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Die chinesische Gesellschaft. Eine historische Übersicht | APuZ 19/1958 | bpb.de

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APuZ 19/1958 Die chinesische Gesellschaft. Eine historische Übersicht

Die chinesische Gesellschaft. Eine historische Übersicht

KARL A. WITTFOGEL

Vom Verfasser neu bearbeitete Übersetzung des Aufsatzes „Chinese Society. A Historical Survey". (The Journal of Asian Studies, Band XVI, Nr. 3, Mai 1957. Gedruckt in den USA.)

I. Das traditionelle China — eine hydraulische („orientalische') Gesellschaft

Abbildung 1

Das traditionelle China war eine Agrargesellschaft, die eine erhebliche Entwicklung von Handwerk und Handel zuließ. In dieser Hinsicht ähnelte China dem mittelalterlichen Europa und gewissen vorhellenistischen Kulturen des nördlichen und westlichen Mittelmeerraumes. Während jedoch diese westlichen Agrarkulturen schließlich ihre gesellschaftliche Identität verloren, blieben die Grundzüge der chinesischen Gesellschaft jahrtausendelang bestehen. Und während das mittelalterliche Europa eine kommerzielle und industrielle Revolution erlebte, die in der Entstehung einer industriellen Gesellschaft gipfelte, erfuhr das traditionelle China keine derartige Umgestaltung.

Dieser Unterschied zeigt, daß es bei einer Darstellung gesellschaftlicher Formen nicht genügt, von Ackerbau, Handwerk und Handel im allgemeinen zu sprechen. Wir müssen die ökologische und institutionelle Eigenart dieser Formen und die besonderen menschlichen Beziehungen, die in ihnen zur Auswirkung gelangen, ins Auge fassen.

Die chinesische Gesellschaft entstand im mittleren und unteren Stromgebiet des Huang-ho Da der Regenfall in diesem Gebiet unzureichend und vor allem unregelmäßig ist, begannen die urchinesischen Siedler früh, diesen Mangel durch Bewässerungswerke und Flutabwehrdeiche zu bekämpfen. Im Bereich größerer Flußläufe und in den Tiefebenen gingen diese Aufgaben über die Kraft einzelner Personen oder örtlichen Gruppen hinaus. So erfolgte denn die Zähmung des Wassers durch große, von der Regierung geleitete Arbeitsgruppen. Ich schlage vor, eine Landwirtschaft, die sich auf einen derartigen staatlichen Groß-Wasserbau stützt als .. hydraulische Landwirtschaft“ zu bezeichnen und sie von der „Hydro-Agrikultur“ (Landwirtschaft mit Kleinwasserbau) und von der auf Regenfall beruhenden Landwirtschaft zu unterscheiden. Ich schlage ferner vor, eine Regierung, die solche Funktionen erfüllt, als eine „hydraulische Regierung“ und die von ihr beherrschte Gesellschaft als eine „hydraulische Gesellschaft“ zu bezeichnen.

Die hydraulische Gesellschaft ist also eine besondere Abart der Agrargesellschaft. Ihre Besonderheiten beruhen auf fünf wesentlichen Bedingungen: (1) kulturell: Kenntnis der Landwirtschaft. (2) umweltmäßig: Trockenheit oder Halbtrockenheit und leicht erreichbare Wasserreserven, vor allem Flüsse, die für einen ertragreichen Anbau von Feldfrüchten — insbesondere Getreide — auf wasserarmem Boden verwendet werden können. Ein feuchtes Gebiet, in welchem eßbare Wasserpflanzen — insbesondere Reis — angebaut werden können, ist eine Variante dieser ökologischen Ordnung. (3) organisatorisch: großangelegte Zusammenarbeit. (4) politisch: der Organisationsapparat der hydraulischen Gesellschaft wird von den politischen Leitern des Gemeinwesens entweder ins Leben gerufen oder bald übernommen. Die wesentlichen äußeren und inneren Funktionen der Gesellschaft (militärische Verteidigung und Aufrechterhaltung von Frieden und Ordnung) werden von diesen Leitern erfüllt. (5) sozial: eine gesellschaftliche Schichtung, die die hydraulischen Leiter von der Masse des Volkes absondert. Die Entstehung einer berufs-mäßigen Bürokratie mit vollamtlich tätigen Funktionen kennzeichnet den Übergang von einer „primitiven“ hydraulischen Gesellschaft, in der die Mehrzahl der Funktionäre ehrenamtlich tätig sind, zu einer „höheren" hydraulischen Gesellschaft, die von einem Staat mit Berufsbeamten beherrscht werden. Innerhalb der „höheren“ hydraulischen Gesellschaft unterscheiden wir wiederum drei Unterformen:

(a) die „einfache“ hydraulische Gesellschaft (Privateigentum an be-weglichen und unbeweglichen Produktionsmitteln unbedeutend, private Handwerker, Händler und Grundbesitzer geringfügig oder fehlend); (b) die „halb-komplexe" hydraulische Gesellschaft (bewegliches gewerbliches Eigentum, d. h. Handwerk und Handel, entwickelt, aber privater Grundbesitz geringfügig); (c) die „komplexe“ hydraulische Gesellschaft (mit entwickeltem beweglichen und unbeweglichem Privateigentum).

Die hydraulische Agrargesellschaft war nicht auf China beschränkt. Es ist historisch erwiesen, daß Agrarkulturen mit staatlich gelenktem Wasserbau mehrere tausend Jahre vor der christlichen Zeitrechnung in Ägypten und in Mesopotamien entstanden sind. Ähnliche Gesellschaften bildeten sich ferner in Indien, Persien, Zentralasien (Turkestan), in Südostasien sowie auf Java, Bali und Hawaii

In der westlichen Hemisphäre gab es solche Gesellschaften vor der spanischen Eroberung im Gebiet der Anden (sie erreichten dort ihren Höhepunkt im Inkareich mit seinen grandiosen Bewässerungsanlagen), in Mittelamerika (besonders im Gebiet des Sees von Mexiko) und im Südwesten der heutigen Vereinigten Staaten, nämlich in Arizona (Hohokam) und in Neu-Mexiko, wo die Pueblo-Indianer bis auf den heutigen Tag Kernzüge einer primitiven hydraulischen Ordnung behalten haben.

Europäische Gelehrte waren die ersten, die die hydraulische Besonderheit der großen Kulturen des Ostens erkannten. Im Anschluß an klassische griechische Vorstellungen über die Herrschaft asiatischer „Despoten“ verwendeten sie hierfür die Bezeichnung „Orientalische Despotie“. Die klassischen Ökonomen, die diesen Begriff auch weiterhin verwandten, sprachen von „asiatischen“ oder „orientalischen“ Gesellschaften

Da die ausgedehntesten und ältesten hydraulischen Kulturen tatsächlich im Osten desjenigen Kontinents lagen, dessen Gelehrte dieses Phänomen zuerst begrifflich erfaßten, hat die Bezeichnung „orientalische Gesellschaft“ eine gewisse geohistorische Berechtigung. Jedoch im Unterschied zu den Formeln „feudale“ und industrielle Gesellschaft vermittelt sie nicht den Begriff einer spezifischen institutionellen Ordnung. Aus diesem Grunde verwende ich vorzugsweise den Terminus „hydraulische Gesellschaft“.

II. Der sozialgeschichtliche Geburtsakt — keine städtische, sondern eine hydraulische Revolution

Auf welche Weise entstand die chinesische Kultur als eine Variante der hydraulischen Gesellschaft?

Gordon Childe nimmt an, daß die geschichtlichen Agrargesellschaften im allgemeinen und die geschichteten orientalischen Gesellschaften im besonderen ein : „städtischen Revolution" ihr Dasein verdanken. Diese These entspricht nicht den Tatsachen. Unter nicht-hydraulischen Agrarvölkern — wie z. B.den germanischen Stämmen — gab es bereits viele Jahrhunderte vor der Entstehung von Städten eine soziale Schichtung, die den Volksadel von den Gemeinfreien und Sklaven absonderte. Ebenso ging die Bildung einer hydraulisch herrschenden Klasse häufig der Entstehung von Städten voraus. Oft besaß diese Schicht Paläste und Tempel (religiöse Zentren) lange ehe es Städte gab. Dies war offensichtlich der Fall auf Hawaii sowie in Kernzentren der hydraulischen Kultur Alt-Amerikas

Frühgeschichtliche chinesische Legenden erzählen von hydraulischen Kulturheroen — Yao, Schun und Yü —, die die Gewässer im Stromgebiet des Huang-ho zu zähmen suchten. Diese Geschichten entsprechen genau den Bedingungen in den halbtrockenen Lößgebieten, die, mit nur geringfügigen klimatischen Änderungen, seit dem Ende der Eiszeit in Nordchina geherrscht zu haben scheinen Die niedrig gelegenen Ebenen werden von Flüssen durchschnitten, welche regelmäßig Sedimente, besonders Löß, ablagern und auf diese Weise die Flußbetten allmählich erhöhen, wodurch periodische Überschwemmungen und gelegentlich völlige Änderungen der Wasserläufe verursacht werden. Wer in diesen Gebieten erfolgreich Ackerbau treiben will, muß daher seine Felder bewässern und die ruhelosen Flüsse eindämmen

Vor einigen Jahrzehnten wiesen chinesische Kritiker auf den relativ späten LIrsprung dieser Texte hin und bezweifelten ihren Wert für eine Rekonstruktion der hydraulischen Frühgeschichte Chinas Die Orakelinschriften der Schang-Dynastie haben jedoch die Gültigkeit solcher Quellen wie des „Schi Ki" und der „Bambus-Annalen“ für die Schang-Periode bestätigt und auch den Angaben aus der Zeit vor der Schang-Dynastie erhöhte Glaubwürdigkeit verliehen. Yü, dem die frühgeschichtlichen Berichte das Verdienst zuschrieben, die Gewässer der Großen Ebene gebändigt zu haben, und den Konfuzius wegen seiner Bemühungen um die Bewässerungsgräben und Kanäle pries ist vielleicht tatsächlich ein früher hydraulischer Kulturheros

Es besteht kein Grund zu bezweifeln, daß es schon vor der Schang-Dynastie (ca. 1766 bis 1122 v. Chr.) eine höhere hydraulische Agrarkultur in Nordchina gab. Ebensowenig haben wir Grund zu bezweifeln, daß in China wie in anderen Gebieten ähnlicher Art die orientalische Kultur ihre Entstehung nicht einer städtischen, sondern einer hydraulischen Revolution verdankte.

III Die Gesellschaft der Tschou-Zeit — nicht feudal sondern hydraulisch

Es war offenbar eine hydraulische Revolution, mit der die Entstehung einer spezifischen „orientalischen" Gesellschaft in China begann. Eine solche Entwicklung ist durch die geographischen und klimatischen Verhältnisse geboten; sie wird durch die neuesten Entdeckungen der Archäologie und Inschriftenkunde bestätigt. Außerdem zeigt das vergleichende Studium der Gesellschaftsformen bedeutsame Parallelen zwischen dei Institutionen der ersten Epoche der chinesischen Geschichte, über die wir gut unterrichtet sind — nämlich der Tschou-Zeit (XII. bis III. Jahrhundert v. Chr.) — und den Verhältnissen in anderen hydraulischen Gesellschaften Diese Parallelen erscheinen andeutungsweise auf der höchsten Stufe der gesellschaftlichen Pyramide, die durch die Beziehung zwischen dem Tschou-König („Sohn des Himmels“) und den Herrschern der verschiedenen Territorialstaaten (den „Tschu-hou") gekennzeichnet ist; sie sind überaus klar auf der zweithöchsten Stufe, die durch die Beziehungen zwischen den „Tschu-hou“ und einer Hierarchie von Würdenträgern (Tsch'ing, Ta-fu und Schih) charakterisiert wird. Diese Personen erhielten von den Territorialfürsten, denen sie dienten, Land zugewiesen. In beiden Fällen handelte es sich im Unterschied zu feudalen Zuständen

nicht um vertraglich festgelegte. Beziehungen. Der oberste Herrscher beanspruchte eine bedingungslose Unterordnung, welche anfangs innerhalb des Tschou-Reiches symbolisch anerkannt und praktisch unvollkommen durchgeführt wurde, während sie innerhalb der Territorial-fürstentümer theoretisch anerkannt und praktisch durchgeführt wurde.

Die Tschu-hou, die den größten Teil ihrer Zeit auf die Verwaltung ihrer Länder verwendeten, leisteten dem Tschou-Herrscher die von ihm geforderten Dienste (vor allem Militärdienste) bedingungslos und ohne die Einschränkungen, die für das Lehnsverhältnis charakteristisch sind: die Dienste der Lehnsvasallen und Lehnsherren waren im allgemeinen zeitlich befristet — oft auf vierzig Tage — und auch räumlich begrenzt; eine Beteiligung an den ausländischen Feldzügen des Herrschers war von besonderen vertraglichen Abmachungen abhängig Lind die Zahlungen, die die Territorialfürsten dem Sohn des Himmels (im wesentlichen in Form von wertvollen Objekten) leisteten, erfolgten jährlich und in beträchtlicher Höhe. Sie hatten viel mehr den Charakter von Steuern als die feudalen „Hilfen“, die die Vasallen des mittelalterlichen Abendlandes ihrem Herrscher erwiesen: wenn sein ältester Sohn zum Ritter geschlagen wurde, wenn seine älteste Tochter heiratete, wenn er zu einem Kreuzzug auszog und Lösegeld für ihn bezahlt werden mußte.

Die Gelegenheit zu den beiden erstgenannten Hilfeleistungen ergab sich während einer Königsherrschaft nur einmal, diejenige für die beiden letztgenannten noch seltener. Die Leistungen dagegen, die die Tsch ing, Ta-fu und Schih erbrachten, waren unbegrenzte Dienste, die nicht von halbautonomen Herren und Rittern, sondern von Beamten geleistet wurden. Und das Land, das sie innehatten, war nicht ein auf einem Vertrag beruhendes Lehen, sondern Dienstland, von dessen Ertrag die Beamten wie von einem Gehalt lebten. Diese Art von Landzuweisung ist für viele hydraulische Gesellschaften bezeugt

Otto Franke schloß seinen Bericht über die Einsetzung eines Territorialherrschers durch den Sohn des Himmels mit der Bemerkung ab, diese Zeremonie der Tschou-Zeit sei „ein politischer Auftrag oder ein Gnadenakt des Herrschers, nicht ein Dienst-und Treuevertrag wie im Fränkischen Reich gewesen". Er vertrat die Auffassung, daß sich in einer vertraglichen Beziehung zwischen einem Herrscher und seinem Vasallen eine abendländische Denkungsart äußere, die dem Geist des chinesischen Staätsbegriffes widerspreche

Henri Maspero stellte in seiner Abhandlung über die Grundlagen der territorialen Macht fest, daß die Territorialfürsten der Tschou-Zeit ihre Dienstleute in einem Zustand bedingungsloser Unterwerfung hielten und daß das Land, das ihnen zugeteilt wurde, „ein nicht-feudaler Grundbesitz“ gewesen sei, der „einem Beamten als Entlohnung“ gegeben wurde

Trotz dieser Beobachtungen jedoch fuhren Franke, Maspero und andere Sinologen fort, auf die Institutionen der Tschou-Zeit eine feudale Terminologie anzuwenden. Dies ist durchaus verständlich, da das Lehen diejenige Form der Zuweisung von Land gegen Dienstleistungen ist, mit der die Gelehrten des Abendlandes am besten vertraut sind

Der Gegensatz zwischen dieser Einstellung und derjenigen der Vertreter der kommunistischen Ideologie liegt auf der Hand. Die These der Kommunisten, das China der Tschou-Zeit.sei eine sklavenhaltende Ge-sellschaft gewesen, ist ein wichtiger Bestandteil ihrer Bemühung, die Geschichte als einen gradlinigen, unentrinnbaren Entwicklungsprozeß hinzustellen, einer Bemühung, die vor allem durch Lenin wider besseres Wissen unternommen wurde Im Unterschied hierzu handelten diejenigen Gelehrten, die das China der Tschou-Zeit als eine feudale Gesellschaft ansahen, in gutem Glauben. Sie folgten nach bestem Ermessen ihren wissenschaftlichen Grundsätzen; und sie (oder ihre Nachfolger) sind daher frei, das Problem der Tschou-Gesellschaft einer erneuten Prüfung zu unterziehen, wenn veränderte Umstände dies nahelegen. Dies ist heute der Fall. LInsere ständig zunehmende Kenntnis östlicher Institutionen ermöglicht und erfordert eine neue Prüfung der entscheidenden Einrichtungen der Tschou-Zeit. LInsere erweiterte Kenntnis zwingt uns, diese Einrichtungen nicht als Elemente einer feudalen, sondern einer orientalisch despotischen Ordnung zu betrachten. Sie zwingt uns ferner, die Bau-, Organisationsund Aneignungsmethoden des Chinas der Kaiserzeit als eine folgerichtige Entwicklung der Einrichtungen der Tschou-Gesellschaft zu betrachten.

IV. Das China der Kaiserzeit

a. Institutionelle Urspringe und Gestaltungen Die Bau-, Organsatons-und Aneignungsmethoden der hydraulischen Gesellschaft sind für die Epochen der „Frühlings-und Herbstannalen und der „Kämpfenden Staaten“ (d. h. vom 8. Jahrhundert v. Chr. an) ziemlich gut belegt Während dieser Zeit verloren die Herrschaftsansprüche der Tschou-Dynastie — außer im Kronland der Tschou selbst — ihre Realität; und die orientalisch-despotische Ordnung nahm in den Territoriallürstentümern eine schmiegsamere und wirksamere Form an.

Dies war besonders der Fall im nordwestlichen Staate Tsch in, der im 3. Jahrhundert v Chr die Einigung Chinas gewaltsam durchführte.

Bautätigkeit: In China verband sich eine umfangreiche staatliche hydraulische Bautätigkeit mit vielen Wasserbeamten kleiner und mittlerer Größe. Das Ergebnis war eine „lockere“ Variante des hydraulischen Systems, die auch in Indien und einer Reihe weiterer orientalischer Länder bestand. Da ich an einer anderen Stelle eine umfassende Übersicht dieses Systems gegeben habe will ich hier nur bemerken, daß die hydraulische Wirtschaft Chinas territoriale und überterritoriale Wasserbauwerke umfaßt. Die chinesisch-indische Form unterscheidet sich von der weniger eindrucksvollen Variante einer „lockeren“ hydraulischen Ordnung ohne weiträumige Anlagen, für welche das alte Mexiko ein anschauliches Beispiel ist

Außer Bewässerungskanälen und Flußdeichen baute China riesige hydraulische Verkehrsanlagen, darunter den größten künstlichen Wasserweg der Welt, den Großen Kanal. Große nicht-hydraulische Bauten (Stadtmauern, Paläste, Gräber und Tempel) sind seit der frühen Tschou-Zeit belegt. Staatliche Landstraßen und „lange Mauern“ rückten am Ende der Tschou-Zeit in den Blickpunkt.

Organisationstätigkeit: Die umfangreichen Bauten der hydraulischen Gesellschaft gingen Hand in Hand mit der Entwicklung von Organisationsmethoden, die auch das Kriegswesen entscheidend beeinflußten.

Seit Beginn der Tschou-Dynastie waren die größeren Heere wohlgeordnete Einheiten mit einem Zentrum und zwei Flügeln Lind das systematische Studium der Kriegskunst, das dem Feudalismus ebenso fremd ist, wie es typisch ist für fortgeschrittene hydraulische Gesellschaften, wurde im China der Tschou-Zeit mindestens vom sechsten vorchristlichen Jahrhundert an zu einer allgemeinen Einrichtung. Es ist bezeichnend, daß die Japaner — die bereitwillig wiederholten, was gewisse Autoren der Tschou-Zeit, wie z. B. Sun Tzu über dieses Thema gesagt hatten — die Kriegskunst erst dann ernsthaft diskutierten, als ihre Feudalzeit zu Ende gegangen war, d. h. unter dem Absolutismus der Tokugawa-Dynastie In Europa erschienen Schriften über die Kriegskunst zuerst in den griechischen Stadtstaaten, die geordnete Bürgerheere aufstellten, und dann erst wieder viel später nach dem Ende des Mittelalters zur Zeit des Absolutismus.

Am Ende der Tschou-Epoche waren die staatlichen Landstraßen und die staatliche Post voll entwickelt Im Abendland gab es erst unter dem Absolutismus Landstraßen, eine Staatspost, Schiffahrtskanäle und Volkszählungen

Aneignungstätigkeit: Alle hydraulischen Bürokratien verfügten über einen erheblichen Teil der Arbeitskräfte und Arbeitsprodukte ihrer Untertanen. Die Mitglieder der zahlreichsten Gruppe, die Bauern, leisteten entweder Frondienste auf „öffentlichem" Land oder bezahlten Steuern. Im China der Tschou-Zeit waren die öffentlichen Felder, auf denen Bauern Fronarbeit leisteten, eine weit verbreitete Einrichtung Das Bauernland selbst war ebenfalls nicht frei, sondern staatlich zugeteilt — gebunden, reguliert. Im vierten vorchristlichen Jahrhundert wurde dieses Landsystem in dem Territorialfürstentum von Tsch’in abgeschafft. Wir wissen nicht, ob einige oder alle anderen Territorialstaaten die gleiche Umwandlung vornahmen; der Sieger, Tsch’in, vernichtete die Chroniken der Rivalenstaaten. Es ist jedoch sicher, daß im geeinigten Reich der Kauf und Verkauf von Land frei war Von allen größeren institutionellen Neuerungen ist die Schaffung eines privaten Grundeigentums im vierten und dritten vorchristlichen Jahrhundert vielleicht die wichtigste.

Die Entstehung eines unabhängigen Handwerker-und Kaufmanns-standes scheint der Verbreitung eines privaten Grundeigentums um mehrere Jahrhunderte vorausgegangen zu sein. Die literarischen Belege lassen vermuten, daß die Berufskaufleute noch zur Zeit der „Frühlingsund Herbst-Annalen“ weitgehend mit den Fürstenhöfen verbunden waren

So entwickelte sich China also aus „primitiven“ hydraulischen Anfängen sehr langsam von einer „einfachen“ hydraulischen Gesellschaft (mit gebundenem Landeigentum und wenig privatem Handwerk und Handel) zu einer „halb-komplexen“ hydraulischen Gesellschaft (gebundenes Landeigentum und Anwachsen von privatem Handwerk und Handel), und dann im vierten und dritten vorchristlichen Jahrhundert schnell zu einer „komplexen" hydraulischen Gesellschaft mit einer beträchtlichen Entwicklung des beweglichen und des unbeweglichen Privateigentums. Abgesehen von einer vorübergehenden Rückkehr zu einem gebundenen Landeigentum, die vom fünften bis zum achten nachchristlichen Jahrhundert dauerte, blieb China während der ganzen Kaiserzeit, d. h. fast zweitausend Jahre lang, eine komplexe hydraulische Gesellschaft. b. Die herrschende gesellschaftspolitische Ideologie: der Konfuzianismus Auf Grund unserer Analyse der grundlegenden Einrichtungen ist es leicht zu verstehen, warum Konfuzius, der am Ende der Epoche der „Frühlings-und Herbst-Annalen“ lebte (5 51 bis 479 v. Chr.), die Gedankenwelt Chinas vom Ende der Tschou-Zeit an so stark beeinflußt hat. Zu seiner Zeit hatte die Autorität des Sohnes des Himmels über die Territorialfürsten ihre ursprüngliche Kraft fast völlig eingebüßt. Aber die von Konfuzius ausgesprochene Forderung, daß der Sohn des Himmels der wirkliche Herr aller chinesischen Gebiete sein solle entsprach zutiefst der Machtordnung des vereinigten Kaiserreiches.

Die Welt des Konfuzius war eine Welt von Territorialherrschern, in denen Hierarchien von unzulänglichen Beamten ebenso unzulänglichen Fürsten dienten. Dies war der Zustand, den Konfuzius vorfand und den er verbessern wollte. Er entwarf ein Idealbild des vollkommnen, gesitteten Verwaltungsbeamten, und er schulte seine Anhänger in diesem Sinne. In der Folgezeit sind viele Generationen konfuzianisch erzogener Persönlichkeiten nützliche und disziplinierte Mitglieder der herrschenden Bürokratie Chinas geworden.

Konfuzius sah die wohlgeordnete Familie als den Grundstein der wohlgeordneten Gesellschaft an. Im Geiste einer moralisch aufgefaßten Autorität sollten die Beziehungen zwischen Vater und Sohn, Ehemann und Ehefrau, sowie zwischen älteren und jüngeren Brüdern verstanden und gepflegt werden. Die politische Bedeutung der Vater-Sohn-Beziehung ist wesentlich: ein Sohn, der seinem Vater gehorcht, wird auch der Regierung den schuldigen Gehorsam nicht verweigern

Eine weise Regierung muß dafür sorgen, daß die Autorität des Vaters über seine Familie nicht in Frage gestellt wird. Der Fürst eines kleinen chinesischen Territorialstaates lobte den „aufrechten“ Sohn, der Zeugnis gegen seinen Vater ablege, wenn dieser ein Schaf stehle. Konfuzius empfahl eine andere Verhaltensweise: „In unserem Lande sind die . Aufrechten'anders als dieser Sohn. Der Vater verheimlicht das schlechte Verhalten des Sohnes, und der Sohn verheimlicht das schlechte Verhalten des Vaters

Die konfuzianische Norm der Familiensolidarität bringt einen wichtigen Zug der orientalischen Despotie zum Ausdruck. Die Vertreter einer solchen Ordnung besitzen unumschränkte politische Macht, aber da sie die wirtschaftliche Tätigkeit der Mehrzahl der Untertanen nicht direkt leiten, sind sie nicht imstande, das Leben des Individuums in seinen Einzelheiten zu überwachen. Sie besitzen nicht die Macht, das Alltagsleben der Familien (Sippen), der Dorfgemeinschaften, der Zünfte und der geduldeten Religionen zu organisieren. Sie räumen daher diesen Gruppen ein gewisses Maß von Selbstverwaltung ein; und sie machen eine oder mehrere leitende Persönlichkeiten für das Verhalten der Mit-glieder dieser Gruppen verantwortlich. Indem sie die Autorität dieser Gruppenleiter stützten, schafften sich die agrardespotischen Herren eine wirksame Armee unbezahlter Helfershelfer.

Die Aufrechthaltung solcher abgeleiteter Autoritätssysteme ist wichtiger als die Bestrafung eines geringfügigen Verbrechens. Konfuzius’ Grundsatz der Familienautorität charakterisierte einen wichtigen Aspekt der orientalisch-despotischen Staatsräson c. Sekundäre (politisch unbedeutende) Formen der Selbstverwaltung Unter dem vereinigten Kaiserreich blieb das Verwandtschaftssystem, das lange vor Konfuzius entstanden war, bestehen. In diesem System war die Kleinfamilie die wichtigste Einheit, aber die übergreifende Einheit, die Sippe, erfüllte bedeutsame religiöse und soziale Aufgaben. In der lockeren hydraulischen Ordnung Chinas, die weniger Beamte benötigte, wie die „kompakten“ hydraulischen Kulturen Altägyptens und der Inkas, war die Familienautorität eine überaus wichtige Stütze der Staatsautorität. Im hydraulisch „lockeren“ Indien übten die Priester der herrschenden Religion, die Brahmanen, ähnliche quasi-bürokratische Funktionen aus.

Eine andere sekundäre Gruppe von großer Bedeutung war in China die Dorfgemeinschaft. Auch nach der Auflösung des regulierten Feld-systems erfüllten die gewählten oder ernannten Leiter der Dorfgemeinden eine Reihe Verwaltungsausgaben, mit denen die Kreisbehörden sich nicht abgeben wollten.

Die Organisationen der Handwerker und Kaufleute (Zünfte) traten erst zu einem verhältnismäßig späten Zeitpunkt in Erscheinung — die ältesten uns bekannten Belege hierüber stammen aus der Sui-und T’ang-Zeit (6. — 10. Jhdt. n. Chr.). Unter den T’angund Sung-Kaisern scheinen die Zünfte in erheblichen Masse von der Regierung kontrolliert gewesen zu sein. Größere Selbständigkeit besaßen sie offensichtlich unter der letzten (der Tsch'ing oder Mandschu) Dynastie, aber nach wie vor waren sie politisch einflußlos. Ein Regierungserlaß vom Jahre 1898 betonte, daß die Regierung vormals keine Verbände zugelassen habe. Diese Feststellung impliziert, daß die herrschende Bürokratie die traditionellen Zünfte, die lange vor 1898 bestanden, als politisch unbedeutend betrachtete.

Von den geduldeten Nebenreligionen waren der Buddhismus und der Taoismus die bedeutendsten. Unter den letzten beiden Dynastien hatten die Anhänger dieser Bekenntnisse nicht das Recht offen für ihren Glauben zu werben; auch war die Zahl ihrer Priester gesetzlich begrenzt. Dieselbe Regierung aber, die die Bewegungsfreiheit dieser religiösen Gruppen einschränkte, gestattete ihnen gleichzeitig die ungestörte Abhaltung ihrer Gottesdienste

Unter einigen der früheren Dynastien bildete der Buddhismus eine wichtige Ergänzung der alten chinesischen Staatsreligion. Die mongolischen Eroberer förderten .den Buddhismus als das herrschende Glau-

bensbekenntnis. Lind die aus dem Volke der K’i-tan stammenden Herren einer anderen Erobererdynastie, Liao, zelebrierten weiterhin ihre schamanistischen Kulte, wie ihre Vorfahren es in den Steppengebieten Innerasiens getan hatten d. Erobererdynastien und Eroberungsgesellschaften Die K’i-tan und die Mongolen kamen als Eroberer nach China. Diese Tatsache erinnert uns daran, daß Eroberung während der Kaiserzeit eine bedeutende Rolle in der Gestaltung der chinesischen Gesellschaft spielte. Zwar waren innerasiatische Stämme schon in der Zeit vor und während der Tschou-Dynastie in das Land der Mitte, „Tschung-kuo", eingefallen; aber die „barbarischen“ Hirtenvölker Innerasiens wurden erst dann zu einer Gefahr ersten Ranges, als sie lernten das Pferd zum Zwecke des Reitens zu benutzen. Sie erwarben diese Kenntnis, die ihre Beweglichkeit ungemein erhöhte, um das Jahr 500 v. Chr. Zu einer wahrhaft furchtbaren Gefahr aber wurden sie, als der Steigbügel ihnen völlig neue Möglichkeiten gab, als Reiter mit Präzision zu schießen, wirksam zu stoßen und zu schlagen Während einer Übergangszeit drangen immer angriffslustiger werdende „Barbaren“ in Nordchina ein zum Teil gerufen, zum Teil aus eigenen Stücken, zuerst als Helfer und Gäste, bald aber als Herren und Herrscher. Das Reich des Nördlichen Wei (386— 534) ist ein besonders anschauliches Beispiel für eine solche „Infiltrationsdynastie“

Die Sui-Kaiser (5 89— 618) einigten aufs neue das Reich, das jahrhundertelang in einen chinesischen Süden und einen barbarischen Norden gespalten war. Unter der T’ang-Dynastie verwaltete eine neu organisierte Bürokratie das wachsende China dreihundert Jahre lang, bis eine tiefe innere Krise den Zusammenbruch dieses mächtigen Regimes verursachte. Auf seinen Trümmern errichteten die K’i-tan in den nord-östlichen Grenzgebieten die erste größere Erobererdynastie, Liao.

Die Sung-Dynastie verteidigte den größten Teil Chinas gegen die Liao-Armeen. Sie war weniger erfolgreich gegen die Nachfolger der K’i-tan, die Jurchen, die in Nordchina eine zweite Erobererdynastie errichteten. Interessanterweise machten sie am nördlichen Rande des Reis-gebietes halt, das achthundert Jahre früher schon den Toba-Reitem unüberwindliche Schwierigkeiten bereitet hatte.

Selbst die militärisch stärkeren Mongolen waren anfangs nicht in der Lage, ihre Eroberung Chinas über die Reisgrenze hinaus vorzutreiben. Als endlich Kublai Khan das südliche Sung überrannte, wurden die „barbarischen“ Eroberer zum ersten Mal Herren des ganzen Landes.

Am Ende der Ming-Dynastie wurde diese ungewöhnliche Leistung noch einmal von den Mandschus vollbracht. Die Mandschus waren von allen barbarischen Eindringlingen den Chinesen kulturell am ähnlichsten. Im Unterschied zu den K’i-tan und den Mongolen, die im wesentlichen Hirten waren, trieben die Mandschus — wie die Jurchen — in ihrer vordynastischen Zeit nicht nur Viehzucht, sondern auch Ackerbau, und zwar einen chinesischen Ackerbau. Schon ehe sie über die Große Mauer nach China vordrangen, verwandten sie in ihrer Landwirtschaft die künstliche Bewässerung

Ein kurzer Abriß der Geschichte der chinesischen Gesellschaft brauchte von diesen Eroberungswellen kaum Notiz zu nehmen, wenn die Chinesen ihre Eroberer stets rasch und radikal absorbiert hätten. Daß dies der Fall gewesen sei, ist von vielen Gelehrten behauptet worden. Die Anhänger der Absorptionstheorie übersehen jedoch zumeist, daß eine Eroberung in ihrem Kern ein militärisches und politisches Phänomen ist. Lim die Richtigkeit ihrer These zu prüfen, müssen wir daher untersuchen, ob die Erobererstämme, nachdem sie sich in China festgesetzt hatten, ihre militärische und politische Indentität verloren.

Eine Untersuchung der historischen Quellen zeigt zweifelsfrei, daß dies sowohl unter den vier großen Eroberungsdynastien der Liao, Tschin, Yüan und Tsch’ing als auch in der Infiltrationsdynastie der Toba Wei nicht der Fall war. Bezüglich der vier späteren Dynastien können wir sagen, daß die Eroberer stets einen besonderen Militärapparat unterhielten, der vor allem aus zuverlässigen Stammesangehörigen bestand. Die Liao-Dynastie hatte die „ordu“ („Horde“); die Tschin-Dynastie die „meng-an mo-k’o"; die Yüan-Dynastie hatte ihre mongolischen Kerntruppen; und die Tsch’ing-Dynastie die „Bannerleute“ Die Erobererstämme waren sämtlich darauf bedacht die politischen Schlüsselstellungen in der Hand zu behalten. Gewöhnlich verboten sie das Heiraten zwischen der erobernden Gruppe und den Chinesen. Auf diese Weise wurden die nationalen Unterschiede zu sozialen; und die herkömmliche chinesische Klassenstruktur wurde kompliziert durch den Einbau zusätzlicher Gesellschaftsschichten. Ein herrschender Stammesadel behauptet sich oberhalb der chinesischen Bürokratie, die für die Kontrolle der chinesischen Bevölkerung unerläßlich blieb; und die gemeinen Stammesangehörigen standen als ein barbarisches Volk in Waffen neben und über der Masse der chinesischen Untertanen.

Zusammenfassend darf man daher sagen, daß die Erobererstämme, die in verschieden starkem Maße chinesische Sitten und Gebräuche annahmen, niemals ihre herrschende militärische, politische und soziale Stellung aufgaben. Ebensowenig gaben sie ihre Religion auf. Selbst die Mandschu-Herrscher, die die heiligen Zeremonien der chinesischen Staatsreligion gewissenhaft vollzogen, verehrten innerhalb ihrer Residenzen weiterhin ihre Stammesgötter

Der Unterschied zwischen den beiden nationalen und sozialen Gruppen brach natürlich zusammen, wenn die Erobererdynastie zusammenbrach. Nach diesem Zeitpunkt wurden diejenigen Angehörigen des früheren Herrschervolkes, die nicht in ihre Stammesheimat zurückgekehrt waren, tatsächlich nach und nach assimiliert. Absorption trat ein — nicht während der Eroberungssituation, sondern nachdem diese Situation ihr Ende erreicht hatte

Mit den geschichtlichen Tatsachen vertraut gemacht, haben die Sinologen in ihrer Mehrzahl die Unhaltbarkeit der Absorptionstheorie zugegeben. Im Gefolge der Errichtung der kommunistischen Macht in China ist jedoch eine neue Spielart der Absorptionslegende entstanden, die die Bedeutung des kommunistischen Sieges verkleinern will. Da die Chinesen immer ihre Eroberer absorbiert haben — so argumentieren gewisse Schriftsteller bei denen der Wunsch der Vater des Gedankens ist— so darf man erwarten, daß sie sich auch gegenüber ihren kommunistischen Eroberern durchsetzen werden

Diese Beweisführung ist falsch, nicht nur weil die Chinesen ihre Eroberer nicht absorbierten, sondern auch — und vor allem — deswegen, weil die chinesischen Kommunisten China nicht von außen, sondern von innen her eroberten. Zwar waren die Führung und Hilfe Moskaus für den Aufstieg der chinesischen Kommunisten wesentlich. Aber ihr Ansturm gipfelte nicht in der Besetzung Chinas durch ein nichtchinesisches Volk, sondern in der Schaffung einer neuen einheimischen Herrenklasse.

Wenn wir die Tatsache anerkennen, daß die Eroberungs(und Infiltrations-) Dynastien sich in ihrer gesellschaftlichen Schichtung von den typisch chinesischen Dynastien unterscheiden, so können wir die Geschichte des kaiserlichen China (221 v. Chr. — 1912 n. Chr.) wie folgt unterteilen: Der Klassenaufbau der komplexen hydraulischen Gesellschaft Chinas Die typisch chinesischen Dynastien stellen eine komplexe Variante der hydraulischen Gesellschaft dar. Wie wir oben auseinandergesetzt haben, gewährt eine komplexe hydraulische Gesellschaft den Vertretern des beweglichen und unbeweglichen Privateigentums viel Raum. Von der Zeit der Han-Dynastie an spielten die Kaufleute in der Wirtschaft Chinas eine bedeutende Rolle; und mit Ausnahme einer etwa drei Jahrhunderte langen Zwischenperiode konnte der größere Teil des Bodens gekauft und verkauft werden. Aber trotz des meteorischen Aufstiegs der Kaufmannschaft in der Frühen Han-Zeit (die von kurzer Dauer war) und trotz unzähliger Bauernaufstände (die die Grundlagen der despotischen Ordnung niemals bedrohten) hatten die privaten Eigentümer und Unternehmer keinen wesentlichen Einfluß auf die Grundelemente des Gesellschaftssystems: den hydraulischen Staat und die despotische Macht der bürokratischen Hierarchie.

Für die Prinzipien der Klassenbestimmung sind diese Tatsachen von entscheidender Bedeutung. Unter den Verhältnissen der hydraulischen Gesellschaft, die das Leben von zwei Dritteln der Menschheit bestimmt zu haben scheint, entstanden unumschränkte Macht, soziales Prestige und Reichtum nicht durch die Kontrolle starken Privateigentums, sondern durch die Kontrolle über den Staatsapparat. Dies war der Fall in den vielen hydraulischen Gesellschaften, in denen das private Grundeigentum an beweglichen und unbeweglichen Produktionsmittel geringfügig war; es war der Fall auch in den nicht zahlreichen komplexen hydraulischen Gesellschaften, unter denen das kaiserliche China eine führende Stellung einnimmt.

Die großen Landbesitzer des kaiserlichen Chinas waren in erster Linie Mitglieder der herrschenden Bürokratie. Mit anderen Worten: die Grundherrschaft war in der Hauptsache eine bürokratische Grundherrschaft. Die Bedeutung dieser Feststellung wird vollständig klar, wenn wir hinzufügen, daß die nicht amtierenden Angehörigen der herrschenden Klasse in China wie in anderen hydraulischen Gesellschaften vor allem frühere Beamte und Verwandte von Beamten waren. In China wurde diese Gruppe seit der Einrichtung des Examens-Systems (Anfang des 7. nachchristlichen Jahrhunderts) durch Träger amtlicher Titel ergänzt. Diese Titel erlangte man in der Hauptsache durch Erfolg in den amtlichen Prüfungen. Die mittleren und höheren Titel qualifizierten ihre Inhaber zur Bewerbung für eine Stellung in der kaiserlichen Beamtenschaft.

Westliche Schriftsteller haben diese Gruppe als „Gentry“ bezeichnet — nicht allzu glücklich, da das englische Wort „Gentry“ eine aristokratische Gruppe relativ unabhängiger feudaler Grundbesitzer bezeichnet. Nun verfügten in der Tat in China die Angehörigen der diskutierten Gruppe im allgemeinen über beträchtliches Eigentum; aber dies Eigentum war nicht wesentlich, und es war nicht die Grundlage politischer Macht, selbst dann nicht, wenn das Eigentum in Grund und Boden bestand. Die Erbschaftsgesetze, die für die orientalische Despotie typisch sind, schreiben vor, daß jeder Besitz unter die Erben — in China: unter die Söhne — aufgeteilt werde. Eine solche Ordnung, verbunden mit Polygamie — d. h. in der Regel, mit zahlreichen Kindern — zerbröckelt in wenigen Generationen auch einen großen Landbesitz.

Die chinesische „Gentry“ gehörte nicht einer vielzentrigen feudalen Gesellschaft an, in der der Adel, als „Stand organisiert, dem Herrscher Widerstand leisten konnte. Die chinesische „Gentry war ein wichtiger Bestandteil einer Gesellschaft, die nur einen einzigen Mittelpunkt natte — den Staat — und die nur eine Form der politischen Organisation zuließ: die Bürokratie. Sie war nicht ein niederer Lehnsadel, dessen Angehörige notwendigerweise Land besaßen, sondern eine bürokratische Oberschicht, deren Angehörige gleichviel ob sie Land besaßen oder nicht, notwendigerweise auf den Dienst im despotischen Staate orientiert waren f. Die Gesellschaftsordnung der bürokratischen Autokratie Über den Problemen des Landbesitzes und der Gentry, die in der jüngsten Übergangsperiode erhöhte Bedeutung erlangten, dürfen wir nicht einen anderen Zug der gesellschaftlichen Ordnung vergessen: die unumschränkte Macht des Herrschers und die Beziehungen der Beamten (und der Gentry) zum Herrscher und zueinander.

Die Tendenz zur Autokratie ist in vielen politischen Ordnungen vorhanden. Am erfolgreichsten treten ihr Demokratien und Aristokratien entgegen, die der Machtanhäufung ihrer führenden Persönlichkeiten eine wirksame Schranke setzen. Die Tendenz zur Autokratie wird in zentralisierten Gesellschaften, die von einem despotischen Staatsapparat beherrscht werden, zur Regel. Das „Gesetz der Zusammenballung unkontrollierter Macht“ äußert sich typisch in der autokratischen Stellung des Herrschers im hydraulischen Staat. Wie im Nahen Osten und in Indien, vereinigten auch in China die Herrscher in ihrer Hand die Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit. Diese Machtzusammenbal-lung machte sie zu Despoten (Herren) im wahren Sinne des Wortes.

Die Macht der chinesischen Herrscher beruhte auf einer umfassenden Hierarchie von hohen Beamten und Subalternen. Ihre Fähigkeit, die Angehörigen dieser Gruppen wirksam zu kontrollieren, wandelte sich mit den technischen und organisatorischen Bedingungen der Herrschaft. Solange das Verkehrssystem unentwickelt war und solange die Naturalwirtschaft vorherrschte, konnten die Territorialfürsten ihre Beamten nicht leicht von einem Ort zum andern versetzen. Sie neigten daher dazu, den Beamten den erblichen Besitz ihres Amtslands zu gewähren.

Die Liquidierung des Amtslandes am Ende der Tschou-Zeit wurde ermöglicht durch die Verbesserung der staatlichen Verkehrsmittel: Straßen, Schiffahrtskanäle, berittene Soldaten und Boten, gemünztes Geld und eine vereinheitlichte Schrift. Wie es unter den Verhältnissen totaler Macht die Regel ist, begünstigten diese Entwicklungen den Staat auf Kosten des Volkes und den Herrscher auf Kosten der Beamten.

Nachdem der Herrscher die Beamten ihrer erblichen Stellung beraubt hatte, schwächte er sie weiter dadurch, daß er gesellschaftlich wurzellose Leute — Eunuchen — systematisch in den höheren Staatsapparaten einbaute. In drei der vier großen typisch chinesischen Dynastien (Han, T’ang und Ming) überschattete der Einfluß der Eunuchen oft den Einfluß der höheren Beamten In den Erobererdynastien wurde eine ähnliche Kontrollfunktion vom Adel des Eroberervolkes ausgeübt.

Andere orientalisch-despotische Länder gebrauchten andere Methoden um die Macht der Bürokratie einzuengen. Im alten Vorderen Orient und in Indien waren es die Priester, im Mameluckenreich und in der otto-manischen Türkei die Sklaven, die diesem Zweck dienten. In China wurde das Examenssystem vermutlich teilweise zu dem Zweck geschaffen, um begabten Angehörigen des gemeinen Volks den Aufstieg ins Beamtentum zu ermöglichen. Der Verkauf amtlicher Titel und Würden war ein anderes Mittel die Geschlossenheit der Bürokratie zu schwächen

Das Examenssystem, das in den meisten Eroberungsdynastien eine untergeordnete Rolle für die Heranbildung von Beamten spielte, flößte der Bürokratie zweifellos frisches Blut ein. Es war jedoch ein viel weniger wirksames Mittel zur Erreichung dieses Zweckes, als man allgemein annimmt. Zwar verlor die Bürokratie durch das Examenssystem etwas von ihrer Homogenität aber sie erhielt gleichzeitig einen neuen Antrieb für die Festigung ihres ideologischen (Klassen-) Bewußtseins. Die Examina, die das Leben der Kandidaten in ein regelrechtes „Examensleben“ verwandelten, gaben den Kandidaten und Amtsinhabern eine gründliche ideologische Schulung.

Die „Bewegungsgesetze" der bürokratischen Despotie haben bisher wenig wissenschaftliche Beachtung gefunden. Dies gilt besonders mit Bezug auf das Problem der Machtnachfolge, das neuerdings durch den Tod Stalins so aktuell geworden ist. In orientalischen Despotien begann der neue Herrscher seine Laufbahn im allgemeinen damit, daß er Personen, die mit seinem Vorgänger in enger Verbindung gestanden hatten, beseitigte. Frühere Günstlinge wurden verhaftet und hingerichtet, ihr Vermögen konfisziert. Gewöhnlich erhöhte der neue Monarch seine Volkstümlichkeit dadurch, daß er eine Amnestie proklamierte und die Steuern herabsetzte. Oft hörte er aufmerksam auf seine beamteten Ratgeber und Helfer. Aber im großen und ganzen verringerte sich sein Bestreben human zu erscheinen mit der Festigung seiner Position. Der schmiegsame junge Herrscher wurde zum brutalen reifen Despoten, der alle Möglichkeiten seiner ungeheuren Macht ausnutzte. Die Herren der orientalischen Despotie unterscheiden sich in vielen Punkten von den Machthabern des kommunistischen Staatsapparates. Aber das Studium ihres Verhaltens im Kampfe um die autokratische Führung bietet so wichtige Anhaltspunkte für das Verständnis derselben Vorgänge in modernen totalitären Gesellschaften, daß es töricht wäre, diese Lehren ungenutzt beiseite zu schieben.

Das Verhalten der traditionellen herrschenden Bürokratie Chinas ist gewiß einer Untersuchung wert. Die Beziehungen der Angehörigen dieser Gruppe zueinander führten zu Konkurrenzkämpfen, die den Konkurrenzkämpfen der feudalen und kapitalistischen Gesellschaften ebenso unähnlich sind, wie sie, ungeachtet bedeutender Unterschiede denjenigen der kommunistischen Welt ähneln.

Die Konkurrenz auf dem kapitalistischen Wirtschaftsmarkt ist im wesentlichen offen, weil das Angebot des einen konkurrierenden Geschäftsmannes dem des anderen offen gegenübersteht. Die Konkurrenz zwischen feudalen Kämpfern ist ebenfalls im wesentlichen offen, weil der ritterliche Ehrenkodex die offene Herausforderung und den offenen Kampf verlangt. Innerhalb einer herrschenden Bürokratie (im Gegensatz zu einer dienenden oder kontrollierten Bürokratie) wird der Kampf um Stellung und Macht vorwiegend mit den indirekten Methoden der Intrige und Verleumdung geführt. In Verbindung mit totalitären juristischen Methoden, mit Schikanen, willkürlichen Verhaftungen und Foltern versetzen diese Kampfmethoden die Angehörigen der herrschenden Bürokratie in einen Zustand ständiger Unsicherheit. Und dies mit gutem Grund. Ein Angehöriger der kapitalistischen Klasse, der in einer auf Privateigentum beruhenden industriellen Gesellschaft einen grundlegenden beruflichen Fehler macht, verliert vielleicht sein Eigentum, aber er verliert nicht notwendigerweise sein Leben oder seinen guten Ruf. Ein Angehöriger des Feudaladels, der auf seinem besonderen Tätigkeitsgebiet — dem Schlachtfeld — einen grundlegenden Fehler macht, verliert vielleicht das Leben, aber nicht notwendigerweise seinen Besitz oder seinen guten Ruf. Ein Angehöriger einer herrschenden Bürokratie aber, der in seinem Tätigkeitsbereich einen grundlegenden Fehler begeht und der deshalb aus dem Beamtentum ausgestoßen wird, verliert nicht nur seine soziale Stellung, sondern auch sein Leben, sein Vermögen und seinen guten Ruf. Seine Vernichtung ist ebenso total wie das Machtsystem, dem er seine frühere gesellschaftliche Bedeutung verdankte

Das Vernichtungspotential, das der bürokratischen Konkurrenz inne-wohnt, erreicht seine höchste Form im modernen totalitären Kommunismus; aber die Ergebnisse dieser Konkurrenz in der traditionellen chinesischen Gesellschaft sind furchtbar genug. Eine Untersuchung der Bürokratie der Han-Dynastie zeigt, daß von etwa 1300 Beamten, über deren Leben wir Angaben besitzen, mehr als ein Drittel eines gewaltsamen Todes (nicht auf dem Schlachtfelde) starben: der größte Teil auf Veranlassung des Staates oder durch „politischen“ Selbstmord. Eine Untersuchung der Bürokratie der Mandschu-(Tsch’ing-) Dynastie zeigt, daß viele hohe Beamte während ihrer Laufbahn angeklagt, vor ein Untersuchungsgericht gestellt und zeitweise ins Gefängnis geworfen wurden -

Wenn aber das Leben der herrschenden Beamten mit solchen Gefahren verbunden war, warum erstrebten sie dann nicht ein System menschlicher Beziehungen, das besser ausgewogen und daher weniger unsicher war? Sie taten dies nicht, weil die Gesellschaftsordnung in der sie lebten keine tragfähigen Grundlagen für eine solche Zielsetzung bot. Der hydraulisch-despotische Staat verhinderte die Masse der Bevölkerung, sich in politisch einflußreichen unabhängigen Gruppen zu organisieren; und die Abwesenheit einer solchen Möglichkeit wirkte sich negativ auf das politische Denken aller Mitglieder der Gesellschaft aus. Der Drang nach Freiheit und Sicherheit erlosch nicht: er äußerte sich tief und bedeutsam in religiösen Vorstellungen; aber er äußerte sich nicht in praktisch-diesseitigen Vorschlägen für die Schaffung einer vielzentrigen gesellschaftlichen Ordnung.

Es ist heute viel von „wirtschaftlich unterentwickelten Ländern“ die Rede. Wer immer diese Formel benutzt, tut wohl, zu bedenken, daß die Länder der hydraulischen Welt nicht nur auf dem Gebiet der Wirtschaft und Technik, sondern auch auf dem Gebiete der Theorie und Praxis gesellschaftlicher Freiheit, unterentwickelt waren. Die Führer der zahlreichen Militär-und Bauernaufstände in China kämpften nicht für eine Magna Charta und für eine wirksame Begrenzung der Staatsmacht, sondern für die Abstellung einzelner Mißstände und für die Ersetzung . korrupter“ Machthaber durch eine charismatisch legitimierte neue Führerschicht.

Eine berühmte chinesische Räubergeschichte, „Schui-hu Tsch’uan“, zeigt dies klar: Als die Banditen stark genug waren, um auf einer unzugänglichen Insel einen Staat im Staate aufzubauen, organisierten sie eine Hierarchie, die offenbar derjenigen der von ihnen bekämpften bürokratischen Regierung nachgebildet war. Die Führer des Taiping-Aufstandes (18 50— 1864) schufen in ihrem Herrschaftsbereich schnell ein primitives Abbild derselben Mandschuregierung, deren Sturz sie erstrebten.

Gewiß, unter einer despotischen Regierung war Amtsausübung mit Unsicherheit verbunden. Aber Unsicherheit war das Schicksal aller Klassen; Unsicherheit charakterisierte vor allem auch das Leben der wohlhabenden Geschäftsleute, die der fiskalischen und juristischen Willkür des despotischen Staates ausgesetzt waren, ohne die politischen und sozialen Privilegien der bürokratischen Herrenschicht zu besitzen. Die Söhne von Beamten und von bürokratischen Notabein im traditionellen China wählten daher verständlicherweise diejenige Laufbahn, die ihnen im Rahmen der agrodespotischen Ordnung ein Höchstmaß an politischen, sozialen und ökonomischen Vorteilen versprach.

V. Die Auflösung der traditionellen chinesischen Gesellschaft

a. Ein ungenügend untersuchtes Phänomen Alle diese Tatsachen erklären es, warum die einzentrige hydraulische Agrarordnung sich nirgends aus eigener Kraft zu einer vielzentrigen industriellen Gesellschaft entwickelte. Bedauerlicherweise hat die moderne Gesellschaftswissenschaft sich bisher wenig mit der schicksals-schweren Frage befaßt, wie eine solche Ordnung, die sich nach allen inneren Krisen immer wieder erneuert, den Entwicklungsweg zu einer industriellen Gesellschaft einschlagen kann. Die Behauptung, daß in China, Indien, usw. eine unwiderstehliche „asiatische Revolution“ vor sich geht, trägt mehr zur Verwirrung als zur Klärung des Problems bei. Der gesellschaftliche Charakter dieser angeblichen Revolution wird selten definiert; und die begriffliche Verwirrung wird noch vergrößert durch offene oder versteckte Hinweise auf Karl Marx, der angeblich die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft als einen einlinigen Prozeß (Urkommunismus, Sklaverei, Feudalismus, Kapitalismus, Sozialismus) ansah.

Es ist Zeit, diesen angeblich marxistischen Mythos zu beseitigen. Abgesehen von einigen Jahren seines jüngeren Lebens folgte Marx den klassischen Ökonomen, die die gesellschaftliche Entwicklung als einen mehrlinigen Prozeß ansahen, einen Prozeß, in dem die orientalische Gesellschaft der Hauptvertreter einer stationären institutionellen Ordnung ist. Engels, der in seiner häufig zitierten Popularisierung Morganscher Ideen, „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“, nicht viel mehr über die orientalische Gesellschaft sagte als Morgan selbst wiederholte in dem gleidien Buch seine und Marx’s Ansicht, daß selbst im Westen keine geradlinige gesellschaftliche Entwicklung stattgefunden habe. Die Klassen des mittelalterlichen feudalen Europa — so argumentierte er — haben sich nicht aus dem Sumpfe der untergehenden Antike entwickelt. Dadurch, daß sie die „Arbeitssklaverei“ der Antike und die Haussklaverei des Orient vermieden und direkt von der Entwicklungsstufe einer barbarischen „Gentil" Gesellschaft aufstiegen, gelang es den germanischen Stämmen die mittelalterliche Sozialordnung zu schaffen, die zur Entstehung einer vorindustriellen und industriellen Gesellschaft führte Hinsichtlich typisch orientalischer Länder wie Indien vertrat Marx die Auffassung, daß die Engländer als unbewußtes Werkzeug der Geschichte die Grundlagen für eine moderne Gesellschaft westlicher Art legten Durchaus konsequent bezeichnet er das Ergebnis der englischen Herrschaft in Indien als „die einzige soziale Revolution, die es jemals in Asien gegeben hat“

Es ist also nicht richtig, daß die Väter des „wissenschaftlichen Sozialismus“ die von ihnen behandelten Gesellschaftstypen als Glieder einer einlinigen und immer fortschrittlichen Entwicklung betrachteten. Lind es ist unzulässig, den heute weitverbreiteten Begriff einer Asiatischen Revolution mit Marx zu identifizieren. Die Asiatische Revolution, die Marx sah, unterschied sich insofern grundlegend von den mittelalterlichen und nachmittelalterlichen Revolutionen des Westens, als sie nicht durch spontane innere Wandlungen, sondern durch das Wirken äußerer Faktoren, insbesondere den Einfluß des industriellen Westens, zustandekam. Die einzige soziale Revolution, die Marx in Asien erwartete, war nicht eine von innen, sondern eine von außen verursachte Umwandlung. Ich schlage vor, einen solchen Prozeß als eine diversive Revolution zu bezeichnen. Mill und Marx haben die diversive Eigenart der asiatischen Revolution erkannt. Es ist wichtig dies Verdienst festzustellen. Es ist aber ebenso wichtig festzustellen, daß weder Mill noch Marx sich ein klares Bild von den Schwierigkeiten machten, die einer solchen Umwandlung im Wege standen. b. Ansätze zu diversiven Revolutionen in Asien Die diversive Entwicklung, die im Orient auf die Schaffung einer vielzentrigen Gesellschaft hintrieb, verdankte ihren entscheidenden Anstoß exogenen Kräften. Der Anstoß wurde von den endogenen Kräften ausgenommen, die anfangs schwach waren, die aber die Möglichkeit des Wachstums in sich bargen. Im neunzehnten und im Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts wurden diese Kräfte in Rußland stark genug, um nach der demokratischen Revolution des März 1917 vorübergehend die Oberhand zu gewinnen.

In Indien schuf der vom Westen eingeleitete Umwandlungsprozeß nicht eine ausgewogene vielzentrige Gesellschaft, aber demokratische Regierungsformen und eine Vielzahl antitotalitärer Kräfte Diese Kräfte haben keinen leichten Stand, weil führende indische Staatsmänner und Intellektuelle offen ihre Sympathie für wichtige Elemente kommunistisch-totalitärer Politik (vor allem: den Vorrang der Staatswirtschaft über die Privatwirtschaft) zeigen. * Im Vorderen Orient nahm die Auflockerung der alten Ordnung in den verschiedenen Teilen des früheren Ottomanenreiches eine verschiedene Form an, aber sie ging im allgemeinen nicht sehr weit.

Heute stellen sich ihr, unter offenem und verstecktem kommunistischem Einfluß, schwere Hindernisse entgegen. Kemal Atatürk spielte anfang der zwanziger Jahre mit kommunistischen Phrasen, und Moskau suchte Einfluß zu gewinnen durch die Bereitstellung von „Kanonen, Geld, Waffen und militärischer Beratung“ Aber dies geschah zu einem Zeitpunkte, als die Sowjetunion noch zu schwach war, um eine tiefgehende politische und ideologische Durchdringung zu erzielen. So gewann die Türkei ihren Kampf um die nationale Befreiung, ohne sich Moskau auszuliefern

In China begann die diversive, westlich orientierte Revolution auf ideologischem und technischem Gebiet während der letzten Phase der Mandschu-Herrschaft. Sie verstärkte sich erheblich, nachdem im Jahre 1912 die Monarchie gefallen war. Die „literarische Renaissance“, die 1916 einsetzte, ging weit über den Bereich der Literatur hinaus. Sie erzielte große Erfolge auf dem Gebiete der Erziehung, und sie leitete eine weitgehende Umgestaltung des wissenschaftlichen und philosophischen Denkens ein. In diesem Prozeß spielten die Kommunisten und ihre Freunde bald eine beträchtliche Rolle. Einer der Väter der „literarischen Renaissance“, Tsch'en Tu-hsiu, war der erste Generalsekretär der chinesischen kommunistischen Partei. Obgleich die KPC im Jahre 1923 zahlenmäßig noch schwach war, war sie jedoch bereits ein Faktor, mit dem Dr. Sun Yat-sen rechnen mußte, als seine nationalrevolutionäre Partei, die Kuomintang, mit sowjetischer Hilfe neu organisiert wurde.

Man braucht kaum zu betonen, daß viele Einzelheiten der nationalistischen Politik, wie z. B. die Maßnahmen gegen die Überbleibsel der Sklaverei und die Bestrebungen zur Verbesserung der sozialen Stellung der Frau von Dr. Sun's Partei eingeleitet waren, ehe die Kuomintang und die KPC ihre erste Einheitsfront bildeten. Die chinesische nationalrevolutionäre Bewegung jedoch wurde — im Unterschied zur türkischen — erst dann eine bedeutende politische Macht, als die Sowjetunion ihre territoriale und politische Stellung in Osteuropa und Sibirien konsolidiert hatte. Im Jahre 1923 waren die Sowjetstrategen fähig, ihre totale Außenpolitik voll zu entwickeln. Diese Außenpolitik verband wirtschaftliche und militärische Hilfe mit einer systematischen Beeinflussung der chinesischen politischer Ideen und mit dem planmäßigen Einsatz einer von Moskau dirigierten chinesischen Partei, der KPC.

Nach dem Zusammenbruch der Einheitsfront im Jahre 1927 bewegte sich der westlich orientierte Umwandlungsprozeß Chinas auf mehreren Ebenen. Er wurde von der nationalistischen Regierung gefördert; aber die ideologische Aktivität der Kommunisten, die auch nach der vernichtenden Niederlage des Jahres 1927 fortdauerte, verzerrte und hemmte das Wachstum westlich-demokratischer Einflüsse. Während des chinesisch-japanischen Krieges traten die Kommunisten wieder offen als eine bedeutende politische und militärische Macht auf den Plan. Nach dem Ende des Krieges wuchs diese Macht, deren wahre Bede rung das Ausland nicht verstand. Die unsicher fortschreitende chinesische diversive (demokratische) Revolution wurde durch eine neuartige totalitäre Revolution bekämpft, gelähmt und und schließlich zerstört Diese totalitäre Revolution erschien ursprünglich als eine restaurative Revolution. Oberflächlich gesehen stellte sie die alte semi-managerielle despotische Ordnung wieder her, die während der vorhergehenden Jahrzehnte erheblich geschwächt war Jedoch neue Methoden der sozialen Kontrolle unterschieden das kommunistische Regime von Anfang an von den begrenzten Herrschaftsmethoden des traditionellen orientalischen Absolutismus.

Nach der Kollektivierung der Landwirtschaft, die 1956 die Masse aller Bauern ihres Landes beraubte, wurde das qualitativ „Neue“ in der chinesischen Gesellschaft unmißverständlich klar. Die kommunistische Umwäl-zung schuf eine totale managerielle Wirtschaft, die der herrschenden Bürokratie eine totale Kontrolle über die Masse der Bevölkerung ermöglicht. Diese Entwicklung muß, wie alle wesentlich gesellschaftlichen Strukturänderungen nach ihrer Bedeutung für drei Hauptaspekte menschlichen Lebens bewertet werden: 1. Die Beziehungen des Menschen zur Natur (Fortschritt in Technik und Naturwissenschaft); 2. Beziehungen des Menschen zu seinen Mitmenschen (sozialer und politischer Fortschritt);

3. Die Beziehungen des Menschen zu seinem inneren Selbst (Fortschritt auf dem Gebiet der Überzeugung und des Glaubens).

Es ist meine Auffassung, die die Entsendung eines Sputniks in den Weltraum nicht erschüttert hat, daß eine verantwortungsvolle, disziplinierte, offene Gesellschaft der kommunistischen Gesellschaftsordnung auch auf dem Gebiete der Naturwissenschaft, Technik und Ökonomie überlegen ist. Der kritische Beobachter weiß, daß im kommunistischen China — wie im kommunistischen Rußland -diejenigen Abschnitte der Ökonomie, die der inneren und äußeren Machtentfaltung dienen, auf Kosten anderer Abschnitte gefördert werden, die den Bedürfnissen der Bevölkerung dienen.

Aber wie immer wir auch den technischen Fortschritt im Kommunismus beurteilen mögen (daß dort ein erheblicher Fortschritt stattfindet, ist unbestritten), die Gesamtbilanz der kommunistischen Revolution wird entscheidend bestimmt durch ihre Erfolge (oder Mißerfolge) auf dem zweiten und dritten Gebiet der im engeren Sinn menschlichen Sphäre unserer Existenz. Auf beiden Gebieten wird die Stellung des Menschen durch die totale Klassengesellschaft des Kommunismus abgründig verschlechtert. Wertmäßig gesehen, ist die kommunistische Revolution daher eine rückschrittliche (retrogressive) Revolution Dies ist das Fazit der chinesischen wie der russischen Entwicklung, ein Fazit, das weitere technische Fortschritte verdunkeln aber nicht beseitigen können.

VI. Wichtige institutionelle Aspekte der kommunistischen Gesellschaft Chinas

Neuerdings wird der Versuch gemacht, die kommunistische chinesische Gesellschaft mit der orientalischen Despotie des kaiserlichen China gleichzusetzen und dadurch indirekt das gegenwärtige Regime zu entschuldigen. Die kommunistischen Machthaber, so sagt man, sind nicht viel anders als die vormaligen despotischen Herrscher; und was immer man gegen sie sagen mag, sie sind dynamisch und industrialisieren China.

Ein solches Argument verwandelt eine halbe Wahrheit in eine volle Unwahrheit. Es übersieht, daß teilweise Ähnlichkeiten (despotischer Staat und Bürokratie als herrschende Klasse) mit wesentlichen institutionellen Strukturunterschieden Hand in Hand gehen. Es übersieht, daß im kaiserlichen China die orientalische Gesellschaft besonders aufgelockert war, und daß während der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts eine diversive Entwicklung diesen Auflockerungsprozeß erheblich förderte.

Spezifisch gesprochen: Die kommunistische Gesellschaft Chinas ist weit entfernt von der „komplexen“ hydraulischen Gesellschaft der Kaiserzeit, in der Privateigentum und Privatunternehmertum einen großen Umfang annahmen und in der die bürokratischen Notabein sich auf der Basis privaten Grundeigentums einer nicht unbeträchtlichen persönlichen und geistigen Freiheit erfreuten. Die kommunistische Ge-Seilschaft Chinas kam nicht einmal den „kompakten“ und „einfachen“ hydraulischen Gesellschaften des Pharaonischen Ägyptens und des Inka-reiches gleichgesetzt werden. Wenn auch der private Sektor in den oeiden letztgenannten Kulturen bescheiden war, so blieb doch den Bauern ein beträchtlicher Spielraum für eigene Entscheidungen. Obwohl im Inkareich die Bauern das Land der Herrscher und der Tempel in kollektiver Fronarbeit bestellen mußten, waren sie gleichzeitig die privaten Besitzer (nicht: Eigentümer) abgesonderter Felder und. wo Viehzucht möglich war, die Besitzer (und vielleicht Eigentümer) kleiner Lamaherden. Diese Zweiteilung, die es dem Bauern erlaubte, sich den größeren Teil des Jahres seiner eigenen Wirtschaft zu widmen, fand sich, wie erwähnt, auch im alten China, wo die Bauern ebenfalls nach der Bestellung des „öffentlichen Landes“ ihr „privates“ Land bearbeiteten Sie verschwand im kaiserlichen China zugunsten der bäuerlichen Eigen-wirtschaft. In den ersten Jahren des kommunistischen China schien die Zweiteilung der einfachen orientalischen Gesellschaft wiederzuerstehen;

aber schon damals betätigten die neuen Herrn politische und technische Methoden der Massenkontrolle, die die ländlichen Besitzer viel schärfer im Zaum hielten, als das selbst unter den am stärksten regimentierten (einfachen) Formen der agrarischen Despotie möglich gewesen war. Mit der Durchführung der Kollektivierung und der vollen Verstaatlichung von Industrie und Handel hörte auch die äußerliche Ähnlichkeit mit diesen (den bedrückendsten) Formen der Agrardespotie auf.

Die herrschende Klasse der kommunistischen Gesellschaft betätigt ihre Macht durch einen allgegenwärtigen Staatsapparat. Wir haben in ihr daher die moderne Variante einer Apparatgesellschaft vor uns. Da die Herrscher ihre totale Macht durch eine Regierung ausüben, die — im Unterschied zur orientalischen Despotie — praktisch die gesamte wirtschaftliche und soziale Tätigkeit der Bevölkerung kontrolliert, stehen wir einer totalitären Apparatgesellschaft gegenüber.

In allen wesentlichen Einzelzügen läßt sich die Qualität der neuen totalitären Ordnung nachweisen. grundsätzlich neue Die Familie: Im kommunistischen China werden die Kinder dazu angehalten, ihre Eltern zu denunzieren, wenn dies dem Staat von Nutzen ist. Eine solche Politik, die in tiefem Gegensatz zur konfuzianischen Tradition steht, zielt darauf ab, die Familie als letzte Zuflucht menschlichen Zusammengehörigkeitsgefühls und persönlicher Solidarität zu vernichten.

Die Gewerkschaften: In einer Gesellschaft, die die Arbeiter zu schutzlosen Dienern eines allmächtigen Arbeitgebers (des totalitären Staates) macht, werden die Gewerkschaften das genaue Gegenteil der freien Gewerkschaften, die die modernen vielzentrigen industriellen Gesellschaften in Europa und Japan geschaffen hat. Die kommunistischen Gewerkschaften unterscheiden sich auch von den Zünften des traditionellen China, denn sie besitzen nicht einmal jene bescheidenen Formen der Selbstverwaltung, die die alte agrodespotische Regierung den Handwerkern und Kaufleuten gewährte.

Die Dorfgemeinschaft: Schon vor der Kollektivierung wurde die Macht der ländlichen Verwaltungsorgane durch neue Methoden der Wirtschaftsplanung und der polizeilichen Überwachung erheblich verstärkt. Seit der Kollektivierung verliert das bürokratisierte Dorf schnell jede Ähnlichkeit mit den halbautonomen Dorfgemeinschaften die das vorkommunistische China besaß Die Stellung der Frau: Die Befreiung von alten Banden, die die offizielle Hebung der Stellung der Frau mit sich brachte (und die übrigens im republikanischen China eingeleitet war), wird zunichte gemacht durch eine totalitäre Politik, die innerhalb des Hauses das Vertrauen der Eltern und Kinder zueinander untergräbt, und die außerhalb des Hauses die Frauen in die quasi-militärischen Arbeitsbrigaden der Kollektive oder in die ähnlich regimentierten Fabrikbelegschaften preßt Die partielle Unterdrückung in der alten Gesellschaft, an deren Stelle die volle Freiheit treten sollte, wird tatsächlich durch die Herabdrückung zu einer totalen Arbeitssklaverei ersetzt.

Dienationalen Minderheiten: Die ursprünglichen kommunistischen Versprechen, sie auf gleiche Stufe mit dem „Han“ (den eigentlichen Chinesen) zu stellen, fanden natürlich bei den Minderheiten Anklang, ebenso wie die feierliche Erklärung, daß die Miao, die Yao, die Tibetaner und andere nichtchinesische Völkerschaften „das volle Recht der Selbstbestimmung genießen sollen, d. h. daß sie sich nach Belieben entweder dem chinesischen Sowjetstaat anschließen oder sich von ihm lostrennen und ihren eigenen Staat bilden können“ Aber die bewaffnete Eroberung von Tibet enthüllte die wirkliche Einstellung der Kommunisten gegenüber schutzlosen Nationalitäten. Im Unterschied zur modernen liberalen Kolonialpolitik, die die einheimische Selbstverwaltung ermutigt (siehe Englands Politik in Indien und Afrika), und im LInterschied zu der Behandlung der nationalen Minderheiten durch die vormaligen chinesischen Regierungen (wenn die Angehörigen der Minderheiten ihre Steuern zahlten, überließ man sie im allgemeinen sich selbst) übernahmen die chinesischen Kommunisten von Sowjetrußland für Tibet die Methoden des totalen Kolonialismus, und für alle Minderheiten die Politik einer totalen wirtschaftlichen und bürokratischen Unterjochung. Die Erweiterung der Erziehung erleichtert dem Staat die Beherrschung und Ausbeutung der Minderheiten. In den Kollektiven, die man auch den Minderheiten aufzwingt, können jetzt die des Lesens kundigen Stammesangehörigen den kommunistischen Herren als Buch-halter und Schreiber dienen. Die „Gleichberechtigung", die man ihnen gewährt, ist ein schlagendes Beispiel für jene Senkung des sozialen Niveaus (Max Webers „passive Demokratisierung“), die das unvermeidliche Schicksal der Untertanen eines bürokratisch-totalitären Regimes ist

Das Bildungswesen: Die Verbesserung des Gedankenverkehrs bedeutet in modernen demokratischen Gesellschaften etwas grundsätzlich anderes als in totalitären Gesellschaften. In einer offenen industriellen Gesellschaft mit wirksamen Kontrollen und Rechenschaftsberichten kommt der Ausbau des geistigen Verkehrs nicht nur den Arbeitgebern, sondern auch den Arbeitnehmern zugute. Letztere finden dadurch neue Wege zur Verteidigung ihrer Interessen in öffentlichen Debatten und in organisiertem politischem Vorgehen, hinter den modernen totalitären Systemen — dies gilt für den Faschismus wie für den Kommunismus — stärkt der Ausbau des Gedankenverkehrs einseitig die Macht der Herrscher, die monopolistisch über ihn verfügen Es ist kein Zufall, daß Mao Tse-tung in derselben Bekanntmachung vom Dezember 195 5, in der er die totale Sozialisierung anordnete, auch eine beschleunigte Erweiterung der „Bildung“ forderte.

Gewiß, solange die vorhandenen Bücher, Rundfunkprogramme, Theaterstücke, usw. politische, soziale, philosophische oder religiöse Vorstellungen enthalten, die in irgendeiner Weise den Freiheitsdrang des Menschen zum Ausdruck bringen, werden rebellisch gestimmte Untertanen durch das ihnen zugängliche Bildungsgut in ihrem versteckten (und gelegentlich sogar offenen) Widerstand gegen das Regime verstärkt. Es ist bezeichnend, daß an der Peripherie des kommunistischen China (im tibetanischen Grenzgebiet) und an der Peripherie des Sowjet-reiches (in Ungarn) offene Aufstände ausgebrochen sind. Jedoch die Gesamtentwicklung der Bildung in der kommunistischen Welt gibt keinen Anlaß zu allgemeinem Optimismus. In Sowjetrußland gab es Anfang der zwanziger Jahre, als, die Hälfte der Bevölkerung noch aus Analphabeten bestand, eine viel größere Diskussionsund Handlungsfreiheit für den Einzelnen als jetzt, da der größte Teil der Bevölkerung lesen und schreiben kann und da die Bildung (insbesondere die technische Bildung) erheblich zugenommen hat. Auch im kommunistischen China geht die Ausbreitung der Bildung Hand in Hand mit einer verschärften Unterwerfung der Bevölkerung Die hier angeführten Tatsachen zeigen die Gefahren einer Methode, die unkritisch die Prinzipien einer vielzentrigen und demokratischen Gesellschaft auf die kommunistische totalitäre Welt anwendet. Es ist irrig zu glauben, daß die Erweiterung der Erziehung die Position der nationalen Minderheiten der Bauern und der Industriearbeiter in einer totalitären Ordnung verbessern werde, weil sie dies unter den Verhältnissen einer offenen Gesellschaft tut.

Die hier aufgeführten Tatsachen erlauben uns auch, den Charakter der herrschenden Klasse im kommunistischen China genauer zu definieren. Wenn wir die amtierenden Kommunisten, sowie die nichtamtierenden (aber potentiell bürokratischen) Kommunisten und die nichtkommunistischen Staatsbeamten als diejenige Schicht ansehen, die den Kern der herrschenden Klasse bildet, so ist es klar, daß sich diese Klasse sowohl von den kontrollierten Bürokratien alter und neuer vielzentrigen Gesellschaften wie auch von den herrschenden Bürokratien der orientalischen Despotie unterscheidet. Mit letzterer hat die kommunistische herrschende Bürokratie gemeinsam, daß sie eine Mono-p o 1 Bürokratie ist. Aber im Gegensatz zu ihr, übt sie nicht nur eine totale politische, sondern auch eine totale soziale und ideologische Macht aus. Sie ist eine totalitäre Monopolbürokratie.

Die bürokratischen Herrscher sind ebenso wie die beherrschte Masse der Bevölkerung in Unterklassen eingeteilt, deren Eigenarten ein umfassendes Studium erfordern. Eine Analyse der Unterklassen der orientalischen Despotie zeigt, wie tief geschichtet die hier vorliegenden Probleme sind. Sie zeigt ferner, daß eine auf den Westen beschränkte Betrachtungsweise für die Lösung dieser Probleme unzureichend ist 69). Es ist Zeit — höchste Zeit — daß die Sozialwissenschaften ihre gegenwärtige Enge überwinden und sich bewußt und systematisch dem Studium totaler Macht und totalitärer Gesellschaftsformen zuwenden.

Erläuterungen:

In den Fußnoten sind folgende Abkürzungen verwendet:

Bloch = Marc Bloch, „La socit feodale" (Paris 1949);

Chang = Chang Chung-li, „The Chinese Gentry, Studies on Their Role in Nineteenth-Century Chinese Society", mit einer Einführung von Franz Michael (Seattle 1955);

Engels = Friedrich Engels, „Der Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staats", 20. Auflage (Stuttgart 1921);

Ganshof = F. L. Ganshof, „Feudalism", übers, von Philip Grierson (London 1952);

Legge = James Legge, „The Chinese Classics", durchgesehene Auflage, 7 Bände (Oxford 1893— 95);

Michael = Franz Michael, „The Origin of Manchu Rule in China" (Baltimore 1942);

Wittfogel 1931 = Karl A. Wittfogel, „Wirtschaft und Gesellschaft Chinas", Erster Teil (Leipzig 1931);

Wittfogel 1957 = Karl A. Wittfogel, „Oriental Despotism. A Comparative Study of Total Power" (New Haven 1957);

Wittfogel and Feng = Karl A. Wittfogel und Feng Chia-sheng, „History of Chinese Society, Liao", Abhandlungen der amerikanischen philosophischen Gesellschaft, XXXVI (Philadelphia 1949).Politik und Zeitgeschichte AUS DEM INHALT UNSERER NÄCHSTEN BEILAGEN; , Margarete Buber-Neumann; „Schicksale deutscher Kommunisten in der Sowjetunion"

Iring Fetscherg „Das Verhältnis des Marxismus zu Hegel"

G. F. Hudson: wChruschy’s Komet"

Percy Ernst Schramm: Polen in der Geschichte Europas

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die ursprüngliche Fassung dieses Artikels wurde für das umfangreiche China-Handbuch geschrieben, dessen Abfassung die „Human Relations Area Files" (HRAF) für die amerikanische Armee organisierte. Ich möchte dem geistigen Vater dieses Handbuches, Herrn Prof. Hellmut Wilhelm (Universität Washington) für seine großzügige Mitwirkung und der HRAF für die Erlaubnis zur selbständigen Veröffentlichung dieses Artikels meinen Dank aussprechen

  2. Viele der hier besprochenen Phänomene sind in Wittfogel 1957 systematisch behandelt. Der interessierte Leser wird daher gebeten, für eingehendere Beweisführung und vollere Belege dieses Werk zu Rate zu ziehen.

  3. Wittfogel 1957, S. 372 ff. Unter dem Einfluß der klassischen Ökonomen übernahm Karl Marx diese Begriffe in sein gesellschafts-geschichtliches System. Vom Anfang der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts an bis zu seinem Tode im Jahre 1883 hat Marx — im Anschluß an Richard Jones und John Stuart Mill — der „asiatischen Gesellschaft“ (und der „asiatischen Produktionsweise") eine wichtige Rolle in seinem Entwicklunasschema zugewiesen (ebd., S. 373 ff.).

  4. Siehe W. D. Alexander, „Brief History of the Hawaiian People" (New York 1899), S. 42 f., 83; Wendell Clark Bennett, „Archaeology of Kauai", Bernice P. Bishop Museum Bulletin, Nr. 80 (Honolulu 1931), S. 9, 50 ff.

  5. Siehe Gordon E. Willey, „Prehistoric Settlement Patterns in the Viru Valley, Peru", Smithsonian Institution, Bureau of American Ethnology, Bulletin Nr. 155 (1953), S. 346 ff., 354 ff., 361 ff., 381, 395 ff. und insbesondere 400 ff., 410 ff.

  6. Die Orakeltexte der Schang-Dynastie lassen für die späte Schang-Zeit ein etwas wärmeres Klima, aber einen den heutigen Verhältnissen ähnlichen jahreszeitlichen Wechsel von Regen und Trockenheit vermuten. Siehe Wittfogel, „Meteorological Records from the Divination Inscriptions of Shang", Geographical Review, XXX (1940), S. 121 ff.

  7. Richthofen erschwerte seine Untersuchung über die hydraulische Erschließung des großen nordchinesischen Tieflandes, indem er auf einer relativ späten Quelle, dem Yü kung, fußte; aber seine Feststellung, daß die nacheiszeitliche Besiedlung der Nordchinesischen Ebene erst nach Schaffung umfassender Deicharbeiten möglich war (siehe Ferdinand Freiherr von Richthofen, „China, Ergebnisse eigener Reisen und darauf gegründeter Studien", [Berlin 1877], I, S. 354 ff.), ist eine elementare erd-und ackerbaugeschichtliche Wahrheit, die unabhängig von dem Zeitpunkt der Entstehung des Yü kung gültig ist (vgl. Wittfogel 1931, S. 281 ff.).

  8. Wang Kuo-wei, der Großmeister der Entzifferung der Schang-Inschriften, fand in diesen Inschriften die im „Schi Ki" und-in den „Bambus-Annalen" aufgeführten Namen der Herrscher der Schang-Dynastie. In gewissen Fällen, in denen die beiden Quellen voneinander abwichen, stellte er fest, daß die angeblich fragwürdigen Bambus-Annalen den Orakeltexten näher waren als das „Schi Ki" (Wang Kuo-wei, „Kuan-t’ang chi-lin", 9. 15a). Wenn man solche Tatsachen im Zusammenhang mit der hohen Entwicklungsstufe der Schang-Kultur und mit gleichartigen Situationen in der Vorgeschichte des vorderen Orients betrachtet, so darf man schließen, daß die in den „Bambus-Annalen" und dem „Schi Ki" enthaltenen Hinweise auf hydraulische Betätigungen in der Zeit vor der Schang-Dynastie — mit gewissen Übertreibungen — tatsächliche historische Ereignisse widerspiegeln.

  9. Legge, I, 215.

  10. In den zwanziger Jahren wurde Yü von dem führenden chinesischen Historiker Ku Chieh-kang als eine mythologische Gestalt angesehen, die zuerst in der mittleren Tschou-Periode auftauche. In den dreißiger Jahren verwies er Yü in eine sehr viel frühere Zeit, und schließlich betrachtete er ihn sogar als den göttlichen Ahnherrn der Hsi Jung, eines der Stämme, die vermutlich an der Entstehung der chinesischen Frühkultur beteiligt waren (Yü kung, VII, Nr. 6— 7, 1937, S. 81 ff., 90 ff.). In diesem Zusammenhang ist es von Bedeutung, daß einer von Ku's Mitherausgebern, Feng Chia-sheng, die Vermutung äußerte, Yü habe tatsächlich hydraulische Arbeiten in der unteren Talebene des Fen-Flusses in der Provinz Schansi durchgeführt (Yü kung, Nr. 2, 1934, S. 12 ff.). Im Sommer des Jahres 1923 wurden über 110 Dörfer in diesem Gebiet von einer schweren Überschwemmungskatastrophe betroffen (ebd., S. 13).

  11. Ganshof, S. 64 ff.; Bloch, 1, 351

  12. s. Ganshof, S. 79 ff.; Bloch, I, 340; 11, 21.

  13. S Wittfogel 1957, S. 175, 273 ff., 280 ff., 284 f.

  14. O. Franke, „Geschichte des chinesischen Reiches", I (Berlin und Leipzig, 1930), 111. . ,, , . ,

  15. Henri Maspero, „Melanges posthumes sur les religions et 1 histoire de la Chine", Part III: „Etudes historiques" (Paris 1950), S. 114 f.

  16. Dies war der Grund dafür, daß auch ich in meinen früheren Schriften vom Feudalismus der Tschou-Zeit sprach. Ich tat dies, obwohl ich die Notwendigkeit einer hydraulischen Betätigung in den nordchinesischen Niederungen für die Tschou-Zeit erkannte. Ich erklärte demgemäß, daß die frühe Tschou-Zeit durch das Vorhandensein öffentlicher Wasserbauanlagen „gefärbt" sei, und daß das Anwachsen dieser Werke in der späteren Tschou-Zeit eine radikale Änderung der gesellschaftlichen Ordnung mit sich gebrach habe. Siehe Wittfogel 1931, S. 418, 425 ff.; idem, „The Foundations and Stages of Chinese Economic History", Zeitschrift für Sozialforschung, IV (1935), S. 40 ff.

  17. S. Wittfogel 1957, S. 378 ff., 391 ff , 395 ff.

  18. S. Wittfogel 1931, S. 411— 415, 433 ff., 446 ff.

  19. Wittfogel 1931, S. 187— 300, 410— 456.

  20. Wittfogel 1957, S. 166 f.

  21. Delmer M. Brown, „The Impact of Firearms on Japanese Warfare, 1543— 98", FEQ, VII (1948), 236 ff. Nach einer Mitteilung von Dr. Marius Jansen (Universität Washington) über dieses Thema „kommt die erste zusammenhängende Behandlung dieses Gegenstandes (der Kriegskunst) in einem Werk von Takeda Shingen (1521— 73) vor".

  22. Kuo Yü (Schanghai 1935), 2, 22 f.

  23. In Japan brachte ein früher Ansatz zu einer hydraulischen Entwicklung Elemente eines orientalisch-despotischen Systems von Verkehrsverbindungen und Volkszählungen hervor. Die immer stärker werdende feudale Ordnung aber verhinderte das Wachsen dieser Elemente. Sie gewannen — ebenso wie die Kriegskunst — erst nach dem Ende der eigentlichen Feudalzeit an Bedeutung. Siehe Wittfogel 1957, S. 198 ff.

  24. Für Ausnahmen von der Regel siehe Wang Kuo-ting, „Chung-kuo t’ienchih shih" (Nanking 1933), S. 51 ff.

  25. „Han shu" (Po-na ed.), 24A. 14b.

  26. Ch'ü T’ung-tsu, „Chung-kuo feng-chien she-hui" (Schanghai 1937), S. 200 f.

  27. Legge, I, 310.

  28. Legge, I, 138.

  29. Legge, I, 270.

  30. über diesen Begriff s. Wittfogel 1957, S 128 ff.

  31. „Peking Gazette" vom 11. Oktober 1898.

  32. Im Unterscheid zu der herrschenden Staatsreligion. Siehe Wittfogel 1957. S 115, 121.

  33. J J M.de Groot, „Sectarianism and Religious Persecution in China“ (Neudruck 1940), 1, 109— 116.

  34. Herbert Franz Schurmann, „Economic Structure of the Yüan Dynasty“, Harvard-Yenching Institute Studies XVI (Cambridge 1956), S. 6.

  35. Wittfogel und Feng, S. 217 f.

  36. Wittfogel und Feng, S. 505 ff.

  37. Wittfogel, „General Introduction" in Wittfogel und Feng, S. 15 ff.

  38. Ebd., S. 10. Bezüglich der im Laufe der Eroberung Chinas erfolgten Bürokratisierung der Mandschus s. Michael, passim.

  39. „Introduction", Wittfogel und Feng, S. 5— 14.

  40. Wittfogel und Feng, S. 568.

  41. „History of Chinese Society, Chin", MS (Chinese History Project).

  42. O. Franke, „Geschichte des chinesischen Reiches", IV (Berlin 1948), 561 ff.

  43. Michael, S. 66 ff.

  44. „Introduction", Wittfogel und Feng, S. 14.

  45. Ebd., S. 15.

  46. Die Unrichtigkeit dieses Arguments wurde von Richard L. Walker, „China under Communism: The First Five Years“ (New Haven 1955), S. 293, überzeugend nachgewiesen.

  47. „Introduction", Wittfogel und Feng, S. 24— 25.

  48. Wittfogel 1957, S. 79 ff.

  49. Siehe Chang, passim. Im Jahre 1931, während der einzigen offenen Diskussion über die asiatische Produktionsweise, die in der Sowjetunion stattfand, kritisierte ein Sprecher der „feudalen" Parteilinie schärfstens die von mir vertretene bürokratische Interpretation der „Gentry“ in China (s. Wittfogel 1957, S. 402).

  50. Wittfogel 1957, S. 105 f„ 345.

  51. Wittfogel 1957, S. 356 f.

  52. Chang, S. 115.

  53. Für eine statistische Übersicht über den sozialen Hintergrund mittlerer und höherer Beamter unter den größeren chinesischen Dynastien vor und nach der Einrichtung des Examenssystem s Wittfogel 1957, S. 348 ff.

  54. Chang, S. 165 ff.

  55. Wittfogel 1957, S. 337.

  56. Wittfogel, 1957, S. 338.

  57. In einem Punkte ging er über Morgan hinaus. Er griff einen wichtigen Marxschen Gedanken auf, als er die „Arbeitssklaverei" der Antike der „Haussklaverei" des Orients gegenüberstellte (Engels, S. 162). Diese Gegenüberstellung impliziert, daß die orientalische Gesellschaft nicht das Stadium der A r b e i t s Sklaven durchlief, das Marx und Engels als ein Merkmal der abendländischen Antike ansahen.

  58. S. Engels, S. 160— 162.

  59. Mill hatte früher als Marx eine solche Revolution überall dort erwartet, wo „fortgeschrittene" Industrieländer in intensiven Kontakt mit zurückgebliebenen Nationen kommen. Siehe John Stuart Mill, »Principles of Political Economy" (London 1848) II 244 ff. and 251.

  60. Karl Marx, Artikel in der New York Daily Tribune" vom 25. Juni 1853. Kursivdruck im Original.

  61. Louis Fischer, „The Soviets in World Affairs 1917— 1929" (Princeton 1951), I, 391.

  62. Walter Z. Laqueur, „Communism and Nationalism in the Middle East" (New York 1956), S. 208 ff.

  63. Olga Lang, „Chinese Family and Society" (New Haven 1946), S. 110 f.; Herbert Day Lampson, „Social Pathology in China" (Shanghai 1935), S. 564.

  64. Franz Michael und George E. Taylor, „The Far East in the Modern World" (New York 1956), S. 402 ff.

  65. S. Wittfogel 1957, S. 420, 422.

  66. Verfassung der Ersten Chinesischen Sowjetrepublik, angenommen unter dem Vorsitz von Mao Tse-tung (s Victor A. Yakhontoff „The Chinese Soviets", New York 1934, S 221; vgl. S. 276 f.) Mao wiederholte sein Versprechen im Jahre 1936 (s. Mao Tse-tung und andere: „China: The March Toward Unity“, New York 1937, S 40 f.).

  67. Direkte und indirekte Eingeständnisse, daß die nationalen Minderheiten über ihre Behandlung durch die Kommunisten empört sind, findet der Leser u. a. in der offiziellen kommunistischen „New China News Agency" (Kunming, 7. September 1956) und „Chinese Home Service" (Peking, 1. und 17. Dezember 1956).

  68. Max Weber, „Wirtschaft und Gesellschaft, Grundriß der Sozialökonomik" (Tübingen 1921— 22), III, S. 667 f.

Weitere Inhalte

" Wittfogel, Karl A., Professor für chinesische Geschichte an der Universität Washington, Seattle, und Direktor des Chinese History Project, das die Gastfreundschaft der Columbia Universität New York genießt.