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Von Stalins Imperium zum hegemonischen Bündnis | APuZ 14/1967 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 14/1967 Von Stalins Imperium zum hegemonischen Bündnis

Von Stalins Imperium zum hegemonischen Bündnis

Boris Meissner

I. Die imperialen Konzeptionen Lenins und Stalins

Die vorliegende Abhandlung bildete das einführende Referat auf der interdisziplinären Fachtagung der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde im Oktober 1966 in Heidelberg. Sämtliche Referate dieser Tagung werden in Kürze unter dem Titel „Koordination und Differenzierung im europäischen Ostblock“ vom Kohlhammer Verlag, Stuttgart, veröffentlicht.

Nach der Oktoberrevolution benutzte Lenin die von ihm früher abgelehnte föderalistische Idee als Mittel, um das Russische Reich unter sowjetkommunistischen Vorzeichen wieder herzustellen Das „Sammeln der russischen Erde", das im Verlauf des Bürgerkrieges mit Methoden erfolgte, die zu dem von Lenin proklamierten Selbstbestimmungsrecht der Völker in einem deutlichen Widerspruch standen, konnte bis 1922 im großen und ganzen abgeschlossen werden. Nur Finnland, die „Randstaaten" Estland, Lettland und Litauen konnten an der Seite Polens ihre staatliche Unabhängigkeit behaupten.

Diese Entwicklung bot die Möglichkeit, nach vorheriger Herstellung konföderaler Bindungen die einzelnen kommunistisch regierten Sowjetrepubliken am 30. Dezember 1922 zu einem Bundesstaat, der „Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken", zu vereinigen. über die künftige Gestalt des neuen Imperiums gab es eine heftige Auseinandersetzung zwischen Lenin und Stalin. Während Stalin eine Einbeziehung der einzelnen Sowjetrepubliken in der Form von zweitrangigen autonomen Republiken in die stärker zentralisierte RSFSR plante, wollte Lenin ihre Eigenständigkeit durch eine formal gleichberechtigte Stellung mit der großrussischen Sowjetrepublik sichern.

Lenin hatte eine Zeitlang geschwankt, ob er den neuen Föderativstaat nicht „Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Europas und Asiens" nennen sollte. Diese regionale Begrenzung hätte seiner eigenen Überzeugung widersprochen. Er ließ sie daher weg. Das Fernziel, das er mit Hilfe der Weltrevolution anstrebte, waren die „Vereinigten Staaten der Welt". Daher hatte er 1915 die Forderung nach „Vereinigten Staaten von Europa", für die er zunächst nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges eingetreten war, bekämpft Für ihn bildete die Sowjetunion seit ihrer Begründung die antizipierte Form eines künftigen kommunistischen „Weltstaates" und damit die Vorstufe zum Endziel der „klassenlosen Gesellschaft". Die Sowjetföderation war in seinen Augen dazu berufen, alle übrigen Staaten schrittweise in sich aufzunehmen.

Gegen diese Auffassung hatte sich Stalin in einem bemerkenswerten Brief vom 12. Januar 1920 gewandt Er erklärte, daß die Form des „zentralisierten Sowjettypus der Föderation" als „Weg zur Internationalen Einheit“ für Nationalitäten mit staatlicher Tradition, vor allem, wenn sie niemals zum alten Rußland gehört hätten, nicht gangbar sei. Als Beispiel solcher künftiger Sowjetstaaten nannte er im europäischen Bereich Sowjet-Deutschland, Sowjet-Polen, Sowjet-Ungarn, Sowjet-Finnland. Im asiatischen Bereich erwähnte er die Türkei und Persien.

Stalin war der Auffassung, daß für diese Nationalitäten die annehmbarste Form einer Staatenverbindung die Konföderation, das heißt ein Staatenbund, sein würde.

Der Vorschlag Stalins erfolgte zu einem Zeitpunkt, wo die Sowjets noch große Hoffnungen auf die Weltrevolution und damit auf eine Ausdehnung des Sowjetsystems auf große Teile Europas und Asiens setzten. Nachdem sich diese Hoffnungen nicht erfüllten, konzentrierte sich Stalin auf den inneren Aufbau. Unter ihm ging die weltrevolutionäre Zielsetzung eine enge Verbindung mit dem russischen Nationalismus in totalitären Formen ein Seit 1934 wurde der Sowjetpatriotismus zu einem integralen Bestandteil der Sowjetideologie. In seinem Zeichen erfolgte am Vorabend des Zweiten Weltkrieges die Annexion der baltischen Freistaaten Estland, Lettland und Litauen, der vorwiegend von Ukrainern und Weißrussen bewohnten östlichen Provinzen Polens sowie von Teilen Finnlands und Rumäniens.

Im Verlauf des Krieges gegen die Deutschen, der als „Großer Vaterländischer Krieg" gekennzeichnet wurde, erlaubte der Rückgriff auf das russisch-nationale Erbe, den Bestand des Imperiums zu wahren. Er führte aber zugleich zu einem solchen Übergewicht des russischen Nationalismus, daß damit die weltrevolutionären Bestrebungen der Sowjetmacht immer stärker den Charakter eines russischen Weltherrschaftsstrebens annahmen.

Die Ausdehnung der kommunistischen Herrschaft auf große Teile Europas und Asiens schien die Chancen für eine bedeutende Ausweitung des bestehenden Sowjetimperiums zu eröffnen. Interessanterweise zögerte Stalin, die von ihm selbst empfohlene Form der Konföderation auf die Verbindung der Sowjetunion mit den „Ländern der Volksdemokratie" anzuwenden. Er zog es vor, zunächst ein kommunistisches Staatensystem auf national-staatlicher Grundlage zu errichten, das im europäischen Bereich der unbeschränkten Befehlsgewalt Moskaus unterlag und damit in faktischer, wenn auch nicht in rechtlicher Hinsicht eine neue größere Gestalt des Sowjetimperiums darstellte.

Die ideologische Begründung für ein kommunistisches Staatensystem, wie es weder Marx noch Lenin vorgesehen hatten, bot Stalins Lehre von der „sozialistischen Nation", die er 1929 entwickelt hatte und die vor allem zur theoretischen Begründung eines „sozialistischen Patriotismus" diente Die Unterscheidung von bürgerlichen und sozialistischen Nationen schloß zugleich die Möglichkeit des Nebeneinanderbestehens von bürgerlichen und sozialistischen Nationalstaaten ein. Entscheidend war für Stalin der Gesichtspunkt, daß das kommunistische Staatensystem, in dem er die Übergangsform zu einer engeren föderalen Staatenverbindung erblickte, von einem Zentrum, das heißt von Moskau straff gelenkt wurde und damit monolithischen Charakter besaß.

II. Die Herrschaftsstruktur des Ostblocks unter Stalin

Die kommunistische Machtergreifung in Ost-mitteleuropa wurde möglich, da in diesem Raum ein völliger Zusammenbruch des bisherigen Staatensystems erfolgt war, wie es sich unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg herausgebildet hatte. Die kommunistische Machtergreifung in Ostasien ist dagegen in einem engen Zusammenhang mit dem allgemeinen Entkolonisierungsprozeß zu sehen. Im ostmitteleuropäischen Bereich verdanken die kommunistischen Regime in den meisten Fällen der sowjetischen Intervention ihre Entstehung. Von sowjetischer Seite wird offen zugegeben, daß die meisten „Länder der Volksdemokratie“ bei der kommunistischen Machtergreifung für ein sozialistisches System im marxistischen Sinn nicht reif gewesen sind. Wenn trotzdem unter überspringung der kapitalistischen Entwicklungsstufe der Griff nach der Macht erfolgte und ein beschleunigter Aufbau des „Sozialismus" in die Wege geleitet wurde, so war dieses die unmittelbare Folge des mit Hilfe der Roten Armee durch-geführten revolutionären Strukturwandels. Der sowjetische Parteiideologe Konstantinow bemerkt hierzu: „Dank der Sowjetarmee konnte sich das volks-demokratische Regime in diesen Ländern ohne nennenswerte Aufstände und Bürgerkriege konstituieren und festigen. ... Auf diese Weise löste die siegreiche Diktatur des Proletariats in jenen Ländern in der Form der volksdemokratischen Macht die Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Republik, schickte sich an, auch die Aufgaben der sozialistischen Revolution zu lösen und machte sich an den Aufbau des Sozialismus. Die Existenz der Sowjetunion und ihre Hilfe haben entscheidende Bedeutung in der Entwicklung der Volksdemokratien auf ihrem Wege zum Sozialismus."

In einem Brief Stalins und Molotows an Tito wurde die Rolle der Sowjetarmee bei der Befreiung Jugoslawiens und der Machtergreifung der jugoslawischen Kommunisten besonders hervorgehoben. Dann folgte der bemerkenswerte Satz: „Unglücklicherweise hat die Sowjetarmee den französischen und italienischen kommunistischen Parteien eine solche Hilfe nicht gegeben, nicht geben können."

Dieser Brief mußte die jugoslawischen Kommunisten besonders reizen, da sie sehr stolz darauf waren, den größten Teil ihres Landes selbst freigekämpft zu haben. Die Bedeutung des oben zitierten Satzes liegt in dem offenen Eingeständnis, daß dem sowjetischen Expansionsstreben theoretisch keine Grenzen gesetzt sind.

Nach der Machtergreifung erfolgte die Bildung des „Ostblocks" auf drei Wegen:

Erstens durch die Angleichung der inneren Struktur der „Länder der Volksdemokratie", unter Einschluß der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands, an das sowjetische Modell — ein Prozeß, den wir als „Sowjetisierung" zu bezeichnen pflegen zweitens durch die Heranbildung einer hegemonial-imperialen Ordnung, gekleidet in die Rechtsformen eines sehr vielgestaltigen zwischenstaatlichen Vertragssystems drittens durch eine schrittweise politisch-militärische, wirtschaftliche, rechtliche und kulturelle Integration, die sich allerdings haupt-sächlich im europäischen Bereich des Ostblocks vollzog

Im Rahmen der „volksdemokratischen Revolution" werden von sowjetischer Seite zwei Phasen unterschieden.

Die „revolutionär-demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern" der ersten Entwicklungsphase ist durch eine keineswegs homogene „Blockpolitik" bestimmt und beruht auf der Zusammenarbeit von sozial heterogenen Kräften, einschließlich der schwankenden mittelständischen Schichten und der unzuverlässigen „Nationalen Bourgeoisie".

In der zweiten Entwicklungsphase ändert sich diese Lage grundlegend. Nach Ausschaltung der bürgerlichen Elemente aus der politischen Führung wird die „Blockpolitik" durch eine „Bündnispolitik" ersetzt, die vor allem auf dem Klassenbündnis der Arbeiter und Bauern beruht.

Die „Volksfront" in ihrer jeweiligen Gestalt (Nationale Front, Vaterländische Front usw.) wird zu einem geschlossenen Block unter Führung der inzwischen geschaffenen proletarischen Einheitspartei umgeformt. Das entscheidende Kennzeichen des zweiten Stadiums und damit auch der „Diktatur des Proletariats" ist der Übergang zur totalitären Einparteiherrschaft — auch wenn das Mehrparteiensystem im Rahmen der „Volksfront" formal beibehalten wird —, die Verstärkung der Repressiv-gewalt des volksdemokratischen Staates und der Umsturz der sozialen Verhältnisse durch den Aufbau des „Sozialismus".

Stalin hat seinerzeit die Umwandlung der Komintern in eine totalitäre Weltpartei nach dem Vorbild des von ihm geschaffenen Herrschaftssystems in der Sowjetunion durchgeführt. Die gleiche Herrschaftstechnik wandte er auch im Ostblock an.

Die Partei bildete für Stalin eine der beiden Hauptsäulen seines Herrschaftssystems.

Im Verhältnis zu den regierenden kommunistischen Parteien in den einzelnen „Ländern der Volksdemokratie" strebte er anfangs ein ähnliches Verhältnis völliger Unterordnung an, wie es sich in der Komintern herausgebil-det hatte. Die alten Kominternfunktionäre, die an einen unbedingten Gehorsam gegenüber der Moskauer Zentrale gewöhnt waren, bildeten für Stalin die Garantie, daß seine Befehle tatsächlich befolgt wurden. Bei Männern wie Bierut in Polen oder Gottwald in der Tschechoslowakei, Rakosi in Ungarn, Dimitrow und Tscherwenkow in Bulgarien traf dieses zu, wenn Dimitrow teilweise auch eine sehr eigene Linie verfolgte. Bei Tito irrte sich aber Stalin. Es gelang ihm auch nicht, ihn durch eine Palastrevolution zu stürzen.

Das eindringlichste Beispiel dafür, wieweit diese Beherrschung der einzelnen kommunistischen Parteien im ostmitteleuropäischen Bereich durch Stalin ging, war aus einem Vorfall im Sommer 1947 zu ersehen, als Stalin eine von Gottwald geführte tschechoslowakische Delegation zwang, nicht nach Paris zu fahren, um an den Verhandlungen über die Marshall-Plan-Hilfe teilzunehmen. Wie es bei derartigen Gelegenheiten in Moskau zuging, haben Dedijer und Djilas plastisch geschildert

Das im September 1947 unter maßgeblicher Beteiligung Shdanows errichtete Kommunistische Informationsbüro diente dem Kreml als Instrument, um die Tätigkeit der Kommunistischen Parteien in Europa besser zu koordinieren. Nach dem Konflikt mit Tito, der das Ausscheiden Jugoslawiens aus dem Ostblock zur Folge hatte, ist das Kominform von Stalin fast gar nicht benutzt worden. Er richtete jetzt sein Hauptaugenmerk darauf, alle eigenständigen Persönlichkeiten aus den Führungen der Satellitenparteien zu entfernen bzw. sie liquidieren zu lassen. Die Säuberungen ließen erkennen, daß Stalin von nun an nur bereit war, Satrapen um sich zu dulden, die bedingungslos seine Autorität anerkannten. Von einer gemeinsamen Repräsentation der regierenden Kommunistischen Parteien konnte im stalinistischen System keine Rede sein. Die einzelnen Parteiführer hatten nur die Möglichkeit, ihre Sonderinteressen unmittelbar gegenüber Stalin geltend zu machen. Dieser nahm für sich ein „Investiturrecht'1 in das Anspruch, heißt die Befugnis im Sinne des „Nomen-klatur-Systems", die wichtigsten Herrschaftspositionen im Satellitenbereich zu besetzen.

Die Partei war in diesem stalinistischen System, das auf dem Führerprinzip beruhte, nicht die alleinige Klammer, die den Ostblock zu einer monolithischen Einheit zusammenfügte. Die Staatspolizei bildete die zweite Haupt-säule dieses Systems. Zwischen der OGPU-NKWD und dem Kominternapparat bestand immer eine sehr rege Verflechtung. Diese wurde von vornherein auch in den Volksdemokratien angestrebt. Unter den sowjetischen „Beratern", die zur Kontrolle der wichtigsten Zweige des öffentlichen Lebens in die Volksdemokratien entsandt wurden, fiel den „Beratern" auf dem staatspolitischen Sektor eine Schlüsselstellung zu.

Welche entscheidende Rolle sie in Polen gespielt haben, wissen wir aus dem Bericht von Josef Swiatlo, des stellvertretenden Leiters der Abteilung 10 des polnischen Staatssicherheitsministeriums, die parteipolitische Abwehraufgaben zu erfüllen hatte. Swiatlo floh im Dezember 1953. Seine Enthüllungen hatten eine Reorganisation des gesamten polnischen Staatssicherheitsapparates zur Folge. Die 10. Abteilung war die Zentrale, in der das gesamte kompromittierende Material, über das ein Würdenträger des Regimes oder der Partei gegen einen anderen Würdenträger des Regimes oder einer Partei verfügte, aufbewahrt wurde. Die einzige Ausnahme bildete Bierut, dessen Akte in Moskau deponiert war. Es gab keine Partei-und Staatsgeheimnisse, in welche die Abteilungsleitung nicht eingeweiht war. Ihre Aufgabe war es, allen ausländischen — das heißt nichtsowjetischen — Einfluß in der Vereinigten Polnischen Arbeiter-Partei aufzuspüren und auszumerzen sowie Beweismaterial gegen Parteimitglieder zu beschaffen. In ihrem Auftrage verhaftete Swiatlo 1951 Gomulka und Spychalski. Der ganze Staatssicherheitsapparat (einschließlich der 10. Abteilung) stand unter der ausschließlichen Kontrolle des sowjetischen Hauptberaters beim Staatssicherheitsminister Radkiewicz, General Laiin.

Swiatlo schilderte folgendermaßem die damalige Situation Polens: „Polen wird ausschließlich von Moskau regiert. Eine direkte Befehlslinie führt vom Kreml bzw.dem Politbüro der KPdSU über die sowjetischen Berater im polnischen Sicherheitsministerium und den sowjetischen Botschafter in Warschau. Auf dieser Ebene wer-B den die Entscheidungen gefällt und die Anordnungen erlassen. Bierut und das Politbüro der PZPR, Rokossowskij und das Sicherheits-ministerium sind die Befehlsempfänger, die ausführenden Organe."

Swiatlo betont, daß die Generallinie auf Konferenzen in Moskau festgelegt wurde, bei denen gewöhnlich Stalin und später Malenkow den Vorsitz führte. Die polnische KP wurde durch Bierut vertreten, der meist von Berman und Mine begleitet wurde. Alle politischen Anordnungen ergingen gemäß dem Führerprinzip nur an Bierut, während die militärischen Anordnungen vom sowjetischen Generalstab unmittelbar Marschall Rokossowskij zugeleitet wurden.

Das Verhalten der sowjetischen „Berater" in Jugoslawien, wo der sowjetische Geheimdienst begann, jugoslawische Parteimitglieder, Staatsfunktionäre und Offiziere „für die große Friedensmacht der Sowjetunion" anzuwerben, hat wesentlich zum Konflikt Titos mit Moskau beigetragen.

Die Armee hat bei der Errichtung der meisten Volksdemokratien, wie wir bereits sahen, eine entscheidende Rolle gespielt. Als Herrschaftsinstrument hatte sie Stalin nicht unter die gleiche Bedeutung wie Partei und Staatspolizei. Einen besonders starken Einfluß übte der Kreml bis zum Oktoberumschwung 1956 auf die polnische Armee aus. Im November 1949 der Sowjetmarschall wurde Konstantin Rokossowskij zum Oberbefehlshaber der polnischen Armee, Verteidigungsminister und Mitglied des Politbüros der polnischen KP ernannt Die militärische Bindung der einzelnen Länder beruhte in dieser Zeit allein auf dem Besetzungsrecht oder zweiseitigen Abkommen.

Die Wirtschaft spielte als Herrschaftsmittel unter Stalin nur eine zweitrangige Rolle. Die wirtschaftliche Abhängigkeit der Volksdemokratien ergab sich hauptsächlich durch die offenen und getarnten Formen kolonialer Ausbeutung.

Zu den offenen Ausbeutungsformen gehörten neben den übertriebenen Reparationsleistun-gn der ehemaligen Feindstaaten (insgesamt etwa 16, 5 Mrd. US-Dollar, davon 15, 5 Mrd. aus der SBZ) vor allem die gemischten sowjetischen Aktiengesellschaften, die Mikojan ge 5 Mrd. US-Dollar, davon 15, 5 Mrd. aus der SBZ) vor allem die gemischten sowjetischen Aktiengesellschaften, die Mikojan gemäß dem Bialer-Bericht selbst auf dem Juni-Plenum 1955 des ZK der KPdSU als Ausdruck sowjetrussischen Imperialismus bezeichnet hat 15). Auch Stalin gab in einem Gespräch mit Kardelj den Ausbeutungscharakter des SAG-Systems zu, indem er sagte, daß „die Gesellschaften nicht für ein alliiertes oder befreundetes Land wie zum Beispiel Jugoslawien in Frage kämen; sie seien nur gut für Satelliten" 16).

Für sowjetische Lieferungen hatten die Volksdemokratien Preise zu zahlen, die teilweise bei 70 v. H. über dem Weltpreis lagen. Durch Unterbewertung der meisten Satelliten-währungen gegenüber dem Rubel gelang es der Sowjetunion, sich innerhalb des streng bilateralen Zahlungsverkehrs mit den Volksdemokratien einseitige Vorteile zu verschaffen. Zusätzlich profitierte die Sowjetunion aus der unentgeltlich oder zu stark ermäßigten Gebühren erfolgenden Benutzung der Verkehrseinrichtungen und anderer Dienstleistungsbetriebe. Die Umschaltung des früher vorwiegend westlich Außenhandels der orientierten ostmitteleuropäischen Volksdemokratien auf die Sowjetunion und den Ostblock erfolgte durch den Abschluß mehrjähriger zweiseitiger und Handels-und Zahlungsabkommen durch die Vereinheitlichung des Außenhandelsverfahrens Im Jahre 1952 wickelten die RgW-Länder bereits über 70 v. H. ihres Außenhandels im Rahmen des Ostblocks ab.

Die Machtelite, die mit Hilfe der Sowjetarmee die Herrschaft in den Volksdemokratien erlangt hat, fühlte sich am Anfang unsicher und wies daher ein stärkeres Anlehnungsbedürfnis an die Sowjetmacht auf. Eine gewisse Solidarität der „Neuen Klasse" bildete sich vor allem dort heraus, wo es sich, wie im Falle der Tschechoslowakei, lediglich um die bürokratische Umformung bereits vorhandener mittelständisch-kleinbürgerlicher Schichten und im sozialen Aufstieg befindlicher proletarisch-bäuerlicher Bevölkerungsteile gehandelt hat. In der Tschechoslowakei und in Bulgarien wirkte sich außerdem eine gewisse russophile Tradition als integrierendes Element aus. In Polen, in Ungarn und bei den meisten Balkan-völkern war es das ungebrochene Nationalbewußtsein, das eine solche Solidaritätsbildung trotz gemeinsamer Interessen der herrschenden Gruppe verhinderte.

Zusammengehalten wurde das Ganze durch das ideologische Band, wobei dem „proletarisch-sozialistischen" Internationalismus eine besondere Bedeutung zufiel. Dieses Prinzip wurde unter Stalin ebenso wie in der Komintern im Sinne des „demokratischen Zentralismus“ ausgelegt. Es war Ausdruck der unbeschränkten Herrschaft, die vom Woshdj (Führer) im Rahmen des größeren Teils des Ostblocks ausgeübt wurde. Stalin war bestrebt, die bilateralen Beziehungen zu den einzelnen Satellitenstaaten möglichst eng zu gestalten, um dadurch das Übergewicht der Sowjetunion besser zur Geltung zu bringen. Die Errichtung eines deutschen Separatstaates in der Gestalt der „DDR" im Oktober 1949 bildete für ihn ein wichtiges Mittel, um ein Ausbrechen der Satelliten aus dem sowjetischen Machtbereich zu verhindern.

Auch die Gegenmaßnahmen des Westens, die durch das sowjetische Expansionsstreben ausgelöst wurden und zu einer bipolaren Mächte-gruppierung führen sollten wurden von Stalin dazu benutzt, den monolithischen Charakter des Ostblocks weiter zu verstärken.

Nach innen sind von Stalin alle Föderationspläne, die auf die Zusammenfassung einer größeren Anzahl von Ländern im ostmitteleuropäischen Bereich gerichtet waren, scharf bekämpft worden Seine Auseinandersetzung mit den Föderationsplänen Titos und Dimitrows hat die sowjetischen Annexionsabsichten gegenüber den Volksdemokratien deutlich werden lassen. Die Umwandlung des De-facto-Imperiums in ein De-jure-Imperium, das heißt die Einverleibung der Volksdemokratien in den Staatsverband, hat er trotzdem nicht gewagt. Selbst eine Konföderation schien ihm ohne vorherige Lösung der Deutschlandfrage zu riskant.

III. Die Führungsstruktur des Ostblocks unter den Nachfolgern Stalins

Für die Sowjetunion bedeutete die Schaffung eines monolithischen Ostblocks einen ungeheuren Machtzuwachs und eine Verstärkung ihrer äußeren Sicherheit. Auf der anderen Seite schloß die nationalstaatliche Struktur des Blocks die Möglichkeiten von Konflikten zwischen dem ideologisch übergeordneten Interesse der Sowjetunion und den nationalen Interessen der Satellitenstaaten nicht aus. Mit dem Wegfall der Autorität Stalins und der Auflockerung des totalitären Herrschaftssystems im Zeichen der „Entstalinisierung“ mußten diese Konflikte offen zutage treten und den Ostblock in seinen Grundlagen erschüttern. Auf den Oktoberumschwung in Polen und die Volkserhebung in Ungarn 1956 folgte 1958 die Auseinandersetzung mit China, die nach dem XXII. Parteikongreß der KPdSU im Oktober 1961 in Verbindung mit dem Fall Albanien den Charakter eines ersten Konfliks annahm. Im Sommer 1963 erfolgte mit den 25 Thesen Mao Tse-tungs eine weitere Zuspitzung. Gleichzeitig bahnte sich die Auseinandersetzung mit Rumänien an, die bis heute nicht beigelegt worden ist.

Chruschtschow bemühte sich, dieser Herausforderung durch den Ausbau des sowjetischen Paktsystems auf multilateraler und bilateraler Grundlage, durch veränderte Herrschafts-und Führungsmethoden und durch eine beschleunigte Integration zu begegnen. Im Mai 1955 erfolgte der Abschluß des Warschauer Paktes Der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (Comecon), der nach seiner Gründung im Januar 1949 unter Stalin keine wesentliche Rolle gespielt hatte, wurde 1954 reorganisiert und 1958 in seiner Tätigkeit wesentlich aktiviert Später sind noch weitere Gemeinschaftsorganisationen auf multilateraler Basis (Atomenergie, Eisenbahn, Schiffahrt usw.) errichtet worden. Der Ausbau des bilateralen Paktsystems wurde auf dem Gebiete der Wirtschaft, des Verkehrs, des Nachrichtenwesens, der Kultur, der Wissenschaft, der Sozialpolitik und des Rechts durch Abschluß zweiseitiger Verträge gefördert.

Der Kreml ist in den letzten Jahren außerdem bestrebt gewesen, die Bündnisverträge, die das Kernstück des bilateralen Paktsystems bilden, nicht nur zu erneuern, sondern auch auf die „DDR" auszudehnen Der Konflikt zwischen Peking und Moskau auf den an dieser Stelle nicht einzugehen ist, hatte eine Zweiteilung des Ostblocks zur Folge.

Im sowjetischen Machtbereich, der auch die Mongolei umfaßt, ist an die Stelle der stalinistischen Herrschaftstechnik ein flexibler Führungsmechanismus getreten, der mit einer Aufwertung der nationalen Souveränität der Bündnispartner verbunden gewesen ist. Dieser Wandel hat sich bei den einzelnen Klammern, die unter Stalin die monolithische Einheit des Ostblocks verbürgten, deutlich ausgewirkt. Die Partei ist weiter das entscheidende Bindeglied geblieben. Das Verhältnis zwischen dem Kreml und den Führungshierarchien der Gefolgsstaaten hat den früheren persönlichen Charakter eingebüßt. Die alte Kominterngarde ist mit Ausnahme Ulbrichts entweder durch den Tod ausgefallen oder durch die „Entstali-nisierung“ ausgeschaltet worden. Die bilateralen Parteibeziehungen sind daher viel stärker formalisiert worden und haben teilweise in Parteivereinbarungen ihren Niederschlag gefunden, die als eine wesentliche Ergänzung der zweiseitigen Staatsverträge anzusehen sind

An die Aussöhnung mit Tito im Mai 1955 schloß sich die Auflösung des Kominform im April 1956 an. Der Plan Chruschtschows, eine neue Komintern zu errichten, ließ sich nicht verwirklichen. Die kommunistischen Gipfelkonferenzen von 1957 und 1960, die zu Recht als kommunistische Konzile bezeichnet worden sind, konnten die fehlende Gemeinschaftsorganisation nicht ersetzen. Vergebens war Chruschtschow auf ihnen bestrebt, die Geschlossenheit des Weltkommunismus wiederherzustellen Größere Bedeutung sollte den intersozialistischen Konferenzen der Ersten Parteisekretäre bzw.der Partei-und Regierungschefs, die meist vor den Tagungen der Warschauer Paktorganisation und des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe zusammenzutreten pflegen und die eigentlichen Entscheidungen fällen, zufallen. Insgesamt haben seit 1957 neun derartige Parteikonferenzen stattgefunden. Aber auch dieses wichtige Führungsgremium ist von oppositionellen Bestrebngen, die sich das Einstimmigkeitsprinzip zunutze gemacht haben, nicht verschont geblieben.

Das „Investiturrecht" läßt sich seit 1956 nur in den Parteien anwenden, bei denen, wie zum Beispiel im Falle der SED, ein besonders hoher Grad von Abhängigkeit vorliegt. Die Vereinigte Polnische Arbeiterpartei hat sich dem Versuch des Kremls, die personelle Zusammensetzung der polnischen Parteiführung nach dem Tode Bieruts zu beeinflussen, erfolgreich widersetzt

Selten hat sich die sowjetische Einmischung in die Angelegenheiten einer „Bruderpartei" so offen abgespielt wie bei der Intervention des sowjetischen Politbüros während des Oktoberumschwungs in Polen. Die Übernahme der Macht durch Gomulka konnte der Kreml trotz dieser Machtdemonstration nicht verhindern. Ähnliche Versuche, die Zusammensetzung einer anderen Parteiführung zu ändern, sind Chruschtschow auch bei China und Albanien mißglückt In dem einen Falle hatte er Marschall Peng Teh-huai gegen Mao Tsetung unterstützt, im anderen Falle sich bemüht, einen Sturz von Hodsha herbeizuführen

Die Staatspolizei ist in der Sowjetunion seit dem Sturz Berijas in ihren Befugnis-9 sen beschränkt und der Partei untergeordnet worden. Der Terror ist wesentlich vermindert worden. Die polizeistaatliche Struktur der permanenten Parteidiktatur ist an sich erhalten geblieben. Diese Entwicklung hat trotz ihres begrenzten Charakters zu einer wesentlichen Verminderung des Einflusses der sowjetischen Staatspolizei auf die Staatsicherheitsapparate der Volksdemokratien geführt. Nur in der „DDR" dürfte die Tätigkeit des sowjetischen Staatsicherheitsdienstes keinerlei Beschränkungen unterworfen sein. Infolge der Lockerung und des teilweisen Wegfalls der staatspolizeilichen Klammer steht dem Kreml nicht mehr das terroristische Mittel zur Verfügung, mit dem Stalin den unbedingten Gehorsam seiner Satelliten ohne Einsatz von Truppen zu erzwingen verstand.

Die Armee hat auf Grund dieser Entwicklung wesentlich an Bedeutung gewonnen. Durch die Warschauer Paktorganisation ist einerseits die militärische Bindung der ost-mitteleuropäischen Volksdemokratien von der Sowjetunion verstärkt, andererseits ihr militärisches Eigengewicht wesentlich vergrößert worden Darauf wird später noch einzugehen sein. Durch den Abschluß von vier Truppenverträgen 1956/57 mit Polen, der „DDR“, Ungarn und Rumänien ist eine Rechtsgrundage für die Stationierung der sowjetischen Streitkräfte in diesen Ländern geschaffen worden Sie ist nur im Falle von Rumänien hinfällig geworden. Nach der Abberufung Marschall Rokossowskijs ist der nationale Charakter der polnischen Armee wieder ganz hergestellt worden. In besetzten Ländern wie der „DDR“ und Ungarn sowie im mongolischen Protektorat ist die militärische Abhängigkeit besonders spürbar. Aber auch in Ländern, in denen keine sowjetische Truppen stationiert sind, wie der Tschechoslowakei und Bulgarien, sorgen sowjetische Beraterstäbe für eine konforme Ausrichtung der jeweiligen Armeen.

Die Wirtschait hat als Bindemittel ebenfalls an Bedeutung gewonnen. Das SAG-System ist nach dem Tode Stalins mit Ausnahme der Urangewinnungsbetriebe, wie der Wismut-AG in der Sowjetzone, aufgelöst worden. Die getarnten Ausbeutungsformen, von denen früher die Rede war, sind dagegen nur eingeschränkt worden. Durch die „internationale Arbeitsteilung" im Rahmen des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe wird zwar den natürlichen Gegebenheiten der einzelnen Nationalwirtschaften stärker Rechnung getragen als bei einer mechanischen Nachahmung des sowjetischen Modells, zugleich aber die Abhängigkeit der Volksdemokratien von der Sowjetunion verstärkt, da diese als einziges Land ihre allseitige Wirtschaftsentwicklung beibehält. Andererseits werden durch die engere Zusammenarbeit im Comecon der Sowjetunion größere Verpflichtungen auferlegt. Die Belastung der Sowjetunion mit der Brennstoff-, Rohstoff-und Materialversorgung der RgW-Länder macht sich in der letzten Zeit immer spürbarer bemerkbar. Von sowjetischen Fachleuten werden die sozialistischen „Bruderländer" beschuldigt, billige sowjetische Rohstoffe, die hohe Investitionen erfordern, gegen oftmals minderwertige Waren zu importieren, um die aus ihnen hergestellten Fertigerzeugnisse gegen harte Währung in den Westen zu exportieren

Trotz sinkender Zuwachsraten hat die Sowjetunion ihren Anteil an der Industrieproduktion des RgW in der Zeit von 1950 bis 1965 von 71, 00 v. H. auf 72, 84 v. H. erhöhen können”). Eine Zunahme läßt sich auch bei den weniger entwickelten Volksdemokratien feststellen. Der Anteil Polens vergrößerte sich von 6, 40 v. H. auf 7, 11 v. H., Rumäniens von 1, 91 v. H. auf 2, 42 v. H. und Bulgariens von 0, 86 v. H. auf 1, 46 v. H. Dagegen macht sich bei den industriell entwickelten Volksdemokratien eine umgekehrte Entwicklung bemerkbar. Der Anteil der Tschechoslowakei verringerte sich von 8, 90 v. H. auf 5, 89 v. H., der „DDR" von 8, 60 v. H. auf 8, 03 v. H. und Ungarns von 2, v. H. und 2, 25 v. H.

Zum Ausgleich für ihre oben erwähnten Leistungen fordert die Sowjetunion neuerdings eine Erhöhung der Roh-und Brennstoffpreise und langfristige Kredite der RgW-Partner für den Ausbau der sowjetischen Grundstoffindustrien. Die sowjetische Forderung richtet sich dabei vor allem gegen jene Länder, deren Anteil an der Industrieproduktion des RgW sich trotz ihres höheren industriellen Entwicklungsstandes vermindert hat. Sie kann besonders bei der Tschechoslowakei leicht zum Ausgangspunkt eines neuen Konflikts im Ostblock werden.

Die herrschende Machtelite ist in den meisten Volksdemokratien im Verlauf der Entstalini-sierung bemüht gewesen, die Verbindung zu den übrigen sozialen Gruppen und insbesondere zur Intelligenz zu festigen und stärker dem nationalen Interesse Rechnung zu tragen.

Wenn man vom SED-Regime absieht, das allein den sowjetischen Bajonetten seine Existenz verdankt, dürfte die Bindung an die sowjetische Hegemonialmacht von der „Neuen Klasse" meist als eine Art Rückversicherung empfunden und als solche bejaht werden.

Die ideologische Bindung hat unter den Nachfolgern Stalins an Bedeutung gewonnen, ist aber zugleich in der Wirkung schwächer geworden. Seit der „Entstalinisierung" wird der „proletarisdi-sozialistisdie Internationalismus" von sowjetischer Seite mehr im Sinne von Führung als von Herrschaft ausgelegt. Die Bereitschaft, mal in einem größeren, mal in einem geringeren Umfange die Autonomie der Gefolgsstaaten anzuerkennen, ist in der schwankenden sowjetischen Einstellung zur Lehre von den „verschiedenen Wegen zum Sozialismus" zum Ausdruck gekommen. Sie bildete den ideologischen Rahmen, in dem sich die Auseinandersetzung zwischen dem Sowjet-und Reformkommunismus abspielte

IV. Die Integrationspläne Chruschtschows sowie Breshnjews und Kossygins

Die Tendenz zum Polyzentrismus im Ostblock, die durch den Konflikt zwischen Peking und Moskau wesentlichen Auftrieb erhalten hat, und die Erfolge der wirtschaftlichen Integration Westeuropas im Rahmen der EWG haben Chruschtschow veranlaßt, die Integration Ost-europas beschleunigt voranzutreiben. Das bereits von Stalin verfolgte Ziel, die Hegemonie Moskaus im ostmitteleuropäischen Bereich schrittweise in Richtung eines Imperiums, das heißt einer absoluten Herrschaft auszubauen, wurde von Chruschtschow mit veränderten Methoden wieder ausgenommen. Diese Zielsetzung ist in dem neuen Parteiprogramm der KPdSU von 1961 deutlich zum Ausdruck gekommen.

Von sowjetischer Seite hofft man offenbar, über gewisse konföderale Zwischenformen („sozialistische Weltwirtschaft") zu einer föderativen Ordnung („kommunistische Weltwirtschaft") zu gelangen, zu einem geschlossenen Wirtschaftsraum auf der Grundlage eines einheitlichen Prciduktionsplanes. Chruschtschow vertrat im Herbst 1962 in einem programmatischen Aufsatz die Ansicht, daß es an der Zeit sei, die einzelnen Nationalwirtschaften allmählich zu einem „einheitlichen Produktionsorganismus" zu verschmelzen. Chruschtschow schrieb: „Das sozialistische Weltsystem hat einen solchen Punkt erreicht, da es schon nicht mehr möglich ist, die Perspektiven seiner Entwicklung auf der Grundlage einfacher mechanischer Summierung der nationalen Wirtschaften richtig festzulegen. Vor uns steht die Aufgabe, mit allen Mitteln die nationale Wirtschaft eines jeden Landes zu festigen, die Verbindungen zwischen ihnen zu entwickeln und allmählich die Schaffung eines solchen einheitlichen Wirtschaftsorganismus im Rahmen des gesamten Systems zu fördern, wovon Wladimir Iljitsch Lenin in solch genialer Voraussicht gesprochen hat."

Chruschtschow und seinen Mitarbeitern war durchaus bewußt, daß sich eine solche Großraumwirtschaft, die der einheitlichen Planung von einem Zentrum aus unterliegen würde, sich nur in einem staatlichen Rahmen, das heißt nach dem Abschluß der politischen Integration verwirklichen ließe. Auf diese enge Verknüpfung zwischen der politischen und wirtschaftlichen Integration hat der Leiter der internationalen Abteilung des Zentralkomitees der KPdSU, Miroschnitschenko, in einem Artikel im Organ des Wirtschaftsinstituts der Akademie der Wissenschaften der UdSSR im April 1964 besonders hingewiesen

Das wichtigste Instrument, um diese beschleunigte Integration herbeizuführen, bildete für Chruschtschow der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe.

Die organisatorische und rechtliche Verfestigung des RgW hatte unter ihm zunächst schnelle Fortschritte gemacht An die Stelle der Ländervertreter trat als neues Vollzugs-organ des RgW das Exekutivkomitee, bestehend aus den zuständigen Stellvertretenden Ministerpräsidenten der Mitgliedstaaten, dem wesentlich größere Vollmachten übertragen wurden. Die bisherigen Sekretariate der einzelnen Ständigen Kommissionen wurden in Abteilungen des Zentralsekretariats in Moskau umgewandelt. Mit dem Planungsbüro des Exekutivkomitees wurde eine Institution geschaffen, die nach dem Willen Chruschtschows später die Produktionsplanung für den gesamten Wirtschaftsraum des RgW übernehmen sollte.

Ende 1962 machte sich bereits der erste Widerstand gegen Chruschtschows Pläne einer einheitlichen „kollektiven Planung" und seine Vorstellungen von einer „internationalen sozialistischen Arbeitsteilung", die auf eine Benachteiligung der weniger entwickelten Partner hinausliefen, bemerkbar. Es war vor allem Rumänien, das sich für einen Vorrang der nationalstaatlichen Entwicklung einsetzte. Weder war es bereit, den Bau des Eisenhüttenkombinats Galatz zurückzustellen, noch wie bisher hauptsächlich Rohstoffe an die stärker industrialisierten RgW-Länder zu liefern. Die rumänische Delegation lehnte auf der 6. Sitzung des Exekutivkomitees des RgW in Warschau im Mai 1963 eine gemeinsame Wirtschaftsplanung im Rahmen des Comecon strikt ab. Im ZK-Beschluß der inzwischen in kommunistische Partei umbenannten Rumänischen Arbeiterpartei vom April 1964, der als eine rumänische Unabhängigkeitserklärung bezeichnet werden kann, hieß es: „Der Gedanke eines allen RgW-Ländern gemeinsamen einheitlichen Planungsorgans bringt äußerst ernste wirtschaftliche und politische Verwicklungen mit sich. Die planmäßige Leitung der Volkswirtschaft ist eine der grundlegenden, wesentlichen und unveräußerlichen Attribute der Souveränität des sozialistischen Staates, da der Staatsplan das Hauptinstrument ist, durch das dieser seine politischen sozialwirtschaftlichen und Ziele verwirklicht .. ."

Eine heftige Reaktion löste von rumänischer Seite auch der Vorschlag des sowjetischen Geographen Walew vom Februar 1964 aus, an der unteren Donau aus einem Teilgebiet der Anrainer Sowjetunion, Rumänien und Bulgarien einen übernationalen Wirtschaftskom-plex zu bilden. Diese Anregung mußte von den Rumänen als eine Wiederbelebung der Teilföderationspläne Stalins aus dem Jahre 1948 und der damit verbundenen sowjetischen Annexionsabsichten aufgefaßt werden

In der Anklagerede Suslows wurde Chruschtschow später der Vorwurf gemacht, er habe versucht, den einzelnen RgW-Ländern die Wirtschaftspolitik zu diktieren. Dadurch hätte er vor allem die Beziehungen der Sowjetunion zu Rumänien verschärft. Bei seinem Versuch, den Rumänen seine Vorstellung über einen Landwirtschaftsplan aufzudrängen, habe er einen persönlichen Streit mit Gheorghiu-Dej angezettelt, außerdem hätte er durch den Bau der Erdölleitung „Freundschaft" einen Konkurrenzkampf zwischen dem sowjetischen und rumänischen O 1 entfacht und damit Rumänien gezwungen, sich in seinen Handelsbeziehungen stärker nach dem Westen zu orientieren.

Das Bekenntnis der Nachfolger Chruschtschows zum neuen Parteiprogramm der KPdSU — von dem Zwanzigjahresplan abgesehen — zeigt, daß sie an der imperialen Zielsetzung festzuhalten gedenken. Bei ihrer Verwirklichung wollen sie nur vorsichtiger vorgehen. Im Unterschied zu Chruschtschow sehen sie dabei vorläufig den Warschauer Pakt als das wichtigste Instrument an, um die Integration des europäischen Teils des Ostblocks voranzutreiben. Der Warschauer Pakt diente in seinen Anfängen in erster Linie als ein organisatorisches Mittel, um die militäri-sche Präsenz der Sowjetunion in Ostmitteleuropa und die einheitliche Ausrichtung ihrer Gefolgsstaaten zu gewährleisten. Der Politische Beratende Ausschuß als das höchste Pakt-organ bildete dabei das Forum, um die aktuelle Zielsetzung der sowjetischen Außenpolitik darzulegen und außenpolitische Aktionen aufeinander abzustimmen. Der Umbruch im militärstrategischen Denken der Sowjetunion und die seit 1959/60 erfolgte Umstellung der Sowjetwehrmacht auf eine atomare Rüstung, deren Hauptteil die Raketenwaffen bilden, hatte eine Aufwertung des Warschauer Paktes in militärischer Hinsicht zur Folge Seit 1961 wurde eine Umrüstung der ostmitteleuropäischen Streitkräfte, die eine Gesamt-stärke von etwa 1 Mill, aufweisen, vorgenommen. Die Vereinheitlichung der Waffenausstattung und der gemeinsamen Ausbildung wurde weiter vorangetrieben. Im September 1961 fand die erste Tagung der Verteidigungsminister des Warschauer Paktes statt, die rein militärischen Fragen gewidmet war. Sie hat sich inzwischen zu einer ständigen Einrichtung entwickelt. Seit dem Oktober 1961 haben zehn größere gemeinsame Manöver der Vereinten Streitkräfte des Warschauer Paktes stattgefunden.

Je mehr sich Chruschtschow aus finanziellen Gründen zu einer wesentlichen Verminderung der konventionellen Streitkräfte der Sowjetunion gezwungen sah, um so wichtiger mußten die ostmitteleuropäischen Armeen für das sowjetische Oberkommando werden. Die Notwendigkeit, im Falle eines Atomkrieges ausreichende Streitkräfte an Ort und Stelle zu haben, und erst recht die Erfordernisse eines möglichen lokalen Krieges, dem die sowjetische Militärdoktrin größere Aufmerksamkeit zu schenken begann, ließen die militärische Bedeutung der sowjetischen Gefolgsstaaten für den Kreml weiter ansteigen.

Breshnjew und Kossygin haben sich gleich nach dem Führungswechsel aus den oben genannten Motiven die Forderung eines weiteren Ausbaues der ostmitteleuropäischen Streitkräfte zu eigen gemacht. In Verbindung damit strebten sie eine engere Integration der Vereinten Streitkräfte und ihre stärkere Unterordnung unter die sowjetische militärische Führung an. Außerdem sahen sie eine stärkere Beteiligung der Bündnispartner an den mit der Umrüstung verbundenen hohen Lasten als erforderlich an. Von dieser militärischen Problematik abgesehen schien die Warschauer Paktorganisation für Breshnjew und Kossygin ein geeigneteres Instrument als der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe, um die Hegemonie der Sowjetunion zu festigen und ihre Gefolgsstaaten zu größerer Disziplin und Einheit zu veranlassen. Nach der siebenten Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses am 17. und 18. Januar 1965 in Warschau war es vor allem Breshnjew, der in mehreren Reden eine Vervollkommnung der Organisation des War-schauer Paktes und die Schaffung eines entsprechenden Mechanismus forderte Er fand vor allem in der „DDR" und in der Tschechoslowakei Unterstützung. Sehr bald zeigte sich, daß es in erster Linie Rumänien war, das sich erneut gegen die sowjetischen Integrationspläne, diesmal auf militärischem Gebiet, wandte. Von Rumänien wurde nach der War-schauer Tagung die Militärdienstzeit von zwei Jahren auf 16 Monate gekürzt und von einer Teilnahme rumänischer Streitkräfte an gemeinsamen Manövern abgesehen. In einer Note an die anderen Paktmächte soll von rumänischer Seite ein Mitspracherecht bei der Planung und dem Einsatz sowjetischer Kernwaffen, eine stärkere Beteiligung aller Mitgliedstaaten am Vereinten Oberkommando und eine Entlastung von den Zahlungen für die sowjetischen Truppen in anderen Ländern gefordert worden sein

In einer programmatischen Rede am 7. Mai 1966 sprach sich der neue rumänische Parteichef Ceausescu für eine Auflösung der bestehenden Militärblöcke aus. Er sagte: „Eines der Hindernisse für die Zusammenarbeit zwischen den Völkern bilden die Militärblöcke, das Bestehen von Militärstützpunkten und die Stationierung der Streitkräfte einiger Staaten auf den Territorien anderer Staaten. Das Bestehen der Blöcke und die Entsendung von Truppen in andere Länder sind ein Anachronismus, der mit der nationalen Unabhängigkeit und Souveränität der Völker, mit normalen zwischenstaatlichen Beziehungen, nicht vereinbart ist"

Ceausescu lehnte die Leitung des Weltkommunismus durch ein Zentrum auf Grund der Erfahrungen mit der Komintern ab und betonte das Recht jeder Partei, ihre politische Linie selbst zu bestimmen Er erklärte, der Sinn des Kampfes der rumänischen Kommunisten habe in der Sicherung der nationalen Existenz des rumänischen Volkes bestanden, und kritisierte mittelbar die Annexion Bessarabiens durch die Sowjetunion.

Der Versuch Breshnjews, bei einem dreitägigen Besuch in Bukarest Ceausescu umzustimmen, hatte keinen Erfolg Bei der Geheim-Tagung der Verteidigungsminister des War-schauer Paktes in Moskau am 27. Mai und der anschließenden zweiwöchigen Konferenz der Außenminister am 6. Juni wurde deutlich, daß Rumänien eine Umwandlung des War-schauer Pakts in eine klassische Allianz anstrebte und seine Mitarbeit auf ein unabdingbares Minimum zu reduzieren gedachte. Der Verlauf der Tagung der Partei-und Regierungschefs der Warschauer Paktmächte in Bukarest (4. — 6. Juli 1966) hat deutlich gezeigt, daß es Breshnjew und Kossygin ebensowenig wie Chruschtschow gelungen ist, den rumänischen Widerstand zu überwinden.

Neuerdings ist der Kreml bestrebt, das Hauptaugenmerk seiner Integrationsbemühungen auf die nördliche Flanke seines ostmitteleuropäischen Machtbereichs zu richten.

V. Die besonderen Wesenszüge der sowjetischen Hegemonie im Ostblock

In der stalinistischen Periode ist von einigen Autoren darauf hingewiesen worden, daß der Ostblock eine ähnliche Herrschaftsstruktur aufweisen würde wie der Verband der Sowjetrepubliken vor der Errichtung der Sowjetunion Es wurde die Auffassung vertreten, daß nach dem inneren Staatsrecht des Ostblocks der Anschluß der Volksdemokratien an die Sowjetunion bereits vollzogen sei. Es wäre lediglich eine Frage der Zweckmäßigkeit, wann diese vom „sozialistischen Völkerrecht" verdeckte Tatsache in den überlieferten Formen des Rechts ihren Ausdruck finden würde. Heute neigt man teilweise dazu, den Ostblock, vom Sonderfall der „DDR" abgesehen, als ein System souveräner Staaten, die lediglich eine bestimmte ideologische Färbung aufweisen würden, anzusehen.

Tatsächlich liegt in beiden Fällen eine Fehlbeurteilung des Verhältnisses der Sowjetunion zum Ostblock vor. Unter dem Stalinismus wurde übersehen, daß das System der „Länder der Volksdemokratie", das in einem außerhalb des ehemaligen Russischen Reiches gelegenen geschichtlichen Raum errichtet worden war, nicht ohne weiteres mit jenem Satellitensystem gleichgesetzt werden konnte, das sich während des russischen Bürgerkrieges als Vorstufe zur späteren Sowjetunion entwickelt hatte Außerdem wurden die innen-und außenpolitischen Schwierigkeiten für die Sowjetmacht, die mit einer Einverleibung der ostmitteleuropäischen Volksdemokratien in den sowjetischen Staatsverband verbunden gewesen wären, unterschätzt.

Was die Zusammenfassung des gesamten Ostblocks in einem staatlichen Rahmen anbetrifft, so ist sie vom Kreml niemals angestrebt worden, da die asiatischen Volksdemokratien, vor allem die Volksrepublik China, viel zu unterentwickelt waren. Wenn der Versuch unternommen worden wäre, einen Ausgleich zwischen dem wirtschaftlichen Niveau der europäischen und asiatischen Volksdemokratien herbeizuführen, so hätte dies eine gewaltige Schwächung des europäischen Potentials der Sowjetmacht zur Folge gehabt. Infolgedessen sind die Integrationsund Föderationspläne des Kreml immer nur auf die wirtschaftlich wesentlich stärker entwickelten ostmitteleuropäischen Länder gerichtet gewesen.

Stalins De-facto-Imperium ist mit dem ideologischen Bündnissystem, dem bis zum Ausscheiden Jugoslawiens alle Ostblockstaaten angehörten, nicht einfach gleichzusetzen. China und Nord-Vietnam, deren kommunistischen Regime aus einer eigenständigen revolutionären Entwicklung hervorgegangen sind, waren — von der besonderen Lage der Mandschurei, der Inneren Mongolei und Sinkiangs abgesehen — niemals Bestandteile des engeren sowjetischen Machtbereichs. Infolge seines faktischen Charakters stellte Stalins Imperium nur eine besonders konzentrierte Form der Hegemonie dar. Die Wandlungen, die nach Stalins Tod im Ostblock vor sich gegangen sind, haben die imperialen Züge der sowjetischen Hegemonie verblassen lassen. Die sowjetische Vormachtstellung ist aber erhalten geblieben, wenn sie sich auch auf einen kleineren Kreis von Staaten erstreckt, dem Albanien und neuerdings auch Nord-Korea nicht mehr angehören.

Der einheitliche Ostblock hat sich in zwei Hegemonialverbände geteilt, wobei die Abhängigkeitsskala, was das Verhältnis der einzelnen Gefolgsstaaten zu ihren Führungsmächten anbetrifft, ständigen Veränderungen unterworfen ist.

Die Hegemonie weist von alters her zwei Entwicklungstendenzen auf Es kann zu einer Streuung der Macht kommen, zu einer Stärkung der zentrifugalen Kräfte und zu damit einem allmählichen Zerfall eines bestimmten Hegemonialverbandes. Es kann aber auch zu einer verstärkten Integration der Macht kommen, zu einer monolithischen Blockbildung, wie sie eine Zeitlang unter Stalin vorgelegen hat, und der Umwandlung des hegemonischen Systems zu einer absoluten Herrschaft, zu einem De-jure-Imperium. Der Schwebezustand zwischen diesen beiden Entwicklungstendenzen kann längere Zeit andauern. Die Gewichte können sich mal in der einen, mal in der anderen Richtung verschieben. Heute sind beide Tendenzen sowohl in der westlichen als auch in der östlichen Welt wirksam. Für ein zentralistisches System wie das sowjetkommunistische ist es ungeheuer schwierig, sich an die erste Tendenz der Streuung der Macht und des Polyzentrismus anzupassen. Die Vereinigten Staaten haben es auf Grund ihrer inneren Struktur wesentlich leichter. Es zeigt sich hier eine Wechselwirkung zwischen der inneren Machtstruktur und der Außenpolitik, die gerade bei einer totalitären Universalmacht wie der Sowjetunion von besonderer Bedeutung ist. Die Ereignisse von 1956 in Polen und Un-gärn haben gezeigt, wie schwierig es für die Kreml-Führung ist, im Innern eine begrenzte Auflockerung und auch eine gewisse Modernisierung ihres totalitären Herrschaftssystems zuzulassen und gleichzeitig eine Änderung der bisherigen Herrschaftsmethoden in ihrem äußeren Machtbereich durchzuführen. Die Kontrolle kann bei einer solchen Umstellung leicht der Hegemonialmacht entgleiten. Eine Aushöhlung dieser Kontrolle muß außerdem in dem Moment eintreten, wenn eine andere Macht, die dem gleichen Bündnissystem angehört, in diesem Falle das kommunistische China, einen Führungsanspruch geltend macht. Solange der Kampf um die Führung zwischen den beiden Zentren nicht eindeutig entschieden ist und ein endgültiger organisatorischer Bruch nicht vorliegt, erlangen die einzelnen Mitglieder beider Hegemonialverbände eine größere Bewegungsfreiheit. Diese hat es den ostmitteleuropäischen Volksdemokratien ermöglicht, ihre Abhängigkeit von der sowjetischen Hegemonialmacht wesentlich zu vermindern. Aus den früheren Satellitenstaaten sind teilweise recht selbstbewußte Vasallen geworden. Albanien hat sich der Führung durch die Volksrepublik China anvertraut, Rumänien durch den Widerstand gegen die wirtschaftlichen und militärischen Integrationspläne Moskaus und durch die Ablehnung der Verdammung Pekings seine unabhängige Einstellung unter Beweis gestellt. Eine ähnliche Entwicklung in Bulgarien ist nur gewaltsam verhindert worden. Ungarn, das durch seinen heroischen Freiheitskampf so wesentlich zu dieser Entwicklung beigetragen hat, verstand es, seine Eigenständigkeit wieder zu festigen. Auch in der Tschechoslowakei, diesem Land der „Revolutionäre der letzten Stunde", macht sich eine Auflockerung bemerkbar, die sich nicht nur — wie das in der „DDR" der Fall ist — auf den ökonomischen Bereich allein erstreckt. Nur in Polen, wo durch den Oktober-Umschwung in so starkem Maße freiheitliche Kräfte freigesetzt worden sind, scheint die Entwicklung neuerdings zu stagnieren.

Die Rebellion Rumäniens hat besonders deutlich die Grenzen aufgezeigt, die der sowjetischen Hegemonialmacht in Ostmitteleuropa heute gesetzt sind. Trotzdem wäre es falsch, aus der zunehmenden Stärke der zentrifugalen Kräfte, vor allem im südosteuropäischen Bereich, auf einen Zerfall des sowjetischen Hegemonialverbandes zu schließen. Rumänien, das sich der Gefahr seiner geopolitischen Lage durchaus bewußt ist, hat während der bisherigen Auseinandersetzung mit der Sowjetunion niemals den Austritt aus der Warschauer Paktorganisation oder dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe erwogen. Es steht fest auf dem Boden der kommunistischen Einparteiherrschaft. Es achtet somit genau auf die Grenzen, deren Überschreitung, wie der ungarische Fall gezeigt hat, eine Intervention der sowjetischen Hegemonialmacht auslösen würde. Trotz seiner neutralen Haltung im Konflikt Peking und Moskau ist Rumänien auch weiterhin als Mitglied des sowjetischen Hegemonialverbandes anzusehen. Der Charakter eines ideologisch bestimmten hegemoni-schen Bündnissystems bleibt bei diesem Verhältnis so lange gewahrt, wie die Sowjetunion die Kraft und den Willen besitzt, ihre Gefolgsstaaten zur Beachtung der oben genannten Grenzen anzuhalten.

Die Hegemonie ist ihrer dynamischen Grundtendenz nach ein politischer Ordnungsbegriff, der sich aber zu einem Rechtsbegriff verdichten kann, wenn sich der Hegemon irgendwie gearteter rechtlicher Einrichtungen bedient, um seine Führung völkerrechtlich zu legalisieren Dies ist bei der sowjetischen Hegemonialmacht der Fall. Die Grundsätze des „proletarisch-sozialistischen Internationalismus", der im Grunde genommen nur eine ideologische Umschreibung des Hegemoniebegriffs darstellt, bilden den allgemein gezogenen Rahmen, der durch ein vielgestaltiges Paktsystem, das bilaterale und multilaterale Formen aufweist, ausgefüllt wird. Den intersozialistischen Konferenzen der Ersten Parteisekretäre bzw. Partei-und Regierungschefs, die wir bereits früher erwähnt haben, fällt dabei eine besondere Rolle zu.

Beim sowjetischen Hegemonialverband handelt es sich somit um einen Zusammenschluß in organisatorischen Formen, der es trotz der zunehmenden polyzentrischen Tendenzen auf Grund des bisher erreichten Integrationsgrades gestattet, von einer lockeren Staatenverbindung und nicht nur von einem mehr oder minder engen ideologischen Bündnis zu sprechen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Meissner, B., Sowjetunion und Selbstbestimmungsrecht, Köln 1962, S. 23 ff.

  2. Vgl. Lenin, W. I., über die Losung der Vereinigten Staaten von Europa, Sozialdemokrat vom 23. August (5. September) 1915, (Sämtliche Werke, Bd. XVIII, S. 306— 310; Ausgewählte Werke, Bd. I, S. 750— 754) In seinem Artikel: Der Krieg und die russische Sozialdemokratie (Sozialdemokrat vom 1. (14.) November 1914. Sämtliche Werke, Bd. XVIII, S. 76— 84; Ausgewählte Werke, Bd. I, S. 737— 744), war Lenin für die Gründung von „republikanischen Vereinigten Staaten von Europa" eingetreten.

  3. Der Brief ist in Stalins Werken nicht veröffentlicht worden. Der Wortlaut findet sich in: Lenin, I, Sämtliche Werke, Bd. XXV. Wien—Berlin 1930, S. 737/8 Anm. 138.

  4. Vgl. Meissner, B., Die Außenpolitik Sowjet-Rußlands; Ideologie und Machtpolitik, in: Domes, A. (Hrsg ), Westintegration und Osteuropa, Köln 1965, S. 107 ff.

  5. Vgl. Stalin, J., Marxismus und die nationale und koloniale Frage, Berlin 1950, S. 325 ff.

  6. Konstantinov, F. V., Istoriceskij materializm (Der historische Materialismus), Moskau 1950; Wetter, G. A., Die sowjetische Konzeption der Koexistenz, Heft 42 der Schriftenreihe det Bundeszentrale für politische Bildung Bonn 1959, S. 43.

  7. Tito contra Stalin. Der Streit der Diktatoren in ihrem Briefwechsel, Hamburg 1949, S. 62.

  8. Vgl. Birke, E., Neumann, R., Die Sowjetisierung Ost-Mittel-Europas, Frankfurt/Main 1959; Kertesz, St. D., The Fate of East Central Europe, Notre Dame 1956, S. 103— 320.

  9. Vgl. Meissner, B., Das Ostpakt-System, Frankfurt/Main 1955.

  10. Vgl. Brzezinski, Z. K., Der Ostblock, Köln 1962; Rhode, G., Politische und soziale Probleme einer Integration in den Ostblockländern Ostmitteleuropas, in: Boettcher, E. (Hrsg.), Ostblock, EWG und Entwicklungsländer, Stuttgart 1963, S. 22— 50.

  11. Vgl. Dedijer, V., Tito, Berlin 1953, S. 342 ff.; Djilas, M., Gespräche mit Stalin, Frankfurt/Main 1962, S. 182 ff.

  12. Zur Dokumentation über das Kominform vgl. Das Ostpakt-System, a. a. O., S. 87 ff.

  13. Swiatlo, J., Hinter den Kulissen der polnischen Regierung, Sonderbeilage zur Zeitschrift Hinter dem Eisernen Vorhang, April 1955, S. 2.

  14. Vgl. Rhode, G., Polen als „Volksdemokratie“, in: Markert, W. (Hrsg), Polen, Köln/Graz 1959, S. 240/241.

  15. Kiesewetter, B., Der Ostblock, Berlin 1960, S. 25.

  16. Vgl. die Übersicht der mehrjährigen Handels-und Zahlungsabkommen in: Das Ostpakt-System, a. a. O., S. 118.

  17. Vgl. Löwenthal, R., Bündnissystem und nationale Interessen, Politische Vierteljahresschrift, 5. Jg., 1964, S. 97 ff.

  18. Vgl. Meissner, B., Sowjetische Hegemonie und osteuropäische Föderation, in: Ziebura, G. (Hrsg), Nationale Souveränität oder übernationale Integration?, Berlin 1966, S. 64 ff.

  19. Vgl. Meissner, B. (Hrsg.), Der Warschauer Pakt, Köln 1962.

  20. Vgl. Uschakow, A., Der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (Comecon), Köln 1962, S. 13 ff.

  21. Vgl. Meissner, B., Die interparteilichen Beziehungen im Ostblock und das Prinzip des „proletarisch-sozialistischen Internationalismus“, Internationales Recht und Diplomatie, 6. Jg„ 1961, S. 151 ff.

  22. Vgl. Meissner, B., Das bilaterale Paktsystem in Psteuropa, in: Recht im Wandel. Festschrift des Carl Heymanns Verlages, Köln 1965, S. 502 ff., auch „Aus Politik und Zeitgeschichte", B 2/66 v. 12. 1. 1966.

  23. London, K. (Hrsg.), Unity and Contradiction. Major Aspects of Sino-Soviet Relations, New York 1962; Hamm, H. /Kun J., Das rote Schisma, Köln 1963; Reuther, H. (Hrsg.), Moskau—Peking, Olten 1965; Brahm, H., Pekings Griff nach der Vormacht, Köln 1966.

  24. Vgl. Nollau, G., Zerfall des Weltkommunismus. Einheit oder Polyzentrismus, Köln 1963.

  25. Bronska-Pampuch, W., Polen zwischen Hoffnung und Verzweiflung, Köln 1958, S. 277 ff.

  26. Vgl. Charles, D. A., The Dismissal of Marshal P eng Tehhuai, The China Quarterly, 1961, Nr. 8; Hamm, H., Wollte Chruschtschow Mao stürzen?, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 3. 4. 1962.

  27. Gasteyger, C., Das neue Schisma im Ostblock. Der sowjetisch-albanische Konflikt, Europa-Archiv, 17. Jg., 1962; Zeri i Popullit vom 26. 3. 1962.

  28. Vgl. Wolfe, Th. W., Die Entwicklungen im System des Warschauer Paktes, Osteuropa, 16. Jg., 1966, S. 209 ff.

  29. Vgl. Meissner, B., Der Warschauer Pakt, a. a. O., S. 71 ff.

  30. Auf der Parteienkonferenz in Moskau am 6. und 7. Juni 1962 wurden die „Grundprinzipien der internationalen sozialistischen Arbeitsteilung“ in ihrer endgültigen Fassung angenommen. Wortlaut in: Internationales Recht und Diplomatie, 8. Jg., 1963, S. 143— 156.

  31. Vgl. Strohm, C. G., Die ausgebeuteten Sowjets.

  32. Zahlen nach Unternehmerbrief des Deutschen Industrieinstituts vom 21. Juli 1966.

  33. Vgl. Meissner, B., Die Auseinandersetzung zwischen dem Sowjet-und Reformkommunismus, in: Festschrift Hermann Gross, München 1963, S. 78 ff.

  34. Vgl. Chruschtschow, N. S., Wesentliche Fragen des sozialistischen Weltsystems, Einheit, 1962, H. 9.

  35. Vgl. Mirosnicenko, B., Aktual’nye problemy socialisticeskogo planirovanija (Aktuelle Probleme der sozialistischen Planung), Voprosy Ekonomiki (Fragen der Wirtschaft), 1964, Nr. 4, S. 65 ff.

  36. Vgl. Uschakow, A., Der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe 1961— 1965, in: Hacker-Uschakow, Die Integration Osteuropas, Köln 1966.

  37. Hacker-Uschakow, a. a. O., S. 230.

  38. Vgl. Uschakow, A., a. a. O., S. 109. Die rumänische Zeitschrift „Viata Economica" vom 12. Juni 1964 wies den Walew-Vorschlag als „unsinnig“ zurück.

  39. Vgl. Meissner, B., Chruschtschowismus ohne Chruschtschow, Osteuropa, 15. Jg. 1965, S. 145.

  40. Vgl. Wolfe, a. a. O., S. 211 ff. Hacker, J., Der Warschauer Pakt 1961— 1965, in: Hacker-Uschakow, Die Integration Osteuropas 1961— 1965, Köln 1966.

  41. (Vgl. Prawda vom 15. und 30. 9. 1965, 24. 10. 1965 und 30. 3. 1966.

  42. Vgl. Die Zeit vom 3. 4. 1966.

  43. Neue Zürcher Zeitung vom 16. 5. 1966.

  44. Vgl. Strohm, C. G., Rumänien gefährdet den Warschauer Pakt, Christ und Welt vom 20. 5. 1966.

  45. Vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 16. 5. 1966.

  46. Vgl. Warsaw Pact Muddle, Radio Free Europa Research Communist Area vom 14. 6. 1966.

  47. Vgl. Maurach, R., Zur Rechtsnatur des Ostblocks, Zeitschrift für Ostforschung, 1. Jg., 1952, S. 44 ff.; Fiedler H., Der sowjetische Neutralitätsbegriff in der Theorie und Praxis, Köln 1959, S. 110.

  48. Darauf hat Loeber zutreffend hingewiesen. Vgl. Loeber, D. A., Die Rechtsnatur des Ostblocks, Osteuropa-Recht, 6. Jg., 1960, S. 210— 211.

  49. Vgl. Diskussionsbeitrag des Verfassers zum Vortrag von Richard Löwenthal „Bündnissysteme und Nationale Interessen“ auf der Tagung der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft im April 1963 in Heidelberg, in: Politische Vierteljahresschrift, 5. Jg., S. 128— 131 (1964).

  50. Vgl. Triepel, H., Die Hegemonie (Neudruck), Aalen 1961, S. 143.

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Boris Meissner, Dr. jur,, Dipl. -Volkswirt, o. Professor und Direktor des Instituts für Ostrecht der Universität Köln, stellv. Vorsitzender des Direktoriums des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln, stellv. Vorsitzender des Direktoriums des Ostkollegs der Bundeszentrale für politische Bildung, Köln, geb. 10. August 1915 in Pleskau. Veröffentlichungen u. a.: Rußland im Umbruch, Frankfurt/Main 1951; Rußland, die Westmächte und Deutschland, Hamburg 1953; Die Sowjetunion, die baltischen Staaten und das Völker-recht, Köln 1956; Rußland unter Chruschtschow, München 1960; Sowjetunion und Selbstbestimmungsrecht, Köln 1962; Sowjetunion und Völkerrecht 1917 bis 1962, Köln 1963; Sowjet-gesellschaft im Wandel, Stuttgart 1966.