptstadt der DDR immer noch weitgehend nebeneinander her, gehören politisch in verschiedene Welten. Dennoch sieht man nirgendwo in Deutschland so viel Neugier und Wandel.

Berlin als Regierungssitz wird atmosphärisch eine Menge ausmachen, falls sich die Nation, deren Kraft der Kanzler beschwört, nach einer Pause von fünfzig Jahren zu einer richtigen Hauptstadt aufrafft, also nicht länger mit einer bloßen Geschäftsstelle zufrieden ist. Die konservative Union prägte mit Westintegration und Marktwirtschaft den Bonner Staat, dessen Symbol die DM war. Jetzt beginnt die Berliner Republik mit einer Linksunion; die politische, wirtschaftliche und mentale Westverlagerung Deutschlands wird ergänzt werden durch ein umfassend konstruktives Engagement in den Staaten östlich von uns. Sie werden in Berlin ungleich stärker ins Blickfeld rükken als am Rhein. Andererseits hat zu Beginn dieses Jahres das waghalsige westeuropäische Experiment des Euro begonnen, das -wenn es gelingt -die Verschmelzung des Kontinents bewirken könnte, in jedem Falle aber die Europäische Union vor eine große Bewährungsprobe stellt. Deutschland steht also vor einer Reihe neuer, ungewohnter Herausforderungen. Vieles spricht dafür, daß wir zwischen Ost und West, zwischen Freiheit und Gleichheit nach außen und im Innern eine neue Balance finden müssen. Die künftige Synthese, so ist zu vermuten, wird dem neuen, jetzt schon populären Namen der kommenden Berliner Republik Inhalt und Sinn geben.

II.

Vielleicht werden wir sogar eine neue Verfassung brauchen. Es war gut, daß wir ein solches Vorhaben 1990 nicht angepackt haben, denn die Runden Tische damals konnten kaum überzeugen. Aber in Zukunft kann sich die Frage nochmals und anders stellen. Je nach politischem Geschmack wird bei uns Margaret Thatcher oder Tony Blair gepriesen. Jedoch ist in Deutschland vollkommen undenkbar, was erst die eine, dann der andere in den ersten Monaten ihrer Regierungszeit gestaltend zustande gebracht hat. Unser Grundgesetz räumt einer siegreichen Koalition keine vergleichbaren Gestaltungsmöglichkeiten ein, macht tatkräftiges Regieren kaum möglich. Das deutsche Regierungssystem von 1949 entstand unter dem Eindruck der Katastrophe, zu der die Diktatur geführt hafte. Vom Nationalsozialismus geschockt, haben die Verfassungsväter eine ausgewogene Machtbalance ersonnen, die eher der Immobilität und dem Still-stand Vorschub leistet, welche ohnehin in unserer Konsensgesellschaft naheliegen. Das wird sich in Krisenzeiten fatal bemerkbar machen. Möglicherweise hat das Grundgesetz, unsere verfassungspatriotische Grundlage, seine beste Zeit hinter sich. Beispielsweise bedarf der deutsche Föderalismus einer Neuordnung. Einiges mag inzwischen dafür sprechen, ihn ganz abzuschaffen. Theoretisch könnte man ihn auf Verwaltungsaufgaben und die regionale Traditionspflege mit Fahnen und Landesvätern reduzieren. Das Grundgesetz jedoch verbietet absolut seine Beseitigung, und wir haben in unserer langen Geschichte gute Erfahrungen mit ihm gemacht. Also muß er neu geordnet werden. Man sollte dem Bund, den Ländern und Kommunen je eigene Aufgabenbereiche und entsprechende eigene Finanzquellen zuweisen, also die volle Verantwortung auf den ihnen eingeräumten Feldern übertragen. Die Konstruktion des Bundesrates, die aus dem Bismarckreich stammt -also unter ganz anderen Voraussetzungen geschaffen wurde ist antiquiert. Welche Rechtfertigung soll es auf Dauer dafür geben, daß der Bundesrat der Regierung immer wieder in den Arm fällt, ohne selbst Verantwortung im Gesamtstaat zu übernehmen? Es war beschämend, in welchem Maße sich die Länder bei der Wiedervereinigung verweigert haben. Auch jetzt ist bereits zu sehen, daß die neue Bundesregierung, obwohl dieMehrzahl der Länderregierungen ihrer Couleur ist, mit dem Widerstand der Länder rechnen muß. Das Verhältnis von Bund und Ländern muß also neu bedacht werden. Aber es geht nicht nur um dieses Thema. Auch eine Direktwahl des Bundespräsidenten und neue Kompetenzen für ihn sind ebenso zu erwägen wie die Einführung des Mehrheitswahlrechts, das starke Kräfte der Union wie der SPD in den sechziger Jahren einführen wollten, die entsprechende Beschlüsse beinahe getroffen hätten. Alle diese verfassungspolitischen Gedanken sind vorerst freilich bloße Theorie. Erst nach einer großen Erschütterung, einer revolutionären Bewußtseinsänderung wird eine grundlegende Umgestaltung der Verfassung denkbar werden. Vielleicht haben wir Glück, und der Druck der Verhältnisse erzwingt eine andere Regierungspraxis. Dann könnten wir beim Grundgesetz bleiben. Goethe, den wir in diesem Jahr nicht grundlos feiern, hatte jedenfalls recht, als er sagte, das größte Bedürfnis der Menschen sei eine mutige Obrigkeit.

III.

Vielleicht fällt es anderen Völkern leichter, ihre Probleme zu lösen, weil sie sich nicht nur geographisch, sondern auch historisch bei sich mehr zu Hause fühlen. Die Rückkehr nach Berlin kann die Heimkehr in die deutsche Geschichte bedeuten. Das erschreckt viele. Aber sie bietet auch Chancen, unserem Lande eine festere Grundlage für ein Selbstgefühl zu verschaffen. Dem Zeitklima entspricht derzeit der Rückblick, während es Perioden gab, in denen sich die Gesellschaft in utopischen Zukunftsentwürfen wiederfand. Wir sind am Beginn einer Phase, in der die deutsche Geschichte neu Gewicht gewinnt. Es wäre unsinnig zu behaupten, Geschichtskenntnis führe zur Verherrlichung der Vergangenheit. Die Geschichte lehrt, wie es zu Erfolgen und Niederlagen kam, was Fortschritt und Reaktion ausmachen, was bedeutend wurde und was Schwierigkeiten abgerungen ist. Sie gibt Fingerzeige für das eigene Leben, wonach man streben oder was man besser bleiben lassen sollte. Die Kenntnis der Geschichte gerade auch im Kleinen, im lokalen Rahmen, vermittelt Einsichten, die bescheiden werden lassen, von aller Besserwisserei abhalten. Wer unsere Vergangenheit unvoreingenommen wahrnimmt, wird rasch von der verbreiteten Vorstellung Abschied nehmen müssen, wir seien klüger und tapferer als unsere Vorfahren oder auch nur als die Generation vor uns. Wer sich neugierig und aufgeschlossen (und nicht im Gefühl der Überlegenheit, das immer unberechtigt ist) verschiedenen Phasen der Vergangenheit zuwendet, wird überraschende Entdeckungen machen. Der große Vorteil gegenüber allen spekulativen Visionen und gedanklichen Konstruktionen, die nur Behauptungen sind, ist bei der Geschichte die Gewißheit, daß man im vergangenen Leben frühere Wirklichkeit aufspürt. Man wandert auf Wegen, auf denen vor uns andere sich erprobt haben -auch wenn sie dabei manchmal gescheitert sind. Die unbefangene Neugier aber, früheres Leben zu entdecken, ist uns seit Jahrzehnten verleidet. Denn deutsche Geschichte wird weithin nur mit jenen zwölf Jahren gleichgesetzt. Im Mittelpunkt deutscher Selbstverständigungsversuche steht bisher monolithisch die NS-Vergangenheit, der Eisblock der Verbrechen jener Zeit. Im zunehmenden zeitlichen Abstand zu jenen Ereignissen sind die dunk-len Schatten, die er wirft, immer länger geworden. Vielleicht wären die Nationalsozialisten längst vergessen, wenn sie nicht diese Untaten zu verantworten hätten. Diese Verbrechen sind das einzige, was wir jetzt noch mit ihrer Ära verbinden. Der Berliner Sozialwissenschaftler Alexander Schüller hat 1998 im Augustheft des „Merkur“ unter der Überschrift „Mythos Mord. Über den Totalitarismus“ die Frage aufgeworfen, woher die verquere Anhänglichkeit an den Terror komme. Kann es sein, fragt Schüller, daß Nationalsozialismus wie Kommunismus nicht trotz, sondern wegen der vie-len Morde faszinieren, die sie auf dem Gewissen haben? Paradoxerweise, schreibt Schüller, rette die weltweite Erinnerung an den Holocaust das Dritte Reich vor dem Abgrund des Vergessens. Das Holocaust-Mahnmal am Brandenburger Tor werde die jüdischen Opfer beklagen, zugleich aber die Wirkungsmacht des Nationalsozialismus feiern. „Der Mythos ist stärker als alle Vernunft.“ Welcher Mythos? Welchen geheimnisvollen Sog übt der politische Mord auf die Phantasie gerade von Intellektuellen aus? „Wer mordet, beansprucht historische Legitimität. Damit kann eine neue Elite ihren Anspruch auf Macht dokumentieren und realisieren. Durch Tod zum Leben ist ein biblisches Prinzip, aber dialektisch gewendet enthält es auch den Appell, daß nur derjenige zum Leben kommt, der selbst tötet, das blutige Schwert der Apokalypse führt.“ Wer andere töte, partizipiere am Mythos der Unsterblichkeit. Der Totalitarismus stelle den Versuch dar, die Vergänglichkeit, die Nichtigkeit des Menschen manifest zu machen. In diesem Sinne sei das Morden des Totalitarismus ein mythischer Akt. „Wer Kommunist ist oder Faschist, den kümmert die Realität nicht.Jedenfalls nicht die empirische. Kommunisten und Faschisten leben in einer anderen Welt, mitten im Mythos, in einer uns unzugänglichen geschichtlichen Leidenschaft.“

Alle Forschung, alles Nachdenken und Debattieren, Bücher, Filme oder Fernsehserien werden uns nicht von dieser düsteren Vergangenheit befreien. Sie lastet auf unserem Land. Nichts wird uns von ihr erlösen. Das müssen wir hinnehmen. Die Deutschen werden immer fragend vor diesem riesigen, schweigenden Berg stehen, diesen Eisblock ratlos umkreisen, nicht verstehen, wie es dazu kommen konnte. Sie werden keinen Trost daraus schöpfen können, daß auch unsere damaligen Gegner während des Zweiten Weltkrieges furchtbare Verbrechen an deutschen Frauen, Kindern und Greisen begangen haben. Der Vergleich entlastet nicht; er nimmt nichts weg von deutschen Untaten. An Auschwitz, an dem, wofür diese Chiffre steht, ist nichts zu retten. Es bleibt an uns haften, so lange es Deutsche gibt. Wenn das Land mit sich selbst ins reine kommen will, muß es sich mit dieser Tatsache abfinden. Die untilgbare Erinnerung muß hingenommen werden.

Nachdrücklich möchte man gleichwohl auch späteren Generationen die Einsicht ans Flerz legen, die der Publizist Sebastian Haffner in seinem Buch „Von Bismarck zu Hitler“ formuliert hat: „In einer Geschichte des Deutschen Reiches dürfen wir die Judenverfolgung und die versuchte Judenausrottung nicht verschweigen. Sie ist geschehen, und sie ist ein ewiger Schandfleck auf dieser Geschichte. Aber wir können sie andererseits nicht zu den Elementen zählen, die, wie so vieles andere im Führerstaat, in der Geschichte des Deutschen Reiches von vornherein angelegt waren. Auch ohne Hitler hätte es nach 1933 wahrscheinlich eine Art Führerstaat gegeben. Auch ohne Hitler wahrscheinlich einen zweiten Krieg. Einen millionenfachen Judenmord nicht.“ Wenn die Deutschen irgendwann in der Zukunft ihren Frieden mit sich selbst machen, werden sie ihn in solchen Sätzen finden.

So schrecklich die Erinnerungen an Untaten der Vorfahren unauslöschlich auf uns lasten, so deutlich ist zugleich, daß sie nicht die ganze deutsche Geschichte ausmachen, die fast ein Jahrtausend umfaßt. Es ist falsch zu glauben, unsere Geschichte müsse und könne nur im Schatten der Vernichtungslager gesehen werden. Wir sollten uns wieder dazu ermuntern, auch an vielen anderen Orten nach unseren Wurzeln zu suchen, tiefer in unseren Vergangenheiten zu graben. Dabei wird, wer unvoreingenommen ist, durchaus viel Positives finden. Welch kulturellen, geistlichen und geistigen Reichtum finden wir seit der Reformation im Raum zwischen Wittenberg und Weimar! Was hat das mitteleuropäische Deutschland allein im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert in Philosophie und Wissenschaft, in Musik, Literatur und bildender Kunst, in Technik und Ökonomie der Welt gegeben! Es wäre ein großer Selbstbetrug, dies alles vergessen oder relativieren zu wollen.

Im einzelnen wird selbstverständlich jeder die Akzente anders setzen. Es kann kein einheitliches Geschichtsbild geben. Viele wichtige Erinnerungen sind überdies regional geprägt. Es ist sogar immer wieder gefragt worden, ob es überhaupt eine deutsche Geschichte gibt oder nicht vielmehr verschiedene, eher unverbundene Geschichten. Wie viele Dynastien -die Sachsen, Salier, Staufer, Habsburger, Hohenzollern, um nur einige besonders wichtige zu nennen -, wie viele Hauptstädte! Vielleicht ist die Vielgestaltigkeit Deutschlands, die Europa im Kleinen, Nationalen nachbildet, unser wichtigstes Kennzeichen. Nur Gleichgültigkeit uns selbst gegenüber kann dazu führen, diesen Reichtum angesichts von Auschwitz für irrelevant zu halten. Es ist eine bedauerliche Verkümmerung, sich als Deutscher nichts aus der Vergangenheit positiv anrechnen zu wollen. Wir sollten uns nicht die Menschenfeindlichkeit und den Vernichtungswillen Hitlers und seiner Bewegung zu eigen machen. Wir dürfen seinen Nihilismus nicht verinnerlichen, nicht auf unsere ganze Geschichte anwenden. Sie kann sich doch insgesamt sehen lassen. Die Deutschen haben über Jahrhunderte hinweg in Europa konstruktiv gewirkt. Goethe hatte im Zeichen der Hellas-Begeisterung gefordert: „Jeder sei ein Grieche auf seine Weise, aber er sei’s.“ Das gilt auch für uns Deutsche heute. Jeder sollte sich vergegenwärtigen, was ihm aus der deutschen Vergangenheit wichtig ist, und vermitteln und weitertragen, was er an unserem Volke wertvoll findet. Dabei wird immer vieles auch aus anderen Völkern ins Deutsche einfließen. Es macht unseren Reichtum aus, daß wir stets ein Transitland, ein Ort der Begegnungen und Einflüsse aus allen Himmelsrichtungen gewesen sind, eine leuchtende Farbe im großen europäischen Teppich.

IV.

Eine aufgeschlossene Grundeinstellung, die Bejahung unseres Volkes durch die Deutschen, wird befreiend wirken. Sie wird keinesfalls heißen, obwohl das manche fürchten, wir würden dann den großen, schweigenden Berg vergessen. Das Gegenteil wird der Fall sein. Sobald sich die Deutsehen als das erkennen, anerkennen, was sie über lange Strecken ihrer Geschichte gewesen sind -ein bescheidenes, menschenfreundliches, tüchtiges, auch friedliches Volk werden sie Auschwitz nicht mehr für das zentrale Datum, nicht für die Essenz unserer Geschichte halten und es damit leichter ertragen können.

Dafür bedarf es auch öffentlicher Emotionen. Die Bundesrepublik war lange Zeit aus guten Gründen stolz darauf, ein ganz und gar rationales Gebilde zu sein. Alle Politik, aller Erfolg wurden nur daran gemessen, wie viel Geld , gemacht und bewegt wurde, was finanziell den Bürgern angeboten werden konnte. Selbst die unerhörte Begebenheit der Wiedervereinigung wurde nicht als das Glück einer Rückkehr kulturell reicher Gebiete in das gemeinsame Land gesehen, sondern vor allem unter dem Gesichtspunkt betrachtet, was sie kostet. Diese Reduzierung unserer Lebenseinstellung ist ebenso bedauerlich, wie sie erklärlich war als Reaktion auf den Mißbrauch aller Emotionen im Dritten Reich.

So, wie Gefühle für jeden einzelnen unerläßlich sind, wenn er nicht krank werden soll, spielen öffentliche Emotionen für jedes Land eine wesentliche Rolle. Von ihnen hängt die innere Balance, Festigkeit und Ausstrahlung ab. Wer sich als einzelner nicht bejahen kann, ist für seine Umgebung kein Vergnügen, sondern eine Last. So lange die Deutschen sich mit ihrem negativen Nationalgefühl, ihrem Selbsthaß quälen, werden sie für andere unberechenbar sein. Wir werden für uns wie für unsere Nachbarn erfreulicher, wenn wir lernen, ohne negative Selbstüberhebung gern Deutsche zu sein.

Man hat gesagt, daß eine Nation an ihrer Überzeugung zu erkennen sei, große Dinge in der Vergangenheit getan zu haben, und an der Entschlossenheit, sie auch in Zukunft zu tun. Sind wir eine Nation, wollen wir Großes tun? Es gibt seit lan-gem ein seltsames Schwanken bei uns zwischen einer jedenfalls rhetorisch weltweiten Beglükkungsbereitschaft und einer kleinmütigen, zerknirschten Selbstverleugnung. Die Deutschen wis-sen im Grunde nicht, was sie wirklich wollen sollen in dieser Welt. Sie besaßen nie eine eigene zivilisatorische Idee, wußten nie, in welche Formeln sie das, was ihnen als wertvoll vorschwebte, kleiden sollten, um es anderen Völkern nahezubringen, sie für uns einzunehpien. Die Russen hat-ten den Panslawismus, die Franzosen ihre Revolution von 1789, Briten und Amerikaner ihre langen demokratischen Traditionen. Bei uns nichts dergleichen, sondern Orientierungsschwierigkeiten, Unberechenbarkeiten. Das macht uns haltlos, erschwert auch alle Diskussionen über Einbürgerungen und Staatsangehörigkeiten. Was meinen wir mit Integration? Welche Werte sollen gelten? Was erwarten wir von neuen Mitbürgern? Welche Kenntnisse müssen sie nachweisen, welche Leistlingen erbringen? Wenn unser Deutschland nur eine Versorgungsgemeinschaft und Umverteilungsagentur von Geldern und Chancen wäre, würde es keinen Bestand haben, könnte es Selbstgefühl und Würde nicht zurückgewinnen. Jeder weiß aus seinem eigenen Leben, daß man nicht allein von materiellen Leistungen leben kann. Seelische Kräfte spielen eine entscheidende Rolle. Was wollen wir aus den letzten fünf Jahrzehnten in das Erbe der Menschheit einfließen lassen? Gibt es Leistungen der DDR, die in das Gedächtnis der Welt eingehen können? Kaum. Und die Bundesrepublik? Im Wahlkampf von 1972 betonte Willy Brandt den Stolz auf das eigene Land, auf das Modell Deutschland, unter dem man damals wohlfahrtsstaatliche Errungenschaften, Mitbestimmungsmodelle, weit geöffnete Bildungssysteme verstand. Heute betrachten wir all dies nicht ohne Skepsis. Aber die Bundesrepublik kann stolz darauf sein, daß sie über ein halbes Jahrhundert hinweg -die längste gute Phase, die wir in der neueren Geschichte gehabt haben -eine weltweit geachtete, lebendige Demokratie, eine kraftvolle Wirtschaft, umfassenden Rechtsschutz und ein leistungsfähiges Sozialsystem entwickelt hat. Diese Pfeiler unseres Selbstvertrauens sind fest in den Köpfen und Herzen der Mitbürger verankert. Was bisher noch fehlt, hat der Ungar György Konräd, der Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Künste, im März 1998 angedeutet. Bei der Eröffnung einer Ausstellung im Deutschen Historischen Museum über die Mythen der europäischen Nationen fragte er: Was hält Gemeinschaften zusammen, was Regionen und Familien, Nationen und Parteien? Es seien die gemeinsamen Märchen, das, was wir lesen, worin wir unterwiesen werden, was wir auf Schritt und Tritt hören, etwa im Radio, wovon in der Familie oder der Kneipe die Rede sei, was wir uns durch Bildung aneigneten. Der Mensch habe das Bedürfnis, irgendwohin zu gehören: „Jede Nation braucht eine Abstammungssage, ruhmreiche Anekdoten und Erinnerungen an gemeinsame Leiden. Wenn wir keine Geschichte haben, existieren auch wir selbst nicht.“ Zu den religiösen Festen, sagt Konräd, gesellten sich die nationalen. Die Erzählungen, die an sie anknüpfen, hätten emotionale Wirkungskraft. An den Loyalitäten gegenüber dem Mythos lasse sich die Loyalität der Bürger zum Staat ablesen. Offenbar gebe es das Bedürfnis, vom gemeinsamen Selbst gelegentlich ergriffen zu sein. Man brauche erhebende Feste, bei denen man die Alltäglichkeit hinter sich lasse. „Die sonntäglichen Hochgefühle sind wichtig. Nötig sind nicht nur Wein und Fleisch, sondern auch das Pathos.“ Was die Kirche früher war, wurde später das Vaterland. „Die kollektiven Mythen sind unvermeidlich. Lediglich ihr Äußeres wandelt sich.“ In der erwähnten Ausstellung wurden die Mythen der Völker an Beispielen illustriert. Für die Deutschen des neunzehnten Jahrhunderts waren wichtig u. a. die Schlacht im Teutoburger Wald, der Tod Barbarossas, die Reformation als nationalgeschichtliches Ereignis, die Befreiungskriege und die Reichsgründung. Heute sähe die Auswahl sicher etwas anders aus.

V.

Selbst wer nicht weit in die Vergangenheit zurück möchte, findet in der Mitte unseres zwanzigsten Jahrhunderts zwei Ereignisse in Deutschland, die „mythenfähig“ sind, Vorbildcharakter haben und Anlaß zur Freude, Gelegenheit zu gemeinsamem Stolz bieten. Der 3. Oktober, unser jetziger Nationalfeiertag, gehört nicht dazu. Er ist nichtssagend, inhaltsleer, nicht überhöhungsfähig. Kaum jemand weiß, weshalb wir gerade diesen Tag feiern. Wer herumfragt, wird selten eine richtige Antwort hören. Die Benennung dieses Tages war ein Mißgriff. Kein Wunder, daß jede öffentliche Diskussion vermieden wurde.

Der frühere Nationalfeiertag der Bonner Republik.der 17. Juni, war bis zur Wiedervereinigung problematisch. Denn die Westdeutschen feierten etwas, was die DDR-Deutschen acht Jahre nach dem Kriegsende getan hatten. Seit die beiden Teile des Landes wieder zusammengekommen waren, fiel dieser Einwand weg. Im Gegenteil sprach -und spricht immer weiter -viel dafür, diesen Tag jetzt gesamtdeutsch zu begehen und dabei den Heroismus der Ostdeutschen zu feiern. Es wäre nur gerecht gewesen, wenn die Zivilcourage unserer Landsleute auf diese Weise dauerhaft gewürdigt worden wäre. Obendrein hätte man damit den Herbst 1989 in die richtige historische Perspektive gerückt. Denn was 1953 an den sowjetischen Panzern gescheitert war, wurde ohne das Eingreifen der Russen 36 Jahre später zum Erfolg. Unser Volk quält sich zu Recht mit seinem nationalsozialistischen Erbe. Um so unverständlicher ist, daß es sich auch schwertut mit erhebenden Erinnerungen seiner Geschichte, auf die es stolz sein könnte, über die es glücklich sein müßte. Was haben die Franzosen aus dem Sturm auf die Bastille gemacht, einem -historisch genau betrachtet -bescheidenen, risikoarmen Ereignis! Und wir? Unser Land ist nicht so reich an eindrucksvollen Freiheitsbewegungen, daß es sich Vergeßlichkeit erlauben dürfte und leisten könnte.

Ein großer Augenblick unserer Geschichte waren tatsächlich die Tage und Taten des 16. /17. Juni 1953. Erstmals im damaligen Ostblock, drei Jahre vor den Ereignissen in Polen und Ungarn 1956, fünfzehn Jahre vor dem tschechoslowakischen Frühling 1968, kam es in jenen Junitagen im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands zu einer machtvollen Erhebung. Innerhalb weniger Stunden wuchs ein Demonstrationszug, mit dem Bauarbeiter der Stalin-Allee gegen die administrativ verordnete Lohndrückerei des SED-Regimes aufbegehrten, zu einem wirklichen Volksaufstand in der gesamten DDR an. Der 16. /17. Juni war eine Revolte aus dem Volke -spontan, ohne eigentliche Führung, von anrührender Humanität. Denn man hat damals, vielleicht naiv, statt Bahnhöfe, Postämter. Rundfunksender zu besetzen, als erstes unschuldig eingesperrte Landsleute, politische Gefangene, zu befreien versucht. Im Laufe weniger Stunden beteiligten sich in Hunderten von Orten viele Hunderttausende von Menschen. Höhepunkt waren überall Massenkundgebungen, bei denen spontan die Einheit und Freiheit Deutschlands gefordert wurde: Menschenrechte, freie Wahlen, Demokratie.

Seit 1945 hatte die Sowjetunion gewaltsam die Umgestaltung ihrer Zone vorangetrieben, seit Sommer 1952 die rücksichtslos forcierte, sozialistische Verformung unerträgliche Ausmaße angenommen. Über eine Million Menschen waren in den Westen geflohen. Unter denen, die blieben, wuchs die Empörung, die sich nach Stalins Tod explosionsartig Luft machte. Hätten damals die Russen nicht gewaltsam eingegriffen, wäre das Regime, dessen Führer die Hauptstadt bereits fluchtartig verlassen hatten, schon im Sommer 1953 und nicht erst im Herbst 1989 von dieser elementaren Volksbewegung hinweggefegt worden. Was vor einem Jahrzehnt glücklich gelang, endete 1953 in Erschießungen, in langen Einkerkerungen. Tausende mußten in Gefängnissen ihren Freiheitswillen büßen.

Der 17. Juni war und ist -seit 1989 erst recht -für immer ein Anlaß stillen deutschen Stolzes. Der Mut, die Entschlossenheit der Männer und Frauen unseres Volkes, die für die Ziele dieses Tages viele Jahre der Haft, ja in mehr als hundert Fällen ihr Leben hingegeben haben, müssen im Gedächtnis der Nation bewahrt werden. Denn wofür sie eintraten, bildet heute und in Zukunft die Grundlage unseres gemeinsamen, jetzt glücklich wieder vereinten Staates: Deutschlands Einheit in Freiheit, der Menschlichkeit verpflichtet, eine wirkliche Demokratie.

Das andere der beiden großen erinnerungswürdigen Ereignisse unserer jüngsten Geschichte ist der 20. Juli 1944. An diesem Tage explodierte wenige Meter von Hitler entfernt bei der Lagebesprechung im Führerhauptquartier nahe Rastenburg eine Bombe, die dort unter dem Kartentisch von dem jungen, schwer kriegsverletzten Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Vater von vier kleinen Kindern, deponiert worden war. Als Generalstabsoffizier gehörte er zu den ganz wenigen, die Zugang zum Führer hatten. Hitler blieb unverletzt. Noch am Abend des gleichen Tages wurde Stauffenberg im Hof des Berliner Bendlerblocks zusammen mit drei Mitverschwörern erschossen. Mit dieser Tat hat Stauffenberg ein rascheres Kriegsende herbeizuführen und die Ehre Deutsch-lands zu retten versucht.

Bei der Opposition gegen Hitler handelte es sich um eine Ansammlung höchst ungleichartiger, nach Herkunft, Denkungsart und politischer Richtung in vieler Hinsicht voneinander verschiedener einzelner. Im Grunde wußte jeder, daß der Staatsstreich ohne ernsthafte Erfolgschance war. Selbst ein gelungenes Attentat hätte das Land nicht aus dem Würgegriff der Machthaber befreit. Der Kampf um Hitlers Erbe im Inneren hätte dann erst begonnen, sein Ausgang wäre ungewiß gewesen. Es gab außerdem keinerlei Aussicht, an der bedingungslosen Kapitulation vorbeizukommen, auf die sich die Kriegsalliierten verständigt hatten. Insofern ist immer wieder argumentiert worden, es sei gut gewesen, daß der Anschlag auf Hitlers Leben in der ostpreußischen „Wolfschanze“ scheiterte. Denn er hätte zum Bürgerkrieg führen können, hätte vor allem mit einer heuen Dolchstoßlegende den Beginn der späteren Bundesrepublik schwer belastet. Auf der anderen Seite steht sol-chen Erwägungen gegenüber, daß eine immerhin denkbare frühere Beendigung des Krieges nach dem Tode Hitlers Millionen Menschen das Leben gerettet, anderen unsägliches Leid erspart, auch die weitere Zerstörung vieler unserer historischen, wunderschönen Städte verhindert hätte.

Aber bei der Würdigung dieses Tages kommt es auf solche Erwägungen nicht an. Der 20. Juli war vor allem eine symbolische Tat. Darin lag sein Sinn, seine Rechtfertigung. Gerade die Aussichtslosigkeit des Unternehmens hat ihm seine moralische Größe gegeben. Ohne Rückhalt im eigenen Volk und ohne Ermutigung des Auslands haben die Verschwörer im Grunde aus Selbstachtung gehandelt, aus Verantwortungsgefühl unserem Volk gegenüber. Deutsche Soldaten wollten unter Einsatz ihres Lebens ein Beispiel geben. Der 20. Juli war eine heroische Tat, die Tausende unserer besten Köpfe mit dem Leben bezahlt haben.

VI.

Schon diese beiden Daten unserer jüngsten Vergangenheit zeigen, daß auch unser Volk Anlaß hat, stolz zu sein. Im einen Falle waren es Angehörige der Elite aller politischen Richtungen, die sich gegen die Tyrannei erhoben haben, im anderen war es eine spontane Massenbewegung. In beiden Fällen ging es um die Würde des Menschen, um Gerechtigkeit, Verantwortung für das Gemeinwesen. Man muß also gar nicht weit zurückgehen, dann findet man auch in Deutschland bewundernswerte Beispiele des Freiheitswillens und des Mutes. Dazu gehört auch die spätere Opposition in der DDR, die von der Staatssicherheit verfolgt wurde; dazu gehört das Datum des 9. November 1989 in Berlin. Traditionen verstehen sich nicht von selbst. Sie können auch nicht beliebig geschaffen werden. Andererseits hat uns der Historiker Eric Hobsbawm belehrt, wie viele ehrwürdige Traditionen, die wir für althergebracht halten, relativ jung sind, etwa in England erst im neunzehnten Jahrhundert erfunden wurden. Auch die eindrucksvolle Kontinuität der französischen Nationalgeschichte von Karl dem Großen oder Ludwig dem Heiligen über Heinrich IV, Ludwig XIV, Napoleon und Charles de Gaulle bis hin zu Jacques Chirac ist nicht naturwüchsig, sondern eine bewußte Konstruktion. Sie postuliert eine Folgerichtigkeit, die die Zeitläufe nicht unbedingt besaßen. Trotz der Probleme, die wir mit der deutschen Geschichte haben -ab und an wehleidig übertreibend -, sollten wir uns an den Franzosen in dieser Hinsicht ein Beispiel nehmen. Ohne die Brüche zu verschweigen, die auch andere Länder immer wieder erlebt haben, könnten wir einen sinnvollen, folgerichtigen Zusammenhang finden und begreifen. Man muß die Vielgestaltigkeit, Vieldeutigkeit und Offenheit unserer Geschichte annehmen. Sie ist nicht nur beunruhigend, nicht nur Anlaß zur Sorge. Man kann gleichzeitig aus ihr Mut schöpfen. Unsere Vergangenheit hat viele große Momente. Auch wir haben Anlaß zu Selbstvertrauen, Würde und bescheidenem Stolz. Was uns im letzten halben Jahrhundert gelungen ist, war nach dem Vorangegangenen nicht selbstverständlich. Es ist, alles in allem, eine großartige Leistung. Das sollte uns zuversichtlich stimmen für die Aufgaben, die vor Deutschland liegen.

Fussnoten

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Arnulf Baring, Dr. jur., geb. 1932; Historiker und Publizist; seit 1969 o. Professor für Zeitgeschichte und internationale Beziehungen an der Freien Universität Berlin; Bundespräsidialamt (1976-1979); Stiftung Wissenschaft und Politik, Ebenhausen; Fellow, Woodrow Wilson Center, Washington, D. C.; Senior Associate, East-West-Institute, New York (1986-1988); Member, Institute for Advanced Study, Princeton (1992-1993); Fellow, St. Antony’s College, Oxford (1993-1994). Veröffentlichungen u. a.: Charles de Gaulle -Größe und Grenzen, Köln -Berlin 1963; Der 17. Juni 1953. Köln -Berlin 1965; Außenpolitik in Adenauers Kanzlerdemokratie, München 1969; Zwei zaghafte Riesen? Deutschland und Japan seit 1945, Stuttgart 1977; Machtwechsel. Die Ära Brandt/Scheel, Stuttgart 1982; Unser neuer Größenwahn. Stuttgart 1988; Deutschland, was nun? Berlin 1991; Scheitert Deutschland? Stuttgart 1997; Es lebe die Republik, es lebe Deutschland!, Stuttgart 1999.