Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Republikanische Lockerungsübungen Der Umzug nach Berlin und das Ende der Angst vor der Baugeschichte | APuZ 32-33/1999 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 32-33/1999 Rückblick auf Bonn Die Berliner Republik. Erwartungen und Herausforderungen Das Herzstück der jungen Bundeshauptstadt. Die Anfänge des Deutschen Bundestages in Bonn 1949/50 Republikanische Lockerungsübungen Der Umzug nach Berlin und das Ende der Angst vor der Baugeschichte

Republikanische Lockerungsübungen Der Umzug nach Berlin und das Ende der Angst vor der Baugeschichte

Heinrich Wefing

/ 16 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Acht Jahre nach dem Berlin-Beschluß des Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1991 hat der Umzug von Parlament und Regierung tatsächlich begonnen. Daß die Verlagerung der Regierungsfunktionen so lange dauerte, obwohl schon Anfang der neunziger Jahre ausreichend Raum für alle umziehenden Institutionen in Berlin nachgewiesen wurde, hatte seinen Grund in dem hinhaltenden Widerstand der Berlin-Gegner. Erst der Amtsantritt von Klaus Töpfer als Bundesbauminister im Oktober 1994 sorgte für eine spürbare Beschleunigung der Umzugsvorbereitungen. Er setzte einen weitgehenden Verzicht auf Abrisse und Neubauten durch und forcierte stattdessen die Unterbringung der Ministerien und Verwaltungen in Altbauten. Allein Kanzleramt und Präsidialamt bekommen neue Häuser. Der prominenteste Umbau erfolgte im Reichstagsgebäude, das nach den Plänen des Londoner Architekten Sir Norman Foster für den Deutschen Bundestag hergerichtet worden ist. In dieser Aneignung historischer Bausubstanz für die demokratischen Institutionen manifestiert sich ebenso wie in den wenigen Neubauten ein verändertes Verhältnis zur Vergangenheit: Anders als in den vierzig Jahren am Rhein scheut die Bundesrepublik in ihrer architektonischen Selbstdarstellung nicht länger das Bekenntnis zur Tradition, sondern entdeckt vielmehr die Spuren der Baugeschichte als Teil einer deutschen Identität.

i.

Der Bau von Hauptstädten braucht seine Zeit. Nicht immer muß es so lange dauern wie in Brasilien: Dort wurde schon 1789 zum ersten Mal darüber diskutiert, die Kapitale in den Urwald zu verlagern. Gut hundert Jahre später erhob die Verfassung die Hauptstadtgründung zum Staatsziel, aber erst 1955 wurde ein Baugebiet ausgewiesen und schließlich 1960 die nach Entwürfen der Architekten Lucio Costa und Oscar Niemeyer errichtete Idealstadt „Brasilia“ eingeweiht Gar so viel Geduld mußten die Planer in Bonn nicht aufbringen. Aber immerhin dauerte es von der Unterzeichnung der „Lex Bonn“ zwischen dem Bund, dem Land Nordrhein-Westfalen und der Stadt Bonn über „den Ausbau der Stadt als Sitz der Bundesregierung“ am 15. Juli 1970 zweiundzwanzig Jahre bis zur Einweihung des neuen Plenarbereichs von Günter Behnisch im Oktober 1992, des letzten, aber glänzenden Überbleibsels gewaltiger Bauphantasien am Rhein Und die Errichtung des Berliner Reichstagsgebäudes schleppte sich von der Einsetzung einer Parlamentsbaukommission im Frühjahr 1871 über zwei Wettbewerbe bis zur Schlußsteinlegung am 5. Dezember 1894 sogar dreiundzwanzig Jahre hin

Im Vergleich dazu ist die Zeitspanne zwischen dem Berlin-Beschluß des Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1991 und dem Beginn des Umzuges von Parlament und Regierung im Sommer 1999 nachgerade kurz zu nennen. Gleichwohl kann von Tempo oder gar besonderer Eile keine Rede sein. Im Gegenteil -üppige Büroflächenforderungen der Verwaltungen, immer neuer Streit um die Standorte der Ministerien und durchaus luxuriöse Ausstattungswünsche ließen die Vorbereitungen für den Umzug gelegentlich eher wie Maßnahmen zur Verschleppung, wenn nicht Verhinderung des Wechsels vom Rhein an die Spree wirken. Allen Anschein von Entschiedenheit schließlich verlieren die Umzugsvorbereitungen, wenn man bedenkt, daß gleich nach der Wende schon Platz genug für alle Ministerien und das Parlament vorhanden war Schließlich mußte Berlin ja nicht wie Brasilia gewissermaßen als Hauptstadt im Nirgendwo neu erfunden werden. Die Stadt hat vielmehr bereits fünfmal als Kapitale gedient -dem Königreich Preußen, dem Deutschen Reich, der Weimarer Republik, den Nationalsozialisten und der DDR. Deshalb standen Anfang der neunziger Jahre genug stattliche Vorkriegsgebäude sowie Bauten aus der DDR-Zeit zur Verfügung. In zwei Studien konnte die Bonner Bundesbauverwaltung 1991 in der Berliner Mitte ein Raumangebot von 567 800 Quadratmetern Hauptnutzfläche in öffentlichen Liegenschaften nachweisen -genug, um den Bonner Bedarf zu befriedigen, freilich nicht auf dem neuesten Stand der Bürotechnik. Und das Reichstagsgebäude in der Gestalt, die ihm der Umbau unter Paul Baumgarten in den sechziger Jahren gegeben hatte wäre dem Deutschen Bundestag eine gewiß karge, aber funktionstüchtige Arbeitsstätte gewesen.

Daß dennoch manches neu gebaut und Vorhandenes aufwendig hergerichtet wurde mit der Folge, daß der Umzugstermin mehrfach verschoben werden mußte, läßt sich nur mit der relativen Stärke der Umzugsgegner erklären. Peter Conradi (SPD), bis zum Herbst 1998 Mitglied der Baukommission des Ältestenrats des Deutschen Bundestages und maßgeblich an den Bauvorhaben des Bundes in Berlin beteiligt, skizzierte die Situation jüngst in einem Rückblick: „Die Mehrheit für Berlin bei der Hauptstadtabstimmung ... war mit siebzehn Stimmen so knapp, daß wir wußten, das Projekt würde nur auf breiterer Grundlage zu bewältigen sein. Darum haben wir von 1991 bis zum Frühjahr 1994 .. . Kompromisse ausgearbeitet. Vor allem da kamen die Forderungen, daß bis zum Umzug alles fertig sein müsse. Bayern und Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg ... sagten, wenn wir schon nach Berlin müssen, dann soll alles aufs Beste gerichtet werden. Das hat uns viel Zeit gekostet, sonst wären wir ... innerhalb von fünf Jahren umgezogen. Technisch wäre das möglich gewesen.“

Allerdings war das technisch Mögliche zunächst politisch nicht durchsetzbar. Der zähe Widerstand gegen Berlin, in dem sich der föderale Konsens der Bundesrepublik mit der verbreiteten Sorge vor der Wiedergeburt deutscher Gespenster an ihrer alten Wirkungsstätte verband, nutzte das unübersichtliche Feld der Bauvorbereitungen geschickt für Bremsmanöver. So forderte die damalige Bundesbauministerin Irmgard Schwaetzer Ende 1993 den Abriß des Staatsratsgebäudes der ehemaligen DDR sowie die Niederlegung zweier kolossaler NS-Hinterlassenschaften, der Reichsbank und des Reichsluftfahrtministeriums. Sie argumentierte, die Sanierung dieser Bauten verspreche teurer zu werden als die Errichtung von Neubauten. Parallel zu diesen Abrißplanspielen begannen 1992 und 1993 die Wettbewerbe für den Umbau des Reichstagsgebäudes, für die Gestaltung des Spreebogens und der Spreeinsel. Der Aufwand, der mit diesen Wettbewerben getrieben wurde, die überwältigende Fülle der Beiträge aus dem In-und Ausland, all dies stand zunächst in keinem Verhältnis zu den Ergebnissen. Lediglich der städtebauliche Wettbewerb Spreebogen fand mit dem ebenso kühnen wie symbolbeladenen Entwurf eines „Bandes des Bundes“ des Berliner Architekten Axel Schuhes ein überzeugendes Ergebnis. Alle anderen Verfahren wurden in die Überarbeitung geschickt.

Die entscheidende Beschleunigung der zähen Umzugsvorbereitungen brachte im Oktober 1994 der Amtsantritt von Klaus Töpfer als Bundesbauminister und Umzugsbeauftragter. Töpfer setzte einen weitgehenden Verzicht auf Abrisse und Neubauten durch und forcierte statt dessen die Unterbringung der Verwaltungen in Altbau-ten. Allein Kanzleramt und Präsidialamt sollten neue Häuser bekommen: der Präsident eine dunkel schimmernde Ellipse im Park von Schloß Bellevue, entworfen von den Frankfurter Architekten Martin Gruber und Helmut Kleine-Kraneburg der Kanzler einen expressiv-eleganten Kubus von Axel Schuhes vis-ä-vis des Reichstags. Alle anderen Ministerien, Behörden und Institutionen hingegen werden in Verwaltungsbauten residieren, die im Kaiserreich, während der Weimarer Republik, im „Dritten Reich“ oder nach 1945 entstanden. Sie liegen zum wenigsten an den traditionellen Berliner Standorten der Macht, der Spreeinsel und der Wilhelmstraße, sondern sind über das historische Zentrum der Stadt verteilt. So wird allüberall umgebaut, erweitert, saniert, restauriert. Was dabei entsteht, sind behutsame Verspannungen von traditioneller Repräsentanz und zeitgenössischer Technik. Damit vollzieht sich in Berlin nur nach, was in den Hauptstädten anderer Staaten längst üblich ist: die Anpassung demokratischer Institutionen an eine vordemokratische Bausubstanz.

II.

Das wohl prominenteste Beispiel für das architektonische Neuarrangement von Einst und Jetzt ist das Reichstagsgebäude, das nach den Plänen des Londoner Architekten Sir Norman Fester umgestaltet worden ist Der Reichstag von Paul Wallot ist ein sehr deutscher Gedächtnisort. Seine Fertigstellung kurz vor der Jahrhundertwende war ein Zeichen für die zögerliche Parlamentarisierung des Kaiserreiches, sein Brand 1933 das Fanal des nationalsozialistischen Terrors, die Verhüllung durch Christo 1995 die gewiß heiterste Feierstunde der Einheit. Dem komplizierten Befund entspricht Fosters architektonisches Konzept, alle Geschichtsspuren zu erhalten und den neobarocken Wallot-Bau mit Ergänzungen unserer Tage zu collagieren. Neben der Pflege des Überkommenen verlangten die Bauherren im Auslobungstext für den Reichtstagswettbewerb 1992 aber auch, die feste Burg des Parlamentarismus solle „transparent“ werden -so, als ließe sich aus einem Monumentalbau der Jahrhundertwende mit ein paar Federstrichen ein Glashaus zaubern. Es spricht für Posters Professionalität, die widerstreitenden Wünsche des Bauherren ernst genommen zu haben. Er hat, zumal im neuen Plenarsaal, die aus Bonn vertrauten Bildwelten so tief als möglich in das Baudenkmal eingesenkt. Und er hat die Fragmente des Historischen -vor allem die Flammenspuren, Einschußnarben und die zornigen Flüche der sowjetischen Eroberer vom Ende des Zweiten Weltkriegs -mit der Sorgfalt eines Archäologen präpariert. Entstanden ist eine stellenweise grandiose Collage aus durchsichtiger Gegenwart und blankgewienerter Vergangenheit.

Wo Paul Wallot seinerzeit einen künstlichen „Reichsstil“ zu erfinden suchte, hat Fester eine synthetische Historizität geschaffen, ln vielen Foyers und Fluren kann man sich getrost fühlen wie in einem gediegenen Bankhaus: dezente Beleuchtung, sandfarbener Naturstein, grauer Spannteppich, hier und da ein wenig zeitgenössische Kunst, die niemanden schmerzt. Das einzige Wagnis des Baus, das grelle Farbkonzept, erschöpft sich im Dekorativen. Um so mehr überrascht es, aus der glattgebürsteten Gegenwart in einen der beiden Umgänge nördlich und südlich des Plenarsaals zu treten. In den eingewölbten Fluren haben sich Reste des plastischen Dekorationsprogramms der Kaiserzeit erhalten, das seinerzeit die Reichseinheit feierte. Doch selbst die beschädigten Friese und schwer angeschlagenen Türlaibungen muten an wie sorgsam konservierte ägyptische Grabkammern. Alle Spolien sind gleichsam auf Hochglanz poliert worden, unflätige kyrillische Inschriften wurden übermalt, die jugendfreien werden präsentiert wie Exponate in einer exquisiten archäologischen Sammlung.

Brand, Bomben und zwei überaus gründliche Umbauten haben das Band zertrennt, das diese Stätte mit der Geschichte verknüpfte. Der topographische Punkt inmitten Berlins ist derselbe geblieben, an dem Stresemann, Ebert, Rathenau sprachen, aber die Aura des Authentischen ist ihm ausgetrieben worden. Geblieben sind Wallots Raumdisposition und die Spuren der Niederlage. Nach den erhaltenen Fragmenten zu urteilen, scheint zwischen Kaiserreich und Krieg wenig passiert zu sein; nichts erinnert an die Traditionen der ersten deutschen Republik, die in diesem Haus ihre Weihestunden zelebrierte und ihr Scheitern erlebte; nichts gemahnt an die Zeiten der Teilung, als der Wallot-Bau wie ein Fossil an der Berliner Mauer dräute; von der Umgestaltung durch Paul Baumgarten sind nur Fotos geblieben.

Fünfundvierzigtausend Tonnen Marmor, Stein und Eisen brachen die Bauarbeiter seit Beginn der Sanierung im Juli 1995 aus dem Innern des Wallot-Baus, ein Drittel des Bestandes mußte der Zukunft weichen. Die Mittelachse hinter dem Säulenportikus mit der Inschrift „Dem Deutschen Volke“ wurde von der Kellersohle bis zum Dach abgetragen. In das künstliche Ruinenfeld hat Fester den neuen, zwölfhundert Quadratmeter messenden Plenarsaal gestellt. Die Raumdisposition orientiert sich an Vorstellungen Wallots, dessen Plenum freilich nur halb so groß war wie das jetzt fertiggestellte. Das Präsidium und die Bundesregierung sitzen darin, ähnlich wie im historischen Gebäude, an der Ostseite, ihnen gegenüber im flachen Halbrund einer Ellipse die Abgeordneten. Die kreisrunde, weltweit vcrbildlose Sitzordnung des Bonner Neubaus bleibt damit eine rheinische Episode. Nur die Farbe der Berliner Abgeordnetensessel ist von Bonn inspiriert. Sie sind hier wie dort blau, aber dennoch nicht gleich: Während die Bonner Stühle in verschiedenen Blautönen changieren, haben sie im Reichtstag eine einheitliche, von Sir Norman definierte Farbe -„Reichstagsblue“. Über dem Präsidenten schwebt ein Bundesadler aus Aluminium, der seinem Bonner Artgenossen zum Verwechseln ähnelt, dessen schwierige Geburt aber vorzüglich das „kapitale Dilemma“" der parlamentarischen Stilbildung illustriert. Alle Versuche Sir Normans nämlich, im Reichstagsgebäude einen anderen Wappenvogel heimisch zu machen, scheiterten am Willen der Parlamentarier, Kontinuität inmitten des Wandels zu signalisieren. Obwohl Foster ganze Adlerschwärme zeichnete, als sei die Bundesrepublik ein expandierender Vogelpark, blieb am Ende doch alles beim Gewohnten. Nur ein wenig größer fiel der Reichstagsadler aus, und er erhielt zum ersten Mal ein ansehnliches Hinterteil. Denn hinter der Wand aus Glas, die er ziert, liegt der Zugang, durch den die Abgeordneten, aus ihren Büros in den umliegenden Bundestagsbauten kommend, das Hohe Haus betreten. Ähnlich wie das durchsichtige Bonner Debattenforum von Behnisch, das man stets mitdenken muß bei jedem Blick auf Fosters Werk, ist auch das Berliner Plenum weniger auf Konzentration angelegt denn auf Entgrenzung. Zwölf schlanke Betonsäulen umstehen den hallenartigen Saal, dessen gläserne Decke und raumhohen Glaswände es erlauben, den Blick frei vom Ost-zum Westportal und hinauf in die Kuppelkonstruktion schweifen zu lassen. Und von der Straße aus kann der Bürger seinem Gesetzgeber bei der Arbeit Zusehen. Sir Norman hat dem Plenarsaal ein Maß an Transparenz verliehen, das angesichts der massiven Hülle erstaunt. Die flankierenden Natursteinwände mit ihren mächtigen Rundbogenfenster verleihen dem Herzen des Parlamentes gleichwohl etwas von einer antiken Basilika: durchaus hell, und doch stets ein wenig düster; weit, aber in der Weite beinahe sakral.

Dem sandgestrahlten und stilbereinigten Reichstagsgebäude eignet, allen gegenteiligen Beteuerungen der Bauherren zum Trotz, ein Pathos, das der bundesrepublikanischen Selbstdarstellung bislang fremd war. Es sind, wie schon einst im Wallot-Bau, vor allem die Dimensionen, die beeindrucken: der größte Plenarsaal der deutschen Geschichte, die haushohe Westhalle, die weiten Blicke hinauf in die Kuppel. So erfolgreich das Globaldesign aus Posters international operierender Architekturfabrik sich auch müht, dem Bau jeden nationalen Charakter zu nehmen -es beschleicht den Besucher doch die Ahnung, daß die Räume geeigneter sein könnten als die Bonner Bauten, über Krieg und Frieden zu debattieren, Staatsbegräbnisse abzuhalten oder Orden zu verleihen. Hier ist der Inszenierung des Politischen eine Kulisse geschaffen worden, die große Worte zwar nicht erzwingt, sie aber auch nicht konterkariert.

Dem Souverän, dem Volk, dient das Westportal mit Säulenportikus und Freitreppe am Platz der Republik als Eingang: Hier dürfen Reichstagsbesucher nach obligatorischen Sicherheitskontrollen hereinschlendern und den Abgeordneten buchstäblich aufs Dach steigen. Vier Hauptebenen haben die Planer übereinandergeschichtet, die mit zunehmender Höhe immer luftiger und gegenwärtiger werden, um schließlich in der Kuppel eine technisch virtuose Leichtigkeit zu entfalten. Im ersten Obergeschoß, im Piano nobile, liegt der Plenarsaal, in den als zweite Horizontalschicht die Stahlkonstruktionen der Zuschauertribüne hineinragen. Auf der dritten Ebene begegnen sich die Abgeordneten, wenn sie in die Sitzungssäle ihrer Fraktionen eilen, und die Journalisten. Von der Presselobby aus, die den gesamten Plenarsaal überspannt, fällt der Blick durch ein enormes kreisrundes Loch hinab auf das Treiben der Volksvertreter. Nur die Hallen in den vier Ecktürmen, die als Konferenzsäle hergerichtet wurden, hinter-lassen mit ihren weißgeschlemmten Ziegelwänden, den irritierend farbigen Holzpanelen und den mehrere Meter über den Köpfen liegenden Festem einen eigentümlich höhlenartigen Eindruck. Ganz oben schließlich steht die Dachterrasse mit einem Restaurant den Besuchern offen, über deren Köpfen sich die neue Kuppel erhebt. Nun, da die transparente Haube tagsüber im Sonnenlicht glitzert und abends nobel erglüht, läßt sie den heftigen Streit vergessen, der ihre Entstehung begleitete. Auch sie ist, obwohl man ihr diese Abstammung nicht mehr ansieht, geboren aus dem Geist des Kompromisses, von Fester nur widerwillig in die Welt gesetzt. Der Brite hatte den Auftrag für die Umgestaltung des Reichstags gegen weltweite Konkurrenz noch mit einem kuppellosen Entwurf gewonnen. Erst auf Druck der CDU/CSU-Fraktion hin erklärte er sich bereit, den Umbau mit einem Konstrukt aus Glas und Stahl zu krönen. Den verbreiteten Wunsch aber, dem Reichstag wieder seine historische Kuppel aufzusetzen, die nach Kriegsbeschädigungen im November 1954 gesprengt worden war, mochte Sir Norman nicht erfüllen. Statt dessen zeichnete er immer neue Pläne, bis schließlich eine Glasglocke entstand, die zwischen historischem Umriß und zeitgenössischer Ingenieurkunst changiert. Fosters gläserner Lampion ist keine hohle Geste, keine repräsentative Leerformel mehr wie ihre Wallotsche Vorgängerin, nicht nur Glas und Stahl über nationalem Luftraum. Die Neue erfüllt eine Aufgabe; sie lenkt über eine tulpenartige, komplett verspiegelte Spindel Tageslicht in die Tiefen des Baus. Und sie saugt wie ein Kamin verbrauchte Luft aus dem Plenum nach oben. Zudem bietet sie Besuchern die Möglichkeit, auf einer Rampe, die sich einer Doppelhelix gleich um den Spiegeltrichter ringelt, in den Himmel über Berlin zu steigen. An den ersten Besichtigungstagen nahmen hundertfünfzigtausend Menschen diese Gelegenheit wahr, und seither stehen Besucherschlangen vor den Portalen.

III.

Trotz dieser begeisterten Aufnahme des neu-alten Reichstagsgebäudes, das zum ersten Mal in seiner Geschichte wirklich populär geworden ist, stellt sich die Frage, was der Wandel in der architektonischen Selbstdarstellung der Republik zu bedeuten hat. Daß sich nämlich etwas ändert, das macht der Reichstag so deutlich wie das neue Bundespräsidialamt oder die umgestalteten Ministerialbauten. Die Indizien für den Wandel sind schnell genannt: Aus dem Regierungsviertel am Rheinufer, das zwischen Obstgärten und Bootshäusern akademischer Ruderclubs buchstäblich auf der grünen Wiese gewachsen ist, ziehen Parlament und Exekutive in den innersten Kern einer Millionenstadt. Statt in mehr oder weniger ansehnlichen Nachkriegsbauten residieren Ministerien und Verwaltungen künftig ganz überwiegend in alten Gemäuern. Während die Rheinaue weitgehend eine geschichtsfreie Zone war, wurzelt in Berlin alles Neue tief im Alten. Am deutlichsten wird die Veränderung der gewohnten Bilder im Vergleich zwischen dem alten und dem neuen Sitz des Deutschen Bundestages: Behnischs hinreißender Bau ist hell, offen und ein wenig schräg, architektonischer Ausdruck eines Lebensgefühls, das sich komfortabel in der „posthistoire“ eingerichtet hatte und dem alle traditionellen Würdeformeln, alle Achsen, Symmetrien, alle Natursteinwände verdächtig waren. Paul Wallots Berliner Reichstagsgebäude hingegen schwelgt geradezu -auch nach dem Umbau durch Foster -in kolossalen Säulenordnungen, stemmt schwer lastende Giebel über schattenreiche Pfeiler, imponiert mit breiten Freitreppen. Dieser Wandel, der nun in den Berliner Bauten zum Vorschein kommt, kündigte sich schon in Bonn an, aber er wurde kaum registriert, weil er von dem glänzenden Finale -Behnischs Plenarsaal -überstrahlt wurde. Das Gästehaus der Bundesregierung auf dem Petersberg beispielsweise markiert den definitiven Bonner Abschied vom Provisorium. In der Wahl der Mittel nicht immer geschmackssicher, aber von einem neuen Willen zur Repräsentation beflügelt, entstand da ein marmorsattes Stilkompositum, das von der üblichen Bescheidenheit nichts mehr wußte. Auch die neue Residenz des deutschen Botschafters in Washington, von Oswald Mathias Ungers als strahlend weißer Kubus auf einem terrassierten Hügel oberhalb des Potomac errichtet, führte eine Haltung in die bundesrepublikanische Repräsentationsarchitektur ein, die ihr lange völlig fremd war: die beherrschende Lage oberhalb der Stadt, die dramatische Geste der kantigen Pfeilerreihe. Die Residenz zitiert ohne jede Ironie traditionelle Architekturmetaphern, die als Zeichen von Selbstbewußtsein und Macht in der Baugeschichte eindeutig besetzt sind

IV.

Der Wandel in der deutschen Selbstdarstellung ist das Resultat einer komplizierten Gemengelage. Eine neue, durchaus nicht nur konservative Sehnsucht nach Symbolen verschmilzt da mit der Orientierungslosigkeit nach dem Ende des Kalten Krieges. Spätestens mit dem Mauerfall begann die Erinnerung an die nationalsozialistische Überwältigungsarchitektur zu verblassen, gegen die in der rheinischen Republik vierzig Jahre lang angebaut wurde. Die Distanz zur „Stunde Null“ wächst, die in Bonn von Behnisch noch ein letztes Mal leicht-händig inszeniert worden war. Zugleich, und das ist der entscheidende Punkt, erlebt die Bundesrepublik den zweiten großen Generationswechsel nach 1945. Wohl nicht zufällig haben mit Gesine Weinmiller, Thomas Müller und Ivan Reimann, Martin Gruber und Helmut Kleine-Kraneburg sowie Torsten Krüger, Christiane Schuberth, Bertram Vandreike -die Reihe ließe sich fortsetzen -viele junge Architekten, alle Mitte dreißig, Anfang vierzig Jahre, einige der symbolträchtigen Berliner Bauaufträge erhalten oder zumindest wichtige Wettbewerbe gewonnen: für das Bundespräsidialamt, den Erweiterungsbau des Außenministeriums, das Kanzleramt, das Reichstagsgebäude, für das „Denkmal für die ermordeten Juden Euro-pas“. Lässig verabschieden sie sich von jener Bonner Übung der Zurückhaltung, die sie nur noch wie falsche Bescheidenheit anmutet. Was Hans Schwippert, dem Architekten des ersten Bonner Plenarsaals, und Günter Behnisch noch tief empfundene moralische Notwendigkeit war, einer neuen Zeit programmatisch lichte Häuser zu bauen, verkam im Laufe der Bonner Jahre weithin zur bürokratisch exekutierten Floskel und nahm gelegentlich sogar Züge von Verfolgungswahn an: Jede Natursteinwand, jede Freitreppe stand sofort und permanent unter Verdacht. Doch dieser Reflex erlahmt. „Jetzt, da wir die Chance haben, eine neue Hauptstadt zu bauen, wäre es ein Fehler, nicht auch Zuversicht und Selbstvertrauen zu demonstrieren“, sagt etwa Helmut Kleine-Kraneburg, der Architekt des neuen Bundespräsidialamtes, und sein Partner Martin Gruber erklärt ihren dunklen Idealbau zur „Befreiung von all den Lasten, die der Architekturdebatte aufgebürdet wurden, einschließlich der Fiktion einer demokratischen Architektur“ Sie halten Architekturformen wieder für möglich, die jahrzehntelang tabu waren, sie entdecken jene Geschichte als Inspirationsquelle neu, die den Alten stets suspekt war. Günter Behnisch, Jahrgang 1922, zählt sich selbst längst zü den Letzten, „die die Geschichte von der Weimarer Republik an noch mit sich schleppen. Ich merke schon, daß diejenigen, die diese Geschichte nicht durchlebt haben, mit geschichtlichen Ereignissen, mit visuellen Erscheinungen sorgloser umgehen.“

Aber was bei Behnisch noch nach Leichtfertigkeit klingt, ist wohl eher eine gewisse Entkrampfung. Auch Walter Karschies, im Bundespräsidialamt zuständig für den Neubau des ovalen Solitärs von Gruber und Kleine-Kraneburg, registriert die Veränderungen: „Ich nehme in der Zusammenarbeit mit den Architekten immer wieder deren Erstaunen über die Skrupel wahr, die ich mit mir herumtrage. Ich bin älter als sie, und die Erfahrungen meiner Generation haben auch mich geprägt. Unsere Gespräche sind sehr fruchtbar, aber gelegentlich schlagen sie eine architektonische Lösung vor, die ihnen selbstverständlich erscheint, und ich muß dann vor diesem oder jenem Fettnäpfchen warnen.“ Statt der Neigung zum Neubeginn, zum radikalen Wandel nachzugeben, tasteten sich die Bauherren Schritt für Schritt voran -immer besorgt, wie das Ausland auf die Entscheidungen reagieren werde. Zwischen den Polen Bruch und Kontinuität, Geschichtsflucht und Vergangenheitsseligkeit schwankend, vorsichtig wägend, hat sich die Berliner Hauptstadtarchitektur schließlich etwas mehr historisches Bewußtsein verordnet und einige Lokkerungsübungen absolviert. Die Hauptstadtbauten, die der Vollendung entgegengehen, versprechen denn auch überwiegend tauglich zu werden, durchdacht, teils sogar schön. In den besten Bauten, dem Kanzleramt, dem Bundespräsidialamt und auch dem Reichtstagsgebäude, dürfte die Versöhnung von Monumentalität und Modernität gelingen; die Konkurrenz mit den vielen neuen Berliner Bürowürfeln jedenfalls können sie allemal bestehen.

Daß dabei tatsächlich hier und da traditionelle Pathosformeln in die deutsche Repräsentationsarchitektur zurückkehren, auf die Bonn stets allergisch reagierte -ein quasibarocker Ehrenhof vor Schuhes’ Kanzleramt beispielsweise, die helle hohe Halle des Bundespräsidialamtes und natürlich die Reichstagskuppel -, ist kein Hinweis für neuerwachte Großmannssucht. Berlin wird nicht „Neuteutonia“ Die Berliner Bauten verbindet kein heikler Wille zur Macht, sondern lediglich eine neue Unbefangenheit gegenüber der Vergangenheit. Zum ersten Mal seit 1945 trauen sich Baumeister und Bauherren wieder, steingewordene Geschichte nicht mehr nur zu leugnen, sie hinter Rigips zu verstecken oder gar abzureißen, wie es noch Frau Schwaetzer wollte und wie es lange üblich war. Sie unterscheiden vielmehr -gewiß gelegentlich ein wenig forsch und selbstherrlich -zwischen guter und schlechter Architektur, statt Pfeilerreihen und Portici rundweg zu verdammen.

Das Verhältnis der Gegenwart zur übrigen Zeit, das ist der Kern der Veränderungen, hat sich gewandelt; Vergangenheitswahrnehmung und Zukunftserwartung wurden gegenläufig neu codiert: Die Zukunft ist kein Fluchtpunkt mehr wie noch in Bonn, die Vergangenheit keine Tabuzone mehr.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Alexander Fils, Politische Idealstädte. Das Beispiel Brasilia und andere Neugründungen, in: Ingeborg Flagge /Wolfgang Jean Stock (Hrsg.), Architektur und Demokratie. Bauen für die Politik von der amerikanischen Revolution bis zur Gegenwart, Stuttgart 1992, S. 186 ff.

  2. Vgl. Ingeborg Flagge, Provisorium als Schicksal. Warum mit der Bonner Staatsarchitektur kein Staat zu machen ist, in: ebd., S. 224 ff.

  3. Vgl. Michael S. Cullen, Der Reichstag. Parlament, Denkmal, Symbol, Berlin 1995.

  4. Vgl. Helmut Herles (Hrsg.), Die Hauptstadt-Debatte. Der stenographische Bericht des Bundestages, Bonn 1991.

  5. Vgl. Karl Feldmeyer, Schon lange ist Platz für alle da, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. April 1993.

  6. Vgl. Dieter Bartetzko, Zwischen Pathos und Pragmatismus. Paul Baumgartens Umbau des Reichstagsgebäudes, in: Heinrich Wefing (Hrsg.), Dem Deutschen Volke. Der Bundestag im Berliner Reichstagsgebäude, Bonn 1999, S. 60 ff.

  7. Zitiert nach Amber Sayah, „Wir sind die Bauherren, wir übernehmen Verantwortung“. Ein Werkstattgespräch mit Dietmar Kansy und Peter Conradi, in: ebd„ S. 165. Vgl. auch Max Welch Guerra, Hauptstadt Einig Vaterland. Planung und Politik zwischen Bonn und Berlin, Berlin 1999.

  8. Vgl. Heinrich Wefing, Der Neubau des Bundespräsidialamts im Tiergarten, in: Martina Düttmann/Felix Zwoch (Hrsg.), Berliner Bauwelt Annual 1998, Basel -Berlin -Boston 1999, S. 16 ff.

  9. Vgl. Sir Norman Fester, Ein optimistisches Zeichen für ein modernes Deutschland. Der Bundestag in Berlin, in: H. Wefing (Anm. 6), S. 180 ff.

  10. Vgl. Michael Z. Wise, Capital Dilemma. Germany’s Search for a New Architecture of Democracy, New York 1998.

  11. Vgl. Oswald Mathias Ungers, Deutsche Botschaft Washington. Neubau der Residenz, Stuttgart 1995.

  12. Zitiert nach M. Z. Wise (Anm. 10), S. 82.

  13. Rückblick und Ausblick. Oliver G. Hamm im Gespräch riiit Günter Behnisch, in: Deutsche Bauzeitung, (1992) 2, S. 124.

  14. Zitiert nach M. Z. Wise (Anm. 10), S. 84.

  15. So der vielzitierte Titel eines Heftes der Fachzeitschrift arch+. Von Berlin nach Neuteutonia, in: Arch+ 122, Juni 1994.

Weitere Inhalte

Heinrich Wefing, Dr. jur., geb. 1965; Studium der Rechte und der Kunstgeschichte in Bonn und Freiburg, Promotion mit einer Arbeit über „Parlamentsarchitektur. Zur Selbstdarstellung der Demokratie in ihren Bauwerken“; seit 1996 Redakteur im Feuilleton der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, seit 1997 dort Kulturkorrespondent in Berlin; 1998 Kritikerpreis der Bundesarchitektenkammer. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Andreas Muhs) Ein Kunststück Stadt. Der neue Potsdamer Platz. Berlin 1998; (Hrsg.) „Dem Deutschen Volke“. Der Bundestag im Berliner Reichstagsgebäude, Bonn 1999; Der Neubau des Bundespräsidialamts im Tiergarten, in: Martina Düttmann/Felix Zwoch (Hrsg.), Berliner Bauwelt Annual 1998, Basel -Berlin -Boston 1999.