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Moskau -Bonn -Pankow Tendenzen der sowjetischen Außenpolitik | APuZ 4/1956 | bpb.de

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APuZ 4/1956 Die Wandlung zur Initiative Moskau -Bonn -Pankow Tendenzen der sowjetischen Außenpolitik

Moskau -Bonn -Pankow Tendenzen der sowjetischen Außenpolitik

ERNEST J. SALTER

Wenn jemand von uns erwartet, daß wir uns von unseren Zielen lossagen, von unserer Überzeugung, daß die Lehr£n von Marx, Engels, Lenin und Stalin richtig sind, dann irrt er sich gewaltig. Den Leuten, die darauf warten, können wir nur versichern, daß sie warten werden bis Ostern und Pfingsten auf einen Tag fallen. Nikita Chruschtschow beim Empfang der Delegation der Sowjetzonen-Regierung. („Neues Deutschland", 18. September 195 5.)

I. Über den Sinn der Ko-Existenzpolitik

Seit dem Jahre 1918 führt die Sowjetunion einen Kampf um Deutschland. Form und Methoden dieses Kampfes haben gewechselt, das Ziel ist geblieben: Die Bolschewisierung des Kernlandes von Mitteleuropa, einer Barriere, ohne deren Überwindung eine Verwirklichung der kommunistischen Ideen im volksdemokratischen Rahmen bis an die Ufer des Atlantik unmöglich ist.

Ein totalitärer Staat wie die Sowjetunion hat zahlreiche Taktiken um sich seinem Ziel zu nähern. Die SU benutzt die kommunistischen Parteien als Sprengstoff in den sozialen Auseinandersetzungen der westlichen Gesellschaft, sie lockt Intellektuelle und Kulturpolitiker mit der bevorzugten Stellung dieser Schicht in den kommunistischen Staaten, sie verwendet nationalistische Ressentiments ebenso wie egoistische Gruppeninteressen von Industriellen oder Kaufleuten. Diplomatische Beziehungen und wilde Streiks, Kulturgespräche und Theateraufführungen sind Ansatzpunkte in einem Plan, dessen Phasen sich über Jahrzehnte erstrecken.

Im Laufe des letzten Jahres sind neue Variationen in der sowjetischen Außenpolitik zunehmend deutlich geworden. Die von den sowjetischen Führern entwickelte Begriffsbildung von der „friedlichen Ko-Existenz", zunächst nur Diskussionsthema der sowjetischen Parteiliteratur, ist zu einer Taktik der Sowjet-Diplomatie und der kommunistischen Parteien geworden. Das Bedürfnis nach einem friedlichen Leben in der Welt ist groß, und jede Friedenspolitik kann natürlicherweise mit den Sympathien der Öffentlichkeit rechnen, unabhängig davon, ob ihre Proklamationen ehrlich oder nur als vorzügliche Basis für militante, politische Pläne gedacht sind.

Die Sowjetunion verzichtet in der europäischen Politik, abgesehen von der deutschen Sowjetzone, wo Ulbricht und Grotewohl unentwegt einen harten Kurs steuern, — gegenwärtig auf aggressive Mittel. In den inneren Verfassungen der kommunistischen Länder dagegen bleibt die Struktur des Gewaltsystems unverändert, und es gibt keinen Anhalt für einen Gestaltwandel der Parteidiktaturen. Der politische, wirtschaftliche und ideologische Druck beherrscht die Diktaturen des Ostens, er läßt weiterhin die sozialen und nationalen Probleme der unterdrückten Völker ungelöst.

Die Politik der Nachkriegszeit — eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln und anderer Stoßrichtung — erscheint den Sowjets gegenwärtig nicht opportun. Stalin ist tot; seine Nachfolger, die Berija umgebracht und Malenkow entmachtet haben, setzen ihren Krieg gegen die freie Gesellschaft mit elastischeren Methoden fort.

Ist es erlaubt, von einem Ende des „Kalten Krieges“ zu sprechen diesem Synonym für eine besonders aggressive Form großer machtpolitischer Auseinandersetzungen zwischen zwei sich grundsätzlich ausschließenden Systemen der internationalen Politik? „Was ist „Kalter Krieg“?

Handelte es sich um eine besondere, wenn auch -verschärfte Form konventioneller Außenpolitik, wäre der Begriff kaum geschaffen worden. Das 19. Jahrhundert etwa ist erfüllt von Kriegen und Krisen aller Art, immer aber folgte den Kriegen ein echter Friede. Lind vor allem fehlte in den Auseinandersetzungen der Nationalstaaten das Ziel, die gesellschaftliche und staatliche Ordnung des jeweiligen Gegners zu vernichten und durch die eigene zu ersetzen. Der „Kalte Krieg“ der Sowjets aber hat dieses Ziel, er ist das Charakteristikum unserer Epoche.

Die Sowjetunion vertritt entsprechend der für sie verbindlichen Lehre des Marxismus-Leninismus die Auffassung, daß jede Gesellschaftsondnung, die nicht der ihren entspricht, zum Untergang verurteilt ist. In den Gesprächen, die Bundeskanzler Adenauer in Moskau führte, wurde dies von Chruschtschow und Bulganin offen ausgesprochen. Noch offener waren die Erklärungen der bolschewistischen Führer an ihre deutschen Genossen Grotewohl und Ulbricht.

Die Sowjetunion will mit den anderen Staaten nicht zeitweilig Zusammenleben, weil sie etwa deren Gesellschaftsaufbau bzw.deren politische Verfassung billigt, sondern nur weil es gegenwärtig nicht in ihrer Macht steht, die Gesellschaftsordnung dieser Staaten durch politische oder kriegerische Mittel zu zerstören.

Die Theorie der Ko-Existenz, von den Leninisten bald nach dem ersten Weltkrieg entwickelt, als die revolutionären Bewegungen in Westeuropa, besonders in Deutschland, niedergeschlagen waren, bedeutete zunächst nichts weiter als eine Aussage über das damalige Kräfteverhältnis zwischen dem bolschewistischen Rußland einerseits und den „bourgeoisen“ Staaten andererseits. Darüber hinaus war sie schon damals eine Methode, dieses Kräfteverhältnis zu Gunsten der Sowjetmacht zu verändern. Das damalige Kräfteverhältnis verbot einen aggressiven Vorstoß nach dem Westen, eine kombinierte Aktion der kommunistischen Parteien Europas mit den nach außen drängenden militärischen und politischen Kräften der Sowjetunion war nicht möglich. Als die Truppen Trotzkis 1920 im Vormarsch durch Polen an den Grenzen Ostpreußens erschienen, war der Höhepunkt dieser Revolutionsstrategie bereits überschritten.

Es begann eine Atempause in der Auseinandersetzung zwischen „Kapitalismus“ und „Kommunismus", die nach Auffassung Lenins in einen neuen Auf-und Vormarsch münden würde. Diese Theorie entbehrte nicht der Logik, scheiterte aber in der Praxis immer wieder an der verkennenden Unterschätzung der Kräfte des Westens. Die Geschichte Mitteleuropas ist seit 1917 gekennzeichnet durch kommunistische Aufstände, Unruhen und Putsche. Dennoch konnte die Bolschewisierung Europas nicht erreicht werden. Schon damals wechselten Perioden der Ko-Existenz (sie heißt auch Einheitsfront, Volksfront, Aktionseinheit usw.), mit solchen der direkten Aktion gegen die westlichen Staaten, eine typische Gesetzmäßigkeit der bolschewistischen Taktik, die sich heute nur wiederholt.

Damals schrieb Marschall Tuchatschewski, der 1920 die Offensive gegen Polen kommandierte und später von Stalin liquidiert wurde: „Eines steht fest, wenn irgendwo eine sozialistische Revolution zur Herrschaft gelangt ist, dann hat sie das selbstverständliche Recht, zu expandieren, dann wird sie mit elementarer Gewalt danach streben, durch unmittelbare Einwirkung auf alle Nachbarländer die ganze Welt zu umspannen. Ihr wichtigstes Werzeug wird natürlich ihre militärische Kraft sein." Er fügte den bemerkenswerten Satz hinzu: „Wir sehen also daß die sozialistische Revolution von ihrer Armee die Fähigkeit der aktiven Angriffsoperationen in den eigenen Grenzgebieten und — wenn der Gang der Ereignisse dazu zwingt -auch außerhalb derselben erfordert.“ (M. Tuchatschewski, Die Rote Armee und die Miliz, Leipzig 1921.)

Im koreanischen Krieg ist diese grundsätzliche Auffassung realisiert worden, sie wird, sobald die Umstände es gestatten, auch in Europa ihre Verwirklichung finden.

Die sowjetische Ko-Existenz ist im Laufe der letzten Jahre erst langsam in Erscheinung getreten. Sie war bereits auf dem Stockholmer Friedenskongreß sichtbar, Proklamationen umgaben sie und die Friedenstaube Picassos schwebte ihr zu Häupten. In ihrem Zeichen wurde die Berliner Blockade liquidiert. Die Kommunistischen Parteien Italiens und Frankreichs wurden aufgefordert, direkte revolutionäre Aktionen einzustellen und die Eroberung der Volksmehrheit anzustreben. Der griechische Bürgerkrieg wurde eingestellt. 1920 hatte Trotzki die revolutionäre Offensive gegen Europa gefordert. Nach dem zweiten Weltkrieg verlangte Shdanow die Aggression gegen Europa mit der Eroberung von Westberlin, dem Sturz der Regierungen in Italien und Frankreich durch Massenaktionen, Angriff gegen Griechenland, Pressionen auf die Türkei, die Vernichtung Titos usw. Wieder zwang die Verkennung des Kräfteverhältnisses zwischen Ost und West den Boschewismus zum Rüdezug. Lind wieder erscheint die Ko-Existenz als taktisches Manöver. Was bedeutet sie gegenwärtig?

Im Oktober 1954 hat Eugen Varga, der in Person und Werk die Kontinuität des Bolschewismus durch alle taktischen Varianten jahrzehntelang verkörpert, in der Moskauer Wochenschrift „Neue Zeit“ die Bedingungen der Ko-Existenz aus sowjetischer Sicht erörtert.

Der Aufsatz erhält zuerst eine unmißverständliche Feststellung: „Die beiden Systeme — das sozialistische und das kapitalistische — stehen in Wirtschaft, Wissenschaft, Technik, Literatur und Kunst im Wettbewerb miteinander; ein ideologischer Kampf um das Bewußtsein der Menschen, um das Vertrauen der Menschheit ist im Gange.“ Varga spricht nicht von einem Wettbewerb um die Freiheit, weder der Einzelpersönlichkeit noch des Staates; hier wollen die Bolschewisten offensichtlich keinen Wettbewerb. Man dürfe nicht zulassen, fährt er fort, daß der ideologische Kampf in einen bewaffneten Kampf ausmünde. Dieser Satz ist nicht nur eine offene Aussage, der man ohne weiteres zustimmen kann. Die Bolschewisten arbeiten jedoch mit der Technik der doppelten Aussage — einer offenen und einer durch die offene versteckten. Wird dieser Satz aus dem verhüllenden in den klaren Text übersetzt, so lautet er sinngemäß: Weil wir überzeugt sind, daß wir mit dem ideologischen Kampf unser Ziel erreichen werden, benötigen wir keinen bewaffneten Kampf, wir werden auf dem ideologischen Wege zum Ziele gelangen, d. h. durch die Umformung des Bewußtseins der westlichen Welt durch die von Moskau ausgehenden Einflüsse. Varga beschreibt dann die drei wesentlichen Gebiete, auf denen sich diese taktischen Manöver des Bolschewismus abspielen:

Erstens: Die Entwicklung der Handelsbeziehungen vorwiegend mit der Sowjetunion und Rotchina, wobei er darauf hinweist, daß die Industrialisierung in diesen Ländern große Möglichkeiten auch für die Zukunft einschließt. Diese Handelsbeziehungen sollen einflußreiche Kreise in den Volkswirtschaften der westlichen Länder gegenüber der totalitären Gesellschaft zu einer politisch neutralen oder freundschaftlichen Haltung veranlassen. Das Ergebnis würde einem Einbruch in den Kern dieser Volkswirtschaften gleichkommen und sie unter Umständen von der Sowjetwirtschaft abhängig machen.

Vargas zweites Operationsfeld ist die „reale Hilfe für die unentwickelten Länder". Bekanntlich hat die Sowjetunion sich 1954 bereit erklärt, die Maßnahmen der UN in dieser Hinsicht zu unterstützen. Sie will (wie weit dies praktisch möglich ist, sei dahingestellt) durch technische Hilfe, Lieferung von Produktionsmitteln, günstige Zahlungsbedingungen und den Abschluß langfristiger Verträge über den Ankauf von Waren zu stabilen Preisen den unentwickelten Ländern Hilfe leisten. „Folglich ist es," wie Varga schreibt, „für die rückständigen Länder von außerordentlichem Vorteil, die Handelsverbindungen mit den Ländern des sozialistischen Lagers allseitig auszubilden." Während die kommunistischen Parteien in den unentwickelten Ländern die Aktion von unten gegen die jeweils herrschende Gruppe dieser Länder führen, wendet sich die Sowjetunion als Staat an die gleichen herrschenden Gruppen mit dem Angebot wirtschaftlicher und finanzieller Unterstützung. Aus der im Wesen politischen Aktion wird eine kombinierte: die angestrebte wirtschaftliche Abhängigkeit der Spitze ist verbunden mit dem direkten Kampf von unten eben gegen die gleiche Spitze.

Das dritte Manövergclände ist für Varga „die Entwicklung kultureller Verbindungen zwischen Ländern mit verschiedener Gesellschaftsordnung“. Hier kann sich die „friedliche Ko-Existenz“ beliebig ausdehnen. Die Namen von Newton, Darwin, Einstein und Curie seien in der Sowjetunion ebenso geachtet wie die Namen von Mendelejew, Pawlow und Mitschurin in der kapitalistischen Welt. Diese Argumente sind nur bedingt richtig, Einsteins Auffassungen wurden erst in letzter Zeit durch die Sowjetunion anerkannt; die Anhänger der Weißmannschen Vererbungslehre wurden noch vor kurzem verfolgt und ausgerottet; Pawlow ist für die Sowjets ein Fetisch, der für fast jede physiologische und psychologische Struktur und Reaktion verpflichtet wurde, während er nur im Westen objektiv gewürdigt wird. Auf dem Gebiet der Kultur, der Literatur und der Künste herrschen in der Sowjetunion zeitweise wahre Schreckenszustände.

Nach Darstellung der drei wesentlichen Erscheinungsformen der KoExistenz kommt Varga zu der lapidaren Feststellung: „Wir wissen, daß die dem Kapitalismus innewohnenden Gesetze ihn unweigerlich zum Untergang führen.“ Diese Aussage soll in dem Zusammenhang der Vargaschen Deduktionen offensichtlich alle Gesichtspunkte der Ko-Existenz zusammenfassen und deren endgültiges Ziel bezeichnen. Sie offenbart die wahren Absichten der Sowjetunion.

Varga behauptet in seinem Aufsatz, daß die Führer der Sowjetunion „immer für eine friedliche Ko-Existenz der beiden Systeme Stellung genommen haben“. Es genügt demgegenüber auf Stalin hinzuweisen: „Die gegenwärtige Friedensbewegung ist nicht imstande, die Unvermeidlichkeit von Kriegen aufzuheben; denn um die Unvermeidlichkeit von Kriegen aufzuheben, muß man den Imperialismus vernichten.“

Das Ziel wird offen proklamiert, dennoch gibt es im Westen Personen, von denen die gegenwärtigen friedlichen Gesten der Sowjetpolitik als Symptome einer grundsätzlich anderen Haltung interpretiert werden. Nur wenige von diesen Politikern, Geschäftsleuten und Ideologen kennen Stalins Broschüre „Ökonomische Probleme des Sozialismus“, deren Lektüre ihnen überflüssig und langweilig erscheint Zwar ist das letztere zutreffend, das erstere birgt tödliche Gefahren für den Westen. Wir leben in einer Auseinandersetzung, deren Ablauf über das Schicksal Europas und des ganzen Planeten entscheidet.

Da die freien Staaten den Krieg gegen die Sowjetunion als Mittel der Politik ablehnen, wird es unvermeidlich eine Periode geben, in der diplomatische, wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen zwischen dem Sowjetblock und unserer Welt bestehen. Die Sowjetunion aber betrachtet solche Beziehungen lediglich als eine Form der politischen Taktik mit dem Ziel, jene Kräfte zu schwächen, die sie später vernichten will.

II. Die Neutralität Deutschlands und die Pariser Verträge

Die gegenwärtigen Formen der sowjetischen Außenpolitik dürfen nicht mit ihrem Inhalt identifiziert werden. In Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“ tritt der Teufel als russischer Gentleman auf, ohne daß durch die Kleidung sein Charakter verändert wird. Es gehört zu den elementaren Grundsätzen der sowjetischen Politik, niemals die Grundfragen aus den Augen zu verlieren. Diese sogenannte Dialektik ist ein Verfahren zum Überspielen der antisowjetischen Kräfte. Gewisse Gruppen des Westens zeichnen sich dadurch aus, daß sie unfähig sind, die Grundfragen überhaupt zu erkennen, sie komplizieren durch ihre Naivität die gegenwärtige politische Phase. Nach der Moskauer Konferenz hat es der Bundeskanzler in seiner Rede vor der Kolpingsgesellschaft in Köln klar und deutlich ausgesprochen, daß vor uns Jahre voller Gefahren liegen und daß der Kampf zwischen zwei Weltanschauungen verschärft weitergehe. Die Sowjetunion wünscht, Deutschland möge im Kampf zwischen Diktatur und Freiheit eine neutrale Position beziehen. In der sowjetischen Note vom 24. Juli 1954 über das System eines kollektiven gesamteuropäischen Sicherheitspaktes wird gesagt, daß ein solches System, von der Sowjetunion vorgeschlagen und seitdem mehrfach propagiert, mit dem Abzug der Besatzungstruppen aus Deutschland und einer zahlenmäßigen Beschränkung der deutschen Polizeikräfte in Bundesrepublik wie Sowjetzone noch vor Abschluß eines Friedensvertrages die „Neutralisierung Deutschlands“ gewährleiste. Die „Wiedererrichtung des deutschen Militarismus“ dagegen werde unweigerlich zum „Wiedererstehen eines Kriegs-herdes im Herzen Europas" führen.

Inzwischen ist die „Wiedererrichtung des deutschen Militarismus“ in der sowjetischen Besatzungszone verwirklicht, und der „Kriegsherd" ist zunächst in einem Gebiet entstanden, das sich unter direkter Kontrolle der Sowjetunion befindet. Dieser Widerspruch scheint die sowjetischen Dialektiker nicht zu stören. Die zentrale Forderung der damaligen Note und zahlreicher späterer Äußerungen in Publizistik und Diplomatie ist die Neutralisierung Deutschlands Die Sowjetunion hat den Aufstieg der Deutschen Bundesrepublik mit einem bemerkenswerten Interesse beobachtet und erkannt, daß allein das ökonomische Potential der Bundesrepublik die Kräfterelationen in Mitteleuropa verändert. Die seit Jahren prosperierende Wirtschaft, ein bedeutender Außenhandel, hohes soziales Niveau, ein ausgeglichenes Staatsbudget haben zu einer politischen Stabilität geführt.

Das Potsdamer Abkommen hatte — in sowjetischer Perspektive -die Aufgabe, die Sowjetunion zur entscheidenden und bestimmenden Macht für das Herzstück des Kontinents, Deutschland, zu machen. Voraussetzung war die Ausschaltung Deutschlands als eines selbständigen politischen Faktors; die wirtschaftliche Entwicklung sollte auf niedrigem Niveau gehalten werden. Ökonomie und Politik stehen für die Sowjets im engsten Zusammenhang miteinander, die erstere ist von Bedeutung nur in Abhängigkeit von der letzteren. Da die Einflußnahme der Sowjetunion auf die wirtschaftliche Entwicklung Westdeutschlands ausgeschlossen wurde, beschränkte sie sich auf die Sowjetzone, deren wirtschaftlicher Status heute auf einem Niveau steht, das mit der Bundesrepublik in keiner Hinsicht verglichen werden kann.

Die wirtschaftliche Stagnation Ostdeutschlands in den ersten Jahren der Nachkriegszeit korrespondierte direkt mit der politischen Herrschaft der deutschen Kommunisten, die de facto als Kolonialbeamte der Sowjetunion tätig sind. Die politische Bolschewisierung der Sowjetzone, verbunden mit dem Aufbau einer neuen Armee unter sowjetischem Kommando bildete eine präzise Aussage hinsichtlich aer Aspekte der sowjetischen Deutschland-Politik. Die sogenannte Deutsche Demokratische Republik ist nichts als der Modellfall für das größere Ziel, die Bolschewisierung Gesamt-Deutschlands.

Da sich die Entwicklung in der Bundesrepublik nicht nur ohne die vergewaltigenden Eingriffe der Sowjetunion vollzog, vielmehr die enorme Unterstützung insbesondere der Vereinigten Staaten von Amerika erfuhr, entwickelte sich die Wirtschaft in einem Umfange, der vielen auswärtigen Beobachtern zunächst unheimlich erschien, dem Kenner aber keine Überraschungen bot, da Fleiß und Initiative der Deutschen nur eine gewisse Freiheit benötigten, um sich zu entfalten.

Die politische und wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik bewog die Sowjets, ihren Standpunkt zu ändern und neue Gesichtspunkte in der deutschen Frage zu entwickeln. Sie sind überzeugt davon, daß die spezifischen Entwicklungen in Deutschland zugleich die zentralen Probleme der europäischen Politik bilden.

Wenn das deutsche Potential dem der anderen westeuropäischen Länder und der USA zugeordnet wird, und wenn sich ein gesamteuropäischer Organismus — unter. Schwierigkeiten, unter längeren Fristen als vorgesehen, unter Einschränkungen, die dem kühnen Politiker nicht behagen — herausbildet, so ist Europa in der Lage, in der Allianz mit den USA, eine weitere Expansion der Sowjetunion mit „friedlichen“ oder aggressiven Mitteln unmöglich zu machen. Gleichzeitig aber muß Gesamteuropa in der weiteren Perspektive eine unvermeidliche politische Ausstrahlungskraft gegenüber dem Osten entwickeln.

Es ist verständlich, von welcher Bedeutung unter solchen Gesichtspunkten die Neutralisierung Deutschlands für die Sowjetunion ist.

Definiert man die Politik als ein Unternehmen von Macht und Macht-gewinnung, nach den Grundsätzen etwa von Machiavelli, dann muß unter der Parole des Friedens, der kollektiven Sicherheit, der Politik des „großen Friedenslagers“ und der Ko-Existenz die Zerstörung der freiheitlichen Kräfte des Westens vorangetrieben werden. Offensichtlich bevorzugen die Bolschewisten diese neo-machiavellistische Taktik. Selbstverständlich können in einem solchen Falle die Kräfte der Freiheit nicht neutral bleiben, wenn sie nicht vernichtet werden wollen.

Definiert man die Politik als ein auch aus moralischen Auffassungen, ethischen Verpflichtungen und menschlichen Verbindlichkeiten gespeistes und durch sie legitimiertes Unternehmen, dann ist Neutralität in einem ideologischen Weltkonflikt Von beispielloser Ausdehnung und Tiefe absurd. Man kann schwerlich gegenüber einer Macht „neutral“ sein, die Millionen des eigenen Volkes unterdrückt und die freie Entscheidung des Menschen über sein eigenes Schicksal ablehnt. Wie immer man von der moralischen Seite her das Problem betrachtet: die Forderung nach der Neutralisierung Deutschlands läuft darauf hinaus, die zukünftige Kapitulation von ganz Europa vorzubereiten; die Neutralisierung Deutschlands würde der entscheidende Schritt auf diesem Wege sein.

Die Neutralität Deutschlands würde bedeuten, daß im Herzen Europas ein Vakuum entsteht. Nach den Erfahrungen der Geschichte bleibt ein solches Vakuum nicht lange unausgefüllt. Selbst Länder etwa, die seit langer Zeit keinen Krieg mehr geführt haben, wie etwa die Schweiz oder Schweden, sind hochbewaffnet und die Verletzung ihrer Neutralität würde einen Krieg heraufbeschwören. Die Geschichte Rußlands im allgemeinen. die der Sowjetunion im besonderen zeigt, daß ihr wesentlicher Inhalt darin besteht, in die anliegenden Räume zu expandieren. Vom Großfürstentum Moskau ausgehend, hat die russische Expansion in wenigen Jahrhunderten das nördliche, südliche und östliche Meer durch Aggressionen aller Art und jeden Umfanges erreicht und dabei immer solche Staaten und Räume überrannt, die nicht in der Lage waren, sich durch bewaffnete Kräfte gegen die Expansion des großrussischen Reiches zu wehren.

Aus der russischen Geschichte läßt sich der zwingende Schluß ziehen, daß jedes Land, das von Rußland zur Neutralität aufgefordert wird, bereits als Einflußsphäre und zukünftige Beute betrachtet wird. Im Zeitalter des Bolschewismus ist die traditionelle Politik Rußlands mit einer militanten Theorie gekoppelt, deren Siegesgewißheit sich in einer wissenschaftlichen Überzeugung, dem Marxismus-Lenninismus ausdrückt. Die Gefahr ist um so größer.

AIs Molotow in der Schlußphase der Berliner Viererkonferenz 1954 den Plan eines kollektiven Sicherheitspaktes für ganz Europa auf den Tisch legte, gab er damit das diplomatische Aktionsprogramm der Sowjetunion für die anschließende Zeitperiode bekannt. Offensichtlich sollte dieses Dokument die Bildung einer freien Gemeinschaft westeuropäischer Völker unter Einschluß der Bundesrepublik verhindern. Der damalige Molotowsche Vorschlag schloß einen realen deutschen Verteidigungsbeitrag aus. Was die Sowjetunion vielleicht zugegeben hätte und zugeben würde, wäre ein durch sie mitkontrolliertes bescheidenes militärisches Potential, von dem das Kräfteverhältnis in Europa auf keinen Fall verändert würde.

Der Kampf gegen die Pariser Verträge als den angeblich einzigen Hinderungsgrund der deutschen Einheit war nur die Fortführung des Kampfes gegen die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG). Schon damals wurde unausgesetzt von sowjetischer Seite argumentiert, die EVG mache eine Einheit Deutschlands unmöglich, sie sei das einzige Hindernis; ohne die EVG sei die Einheit Deutschlands möglich. Als die EVG von der französischen Nationalversammlung verworfen wurde, existierte das von sowjetischer Seite angeprangerte Hindernis der deutschen Einheit also gar nicht mehr. Die Stunde der Zerstörung der EVG hätte die Stunde der sowjetischen Initiative für die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands sein können. Es bestand ein Vakuum, es gab weder Pariser Verträge noch ein Militärabkommen der Bundesrepublik, noch einen NATO-Beitrag. Ein befreiendes Wort der Sowjetunion hätte mit einem Schlage das tragische Problem Mitteleuropas lösen können! Die Sowjetunion schwieg; glücklich über die Zerstörung der EVG und triumphierend über die Niederlage der westlichen Integrationspolitik, war sie nicht bereit, nun ihrerseits die große Initiative einzuleiten.

Die „Realisten" des Kremls waren überzeugt, die Zersetzung des Westens, durch den Zusammenbruch der EVG eingeleitet, werde weitergehen, neue Formen der Integration Westeuropas und der Bundesrepublik würden nicht entstehen. In diesem utopischen „Realismus" verzichteten sie auf einen positiven Beitrag zum Deutschlandproblem, der eine neue und endgültige Lösung hätte bringen können.

Dann setzte ihre neue Kampagne gegen die Pariser Verträge ein, in der die Argumente gegen die EVG nunmehr als Argumente gegen die Pariser Verträge verwendet wurden. Dieser Vorgang bildet ein vorzügliches Beispiel für Form und Wesen der sowjetischen Außenpolitik. Die politische Freiheit für die 18 Millionen Deutsche ist der kategorische Imperativ für jeden möglichen Kompromiß mit der Sowjetunion.

III Ursachen und Wirkungen

Welche Gründe haben zur Änderung der sowjetischen Taktik in der Außenpolitik geführt? Die Geschichte der Sowjetunion zeigt das Primat der Innenpolitik über die Außenpolitik. Erstere bedingt die letztere, sie ist deren Ausdruck und Werkzeug. Offensichtlich ist die gegenwärtige Außenpolitik abhängig von einer wirtschaftlichen und sozialen Situation, die den Bedürfnissen des Landes nicht entspricht. Weder die Industrie-noch die Konsumbedürfnisse der Sowjetunion, noch die Exportansprüche (Rot-China, Satellitenstaaten) können ausreichend befriedigt werden.

Die sowjetische Agrarkrise ist permanent. Eines der Hauptziele von Chruschtschow richtet sich darauf, hier in möglichst kurzer Frist eine Wendung zum Besseren herbeizuführen. In zwei bis drei Jahren soll in Kasachstan, Mittelsibirien und im Fernen Osten eine Fläche unter den Pflug genommen werden, die so groß st wie die bisherigen alten Getreidegebiete der Sowjetunion in der Likraine. Die gesamte Traktoren-produktion dieses Jahres wird in die neuen Gebiete geleitet, während die alten Gebiete sich mit Ersatzteilen begnügen müssen. Von einem Erfolg kann bisher nicht gesprochen werden; die Ernte von Kasachstan ist im Jahre 1955 einer schrecklichen Dürre zum Opfer gefallen.

Die Moskauer Konferenz der Industriefachleute vom 12. bis 21. Mai 1955 hat gezeigt, daß auch in der Industrie schwerwiegende Mängel bestehen. Ihre Entwicklung hat eine Grenze erreicht, die nicht ohne schwere Erschütterungen überschritten werden kann. Dies gilt für die Versorgung des inneren Marktes, wie für die Abhängigkeit der Satellitenstaaten von der russischen Produktion. Die sowjetische Aufrüstung einschließlich der atomaren Waffen benötigt eine maximale Industrie-kapazität. Die höheren Anforderungen der Nachkriegszeit lassen es ratsam erscheinen, eine zeitlich begrenzte Pause einzulegen, um neben der industriellen Produktion auch die materiellen und sozialen Verhältnisse der Bevölkerung zu verbessern und damit die Diskrepanz zwischen einer expansiven Außenpolitik und ihren materiellen Voraussetzungen zu beseitigen. Bulganins und Chruschtschows Ausführungen auf der Moskauer Industriekonferenz und die entsprechenden Parteibeschlüsse auf der Präsidiumstagung der sowjetischen KP, unmittelbar vor der Genfer Konferenz, zeigen, daß die klassischen Schwierigkeiten der sowjetischen Planökonomie nicht nur nicht gemildert, sondern verschärft worden sind. Hier liegt die wesentliche Ursache für die veränderte Außenpolitik, wobei der bolschewistische Parteicharakter selbst als eine konstante Größe betrachtet werden kann.

IV. Das Regime von Pankow

Die zeitlichen Phasen, in denen die taktischen Manöver der sowjetischen Politik in Deutschland ablaufen, sind verschieden. Das vorbereitende Stadium etwa bis zum Beginn der deutschen „Volksdemokratie", d. h. bis zu dem Zeitpunkt, da man den „Aufbau des Sozialismus“, verbunden mit der Zwangskollektivierung der ost-und mitteldeutschen Landwirtschaft offen zu proklamieren wagte, umfaßte den Zeitraum von 1945 bis zur II. Parteikonferenz der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) im Jahre 1952.

In diesem Zeitraum gab es Höhepunkte direkter revolutionärer Aggression, etwa die Blockade Berlins. Im Innern der Zone gab es Perioden äußerster Brutalität gegen die Bauern, die Kirche, die Handwerker und nicht zuletzt und ständig gegen die Arbeiter, den wichtigsten, da menschlichen Produktionsfaktor. Es folgte die Beseitigung der selbständigen Arbeit, die Auflösung der Betriebsräte und die Ausschaltung der Gewerkschaften in der Gestaltung der Lohn-und Arbeitsbedingungen.

Einige Monate vor dem 17. Juni 1953 entfaltete sich der Terror auf allen Gebieten: Steigen der Preise, Sinken der Löhne, zunehmender Mangel an Lebensmitteln und Textilien bei schlechter Qualität, Steigen der Normen, d. h.der Ausbeutung und der Arbeitszeit.

Dann erfolgte der Aufstand, das große Beispiel einer Volkserhebung gegen den totalitären Staat. Die Taktik änderte sich erneut, es trat eine gewisse Erleichterung des Lebens ein. Die Partei war geschlagen worden. in der letzten Bewährung hatten ihre Kader sich als unfähig erwiesen. In der Frage der deutschen Einheit machte sich eine stärkere agitatorische Aktivität bemerkbar.

Charakteristisch bleibt aber — als Beispiel einer konsequenten strategischen Politik — trotz aller Rückschläge die Beibehaltung der sogenannten Generallinie mit dem Ziel, die Sowjetzone zur Volksdemokratie zu entwickeln und ihre Struktur den anderen Volksdemokratien anzugleichen und das Vorbild der Sowjetunion nachzuahmen.

Die innere Politik der deutschen Sowjetzone hat drei Dominanten: 1. im industriellen Sektor die Weiterentwicklung der bürokratischen Staatswirtschaft vermittels der Planökonomie; 2. im Agrarsektor den weiteren Ausbau der Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft; 3. im Staats-und Gesellschaftsleben die Festigung der Monopolstellung der SED. Sie bestimmen die Züge der kommunistischen Diktatur in Mittel-und Ostdeutschland, wobei man die alles kontrollierende Tätigkeit der Geheimpolizei, die absolute Zensur für jedes gedruckte Wort und das Potential einer Armee von mindestens 130 000 Mann einbeziehen muß.

Während in den agitatorisch en Gesten von Johannes R. Becher oder Otto Nuschke der Ruf nach der deutschen Einheit zeitweise pathetischen Charakter annahm, wurde in der inneren Politik der Sowjetzone der grundsätzliche Kurs der kommunistischen Politik in den drei genannten Dominanten konsequent weitergeführt. „Gespräche", „Begegnungen“, „Verhandlungen", „Konferenzen", „Kulturtagungen", „Deutsche Begegnungen" haben in diesem Zusammenhang die Funktion einer Nebelwand, hinter der sich der unbeirrbar fortgesetzte Ausbau der kommunistischen deutschen Republik verbirgt.

Die SED kann nicht freiwillig auf ihre Macht verzichten der Verzicht würde ihren sofortigen Untergang bedeuten. Gewährt sie der Freiheit Konzessionen, so leitet sie ihren eigenen Selbstmord ein. Sie baut daher den Staatstypus der DDR aus, der als Modell für ganz Deutschland gilt. Ihre Macht ist am 17. Juni 1953 durch Sowjetpanzer gerettet und im Herbst 1955 durch den Moskauer Staatsvertrag zwischen der Sowjetregierung und der Regierung von Pankow garantiert worden.

Walter Ulbricht: „Die Lage in Deutschland hat sich so entwickelt daß die Deutsche Demokratische Republik der rechtmäßige deutsche Staat ist, dessen Politik die Zukunft Deutschlands verkörpert." (Rede in der „Volkskammer" am 26. 9 1955, abgedruckt im „Neuen Deutschland" vom 27. 9. 195 5.) Um welche Zukunft Deutschlands handelt es sich hier? Um die kommunistische deutsche Zukunft, um die Zukunft einer gesamtdeutschen Sowjetrepublik!

Nach den Genfer Konferenzen ist das Ziel sowjetischer Deutschland-politik offen proklamiert worden. Die kategorischen Erklärungen von Bulganin und Chruschtschow nach ihrer Rückkehr von der ersten Genfer Konferenz in Ostberlin, die Äußerungen, welche in Moskau gegenüber Bundeskanzler Dr. Adenauer und gegenüber den „lieben Genossen Walter Ulbricht und Otto Grotewohl" abgegeben wurden, beseitigen jeden Zweifel.

Die deutsche Frage lag ein Jahrzehnt hinter einem Schleier, jedem ernsthaften Beobachter sichtbar, nicht aber den zahlreichen Illusionisten. Man darf hoffen, daß auch Illusionisten in Zukunft gezwungen werden, sich mit Tatsachen auseinanderzusetzen.

Auf den Genfer Konferenzen formulierten die Sowjets den Begriff von den zwei deutschen Teilstaaten mit grundsätzlich verschiedener sozialer Struktur. Diese verschiedenen Strukturen sollen eine „mechanische“ Wiedervereinigung, eine „Addierung" der beiden Staaten nicht zulassen. Freie Wahlen sind angeblich unmöglich, da die Herrschaft der „Junker und Militaristen" in der Bundesrepublik freien Wahlen die Basis entziehen.

Gegenüber diesen logischen Erklärungen, die völlig den prinzipiellen Auffassungen der sowjetischen und deutschen Kommunisten entsprechen, wurde nur ein bescheidenes taktisches Manöver versucht, als der Pressechef des sowjetischen Außenministeriums, Herr Iljitschow in Moskau gegenüber einem deutschen Chefredakteur erklärte, nur die Pariser Verträge seien das von der Sowjetunion beklagte Hindernis für die Herstellung der deutschen Einheit. Was haben die Pariser Verträge mit den beiden verschiedenen sozialen Strukturen, nämlich der „kapitalistischen", der Deutschen Bundesrepublik und der „sozialistischen“, der „Deutschen Demokratischen Republik" zu tun?

Die einseitige Aufhebung der Pariser Verträge würde Deutschland in die kompromittierende Situation eines Staates versetzen, der Verträge von kurzer Dauer schließt, um sie zu kündigen, sobald es seinen Zwecken dienlich erscheint. Das Vertrauen der westlichen Alliierten, in unermüdlicher und geduldiger Arbeit mühsam hergestellt, würde zerfallen und die Bundesrepublik selbst unvermeidlich wehrloses Objekt sowjetischer Politik.

Das Ausscheiden der Bundesrepublik aus den Pariser Verträgen würde zwangläufig zur Bildung jenes neutralen Vakuums in Deutschland führen, das die Sowjets schaffen wollen.

Die Pariser Verträge sind Ausdruck einer Situation in Europa, die durch eine jahrelange Aggressionspolitik der Sowjetunion einerseits und zwangsläufige Abwehrreaktion der westlichen Mächte andererseits einschließlich der USA und der Deutschen Bundesrepublik bedingt ist. Darüber hinaus sind sie eine reale Antwort der Westmächte auf den Weltkonflikt unserer Zeit, der von den Sowjets heraufbeschworen wurde.

Es ist nicht verwunderlich, daß die Sowjets die NATO seit ihrem Bestehen unaufhörlich attackiert haben. Da sie selbst eine Politik der Macht betreiben, wissen sie, was reale Stärke bedeutet. Erst wenn die Sowjets den Nachweis führen, daß sie einer Politik der echten Verständigung den Vorzug geben, kann der Westen sich bereit finden, seine Politik der. Stärke abzubauen. Bis dahin ist die Diffamierung der Politik der Stärke ein Teil der sowjetischen Agitations-Philosophie, nicht ihrer realen Politik.

Wenn die Politik der Sowjets eine echte Veränderung erfährt, werden auch die Pariser Verträge in diese Veränderung einbezogen werden können; solange das nicht der Fall ist, kann der Westen sein militärisches Potential nicht vermindern, ohne das des Gegners zu stärken. Zwischen der Politik der Stärke des Westens und der Politik der Stärke des Ostens besteht ein unlösbarer Zusammenhang, die erstere ist eine Folge der letzteren.

Bevor das deutsche Problem in seiner Eindeutigkeit nach Genf und Moskau sichtbar wurde, gab es im sowjetischen Parteipräsidium, der tatsächlichen Regierung der Sowjetunion, umfangreiche Debatten über die Taktik. Es war offensichtlich geworden, daß die Bundesrepublik ihre vertraglichen Verpflichtungen einhalten würde, und so wurde beschlossen, die deutsche Frage unter kommunistischen Vorzeichen vorläufig als nicht lösbar auszuklammern.

Die Genfer Sommer-Konferenz ergab, in drei Sätzen, folgendes Resultat: 1. Die Sowjets behandelten als zentrales Problem die Sicherheit bzw.den europäischen kollektiven Sicherheitspakt. 2. Die deutsche Frage wurde dilatorisch bzw. zweitrangig behandelt; es wurde der Versuch gemacht, die Sicherheitsfrage zu lösen bei Weiterexistenz zweier deutscher Staaten. 3. Die Stellung der deutschen Sowjetzone als eines selbständigen Staates, wurde innerhalb seiner natürlichen Unselbständigkeit gegenüber der Sowjetunion bestätigt.

Die beiden ersten Probleme konnten nicht gelöst werden, da keine Einheit zwischen den Standpunkten der Westmächte und denen der Sowjetunion erzielt wurde. Da die erste Konferenz wesentlich im Psychologisch-Atmosphärischen verblieb und nur der „Geist von Genf“ entbunden wurde, war die Regelung einer neuen Konferenz den Außenministern im Oktober überwiesen worden. Diese endete völlig negativ.

Die Pankower Regierung hatte die erste Genfer Konferenz mit angespanntem Interesse verfolgt; in den voraufgegangenen Monaten war ein Schwanken in der Taktik der Sowjets gegenüber Deutschland zu erkennen. Noch beim Warschauer Abkommen war der militärische Beitrag der Sowjetzone ausgeklammert worden, da die deutsche Frage von den Sowjets als in der Schwebe befindlich betrachtet wurde. Die Bemühungen des damaligen Innenministers der Sowjetzone, Willi Stoph, auf die Errichtung des Bonner Verteidigungsministeriums mit einer gleichen Institution für die Zonen-Regierung zu antworten, stieß ebenso auf den Widerstand der Sowjets wie Stophs Bemühen, mit offiziellen Militärgesetzen die Bonner Debatten um das Freiwilligengesetz zu parieren.

Vor der ersten Genfer Konferenz war der Vorschlag des kollektiven Sicherheitspaktes gedacht als eine Defensivmaßnahme der Sowjets gegen die Bemühungen der Westmächte, die deutsche Frage gemeinsam mit der Sicherheitsfrage zu behandeln. Die gleiche Linie verfolgten sie auch in Genf; sie verweigerten Zugeständnisse in der deutschen Frage und beschränkten sich auf die bekannten Erklärungen, die zuletzt auf den beiden Moskauer Konferenzen einerseits mit der Bundesrepublik, andererseits mit dem Pankower Regime wiederholt wurden.

Als aber die Sowjets sich im Sommer in Genf von den friedlichen Absichten der LISA überzeugten und die Gewißheit gewannen, daß die LISA jedem Krieg ablehnend gegenüberstehen, konnten sie eine Umgruppierung vornehmen und den kollektiven Sicherheitspakt als eine taktische Offensivwaffe gegen die westeuropäischen Bündnisse verwenden. Sie repräsentierten die beiden deutschen Staten als Teilnehmer eines möglichen Sicherheitsabkommens und zogen sich auf ihre bekannten Vorschläge zurück, nach denen die beiden deutschen Staaten selbst durch gegenseitige Verhandlungen („Deutsche an einen Tisch“) und Abkommen einen Beitrag zur Herstellung der deutschen Einheit leisten sollten. Damit erhielt die Führung der Sowjetzone die Garantie, daß die Existenz ihrer Staatsdomäne, der DDR, nicht gefährdet sei.

Die unmittelbare Wirkung dieser sowjetischen Haltung war eine politische Euphorie der Pankower Regierung. Nach einer Periode langer Zweifel weiß sich die Führung der SED seit der Genfer Juli-Konferenz endgültig im Besitz definitiver sowjetischer Zusagen, daß ihre Existenz für lange Zeit gesichert ist. Diese Versicherungen waren auch der zentrale Punkt der Moskauer Besprechungen zwischen Grotewohl und Ulbricht einerseits und Bulganin und Chruschtschow andererseits.

Der Ton der gesamten Publizistik in der Sowjetzone veränderte sich schlagartig. Die Sekretäre des Zentralkomitees eilten von einer Stadt in die andere, um Funktionären und Anhängern zu versichern, daß die „Errungenschaften der DDR", die Monopolstellung der gesamten Staats-und Parteibürokratie nicht mehr gefährdet seien. Lange Zeit hatte die Ulbrichtgruppe den Kampf gegen eine Entwicklung geführt, die mit Sicherheit zu einer Zerstörung der SED führen würde, falls es den Sowjets gelingen sollte, ein riesiges Tauschgeschäft mit Deutschland (auf der Grundlage der Neutralität) durchzuführen. Jetzt hatte sie „gesiegt", d. h. die Stellung der Sowjetregierung nach Genf, erlaubte ihr von einem vollständigen „Sieg“ im Kampfe um die „endgültige" Behauptung der DDR zu sprechen.

Die Politik von Pankow ist in bezug auf die Einheit Deutschlands heute noch deklamatorischer als in den letzten Jahren. Die Abhängigkeit von der Sowjetunion, die schon immer bestanden hat, ist heute ohne jede Nuancierung vollständig. Die drei großen Dominanten der inneren Politik bestimmen unverändert den Charakter der sowjetdeutschen Kolonie.

Inzwischen hat das 25. Plenum des Zentralkomitees der SED in einem 20 Druckseiten umfassenden Dokument „Die neue Lage und die Politik der Sozialistischen Einheitspartei“ seine Auffassungen eindeutiger präzisiert als je zuvor. Es genügt aus dem Parteibeschluß einige Stellen zu zitieren: „Das Neue besteht darin, daß die Bonner Regierung durch die Eingliederung in die NATO und die Wiedererrichtung des deutschen Militarismus fertige Tatsachen geschaffen hat, um mit Hilfe von Wahlen die Versklavung des deutschen Volkes und die Vorbereitungen für einen neuen Krieg durchzuführen ... Es darf keinerlei Beeinträchtigung der Errungenschaften der Werktätigen in der Deutschen Demokratischen Republik geben. . . . Die Wiedervereinigung Deutschlands kann nur das Resultat des Volkskampfes gegen den Militarismus in Westdeutschland und der gemeinsamen Anstrengungen der Kräfte des Friedens und der Verständigung in der Welt sein. . . . Die Fragen der Gestaltung des wiedervereinigten Deutschlands sind nicht Fragen, die erst später in einer gesamtdeutschen Nationalversammlung zur Entscheidung stehen, sondern Fragen, über die bereits heute im Kampf gegen die Militarisierung Westdeutschlands für die Interessen der friedliebenden Mehrheit des deutschen Volkes wichtige Entscheidungen gefällt werden. ... In der Deutschen Demokratischen Republik wurden die Grundlagen einer volksdemokratischen Ordnung geschaffen."

Der Ausdruck „Volkskampf“ ist keine formale Metapher, er beinhaltet die revolutionäre Aktion. Diese soll von der „volksdemokratischen Ordnung“ her, nämlich von der „Deutschen Demokratischen Republik“ als Basis, organisiert werden und als Ziel den Sturz der „Herrschaft der Junker und Militaristen“, nämlich den Untergang der Deutschen Bundesrepublik, haben. Für deren künftige Struktur sind volkseigene Betriebe, die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und die Besetzung aller Stellen der öffentlichen Meinungsbildung (Radio, Presse, Nachrichtenagenturen) mit zuverlässigen Kommunisten vorgesehen.

Ohne jeden Zweifel bilden diese Beschlüsse der SED ein revolutionäres Aktionsprogramm für den jetzigen Zeitabschnitt. Es ist ein Plan mit einer Perspektive für zwei bis drei Jahre, in denen die wesentliche Zersetzung der Bundesrepublik herbeigeführt werden soll. Während die diplomatischen Beziehungen der Sowjetunion mit der Bundesrepublik Veränderungen in der Führungsschicht der Bundesrepublik herbeizuführen bestimmt sind, versucht der deutsche Kommunismus in Betrieben, Gewerkschaften und Parteien, unter Intellektuellen, Arbeitern und Geschäftsleuten Voraussetzungen für die direkte Aktion zu schaffen. Von oben Zersetzung und atmosphärisch-politisch-psvchologische Veränderungen, von unten der Ulbrichtsche „Vofkskampf“das ist ein anschauliches Beispiel für eine kombinierte Aktion, für eine Zangenbewegung gegen den zu vernichtenden Gegner, nämlich die junge deutsche Demokratie.

V. Ko-Existenz und Deutsche Einheit

Die Ko-Existenz-Politik der Sowjetunion befindet sich aber, selbst wenn man ihren bedingten taktischen und strategischen Charakter als eine durch die bolschewistischen Erklärungen bezeugte objektive Tatsache unterstellt, in einem tiefen Widerspruch, wenn sie auf das Problem der Spaltung Deutschlands trifft.

Wie ist Ko-Existenz möglich, wenn Deutschland gespalten bleibt? Auf diese Frage sucht man in den Erklärungen der Sowjetregierung vergeblich eine Antwort. Die andauernde Trennung Deutschlands bildet einen Unruheherd, der durch keine Deklamationen von zwei deutschen Teilstaaten aus der Welt geschafft werden kann.

Zwischen beiden deutschen Gebieten besteht eine Kluft, die sich durch die fortschreitende Bolschewisierung der Sowjetzone fortgesetzt vertieft. Politik, Wirtschaft. Kultur, Literatur und Künste in der Sowjetzone nehmen einen völlig anderen Charakter an; die deutsche Sprache in der Sowjetzone hat eine solche Veränderung erfahren, daß zahlreiche neue Wortbindungen in der Bundesrepublik nur noch von Ost-Spezialisten verstanden werden; da die Prozesse der Veränderung bewußt fortgesetzt werden, muß-der Gegensatz, entgegen allen Bemühungen westdeutscher privater und behördlicher Stellen, unaufhörlich wachsen.

Die wirtschaft! ehe Prosperität der Bundesrepublik gegenüber dem zurückgebliebenen materiellen Niveau der Sowjetzone wirkt mit starker Anziehungskraft auf die tüchtigsten Menschen in der Sowjetzone Der Strom der Flüchtlinge ist 1955 größer als 1954 gewesen. Die Facharbeiter wandern ab, die jungen Männer entziehen sich der kasernierten Volkspolizei. Die Sowjetzone muß ihre Armee vergrößern, gleichzeitig aber ist sie durch das Beispiel der Bundesrepublik und Westberlins gezwungen .den materiellen Lebensstandard ihrer Bevölkerung zu verbessern Aufgaben, die eine fortgesetzte enorme Anspannung der arbeitenden Menschen in der Sowjetzone erfordern. Die Produktivität der Arbeit muß erhöht werden, gleichzeitig werden neue industrielle Kombinate riesenhaften Umfanges, wie das Kokskombinat in der Trattendorfer Heide, errichtet.

Diese Anforderungen verschärfen die sozialen Spannungen, die in der Sowjetzone seit einem Jahrzehnt bestehen. Es ist verständlich, daß die Bundesrepublik für die Menschen der Sowjetzone ein Element der Hoffnung, der Stärke und der ständigen Anziehung bildet. Die Menschen fliehen vor der „Generallinie".

Es besteht kein Zweifel, daß die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung von Ost-und Mitteldeutschland die Deutsche Bundesrepublik als den einzig legitimen deutschen Staat betrachtet.

Es wäre töricht von den Sowjets, diese Tatsache zu übersehen. Jenseits aller Diplomatie gibt es für jeden Demokraten ein Axiom, das prinzipiell auch von den Sowjets anerkannt wird: das Selbstbestimmungsrecht des Volkes zur Bestimmung seiner politischen Verfassung. Da die deutsche Frage eine internationale Angelegenheit ist, ist ihre Lösung nur im Zusammenwirken der großen Mächte möglich. Wenn die politische Entspannung, verwirklicht durch die tatsächliche und von jedermann zu kontrollierende Veränderung in der Praxis, fortschreitet, ist es denkbar daß im Zuge einer internationalen Milderung der Gegensätze auch das deutsche Problem von seiner Schärfe, die unverändert bis heute besteht, ja sogar eine Zuspitzung erfahren hat, verliert, und neue Lösungen heranreifen. Es versteht sich jedoch, daß dies ein langer Prozeß ist, der ständige Wachsamkeit erfordert.

Die große Probe auf die Ko-Existenzpolitik muß in der inneren Verfassung des Sowjetblocks selbst erfolgen. Auch totalitäre Staaten sind der geschichtlichen Wandlung unterworfen, auch in ihnen sind sozialogische Prozesse wirksam, die Völker des Sowjetblocks haben ein Bedürfnis nach Freiheit, man darf annehmen, daß im weiteren Fortgang der Geschichte Veränderungen erfolgen, die auf die Beziehungen des Sowjet-blocks gegenüber den freien Völkern nicht ohne Einfluß sein werden. Über dem Hauptquartier der NATO in Morly bei Paris steht als Motto: „Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit!“ Wer die gegenwärtige sowjetische Politik ohne Illusionen betrachten will, muß von Tatsachen, und nur von ihnen ausgehen und die Wirklichkeit zum Kriterium seines Urteils machen; er muß vorurteilslos und wachsam die Ereignisse der Sowjetpolitik im Hinblick auf den Frieden der Welt und die Einheit Deutschlands ansehen. Nur dann wird eine realistische Haltung gegenüber der Sowjetunion möglich sein. Die Auseinandersetzung zwischen Freiheit und Diktatur ist in eine neue gefährliche Phase getreten, und es bedarf größter Aufmerksamkeit, nüchterner Beurteilung und unausgesetzter Entschlossenheit, um die Grundsätze der Freiheit für Gesamt-deutschland zu bewahren.

Politik und Zeitgeschichte

AUS DEM INHALT UNSERER NÄCHSTEN BEILAGEN:

Walter A, Berendsohn: „Thomas Mann und das Dritte Reich" „Probleme der Emigration aus dem Dritten Reich"

J. M. Bochenski: „Die kommunistische Ideologie und die Würde, Freiheit und Gleichheit des Menschen im Sinne des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. 5. 1949"

Max Braubach: „Vor zwanzig Jahren" Der Einmarsch deutscher Truppen in die entmilitarisierte Zone am Rhein im März 1936

Roland Klaus: „Nicht gestern, Freund, morgen!"

Edgar Kupfer: Hans Wenke: „Straf-Kompagnie Dachau" „Die Erziehung im Kreuzfeuer der öffentlichen Meinung"

Paul Wentzke: . . • „Heinrich von Gagern" „Urkunden zur Judenpolitik des Dritten Reiches"

Fussnoten

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