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Geschichte als Fortschritt | APuZ 29/1958 | bpb.de

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APuZ 29/1958 Geschichte als Fortschritt Toleranz in Europa

Geschichte als Fortschritt

REINHARD WITTRAM

Der nachstehende Beitrag ist ein Ausschnitt aus dem Vorlesungszyklus des Verfassers, der unter dem Titel „Das Interesse an der Geschichte“ mit Nachweisen und Belegen im Herbst 1958 in der Kleinen Vandenhoeck-Reihe in Göttingen erscheinen wird.

Jedem, der aus der Bildungsund Denktradition des 19. und 18. Jahrhunderts kommt, liegt der Gedanke an den Fortschritt nahe — manchem so nahe, daß er als das trotz allem Natürliche, Gesunde und Selbstverständliche erscheint. Freilich kaum als etwas Verbindliches und Verpflichtendes, mehr als eine allgemeine Grundstimmung, die leicht unsicher und schwach werden kann, unentbehrlich nur noch als Leistungsantrieb. Dem normalen Fortschrittsdenkenden scheint als einzige starke Gegenposition der aus verschiedenen Ursprüngen stammende, je nach den Zeitgegebenheiten auf-und abschwellende Pessimismus gegenüberzustehen. Auch wer den Fortschritt nicht ernstnimmt, wird sich auf den Pessimismus nur ungern einlassen.

Daß die Geschichte ein Fortschritt zu neuen, höheren und besseren Formen des menschlichen Daseins sei, ist für den kommunistischen Weltglauben eine Gewißheit, die durch nichts in Frage gestellt werden kann. Sie ist ihm nicht nur eine Wahrheit der Erkenntnis, sondern zugleich der Modus des Existierens, die Erfahrung des Tuns, der nie verstummende Anruf zur Bewährung. Eine Diskussion dieser Gewißheit ist auf diesem Boden müßige und sogar schädliche Spielerei: die Evidenz zwingend nicht nur durch die Beweiskraft der wissenschaftlichen Argumente, sondern auch durch den stets gegenwärtigen sittlichen Anspruch des Besserungswillens. Im Wort Fortschritt wird alles zusammengefaßt, die ganze Aktivität, die ganze Zuversicht, aller Trost und aller Glanz.

Gegenüber dieser existenziell erhärteten Gewißheit wirkt der Zweifel am geschichtlichen Fortschritt als eine schimpfliche Verlegenheit, die entweder aus einem den Spott herausfordernden Denkunvermögen oder aus dem massiven Interesse an der Erhaltung des Bestehenden entspringt. Wer alles durchleuchtet sieht vom Licht, das sich von Stufe zu Stufe heller entfaltet, den kommt das Lachen an, wenn er den in Oxford und Turin lehrenden Althistoriker Arnaldo Momigliano sagen hört:

„Die größere Mehrheit der gewöhnlichen Historiker weiß einfaclt nicht, was sie vorn Fortsdtritt halten soll, und bittet die Philosophen um Aufklärung. Die Philosophen aber antworten darauf, daß es nicht ihre Aufgabe sei zu sagen, was man denken soll, sondern wie man dies anzustellen hat.“ Es gibt in der westlichen Welt in der Tat keine einheitliche Stellungnahme zum Fortschrittsgedanken. Ein Bekenntnis zu ihm enthielt die Atomwaffenrede des 80jährigen Churchill vom 2. März 195 5. Charakteristisch aber ist, was Golo Mann vor einigen Jahren erzählte: „Die Abschlußklasse eines amerikanisdten Colleges wurde kürzlidt aufgefordert, ihre Gedanken zur Idee des Fortsdirittes zu Papier zu bringen. Es handelte sich um männliche Studenten zwischen 20 und 30, die meist aus gutsituierten Familien des Staates Kalifornien stammten. . . . Die große Mehrheit bestritt die Wahrheit des Fortsdirittsgedankens, aber mit mehr Bedauern als Zynismus. In ihren Aufsätzen taudtten all jene Argumente auf, die uns aus dem europäisdien Pessimismus so vertraut sind . . .“ (1950).

Sollte sich darin nur Ratlosigkeit äußern? In vielen Fällen gewiß, und dem ersten raschen Blick mag es scheinen, als habe das Bürgertum, das seine Aufgabe erfüllt hat, die Dynamik verloren und warte nun müde auf die Stunde, da andere soziale Gruppen ihm die Fackeln aus den Händen nehmen mögen. Verlust der Fortschrittsgewißheit erscheint manchem Betrachter als gleichbedeutend mit einem Absinken ins Sinnlose: „Wenn der Fortschrittsgedanke wegfällt“, schrieb ein Schweizer Historiker (W. Hünerwadel) in unseren Tagen, „verliert die Geschidtte ihren Sinn und ihre Bedeutung; das gilt gewiß heute nodt mehr als je. Der Glaube an den Fortschritt . . . bleibt die einzige Rettung der Welt“ (1952).

Man kann diese These mit guten Gründen in Zweifel ziehen. Bevor wir die Möglichkeiten prüfen, die sich uns für eine Interpretation der Geschichte als Fortschritt bieten, müssen wir uns vergegenwärtigen, wie diese Vorstellung zur Herrschaft aufsteigen, ja den Rang des Selbstverständlichen gewinnen konnte.

Die Vorstellung von einer Höherentwicklung

Die Geschichte der Fortschrittsideen ist weitgehend durchforscht, stellt der Forschung aber immer noch schwierige Fragen. Überein-Stimmung besteht darin, daß die wertbetonte Vorstellung vom geschichtlichen Progreß in der europäischen Neuzeit ausgebildet wurde, wobei der Ursprung der Idee freilich verschieden angesetzt werden kann. Hinter den neuzeitlichen Entwürfen taucht am Ende des 12. Jahrhunderts Joachim von Fiore auf. Strittig ist, wie der christliche Anteil an der diesseitigen Endreichserwartung zu bestimmen ist. Es ist möglich, den dynamischen Charakter des Reich Gottes-Gedankens zu betonen, um darzutun, daß der moderne Fortschrittsgedanke nichts anderes ist als säkularisierte christliche Eschatologie. Ja, Karl Löwith sieht schon im christlichen Fortschritt vom Alten zum Neuen Testament ein erstes Modell des Fortschrittdenkens und in allen fortschrittlichen und verfallsgeschichtlichen Konstruktionen der Geschichte von Voltaire bis Marx ein Ergebnis der biblischen Hedis-und Verfallslehre. Man kann freilich auch geltend machen, daß die Tendenz zur Verdiesseitigung der Reich Gottes-Erwartung immer nur in häretischen Gruppen Fuß gefaßt hat und in der Gesamterscheinung des historischen Christentums nicht mehr als eine Abart darstellt. In diesem Sinn spielt Ernst Bloch Joachim von Fiore gegen das offizielle Christentum aus, im Anschluß an die Marxsche Kritik an den sozialen Prinzipien des Christentums: Das Element Endzweck „hielt sich in dem gärenden, traumscliweren Morgen-rot, das die joadiitische, die täuferische Utopie bis zam Rand erfüllte und ihr den ganzen Himmel zum Osten madue.“ „Aller Joachitismus kämpft mit Marx gegen die sozialen Prinzipien eines Christentums, das sich seit Paulus mit der Klassengesellschaft verbunden hat, unter tausend Kompromissen. Zweifellos sind das Vereinfachungen, die den Inhalt der Sozial-und Geistesgeschichte des Christentums nicht ausschöpfen.

Festzuhalten ist jedoch, daß die Geschichte des Fortschrittsglaubens — wie die Geschichte des Geistes überhaupt — nicht als ein immanent geistesgeschichtliches Geschehen verstanden werden kann, sondern immer im Zusammenhang mit den allgemeinen geschichtlichen Wandlungen gesehen werden muß. Es gehört deshalb zu den schwersten Aufgaben der Geschichtswissenschaft, die Ursprünge großer geschichtlicher Bildungen aufzudecken. Hier und jetzt muß es uns genügen, wenn wir eine Vorstellung von der Breite und Tiefe der Tendenzen gewinnen, die zur Vorgeschichte der Fortschrittsidee gehören.

Man wird von dieser „Vorgeschichte“ auch die neuzeitlichen Utopien nicht ausschließen können. Vom Sprachgebrauch der Gegenwart aus hat man bestritten, daß die Utopie des Thomas Morus — die allen politischen Wunschvorstellungen der Neuzeit den Namen gegeben hat — eine „echte“ Utopie ist. Der 193 5 heilig gesprochene Lordkanzler Heinrichs VIII hat im Bilde des Landes „Nirgendwo“ Satire und Gesellschaftskritik mit ernsten Besserungshinweisen, politischen Impulsen, vitalem Interesse und moralischem Bewußtsein verbunden. Hier ist so viel als unmittelbar orts-und zeitbezogen zu erkennen, daß der Zeichnung das eigentlich Programmatische fehlt.

Viel mehr in unserem Sinn „Utopisches“ enthielt das enthusiastische Täufertum der deutschen Reformationszeit, das die Reformatoren bekämpften, und manch eine Erscheinung des englischen Bürgerkriegs.

Wenn wir heute von Utopien sprechen, meinen wir nicht eigentlich räumlich entrückte Wunderinseln wie das Urbild LItopiens, sondern eine Projektion in die Zukunft, ein Planen und Entwerfen, in das uralte chiliastische Vorstellungen eingeströmt sind. Chiliasmus und Utopie, zwei ursprünglich verschiedene Sehnsuchtsformen, haben sich insofern verbunden, als alles, was wir in der Neuzeit Utopismus nennen, ein Versuch ist, den Zeitenablauf vorwegzunehmen, sich der Zeit (man könnte auch sagen: der Geschichte) zu bemächtigen. Am Anfang dieses neuzeitlichen Chiliasmus steht wahrscheinlich Thomas Campanella, der Kala-

brese, der fast 30 Jahre in den Gefängnissen der Inquisition verbrachte, mit seiner „Cittä del sole", der Sonnenstadt (geschrieben 1602), an deren Verwirklichung er bis an sein Ende inbrünstig geglaubt hat. Von ihm und seiner Heilserwartung sind starke Wirkungen auf das 17. und 18. Jahrhundert ausgegangen, z. T. über Amos Comenius; der Sozialismus des 19. Jahrhunderts hat in Campanella einen ideologischen Vorläufer gesehen.

Schon Bacon (um 1620) und Leibniz kannten den Begriff Progressus im Sinne von Höherentwicklung. Zu einer allgemein herrschenden Ansicht wurde der Fortsdirittsglaube im 18. Jahrhundert mehr oder weniger gleichzeitig in Amerika, England und Frankreich, um dann nach und nach die ganze zivilisierte Welt zu ergreifen. Die Erklärung kann sich auf zwei parallele und eng miteinander verbundene Vorgänge beziehen:

eine geistesgeschichtliche Veränderung — das Emporkommen der autonomen Vernunft, die den Glaubensinhalt der Kirche zuerst zu stützen begehrte und dann verdrängte, und einen sozialgeschichtlichen Prozeß — die Mobilisierung des Bürgertums und die Erfahrung der menschlichen Leistungssteigerung. In Amerika können wir beide Linien nachzeichnen.

Reinhold Niebuhr hat vom „konstruktiven Protestantismus“ in Amerika gesprochen, der vom Reich Gottes-Glauben der Pilgerväter des 17. Jahrhunderts über die apokalyptische Endreichserwartung langsam zur optimistischen Fortschrittsidee des 19. Jahrhunderts führte. Die sozialgeschichtliche Komponente ist in Amerika ebenfalls besonders deutlich: die Fortschrittsgläubigkeit erklärt sich „aus der soziologischen Offenheit der amerikanischen Gesellschaft bis etwa 1900, aus der Unerschlossenheit des Kontinents, aus der geringen sozialen Dichte, aus der Gelegenheit zu schnellem Reichwerden, aus der .frontier’, der steten , opportunity\ der Dynamik der Neuen Welt und anderen Faktoren. Die gro/le Verführung lag in der einzigartigen Ausbaufähigkeit Amerikas“ (J. Seyppel, 1951). Der Philosoph John Dewey ist in seiner Jugend von diesen Eindrücken geformt worden. In Europa, wo viele Voraussetzungen des amerikanischen Optimismus fehlten, hatte der Fortschrittsglaube nicht diese anhaltende und vale Krisen überdauernde Energie.

Aber auch hier öffnete der soziale Wandel neue Horizonte, säkularisierte die Aufklärung die christlichen Heilswahrheiten. Man hat dafür den Begriff vom „Gottesstaat der Philosophen“ geprägt.

Das gemeinsame Merkmal der Abläufe in der alten und neuen Welt war die Glaubensgewißheit des Voranschreitens, eine Gewißheit von axiomatischer Geltungskraft, die in alle Denkansätze, alle Entwürfe und Lebensbahnen einsickerte. Einen ebenso kühnen wie hinreißenden Ausdruck dafür fand der Marquis Condorcet in seiner „Esquisse d’un tableau historique des progres de l’esprit humain“, posthum erschienen 1794, im 3. Jahr der einen und unteilbaren Republik, als der Verfasser im Gefängnis an Gift gestorben war. Im letzten Abschnitt, der die zehnte Epoche, die „zukünftigen Fortschritte des menschlichen Geistes“, behandelt, wagt Condorcet, wie er in der Einleitung sagt, „quelques ap-

percus" über die künftigen Schicksale des Menschengeschlechts, eine Vorausschau, in der die scharf erspürte kommende Wirklichkeit von utopischen Wolkengebilden überflogen wird. Sieht man davon ab, daß der Verfasser dem Menschen zu viel zutraute und daß seine Hoffnung auf die moralische Hebung des Menschengeschlechts unerfüllt bleiben mußte, so ist es immerhin erstaunlich, wieviele der von ihm vorausgesagten Verbesserungen tatsächlich eingetreten sind. Er erwartete einen mächtigen Aufschwung der Naturwissenschaften, sah es kommen, daß „ein immer enger eingegrenztes Stück Land eine Fülle von Lebensmitteln von viel grö/lerer Nützlidtkeit oder viel höherem Wert wird hervorbringen können“, daß deshalb dieselbe Bodenfläche mehr Personen ernähren wird; daß die Fortschritte auf den verschiedenen Gebieten einander steigern und beschleunigen werden. Er zweifelte nicht daran, daß die Fortschritte in der Medizin, der Übergang zu gesünderer Nahrung und Wohnung, eine Lebensweise, bei der die Kräfte durch Übung entwickelt würden, die Beseitigung des Elends und die Abschaffung übermäßig großen Reichtums — der beiden wirksamsten LIrsachen des Niedergangs — die Lebensdauer verlängern, den Menschen eine beständigere Gesundheit, eine kräftigere Körperbeschaffenheit sichern würden. Die Medizin wird im Verein mit wachsender Vernunft und verbesserter Sozialordnung die übertragbaren und ansteckenden und die durch klimatische Bedingungen, Ernährungs-und Arbeitsverhältnisse verursachten Krankheiten zum Verschwinden bringen. Zweifellos wird der Mensch nicht unsterblich werden, aber der mittlere Zeitraum zwischen dem Lebensanfang und dem natürlichen Kräfteverfall kann vergrößert werden.

Es ist begreiflich, daß alle diese und ähnliche Erwartungen, mit denen ein ahnungsvoller Geist vieles von der künftigen Entwicklung vorwegnahm, der Gewißheit des unbegrenzten Fortschreitens einen Zug enthusiastischer Freudigkeit geben mußten. „Dieses Jahrhundert , schrieb Joh. Bernhard Basedow 1771 in Leipzig („auf einer Reise zur Beförderung des Elementarwerks und der Schulverbeßrung“) in ein Stammbuch, „ist die Zeit der Gährung des Guten mit dem Bösen. Das letzte wird sinken. Alsdann wird das neunzehnte des Segens gereinigter Einsichten und Sitten genießen. Wohl dem, der diese Glüd^seligkeit der Nadtwelt zu befördern und zu besddeunigen sucht.“ Das Wort „Fortschritt im programmatischen Sinn der Zeit läßt sich in Deutschland zum ersten Mal 1784 nachweisen, um bald im Sprachgebrauch selbstverständlich zu werden. In seinen Vorlesungen über das Zeitalter der Revolution, die Barthold Georg Niebuhr kurz vor seinem Tode, im Sommer 1829, an der Universität Bonn hielt, sagte er im Rückblick auf seine Jugend: „Das Gefühl des Vorwärtsschreitens, wenn auch an vielen Orten eines sehr langsamen, war über das ganze lebendige Europa verbreitet. Zugleich hatte man die Überzeugung, daß es moralisch besser würde. Oft sagten uns unsere Väter: , Wie leicht ist uns jetzt alles, wie leicht kann man zu allen Mitteln der Belehrung gelangen, und wie viel besser gekleidet, wie viel wohlhabender sind jetzt alle. Und sie priesen uns glüddich, in dieser Zeit geboren zu sein.“ Hierin ist die Glücksstimmung des emporsteigenden Bürgertums leicht zu erkennen, auch die Verdunkelung des christlichen Menschenbildes. Es ist richtig beobachtet worden, daß der Fortschrittsgedanke in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die „drei Hauptrichtungen des europäischen Denkens'beherrschte: den rationalistischen Liberalismus, den revolutionären Sozialismus und den transzendentalen Idealismus. „Er erweckte alle Begeisterung und allen Glauben einer Religion“ (Chr. Dawson).

Wie diese Denkweise auch in die kirchliche Verkündung eindrang, zeigen viele Predigten des 19. Jahrhunderts von der Aufklärung bis zum späten Liberalismus, insbesondere solche, in denen die Erlösungsbitte des Vaterunsers behandelt und im Sinne der Fortschrittshoffnungen aus-gelegt wurde. Ins Moralische gewendet, sagte der bekannte Kanzel-redner Joh. Heinrich Dräseke, seit 1814 Pfarrer in Bremen, der Mensch brauche dem Bösen keineswegs zu verfallen: „ . . . bey einem klaren, tnit vollem Bewußtsein thätigen Geiste, bey reger, lebendiger Achtung für das Wahre, Sdiöne und Gute kommt es dahin mit keinem Mensdten, ist es nodt mit Niemand dahin gekommen . . . Wer da fühlt, was er als Mensd-t vermöge und solle, — auf diesem Gebiete ist er unbesiegbar!“ Die Verharmlosung des Bösen konnte in der aufgeklärt-idealistischen Predigt so befremdliche Formen annehmen wie in den „Beruhigungsgründen“ des Leipziger Theologieprofessors Joh. G. Rosenmüller (t 1815), der in einer noch 1830 gedruckten Musterpredigt sagte:

„Audi hier zeigte sidt, was die Gesdtichte aller Zeiten gelehrt hat: daß das Böse, wenn es zu einem merklichen Grad von Größe gestiegen ist, eine heilende Wirkung bekommt und ein A 4ittel zu einem weit überwiegenden größeren Gute werden muß.“ Der Kulturprotestantismus der zweiten Hälfte des Jahrhunderts setzte das Gottesreich ausdrücklich dem „Idealzustand der Menschheit und der Welt“ gleich, sah den Weg dahin in der sittlichen Erneuerung der Menschheit gewiesen und stellte dem Kampf gegen die Mächte des Bösen das Ziel einer „Ausrottung des Übels“.

Vom schwärmerisch-idealistischen Kulturchristentum zum utopischen Sozialismus ist gedanklich wenig mehr als ein Schritt. Moses Heß, ein jüdischer „ekstatischer Denker“ menschlich hohen Ranges, von dem Marx vorübergehend Eindruck und Anstoß empfing, sah im Christentum „prophetisch und phantastisch“ in Aussicht gestellt, was der Kommunismus zu erfüllen vermag: „Wir werden aber diesen Himmel auf Erden haben, wenn wir nicht mehr in Selbstsudit, im Hasse, sondern in der Liebe, in der einigen Menschengattung, in der kommunistischen Gesellschaft leben.“ Diese Denkform ist als chiliastisch gekennzeichnet worden. Man darf aber nicht aus dem Auge verlieren, daß ein Strom von Erwartung das ganze bürgerliche 19. Jahrhundert durchzog.

Mit geästes-und sozialgeschichtlichen Tatsachen allein ist diese Fortschrittsgewißheit nicht ausreichend zu erklären; man muß zugleich auf den Strukturwandel im ganzen hinweisen, der sich infolge der technischen Fortschritte vollzog. Ein rasches Voranschreiten in der Natur-beherrschung ist ebensowenig zu bestreiten wie die zunehmende Mobilisierung aller Lebensgüter. Der Fortschritt war nicht nur ein Wahn, sondern in bestimmten Beziehungen eine echte Erfahrung. Es ist kein Wunder, daß dieses Erlebnis sich in soziale Reformforderungen umsetzte.

Auf diesem Boden sind die französischen und englischen sozialistischen Theorien der Zeit zwischen den Revolutionen entstanden, die Systeme Fouriers, Proudhons u. a., die K. Marx als den „utopischen Sozialismus diffamiert hat.

In weitem Umfang waren soziale Neubildungen und Neuregelungen möglich und notwendig geworden, und konstruktive Vorschläge zu einer wirtschaftlichen und sozialen Umgestaltung entsprachen an sich nur den Veränderungen der wirklichen Welt. K. Löwith greift einen Ausdruck von J. Plenge auf, der das Neue in der Geschichte des 19. Jahrhunderts zu umschreiben versucht: erst nach Hegels Tod habe der „Ausbruch der Energien“ eingesetzt, der die Welt verändert hat, „die Überwindung von Zeit und Raum durdi die Technifikation der Welt“. Früher und schärfer als alle hat das Karl Marx erkannt. „Marx hat richtig gesehen“, läßt Gollwitzer in seinem bekannten Buch einen Gesprächspartner sagen, „daß dieses . Soziale’ durch die Tedinik möglich geworden ist, während es früher eine Utopie war.“

In einer — bisher noch ungedruckten — Göttinger Dissertation (von W. Rohlfing) ist gezeigt worden, wie der Fortschrittsglaube im Wilhelminischen Zeitalter in allen Schichten des deutschen Volkes unabhängig von ihrer geistig-sozialen Einordnung herrschte. Die Bürgschaft für den Fortschritt schien die Technik zu bieten. Kein Geringerer als Gustav Schmöller verkündete 1904: „Es wird eine Zeit kommen, da alle guten und normal entwicl^elten Menschen einen anständigen Erwerbstrieb und das Streben nach Individualität, Selbstbehauptung, Ichbejahung verstehen werden zu verbinden mit vollendeter Gerechtigkeit und höchstem Gemeinsinn. Hoffentlich ist der Weg dazu nicht so lang wie der war, der von den Brutalitäten der körperlichen Kraftmenschen zum heutigen Kulturmenschen führte.“ Friedrich Naumann forderte, auch die Christen müßten an den Fortschritt glauben, sonst habe die Arbeit nichts Sittliches und nichts Enthusiastisches (1893). Der Fortschrittsglaube sei in dreifachem Sinn Urelement „aller freien Religion“: als Glaube an einen sittlichen Fortschritt der ganzen Menschheit, an die besondere Aufgabe der einzelnen Völker in diesem Menschheitsfortschritt, an den Wert jedes Einzelmenschen für den Menschheitsfortschritt (1909).

Ein historisches Phänomen von großer allgemeiner Bedeutsamkeit ist die Dynamik der Zukunftserwartung im vorrevolutionären Rußland, eine tragende Grundstimmung, die sich keineswegs auf die revolutionären Kreise und Gruppen beschränkte, sondern alles erfüllte, was die Umgestaltung des Staates erstrebte. Die Kritik an der Monarchie und ihren Methoden hätte nie so allgemein werden und eine solche Wirkung ausüben können, wenn dahinter nicht ein Fortschrittsglaube gestanden hätte, der stärker war als Skepsis, Enttäuschung und alle Widerstände.

Nachdenklich machen kann einen dabei die Erwägung, daß der Elan, der die Umgestaltung unhaltbar gewordener Sozialverhältnisse schließlich erzwang, aus dieser Gewißheit der Besserungsmöglichkeit gespeist wurde. Es hat den Anschein, daß wirkliche Fortschritte eben dank des Glauben an den Fortschritt erzielt wurden. Das Manifest des letzten russischen Kaisers vom Oktober 1905, das den Bewohnern seines Reiches u. a. die bürgerlichen Freiheiten versprach, löste in ganz Ruß-land den größten Jubel aus und schien zu bestätigen, daß Fortschritte möglich waren, wenn die öffentliche Meinung sie einmütig und nachdrücklich forderte. Der Historiker wird zu fragen haben, ob wir einen solchen historischen Mechanismus voraussetzen dürfen. Offenbar sind doch die geschichtlichen Abläufe viel komplizierter und schwerer nach-zuzeichnen, als daß man die Veränderungen so, wie sie tatsächlich geschehen sind, auf den fortschrittsgläubigen Veränderungswillen zurückführen könnte.

Wiederentdeckung des Menschen

Es scheint mir geraten, daß wir uns von der Tiefe und Mächtigkeit der Fortschrittstradition eine deutliche Vorstellung machen. Der kommunistische Fortschrittsglaube ist nicht ein Propagandaerzeugnis des Leninismus oder Stalinismus, sondern ein Erbteil des alten Europa. Freilich:

Das Problem des Fortschritts in der Geschichte, der Geschichte als Fortschritt stellt sich uns anders als den vielen Generationen, die den technischen Fortschritt vorausahnten oder als großen Durchbruch erlebten. Wir, Zeitgenossen der Mitte des 20. Jahrhunderts, haben uns mit ihm eingerichtet und eingelebt und sind von den einander überbietenden Errungenschaften nicht mehr so beeindruckt wie unsere Großeltern. Wir halten sehr vieles schon für selbstverständlich, sehen auch in überraschenden Konstruktionen und Projektionen nur die Konsequenz der früheren und sind bereit, weitere technische Anwendungen vorwegnehmend einzukalkulieren. LImwälzende Verfahrensweisen, wie sie bei der technischen Verwertung der Atomenergie in Aussicht stehen, erscheinen nur noch als eine Frage der Zeit. Wer ein Telegramm aufgab, sich von Kurzwellen eine Rede oder eine Melodie zuspielen ließ, eine schmerzstillende oder schmerzverhütende Injektion nicht ablehnte oder auch nur seine Schreibtischlampe einschaltete, würde sehr gedankenlos handeln, wollte er den Fortschritt der Naturbeherrschung in Abrede stellen oder gering achten oder für einen Irrweg halten, von dem wir zurückkommen müßten.

Wir fahren alle auf dieser Straße, und zwar in einer einzigen Richtung. Wir kennen ihr Ende nicht und wissen nicht, ob die Visionen im 8. und 9. Kapitel der Offenbarung des Johannes eine dichterische Exaltation oder eine Ankündigung kommender Wirklichkeit sind — was die Posaunen der sechs Engel bewirken, liest sich wie eine Schilderung des Grauens von Hiroshima. Nur eins können wir wissen: daß die Geschichte ein nicht umkehrbarer Prozeß ist, daß ihr Fortgang eine Richtung hat, mithin wohl auch ein Ziel. Wäre der Ausdruck „Fortschritt“ nicht mit so viel Irrtum und Illusion beladen, so könnte er dazu mithelfen, den Einbahncharakter der Geschichte deutlich zu machen. Angesichts dessen, daß der Begriff Progreß wortgeschichtlich festgelegt worden ist, halten wir uns lieber an andere Worte mit der Vorsilbe „pro“: Prozeß, vielleicht auch Procursus. Der Fortschritt der Technik ist ein sinnenfälliges Abbild dessen, daß der Geschichtslauf richtungsbestimmt ist. Hans Freyer hat darauf aufmerksam gemacht, daß der Fortschritt nicht „eine bloße Idee", sondern „ein Modus des wirklichen Geschehens“ ist:

„Die Gesdiidtte geht zur Zeit wirklich zum guten Teil als Fortsdrritt vor sich.“ Viele ihrer Trends hätten den Charakter nicht nur des Fortschritts, sondern „den der unaufhaltsamen Kettenreaktion“.

Es ist m. E. wichtig, diese Einsicht festzuhalten. Vergleicht man die beiden Modelle miteinander, mit denen man sich seit den Griechen den Gang der Geschichte zu verdeutlichen gesucht hat, so ist die tiefere Wahrheit u. E. nicht bei der Zyklentheorie, der Lehre vom geschichtlichen Kreislauf, sondern beim Kern der Fortschrittsidee. Damit möchte ich auch Geoffrey Barraclough widersprechen, der in seiner 1947 in Shetfield gehaltenen Rede zwar mit Grund und Recht den „anmaßenden Fortschrittsglauben“ verwirft, mit dem ein Zeitalter sein Lebensgefühl zur Grundlage der allgemeinen Geschichtsdeutung machte, der sich aber ausdrücklich im Anschluß an die griechische Tradition und an Vico zum „frischen und heiteren Bild einer endlosen Bildung und LImbildung, einer Leistung ohne Ende“ bekennt. Wir würden gegenüber der Vorstellung des in sich zurücklaufenden Kreises mit seinen Annahmen von Parallelen und Wiederkehr das Bild des Pfeils bevorzugen, — freilich ohne damit etwas von der Idee des geschichtlichen Vorwärts und Aufwärts erneuern zu wollen.

Was uns daran hindert, den Fortschritt als Gesetz der Geschichte im Sinne einer menschheitlichen Höherentwicklung anzunehmen, ist die Wiederentdeckung des Bösen in der Geschichte. Man kann auch von einer Wiederentdeckung des Menschen sprechen. Alles entscheidet sich daran, als was wir den Menschen ansehen. In der materialistischen Anthropologie wird die „Seele“ als Funktion des Gehirns und werden Bewußtsein und Denken als Produkt der Materie erklärt. Der Mensch ist nicht ein durch seine Spontaneität charakterisiertes Kraft-und Handlungszentrum, sondern ein Funktionswesen, die Gesamtheit seiner gesellschaftlichen Beziehungen, mithin nur in der Dimension der Praxis zu erkennen und zu bewerten, selbst ein hochqualifizierter Prozeß, eingegliedert in die Totalität des geschichtlichen Weltprozesses, die als Spannungsfeld der gesellschaftlichen Kräfte begriffen wird. Die Kategorie der Ganzheit ist hier nicht ein persongründendes, sondern ein den Menschen einbegreifendes Prinzip. Der apersonale Mensch ist in Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Verhältnissen und den sie konstituierenden materiellen Bedingungen veränderlich. Ist die außerordentliche Plastizität des Menschen erwiesen, so kann diese Bildbarkeit zum politischen Prinzip gemacht werden. Es gibt deshalb politische Systeme, die bewußt darauf ausgehen, den Menschen zu instrumentalisieren, seine Kräfte unter Kontrolle zu nehmen, zu lenken und durch Einwirkungen verschiedener Art zu verändern, d. h. im Sinne der Planung zu verbessern. Die Verplanung des Menschen hat auch innerhalb eines geschlossenen Machtsystems Grenzen, aber die Erfahrung lehrt, daß die Anpassung in erstaunlichem Umfang möglich ist.

Wiederentdeckung des Menschen heißt demgegenüber: er ist nicht Werkstoff, der verbaut werden darf, sondern „Person“ in einem bestimmten und spezifischen Sinn von Einzigartigkeit, Unersetzlichkeit, Unvertretbarkeit. Die alten theologischen Begriffe heben den Menschen mit seiner Entscheidungsfreiheit und gewissensmäßigen Haftbarkeit von der ganzen übrigen Natur ab, indem sie ihm Gottebenbildlichkeit und Gotteskindschaft zusprechen. Für welche Auffassung vom Menschen wir uns entscheiden, ist eine Fundamentalentscheidung, aus der sich fast alles andere ergibt.

Wir können hier freilich nicht nüchtern genug sein. Es tut gut, eine ironische Bemerkung von Emmanouel Mounier im Ohr zu behalten, der in seinem bedeutenden Buch „La petite peur du XX. siede" 1948 daran erinnert, daß ein Teil der christlichen Welt „die Anliegen des bürgerlidien Zeitalters gefügiger zu den seinen gewadit“ habe, als der Glaube zu innerst gestattete, und dann fortfährt: „Diese Christen machen daher heute auch die Verzweiflung des eigentlich im Untergang befindlidten Bürgertums durch, wie sie früher seine Illusionen geteilt haben.“ Mounier warnt mit Recht vor der „Philosophie des Nachtrauerns“ als einer recht eigentlich reaktionären Denkweise. Es gäbe in der Tat einen Kurzschluß, wenn man den partikularen und zeitgenössischen Schmerz oder das Entsetzen einer leidgeprüften Generation rasch und befangen zur Grundlage düsterer allgemeiner Prognosen machte, Es wäre eine wenig verläßliche Basis, wollten wir unsere Anthropologie von subjektiven Eindrücken bestimmt sein lassen. Aber Eindrücke und Erfahrungen brauchen auch nicht verdrängt zu werden. Sie können das Bild vom Menschen bestätigen und korrigieren. In diesem Sinn wird ein 19 58 Levender mit größerem Nachdruck, mit mehr Anschauungsmaterial, mit radikalerer Selbstanalyse als manche Repräsentanten früherer Generationen bekennen: das Böse bleibt. Wir hätten es früher -hätten es immer wissen können. Der Mensch kann offenbar trotz aller Dauerbehandlung mit Erziehungs-und Ilmweltmitteln nicht gesteigert werden. Er kann nicht entschlackt werden. Er bleibt deshalb auch das größte Hindernis der Organisation (wie er ihr bestes Hilfsmittel ist). Von der christlichen Anthropologie her — unabhängig davon, ob sie einen Mantel exemplarischer Erfahrungen um sich hat oder ob sie eine nackte Aussage ist — muß ein tiefer Zweifel dagegen gesetzt werden, daß der Mensch nach einer fundamentalen LImbildung seiner gesellschaftlichen Lebensbedingungen zu einem Gemeinschaftswesen höherer Art gesteigert werden könne. Anders gesagt: daß die Selbstentfremdung des Menschen auf dem Wege über die gesellschaftliche Revolution aufgehoben und der Mensch durch die Totalveränderung der ihn bestimmenden Existenzbedingungen zu sich selbst befreit werden könne.

Das stärkste Argument zugunsten dieser Hoffnung und damit zugunsten einer Interpretation der Geschichte als Fortschritt ist der Hinweis darauf, daß es diesen Umbruch noch nie gegeben hat, daß es deshalb zum mindesten verfrüht sei, gegen die von ihm erwarteten Wirkungen kritische Zweifel spielen zu lassen. Was es heute in der kommunistischen Wirklichkeit gebe, sei überhaupt kein Einwand dagegen, weil zuerst abgewartet werden müsse, wie die neue Wirklichkeit, wenn sie es an konzentrierter und lebensmächtiger Umbildungskraft mit den jahrhundertealten Sozialverhältnissen und Denkgewohnten der bürgerlichen Welt endlich aufnehmen könne, die neuen Generationen formen werde. Damit wird die Frage freilich wieder aus dem Bereich der Empirie auf den Boden jener letzten unmittelbaren Anschauung des Geschichtsprozesses gerückt, die sich nur im Gesamt der menschlichen Lebensentscheidung gewinnen läßt.

Es genügt nun gar nicht, wenn wir — und sei es noch so aufmerksam — die Erfahrungsweisheit großer alter Historiker studieren und uns auf ihre Autorität berufen wollten. Ranke antwortete im September 18 54 in seinem ersten Berchtesgadener Vortrag vor König Maximilian von Bayern auf die Frage, wie der Begriff „Fortschritt“ in der Geschichte aufzufassen sei: im Bereich der materiellen Interessen sei ein Fortschritt anzunehmen, in moralischer Hinsicht lasse er sich nicht verfolgen: „Idt glaube . . . daß es in der moralischen Größe gar keine höhere Potenz giebt.“ Hiergegen könnte zunächst eingewendet werden, daß dem Historiker des 19. Jahrhunderts der Anblick der modernen ganzheitlichen Psychologie ebenso fehlte wie die Beobachtung des unerhörten Aufstiegs der bisher von der weißen Kolonialherrschaft ausgebeuteten Völker, jener Verwandlung, die aus den Unterdrückten nach der Beseitigung äußerer Fesseln und Schranken freie, entwicklungsfähige Partner der Weltkultur werden läßt. Ist nicht dieser Emanzipationsprozeß mit seiner großartigen Entbindung wirtschaftlicher, organisatorischer, geistiger Kräfte ein unüberhörbarer Appell, die Umgestaltung der äußeren Daseinsbedingungen mit all ihren ungeahnten Möglichkeiten ernstzunehmen? Das soll nicht abgewiesen werden; wir meinen schon zu wissen, daß die Formkraft des Sozialen lange unterschätzt worden ist und daß die technisch-organisatorischen Mittel zur inneren Umbildung des Menschen sowohl verfeinert als verstärkt worden sind. Aber es fragt sich, ob die Formel, die Ranke verwendet, die Wendung „in moralischer Hinsicht“, das ganze Problem trifft. Bei Ranke steht ein Kosmos sittlicher Begriffe dahinter, den wir viel zu selbstverständlich als menschliches Gemeingut voraussetzen. Es wird sehr schwer sein, sich über den Inhalt sittlicher Normen zu verständigen, wenn das Menschenbild so verschieden ist wie bei den konsequenten Verfechtern einer materialisti-sehen Seelenlehre und den Vertretern der ungebrochenen humanistischen Traditionen des Christentums. Nicht nur was „gut“ ist, wird verschieden definiert werden, auch über das „Böse“ wird sich kaum eine Einigung erzielen lassen (unbeschadet dessen, daß es im einzelnen viele Übereinstimmungen geben kann). Das stärkste Argument gegen die Annahme der Perfektibilität des Menschengeschlechts ist nicht die trübe Bilanz aller geschichtlichen Veranstaltungen — der ja immer entgegengehalten werden kann, daß das sozialistische Hauptexperiment noch nicht zu Ende geführt ist und daß man aus Zwischenstadien nicht voreilige Schlüsse ziehen darf —, sondern die autobiographische Erfahrung des einzelnen, die Beobachtung des eigenen Selbst, nicht die der andern; die Gewißheit, die durch nichts wankend gemacht werden kann, daß dieses Wesen, das ich als Mensch habe, insuffizient ist, daß mir das eigene Gewissen über die Unverbesserlichkeit des natürlichen Menschen ein Leben lang hinreichend Aufschluß gibt. Das Bewußtsein der Schadhaftigkeit und Schuldhaftigkeit des Selbst ist so durchdringend, daß es im eigenen Ich das genus humanum erfährt, ohne jegliches Verlangen, den persönlichen Befund durch Reihenuntersuchungen zu bestätigen oder zu verifizieren. Das Gewissen hat repräsentierende Kraft. Man kann es nicht aus der Fassung bringen, wenn man ihm sagt: sehr wohl, dein bourgeoises Gemüt mag solche Wallungen kennen, blick auf die neu herausgeformte fortschrittliche Jugend, sie leuchtet von der Kraft einer Moral, der das dumpfe Sündengefühl fehlt. Die Diskussion hierüber ist müßig: unsere Anthropologie ist nicht nur eine Wahrheit der Erkennt- sondern zugleich ein Modus des Existierens, die Evidenz zwingend durch den stets gegenwärtigen Anruf des Gewissens. Der christlich Glaubende wird hinzufügen müssen, daß seiner Einsicht nach das eigentlich Böse alles Moralische transzendiert und in der Trennung von Gott zu suchen sein wird.

Wiederentdeckung des Bösen in der Geschichte und im Menschen: das heißt zugleich, daß es politisch-historisch nicht mit derselben Schlüssigkeit lokalisiert werden kann, wie jeder einzelne es in seiner persönlichen, auf sich selbst zurückgewendeten Gewissenserforschung vermag. Jeder Versuch, die Sünde auf den menschlichen Gegner zu häufen, in der Person des Gegners zu inkarnieren, ist unglaubwürdig. Ferner aber: die Annahme, daß es dem Menschen möglich sein müsse, sein Wesen durch die Bereitstellung und Anwendung sozialer und mechanischer Formkräfte auf eine höhere (also Gott nähere) Stufe zu heben, ist im Widerspruch zu den Verheißungen, die den Unmächtigen, Kindhaften, Bittenden und Bedürftigen gelten. Wer die Selbstentfremdung des Menschen zutiefst als Gottentfremdung versteht, sieht sich außerstande, dieser Entfremdung durch eine menschliche Veranstaltung Herr zu werden. Es ist nicht von ungefähr, daß die Geschichtsauffassung des christlichen Glaubens ihren einfachsten Ausdruck in einem Gebet gefunden hat, das mit den beiden Bitten um das Kommen des Gottesreichs und die Erlösung vom Bösen in die Zukunft zielt, aber die Erfüllung nicht auf die Anspannung des menschlichen Willens gründet und nicht auf die irdische Existenz beschränkt.

Kein Optimismus, aber auch kein Pessimismus

Damit ist gesagt, daß der christliche Glaube die Geschichte eschatologisch versteht. Eschatologisch: im Wissen um ein Äußerstes, ein Ende der Dinge, in der Erwartung des Endgerichts, in der Hoffnung auf die Wiederkehr Christi. So gewiß diese Enderwartung zum Kern des christlichen Glaubens gehört, so schwierig ist es, sie über das Persönliche hinaus in ein Verhältnis zum geschichtlichen Denken zu setzen. In einem aufrichtigen und nachdenklichen Vortrag hat Wilhelm Kamlah zu Anfang unseres Jahrzehnts diese Verlegenheit bewußt zu machen gesucht (Die Verlegenheit dieser Zeit, in: Die Sammlung, 7. Jg. 1. H. Jan. 1952, S. 1 ff.). Er geht davon aus, daß der Fortschrittsglaube, der die „unaufhebbare Zweideutigkeit der menschlichen Natur“ verkannte, heute in Verfall geraten ist: „Die Skepsis an der gesckicktlicken Zukunft, einst (sdion seit Generationen) eine Sacke Weniger und Einzelner, ist heute in einer Breite wirksam wie wohl nie zuvor." Zwar weckten dieGrenzerfahrungen der Hoffnungslosigkeit wieder die Frage nach Gott und seinem rettenden Heil. Aber damit sei noch nicht die Bereitschaft verbunden, in die alte christliche Enderwartung zurückzukehren:

„als hätte der Mensch im Durchgang durch die extreme Profanität nun etwas verloren, was er ohne Unaufrichtigkeit sich nicht noch einmal wieder aneignen kann". „Die Menschen sind nicht mehr ebenso leicht bereit, an die Zukunft des Jüngsten Tages zu glauben, wie sie doch wieder bereit sind, auf die Wahrheit des Evangeliums von Gottes Gebot und Vergebung zu hören“. Man kann es dahingestellt sein lassen, einen wie breiten Ausschnitt aus dem zeitgenössischen Bewußtsein diese Diagnose trifft. Für den Zusammenhang, der uns hier beschäftigt, möchte ich daraus die Frage ableiten, wie sich die Geschichte mit eschatologischem Horizont heute denken läßt.

Mir scheint, daß zwei Feststellungen zur Klärung etwas beitragen können.

1. Eschatologie heißt nicht nur Zukunft, sondern auch Gegenwart, der kommende Christus ist der gegenwärtige Christus. Die Vorstellung ist in unser Zeitschema überhaupt nicht einzuordnen. Am Ende der Zeiten steht das kommende Reich, das die Vaterunser-Bitte meint, aber niemand vermag es mit dem Geschichtslauf zu synchronisieren. Niemand kann aus der Häufung apokalyptischer Merkmale, wie Katastrophenzeiten sie mit sich bringen, einen Schluß auf den Kalender oder die Zeitrechnung machen. Es kann morgen sein oder in Jahrtausenden, und es hat jedenfalls schon in der bekannten Geschichte begonnen. Das Außerzeitliche und Überzeitliche kann nicht in unsere Zeitbegriffe ausgenommen werden, ohne daß wir es unserem Denken angleichen und damit entstellen. Fr. Gogarten hat darauf aufmerksam gemacht, daß die theologische Forschung der letzten Jahrzehnte den eschatologischen Grundnis, charakter des ganzen Neuen Testaments entdeckt hat: man sah immer deutlicher, „das] die gesamte Verkündigung des Neuen Testaments in allen ihren Inhalten eine einzige Eschatologie ist“, freilich „die Erwartung der Zukünftigkeit Gottes... und nicht die einer die irdischen Möglichkeiten überbietenden Zukunft der Welt“. Weil es dieZukünftigkeitGottes ist, kann das Äußerste nicht adäquat gedacht werden, nur in der ahnenden Antithese der äußersten Gefahr und der letzten Rettung, wie sie die letzten Bitten des christlichen Hauptgebets andeuten. Sowohl die Erscheinung des Bösen als die vorausgehende Versuchung, vor der wir bewahrt bleiben, von deren Sog wir hinweggerissen werden wollen, sind Merkmale der Situation des letzten Tages, dessen chronologische Anordnung uns freilich verborgen ist.

2. Das Neue, das in unseren Tagen am Geschichtslauf zutage getreten ist, kann nicht wegdiskutiert werden: die Beschleunigung aller äußeren Verläufe (samt der damit verbundenen Vergeßlichkeit des Menschen) und die unaufhebbar gewordene globale Dimension. Daß das Tempo der Ereignisse sich erhöht hat, ist schwerlich nur ein subjektives Empfinden, und daß alles auf der Welt in interkontinentalen Reaktionen aufeinander wirkt, macht das Wesen der neuen Weltgeschichte aus. Dabei ist uns deutlich geworden, daß die wissenschaftlichen und technischen Aufgaben ebenso wie das soziale Ordnungs-und Steuerungsproblem fortbestehen, auch wenn der Fortschrittsmythos kraftlos geworden ist. Die „permanente Veränderung — schreibt W.

Kamlah — „bleibt auch dann eine Tatsache, wenn sie nicht mehr als Fortschritt'gewollt und gefeiert wird". Da die soziale Welt ein zwar mächtiges’und zähes, aber auch machbares und bewegliches Gefüge von Kräften geworden ist, muß ihre Gestaltung in die Verantwortung des Menschen ausgenommen werden. H. -D. Wendland spricht es in herausfordernden Worten aus: „Es ist doch wohl keineswegs gesagt, daß das große Losungswort von Karl Marx, wir hätten die Welt zu verändern, nur auf das Subjekt der Kommunisten zu beziehen wäre. Idt sehe nicht ein, warum diese Forderung, wir haben die Welt — und zwar die Welt der sozialen und politischen Institutionen — um des Menschen willen fortschreitend zu verändern, nicht auch auf das Subjekt der Christen, die christliche Gemeinde angewendet werden sollte, auf die in der Welt der Gesellschaft verantwortlich tätigen Christen in alhn weltlichen politischen, sozialen und ökonomischen Berufen. (Der verantwortliche Mensch in der verantwortlichen Gesellschaft, in: Offene Welt, Nr. 47 Jan. /Febr. 1957, S. 78). Wir können weder dem Schaffen noch dem Denken Grenzen ziehen. Wir dürfen es auch nicht. Es ist auch nicht so, daß der Christ die kleineren Pläne bevorzugen soll. Man darf nicht die bürgerliche Genügsamkeit für das spezifisch Christliche halten. Es gibt

Fussnoten

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