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Herrschaftssystem und Staatsapparat der Sowjetunion zwischen dem XXIII. und XXIV. Parteitag | APuZ 21/1971 | bpb.de

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APuZ 21/1971 Die Berlin-Frage -Grundstrukturen eines zentralen internationalen Problems Herrschaftssystem und Staatsapparat der Sowjetunion zwischen dem XXIII. und XXIV. Parteitag

Herrschaftssystem und Staatsapparat der Sowjetunion zwischen dem XXIII. und XXIV. Parteitag

Boris Meissner

/ 31 Minuten zu lesen

I. Die Wandlungen im Herrschaftssystem und die Veränderungen in der obersten Partei-und Staatsführung

Das Herrschaftssystem der Sowjetunion ist seit dem Tode Stalins 1953 wesentlichen Wandlungen unterworfen worden. Die Herrschaftsinstitutionen, wie sie sich in der Stalin-Ara herausgebildet hatten, sind jedoch dabei erhalten geblieben; darüber hinaus ist der Vorrang des Parteiapparats gegenüber dem Staatsapparat wiederhergestellt worden. Chruschtschow hat es verstanden, den Staatsapparat (einschließlich der Wirtschaftsverwaltung), die Polizei und die Armee wieder der Kontrolle der Partei und damit des hauptamtlichen Parteiapparates zu unterwerfen. Durch seine Verwaltungsreformen von 1957 und 1962 die faktisch zur Aufhebung des bisherigen dualistischen Aufbaus des sowjetischen Herrschaftssystems führten, hat er zwar die Einwirkungsmöglichkeiten der Partei auf die Wirtschaft wesentlich erhöht, andererseits ihr damit einen Auftrag erteilt, dem sie in fachlicher Hinsicht nicht gewachsen war und der sie von ihren eigentlichen politischen Aufgaben ablenkte. Außerdem wurden damit innerhalb des Parteiapparats pluralistische Kräfte freigesetzt, welche die Durchführung der Direktiven der Moskauer Parteizentrale behinderten.

Die Aufhebung der Verwaltungsreformen Chruschtschows nach seiner Absetzung als Partei-und Regierungschef im Oktober 1964 hat zu einer Stärkung des Staatsapparates gegenüber dem Parteiapparat geführt. Die Wirtschaftsverwaltung ist wieder eng mit dem Staatsapparat verbunden worden. Die Bedeutung der Staatspolizei (MWD — KGB) und vor allem der Armee ist nach dem Sturz Chruschtschows gewachsen. Wichtig ist, daß die Truppen des Inneren Schutzes dem MWD (Ministerium für innere Angelegenheiten) unterstellt worden sind, während die Grenzschutztruppen beim KGB verblieben.

Die beschleunigte Aufrüstung der Sowjetarmee, die Einführung komplizierter Waffensysteme und die Übertragung der militärpolitischen Erziehung an die Streitkräfte selbst hat das politische Gewicht des Militärs, das aber keineswegs eine monolithische Einheit bildet, wesentlich erhöht. Dies bedeutet jedoch in keiner Weise, daß sie in stärkerem Maße als bisher an den eigentlichen politischen Entscheidungen unmittelbar beteiligt sind. Die Führungsrolle der Partei wird nicht vom sowjetischen Oberkommando, wohl aber von einer Reihe von Jungen Offizieren in Frage gestellt. Nach der Intervention in der Tschechoslowakei haben mehrere Vorfälle gezeigt, daß es auch in der militärischen Intelligenz Kräfte gibt, die sich als Teil der „demokratischen Bewegung" im Untergrund betrachten. Solche scheinen auch im KGB vorhanden zu sein.

Aufgrund dieser Entwicklung hat sich ein relatives Gleichgewicht zwischen dem Partei-und Staatsapparat herausgebildet. Trotzdem weist das gegenwärtige Herrschaftssystem gegenüber dem stalinistischen wesentliche Unterschiede auf. Erstens bildet die Polizei heute keinen „Staat im Staate" mehr. Zweitens erfolgt die Koordination der vier Machtsäulen nicht durch einen selbstherrlichen Diktator mit Hilfe eines eigenen Machtapparates in Gestalt eines Privatsekretariats, sondern durch ein „Führerkollektiv", das sich dazu der verfassungsmäßigen Einrichtungen bedient, ohne ihnen allerdings eine größere Autonomie zuzugestehen. Durch die auf dem XXIII. Parteikongreß der KPdSU im März/April 1966 erfolgte Restaurierung des Politbüros und des Amtes eines Generalsekretärs wird die Festigung der totalitären Einparteiherrschaft mit Hilfe von Institutionen herbeigeführt, die vor allem für die Stalin-Ära typisch gewesen sind. Das „Führerkollektiv", dem sowohl der Partei-als auch der Staatsapparat unterstehen, stellt die faktische Regierung der Sowjetunion dar. Es wurde bisher durch die elf Mitglieder des Politbüros gebildet, denen neun Kandidaten zur Seite standen. Mit den zehn Mitgliedern des ZK-Sekretariats und den zwölf Mitgliedern des Präsidiums des Ministerrats der UdSSR bildeten sie die oberste Partei-und Staatsführung, die teilweise personelle Überschneidungen aufwies.

Indem das Politbüro auf ein bestimmtes Gleichgewicht nicht nur zwischen den einzelnen Herrschaftsinstitutionen, sondern auch zwischen der Partei-und Staatsverwaltung bedacht ist, hat es seit dem Sturz Chruschtschows gegenüber dem ZK-Sekretariat an Bedeutung wesentlich gewonnen. An diesem Gleichgewicht, das bisher im Duumvirat Breshnew und Kossygin zum Ausdruck gekommen ist, besteht vor allem bei denjenigen Politbüromitgliedern ein Interesse, die den Staatsapparat repräsentieren. An diesem Gleichgewicht sind aber auch diejenigen Parteisekretäre, wie z. B. Susslow, interessiert, die eine kollegiale Struktur des ZK-Sekretariats einer Einmannleitung vorziehen. Dieses Gleichgewicht ist im Rahmen eines Einparteiensystems schwer aufrechtzuerhalten, da dem Inhaber des Generalsekretäramtes gegenüber den anderen Politbüromitgliedern und damit auch gegenüber dem Vorsitzenden des Ministerrats der UdSSR, das heißt dem Leiter der de-jure-Regierung, das größere Gewicht zukommt.

Damit hat sich die Frage, wie ein ausgewogenes Zusammenspiel zwischen dem Politbüro und dem Generalsekretär auf der Grundlage des im Parteistatut verankerten Prinzips der „kollektiven Führung" herstellen läßt, zwischen dem XXIII. und XXIV. Parteitag als das entscheidende Verfassungsproblem erwiesen, mit dem sich eine Reihe von sowjetischen Parteiideologen und Staatstheoretikern auseinandergesetzt hat. Ständige Mahnungen einerseits, die Kollektivität der Führung nicht zu verletzen, und das Eintreten für eine restriktive Auslegung des „kollektiven Führungsprinzips" andererseits ließen erkennen, daß Kräfte am Werk waren, die für eine Stärkung des monokratischen Elements eintraten.

Seit dem XXIII. Parteitag ist es deutlich geworden, daß Breshnew nach der Alleinherrschaft strebt, während Kossygin, Susslow und der Staatspräsident Podgornyj, die mit ihm die Führungsspitze im Kreml bilden, sich für eine Erhaltung der „kollektiven Führung" einsetzen. Um dem Parteichef ideologischen Rückhalt zu geben, ist vom Direktor des Instituts für Marxismus-Leninismus, Fedossejew, im Märzheft der Zeitschrift „Probleme des Friedens und des Sozialismus" die These von der „beschränkten Kollegialität" entwickelt worden

Der erste Versuch Breshnews, die Ämter eines Partei-und Regierungschefs in einer Hand zu vereinen oder Kossygin durch einen ihm genehmeren Mann zu ersetzen, ist im Juli 1970 gescheitert Die Zusammensetzung der neuen Führungsgremien, die auf dem XXIV. Parteikongreß der KPdSU im März/April 1971 gewählt wurden zeigt, daß es ihm zwar gelungen ist, seine Machtstellung zu verstärken, doch ist ihm der entscheidende Durchbruch versagt geblieben. Der weitere Führungskreis, gebildet durch das Politbüro und ZK-Sekretariat, ist in personeller Hinsicht unverändert geblieben. Es sind nur drei Kandidaten des Politbüros und ein ZK-Sekretär als Vollmitglieder in den engeren Führungskreis aufgerückt, womit sich die Zahl der verbliebenen Kandidaten auf sechs verringert hat. Zu den beförderten Spitzenfunktionären gehören der Erste Sekretär des Moskauer Stadtkomitees, der größten Parteiorganisation des Landes, Viktor Grischin, der Ministerpräsident der Ukrainischen SSR, Wladimir Schtscherbizkij, der Erste Sekretär der KP Kasachstans, Din-muchamed Kunajew, und der ZK-Sekretär und Leiter der ZK-Abteilung für Landwirtschaft, Fjodor Kulakow. Mit der Erweiterung des „Führerkollektivs" von elf auf fünfzehn Mitglieder hat sich der Einfluß Breshnews, der bisher nur in Kirilenko einen eindeutigen Gefolgsmann besaß und daher auf wechselnde Bündnisse angewiesen war, wesentlich vergrößert. Die Erweiterung des „Führerkollektivs" hat zwei weitere wichtige Folgen. Breshnew ist es gelungen, das Übergewicht der Repräsentanten des Parteiapparats unter den Vollmitgliedern des Politbüros, wie es unter Chruschtschow bestand, wiederherzustellen. Bisher standen fünf Vertretern der Parteiexekutive und -kontrolle (Breshnew, Susslow, Kirilenko, Schelest, Pele fünf Vertreter der Staatsexekutive (Kossygin, Podgornyj, Poljanskij, Masurow, Woronow) gegenüber. Der Gewerkschaftsvorsitzende Schelepin bildete gleichsam das Zünglein an der Waage. Jetzt ist die Parteiseite durch Grischin, Kunajew und Kulakow verstärkt worden, während auf der Staatsseite nur Schtscherbizkij hinzugetreten ist. Noch bedeutsamer dürfte die Verschiebung in der Nationalitäten-zusammensetzung sein. Das Übergewicht der Nichtrussen, das bisher 6 : 5 betrug, kommt jetzt im Verhältnis 8 : 7 zum Ausdruck. Unter denNichtrussen sind fünf Ukrainer (Podgornyj, Kirilenko, Poljanskij, Schelest, Schtschherbizkij), ein Weißrusse (Musarow), ein Lette (Pelse) und ein Kasache (Kunajew). Ihnen stehen sieben Großrussen (Breshnew, Kossygin, Susslow, Schelepin, Woronow, Grischin, Kulakow) gegenüber, wobei wichtig ist, daß Breshnew zwar Großrusse ist, aber aus der Ukraine stammt. Unter den verbliebenen Kandidaten besteht gegenüber den Großrussen ein Gleichgewicht. Nichtrussen sind ein Weißrusse (Mascherow), ein Georgier (Mshawanadse), ein Usbeke (Raschidow), denen drei Großrussen (Andropow, Demitschew, Ustinow) gegenüberstehen.

Daß die Nationalitätenzusammensetzung in bestimmten Fragen eine wichtige Rolle spielt, hat die Interventionsentscheidung im August 1968 gezeigt, bei der sich alle Nichtrussen bis auf Poljanskij an der Seite Breshnews für die militärische Intervention in der ÖSSR ausgesprochen haben sollen, da sie die Ukraine, Weißrußland und das Baltikum für das reform-kommunistische Gedankengut besonders anfällig hielten.

Breshnew teilte in dem von ihm am 30. März 1971 erstatteten Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees auf dem XXIV. Parteitag mit, daß die Sitzungen des Politbüros, „auf denen die wichtigsten und dringendsten Probleme der Innen-und Außenpolitik der Partei erörtert wurden", regelmäßig einmal in der Woche stattgefunden haben. Jede Woche sei auch das Sekretariat zu einer Sitzung zusammengetre-ten, „das seine Aufmerksamkeit auf die Auswahl der Kader und die Kontrolle der Exekutive konzentrierte". Nach westlichen Pressemeldungen soll der sowjetische Außenminister in seiner Diskussionsrede vom 3. April 1971 davon gesprochen haben, daß sich das Politbüro täglich mit Fragen der Außenpolitik befaßt. In der Wiedergabe seiner Rede in der So-wjetpresse heißt es dagegen, daß „die Sowjetregierung — der Ministerrat der UdSSR — von Tag zu Tag sich mit Auswärtigen Angelegenheiten im Einklang mit der Linie des Zentralkomitees und des Politbüros beschäftige". Anzunehmen ist, daß alle wichtigen außenpolitischen Entscheidungen vom ständigen Ausschuß des Politbüros für Auswärtige Angelegenheiten getroffen werden, dem die Führungsspitze geschlossen angehört, wobei in ihm Breshnew als Generalsekretär eine größere Rolle spielen dürfte als Kossygin als Ministerpräsident.

Im Zusammenhang mit der Wirtschaftspolitik, die nicht nur im Mittelpunkt des Berichts Kossygins über die Direktiven des neuen Fünfjahresplans 1971— 1975 vom 6. April 1971 sondern auch des ZK-Berichts Breshnews stand, gingen beide Sowjetführer ausführlich auf die Wirtschaftsverwaltung ein. Die Tätigkeit der Sowjets und der Staatsapparat im allgemeinen wurden dagegen nur am Rande berührt. Wie aus der Entwicklung der Sowjetexekutive und Sowjetlegislative zwischen den beiden Parteitagen hervorgeht, hätte man über sie wesentlich mehr sagen können. Vielleicht hätte es Podgornyj als Vorsitzender des Obersten Sowjets der UdSSR getan, wenn er nicht veranlaßt worden wäre, den Parteitag zu eröffnen.

Die Auseinandersetzung zwischen Breshnew und Kossygin kam nicht nur in ihren unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Auffassungen und der unterschiedlichen Verteilung von Lob und Tadel an die einzelnen Institutionen, sondern auch darin zum Ausdruck, daß der Generalsekretär bei der Bekanntmachung der neugewählten Politbüromitglieder den Ministerpräsidenten erst an dritter Stelle nannte. Aus dem Staatsapparat wurden die Ministerien, der Planungsapparat und die Wirtschaftsverwaltung von Breshnew besonders kritisiert. Auch die von seinem Rivalen Schelepin geleiteten Gewerkschaften kamen bei ihm schlecht weg; desgleichen der Agitpropapparat und damit die Parteiideologen. Dagegen lobte er die Polizei, insbesondere den Staatssicherheitsdienst, die Kontrollorgane, die Armee, den Komsomol und den Parteiapparat im engeren Sinn.

In dieser einseitigen Darstellung, die jede Selbstkritik vermissen ließ, wurde außer der Rivalität der Apparate deutlich erkennbar, auf welche Herrschaftsinstrumente sich Breshnew stärker stützt, wobei es fraglich ist, ob die organisierte Sowjetjugend wirklich hinter der gegenwärtigen Komsomolführung steht.

Eine Analyse der Stellung der einzelnen Mitglieder des „Führerkollektivs'', die bereits dem alten Politbüro als Vollmitglieder angehört haben, läßt erkennen, daß die Führungsspitze, die aus den vier „Oligarchen" Breshnew, Kossygin, Podgornyj und Susslow besteht, sich personell nicht verändert hat. Das Bündnis Breshnews mit Podgornyj, den er bewußt vor Kossygin genannt hat, ändert nichts daran, daß die tatsächliche Machtstellung Kossygins und Susslows vorläufig immer noch stärker ist als die Podgornyjs, der als Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR mehr repräsentative Funktionen ausübt.

Stalin galt seit seinem Sieg über die linke und rechte Opposition 1929 als „Chosjain" (Hausherr). 1934 wurde er als „Woshdj" (Führer) bezeichnet. Chruschtschow ließ sich 1961 auf dem Höhepunkt seiner Macht als „Rukowoditelj'" (Chef) titulieren. Der XXIV. Parteitag hat gezeigt, daß Breshnew dabei ist, den Übergang vom „Hausherrn" zum „Chef" zu vollziehen. Ob ihm dies gelingen wird, ist vorläufig noch ungewiß. Die gegenwärtige Machtkonstellation im Kreml zeigt, daß die Kräfte, die für eine Aufrechterhaltung der „kollektiven Führung" eintreten, noch sehr stark sind. Breshnew könnte sie nur überwinden, wenn er sich an die Spitze der Reformkräfte stellen würde. Daran scheint ihn nicht nur seine orthodoxe Grundeinstellung, sondern auch die Struktur seiner Persönlichkeit zu hindern. Weder ist er ein charismatischer Führer wie Lenin, noch ein despotischer Herrscher wie Stalin oder ein Volkstribun wie Chruschtschow. Er ist ein Administrator, der das, was ihm übertragen worden ist, pflichtbewußt verwaltet. Er ist aber kein Mann, der den Weg zu neuen Ufern weist. Er hat es auch nicht verstanden, der jüngeren Generation in stärkerem Maße den Aufstieg in die Führungspositionen zu ermöglichen. Bei einer Betrachtung der Schwankungen in der hierarchischen Stellung der einzelnen Sowjetführer fällt vor allem die Verschärfung des Generationsgegensatzes im „Führerkollektiv“ auf, der durch die neuen Vollmitglieder nur in geringem Maße gemildert worden ist. Um die Kluft zwischen der Parteiführung und dem Parteivolk zu überbrücken, wird sich wohl ein Wachwechsel in der Führungsspitze in den nächsten Jahren nicht vermeiden lassen.

II. Das Demokratieverständnis der Kremlführung und die Anfänge einer „demokratischen Opposition"

Breshnew erklärte auf dem XXIV. Parteitag, die Fragen der Demokratie befänden sich „im Mittelpunkt des ideologischen und politischen Kampfes zwischen der Welt des Sozialismus und der Welt des Kapitalismus". An anderer Stelle sprach er nicht nur von einem verschärften Kampf zwischen den beiden Lagern auf der internationalen Ebene mit seinen Rückwirkungen auf die Sowjetunion, sondern gebrauchte sogar den Begriff des „ideologischen Krieges". Breshnew sagte, „bourgeoise Ideologen und Revisionisten" würden das Vorhandensein einer Demokratie in der Sowjetunion in Frage stellen und ihr Ratschläge anbieten, wie der Sozialismus zu „verbessern" und zu „demokratisieren" sei. Breshnew meinte, damit würde der Versuch unternommen, der Sowjetunion „eine bourgeoise Demokratie aufzuzwingen, eine Demokratie für Ausbeuter“, die den Interessen des Volkes zuwiderliefe. Er erklärte, dies sei ein vergebliches und. nutzloses Unternehmen, da das sowjetische Volk „eine eigene sozialistische Demokratie mit ihren eigenen Prinzipien und Traditionen" besitze. Seine weiteren Ausführungen zeigten, daß er von einem Demokratieverständnis ausging, das weit hinter der Auffassung einer begrenzten proletarischen Demokratie zurückblieb, die Lenin in seiner bekannten Schrift „Staat und Revolution" am Vorabend der Oktoberrevolution für die erste Phase der sozialistischen Entwicklung in Ruß-land dargestellt hatte.

Lenin wollte damit die Errichtung der „Diktatur des Proletariats" in einem Lande rechtfertigen, in dem die ökonomische und soziale Reife für eine proletarisch-sozialistische Revolution, wie sie Marx und Engels gefordert hatten, noch nicht vorhanden war. Obgleich inzwischen Rußland aus einem im Aufstieg befin liehen Entwicklungsland ein Industrieland mi einer zahlenmäßig großen Intelligenz geworden ist, will die Kremlführung die Konsequenzen aus dieser Entwicklung nicht ziehen, da sie sich als Sachwalter der herrschenden Hoch-bürokratie und ihres Kerns, der Parteibürokratie, fühlt, die alle Ansätze zu einem „demokratischen Sozialismus", welcher der Intelligenz und den Arbeitern mehr Rechte einräumt, und zu einer „sozialistischen Marktwirtschaft", welche die Initiative des einzelnen weckt, als eine Bedrohung ihrer unumschränkten Herrschaft ansieht. Als besonders gefährlich scheint die Kremlführung daher den Reformkommu-nismus im „sozialistischen Lager" und die Anfänge einer „demokratischen Opposition" in der Sowjetunion zu empfinden

Die Repräsentanten dieser Bewegung, zu denen vor allem der Kernphysiker Prof. Sacharow gehört, sind der Auffassung, daß ein höherer Grad von Demokratie und geistiger Freiheit für die Sowjetgesellschaft, wenn sie die schwierigen Aufgaben der zweiten industriellen Revolution bewältigen und weitere Fortschritte machen will, unerläßlich sind. Diese geistige Freiheit schließt die Informations-, Diskussions-und Gedankenfreiheit und die Aufhebung jeder Zensur ein. Diese Forderung ist von Breshnew auf dem XXIV. Parteitag ohne Namensnennung mit der Begründung zurückgewiesen worden, daß es weder eine „allgemeine Freiheit", noch eine „allgemeine Demokratie" gebe. Bei der Freiheit und der Demokratie handele es sich um „Klassenbegriffe". Daher will er die Bevormundung der Sowjetgesellschaft durch den hauptamtlichen Parteiapparat nicht abbauen, sondern weiter verstärken. Er ist infolgedessen bestrebt, die spontane Evolution von unten, die durch den Entstalinisierungsprozeß freigesetzt wurde, im wiederhergestellten zentralistisch-bürokratischen System einzufangen und zu regulieren. Auch Kossygin stellt die bürokratische Herrschaft nicht in Frage. Ihm geht es nur darum, die Effektivität des bestehenden Systems mit Hilfe der Wirtschaftsreform zu steigern.

Die oppositionellen Kräfte in der Sowjetunion werden sich durch diese starre Haltung der Kremlführung und durch die repressiven Maßnahmen der Staatsorgane kaum davon abhalten lassen, an ihrer Forderung nach mehr Demokratie und mehr Freiheit festzuhalten. Es ist bezeichnend, daß allen Richtungen der „demokratischen Opposition" in der Sowjetunion die Forderung nach einer Verwirklichung der allgemeinen Menschenrechte in der Sowjetunion und nach einem wirksamen Schutz der Grundrechte gemeinsam ist. Der Opposition geht es in erster Linie um die Gewährleistung der politischen Grundfreiheiten. In diesem Sinne kann man sie als eine sowjetische Bürgerrechtsbewegung bezeichnen. Sie konzentriert sich vor allem auf die Probleme, die mit der Sicherung der Informations-und Diskussionsfreiheit verbunden sind.

In dem Brief der Professoren Sacharow, Turtschin und Medwedjew an die Führungsspitze im Kreml vom 14. März 1970 wird ein höherer Informationsgrad, die Beendigung der Störung ausländischer Radiosendungen, der freie Verkauf ausländischer Bücher und Zeitungen, der Beitritt der Sowjetunion zur internationalen Urheberrechtskonvention, die Erweiterung des internationalen Tourismus und der internationalen Kontakte gefordert. Ein Gesetz über Presse und Information soll verabschiedet, neue Presseorgane für gesellschaftliche Organisationen und Gruppen sollen zugelassen werden. Die Vorzensur soll in jeglicher Form abgeschafft werden. Außerdem soll ein Institut zur Erforschung der öffentlichen Meinung eingerichtet und die soziologische Forschungstätigkeit ausgebaut werden.

In dem Brief heißt es dazu: „Informations-und Schaffensfreiheit sind für die Intelligenz Voraussetzung ihrer Tätigkeit und ihrer gesellschaftlichen Funktion. Das Streben der Intelligenz nach Erweiterung dieser Freiheiten ist legitim und natürlich. Der Staat aber versucht dieses Streben durch alle möglichen Restriktionen zu unterdrücken, wie administrativen Druck, Entlassungen und sogar gerichtliche Verfolgung. Dies erzeugt Spannungen, gegenseitiges Mißtrauen sowie völliges Unverständnis und macht eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen dem Partei-und Staatsapparat und den aktivsten, für die Gesellschaft wertvollsten Schichten der Intelligenz unmöglich .. . Ein großer Teil der Intelligenz und der Jugend begreift die Notwendigkeit der Demokratisierung und eines behutsamen und schrittweisen Vor-gehens bei ihrer Durchführung, aber sie können nicht antidemokratische Maßnahmen begreifen und rechtfertigen. Wie kann man rechtfertigen, daß Menschen in Gefängnisse, Lager und Irrenhäuser gesteckt werden, nur weil sie Opposition machten, die sich völlig legal im Bereich der Ideen und Überzeugungen abspielte? In zahlreichen Fällen handelt es sich nicht einmal um Opposition, sondern bloß um Streben nach Information oder um mutige und vorurteilslose Diskussion wichtiger gesellschaftlicher Fragen."

III. Veränderungen in der Staatsverfassung und im Staatsapparat

1. Sowjetföderalismus und Nationalitäten-recht Die Verfassungsordnung der Sowjetunion beruht auf den Aufbauprinzipien Sowjetföderalismus und der Sowjetdemokratie. Um eine Wiederbelebung des Sowjetföderalismus scheint sich die derzeitige Führung, unter der die unitarischen Tendenzen überwiegen, sehr viel weniger zu kümmern als Chruschtschow. Die Änderung der Vertretungsquote der Unionsrepubliken von 25 auf 32 Deputierte, die aufgrund des Dekrets vom 19. März 1966 erfolgte und im Verfassungs-

änderungsgesetz vom 3. August 1966 (AOS UdSSR 1966, Nr. 32, Art. 693) bestätigt wurde, dürfte jedenfalls kaum als ein Schritt in dieser Richtung anzusehen sein. Sie hatte die Neufassung des Artikels 25 des Wahlgesetzes zur Folge. Die Vertretungsquoten der Autonomen Republiken(11), Autonomen Gebiete(5) und Nationalen Kreise(1) haben sich nicht geändert. Die Erhöhung der Vertretungsquote der Unionsrepubliken war durch die Bevölkerungszunahme notwendig geworden, um ein zahlenmäßiges Gleichgewicht zwischen dem Nationalitätenrat und dem Unionsrat herzustellen.

Kurz vor dem Führungswechsel im Kreml ist das Dekret vom 29. August 1964 „über die Umsiedlung der in den Rayons des Wolgagebietes lebenden Deutschen" (AOS UdSSR 1964, Nr. 52, Art. 592) ergangen. Es dürfte in einem gewissen Zusammenhang mit dem geplanten Besuch Chruschtschows in Bonn gestanden haben, da auch das Dekret vom 13. Dezember 1955 „über die Aufhebung der Beschränkungen in der Rechtsstellung der Deutschen und ihrer Familienangehörigen, die sich in getrennter Ansiedlung befinden", bezeichnenderweise nach der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion erlassen wurde. Das Dekret vom 29. August 1964 stellte nur eine Teilrehabilitierung der Wolgadeutschen dar. Die allgemeine Beschuldigung des Hochverrats, mit der die Zwangsumsiedlung begründet worden war, wurde als Ausdruck der Stalinschen Willkürherrschaft bezeichnet und widerrufen, zugleich aber das Deportationsdekret vom 28. August 1941 aufrechterhalten. Dies bedeutet, daß den Wolgadeutschen eine Rückkehr in die alte Heimat verwehrt bleibt, obgleich sie unrechtmäßig aus ihr vertrieben wurden. Mit Recht ist dieses Dekret als verfassungswidrig bezeichnet worden Es gehört übrigens zu jenen Dekreten, die vom Obersten Sowjet der UdSSR nicht in Gesetzesform bestätigt worden sind.

Einen ähnlichen Charakter wies auch das Dekret vom 28. April 1967 „über die Bürger tatarischer Volkszugehörigkeit, die auf der Krim gelebt haben" (AOS 1967, Nr. 36, Art. 493) auf, mit dem das Dekret vom 5. September 1967 „über das Verfahren bei der Anwendung des Artikels 2 des Dekrets des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. April 1956 (AOS UdSSR 1967, Nr. 36, Art. 494) verbunden war. Mit dem ersten Dekret wurde die allgemeine Beschuldigung des Hochverrats, die nicht ausdrücklich dem Personenkult Stalins zu Lasten gelegt wurde, als hinfällig erklärt, zugleich aber das Deportationsdekret vom 25. Juni 1944 nicht aufgehoben. Der Wortlaut des Dekrets vom 28. April 1956 ist nicht bekannt, da es nicht veröffentlicht worden ist. Es ist anzunehmen, daß er die Krimtataren von der den anderen deportierten Völkern gewährten Freizügigkeit ausnahm. Diese ist jetzt auch den Krimtataren zugestanden worden, jedoch ist ihnen ebenso wie den Wolga-deutschen nicht gestattet, in ihre alte Heimat zurückzukehren. Gruppen von Krimtataren haben in den letzten Jahren immer wieder versucht, in der Krim Fuß zu fassen. Gegen das Verbot haben zahlreiche Demonstrationen stattgefunden, die zu Zusammenstößen mit der Polizei führten. Die ungerechte Behandlung der Krimtataren hat bei der demokratischen Opposition viel Anteilnahme ausgelöst und wird im Sacharow-Memorandum ausdrücklich erwähnt. Im Sacharow-Brief wird die Wiederherstellung der Rechte der unter Stalin deportierten Nationalitäten und ihrer nationalen Autonomie sowie die Erlaubnis zur Rückkehr an ihre angestammten Wohnsitze gefordert. Um Diskriminierungen vorzubeugen, wird außerdem der Verzicht auf die Eintragung der Nationalität in Pässen und amtlichen Formularen verlangt. Es fragt sich allerdings, ob durch einen solchen Verzicht Wesentliches zum Schutz der einzelnen Nationalitäten, unter denen die Juden in letzter Zeit besonders Verfolgungen ausgesetzt sind, gewonnen würde.

Eine wesentliche Beschränkung der Befugnisse der Unionsrepubliken und damit eine Schwächung des Sowjetföderalismus ist durch die Aufhebung der regionalen Volkswirtschaftsräte und die Zentralisierung der Polizei, der Justiz und des Bildungswesens auf der Bundesebene herbeigeführt worden. Die Ausführungen Breshnews zur „nationalen Frage“ in seinem Bericht lassen die Tendenz zur verstärkten Russifizierung deutlich erkennen. 2. Sowjetdemokratie und Sowjetparlamentarismus Die spärlichen Bemühungen um den Ausbau der „Sowjetdemokratie" sind vor allem auf die Herausbildung einer gewissen Art von Sowjetparlamentarismus gerichtet gewesen. Es ist bezeichnend, daß der Oberste Sowjet der UdSSR immer häufiger als das sowjetische „Volksparlament" bezeichnet wird, obgleich Lenin den Parlamentarismus in jeder Form strikt abgelehnt hat.

Die Erhöhung der Zahl der gewöhnlichen Mitglieder des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR von 16 auf 20 durch das Verfassungsänderungsgesetz vom 3. August 1966 (AOS UdSSR 1966, Nr. 32, Art. 702) dürfte allerdings zur Erhöhung der Effizienz des Sowjetparlaments wenig beigetragen haben. Größere Bedeutung kam dagegen der Vergrößerung der Zahl der ständigen Ausschüsse des Obersten Sowjets der UdSSR zu, die auf Initiative des Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, Podgornyj, erfolgte. Er begründete seinen Vorschlag damit, daß die wirtschaftlichen Probleme immer komplizierter würden. Es sei daher notwendig, in der gesetzgeberischen Arbeit den besonderen Verhältnissen der einzelnen Wirtschaftszweige stärker Rechnung zu tragen. Podgornyj setzte sich für eine verstärkte Tätigkeit der ständigen Ausschüsse ein. Er wies darauf hin, daß die ständigen Kommissionen „nicht immer ausreichende Möglichkeit hatten, sich sachlich und eingehend mit den Fragen dieses oder jenes Bereichs des wirtschaftlichen oder sozialen und kulturellen Aufbaus zu befassen". Auf seinen Vorschlag wurde die Zahl der ständigen Ausschüsse der beiden Kammern, unter Aufteilung der Wirtschaftskommission des Nationalitätenrats, durch Beschluß des Obersten Sowjets der UdSSR vom 3. August 1966 (AOS UdSSR 1966, Nr. 32, Art. 711) auf insgesamt zehn vergrößert. Neu errichtet wurden die ständigen Kommissionen für Industrie-, Verkehrs-und Nachrichtenwesen; Bauwesen und Baustoffindustrie; Landwirtschaft; Gesundheitswesen und Soziale Fürsorge; Volksbildung, Wissenschaft und Kultur; Handel und Dienstleistungen. Die bisherige Budgetkommission wurde in eine Plan-und Budgetkommission umgewandelt. Unverändert blieben die Mandatskommission und die Kommissionen für Gesetzgebung und Auswärtige Angelegenheiten. In den Unionsrepubliken war eine Vergrößerung der Zahl der ständigen Ausschüsse bereits unter Chruschtschow erfolgt.

Als weiterer ständiger Ausschuß ist durch den Beschluß der beiden Kammern des Obersten Sowjets der UdSSR vom 10. Dezember 1968 (AOS UdSSR 1968, Nr. 51, Art. 492, 496) eine ständige Kommission für Jugendangelegenheiten errichtet worden. Diese Neugründung läßt die Besorgnis der Sowjetführung über bestimmte Entwicklungen in der Sowjetjugend deutlich erkennen. Inzwischen wurde gemäß Beschluß der beidenKammernvom 14. Juli 1970 (AOS UdSSR 1970, Nr. 29, Art. 284, 301) noch eine ständige Kommission für den Naturschutz errichtet und die ständige Kommission für Industrie-, Verkehrs-und Nachrichtenwesen in zwei Kommissionen (Industrie; Verkehrs-und Nachrichtenwesen) aufgeteilt. Damit hat sich die Gesamtzahl der ständigen Ausschüsse auf dreizehn erhöht. Durch Gesetz vom 12. Oktober 1967 (AOS UdSSR 1967, Nr. 42, Art. 536) ist die „Ordnung der ständigen Kommissionen des Unionsrates und Nationalitätenrates des Obersten Sowjets der UdSSR" bestätigt worden.

Im Artikel 2 werden als Hauptaufgaben der ständigen Kommissionen bezeichnet: a) Die Ausarbeitung von Vorschlägen zur Prüfung durch die zuständige Kammer oder das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR; b) die Ausarbeitung von Gutachten über Fragen, die dem Obersten Sowjet der UdSSR und seinem Präsidium zur Prüfung unterbreitet worden sind;

c) die Unterstützung von staatlichen Organen und Organisationen, aber auch der Abgeordneten des Obersten Sowjets der UdSSR in ihrer Arbeit bei der Verwirklichung der Entschließungen des Obersten Sowjets der UdSSR und seines Präsidiums;

d) die Kontrolle über die Tätigkeit der Ministerien und Behörden der UdSSR, über all-unionistische Organisationen, aber auch republikanische und örtliche staatliche Organe und Organisationen bei der Verwirklichung der Verfassung der UdSSR, der Gesetze der UdSSR und anderer Entschließungen des Obersten Sowjets der UdSSR und seines Präsidiums.

Bei der unterentwickelten Kontrollfunktion des Sowjetparlaments hat sich die Tätigkeit der ständigen Ausschüsse vor allem auf dem Gebiet der Gesetzgebung günstig ausgewirkt. Sie hat dazu beigetragen, daß vom Obersten Sowjet der UdSSR und seinem Präsidium eine Reihe von größeren Gesetzgebungsakten, welche die unter Chruschtschow begonnenen Rechtsreformen mit gewissen Einschränkungen fortführten, verabschiedet worden sind. Unter diesen sind besonders die Grundlagen der Ehe-und Familiengesetzgebung (1968), der Bodengesetzgebung (1968), Gesundheitsgesetzgebung (1969), der Arbeitsgesetzgebung (1970) und der Wassergesetzgebung (1970) zu nennen. Breshnew hat in seinem Bericht die Ausarbeitung eines Gesetzes über die Rechtsstellung der Sowjetdeputierten auf allen Verwaltungsstufen angekündigt. In ihm sollen die Rechte und Kompetenzen der Sowjetdeputierten festgelegt und die Verpflichtungen der Amtsträger gegenüber den Abgeordneten geregelt werden. Im Rahmen der Gesetzgebung der Obersten Sowjets der UdSSR und RSFSR sind außerdem die Gesetzgebungsakte zu erwähnen, die auf dem Gebiete der Strafverfolgung und des Strafvollzuges erlassen worden sind und zu entsprechenden Änderungen und Ergänzungen der Straf-und Strafprozeßgesetzbücher und zur Abfassung eines neuen Besserungsarbeitsgesetzbuches geführt haben. Durch das Verfassungsänderungsgesetz vom 11. Juli 1969 (AOS UdSSR, Nr. 29, Art. 246) ist die Kompetenz des Bundes gemäß Art. 14, Abs. u um die Festlegung der Grundlagen der Gesetzgebung über Besserungsarbeit erweitert worden. Die meisten dieser Gesetzgebungsakte lassen die Tendenz zu einer verschärften Kriminalpolitik erkennen.

Zu den wichtigsten Gesetzgebungsakten gehört das Gesetz vom 12. Oktober 1967 „über die allgemeine Wehrpflicht“ (AOS UdSSR, 1967, Nr. 42, Art. 522). Es tritt an die Stelle des Dekrets über die allgemeine Wehrpflicht vom 1. September 1939. Das neue Wehrpflichtgesetz berücksichtigt die Anforderungen, die mit der Möglichkeit eines totalen Kernwaffenkrieges verbunden sind. Es enthält im Vergleich zum alten Wehrpflichtgesetz nicht nur einige wesentliche Veränderungen, sondern auch eine Reihe von neuen Bestimmungen. Die Wehr-dienstzeit wird bei einer Festsetzung des allgemeinen Wehrdienstalters auf 18 Jahre — bei Absolventen von Mittelschulen und entsprechenden Lehranstalten auf 17 Jahre — um ein Jahr verringert und gleichzeitig die nach dem Zweiten Weltkrieg abgeschaffte obligatorische vormilitärische Ausbildung wieder eingeführt. Durch diese sollen alle Jugendlichen von der 9. Klasse an erfaßt werden. Gleichzeitig soll die militärtechnische Sonderausbildung durch den Wehrverband „DOSSAAF“ wesentlich verbessert werden. 3. Die zentrale und lokale Sowjetverwaltung Nach der Reorganisation der Bundesverwaltung, die mit der Aufhebung der Verwaltungsreformen Chruschtschows verbunden war, wies die Sowjetregierung am 31. Dezember 1965 unter Einschluß der 15 Ministerpräsidenten der Unionsrepubliken einen Bestand von 82 Personen auf (gegen 76 vom 31. Dezember 1962, unmittelbar nach der Großen Verwaltungsreform von Chruschtschow). Die tah der Bundesministerien kam dem Stande am 31. Dezember 1952, das heißt kurz vor dem Tode Stalins, sehr nahe. Damals gab es 52 Ministerien, jetzt waren es 47(22 Allunionisti-sche und 25 unionsrepublikanische Ministerien). Inzwischen hat sich die Zahl der Ministerien weiter vergrößert Der Ministerrat der UdSSR wies am 31. Dezember 1970 einen Bestand von 97 Mitgliedern auf. Die Gesamtzahl der Bundesministerien hat sich von 47 auf 57 erhöht. Die Zahl der Allunionistischen Ministerien ist von 22 auf 26 und der unionsrepublikanischen Ministerien von 25 auf 31 angewachsen.

Unter den institutioneilen Veränderungen auf der Bundesebene sind drei Ministerien besonders hervorzuheben. Von Chruschtschow wurde das Ministerium für innere Angelegenheiten (MWD) 1960 als Bundesministerium aufgelöst. Die Innenministerien in den Unionsrepubliken wurden gleichzeitig in Ministerien zum Schutz der öffentlichen Ordnung umbenannt. Mit dem Dekret vom 26. Juli 1966 (AOS UdSSR 1966, Nr. 30, Art. 594) wurde ein unionsrepublikanisches Ministerium zum Schutz der öffentlichen Ordnung (MOOP) errichtet, das mit dem Dekret vom 25. November 1968 (AOS UdSSR 1968, Nr. 48, Art. 467) wieder in Ministerium für innere Angelegenheiten (MWD) umbenannt wurde. Es fungiert wie in den Zeiten Stalins vorwiegend als Polizeiministerium. Bereits bei der Er-richtung des Ministeriums zum Schutz der öffentlichen Ordnung war anhand der gleichzeitig erlassenen Gesetzgebungsakte zu ersehen, daß dem neuen Polizeiministerium die Aufgabe zufallen sollte, nicht nur Kriminelle, sondern auch sonstige . Elemente', die eine Gefahr für das in der Sowjetunion bestehende Herrschafts-und Gesellschaftssystem bedeuteten, erfolgreicher zu bekämpfen. Dies dürfte nach der Umbenennung des MOOP in MWD erst recht der Fall sein. Die Aktivität des KGB und MWD in den letzten Jahren, die Breshnew besonders hervorhob, läßt erkennen, daß sich der polizeistaatliche Charakter der Sowjetunion unter den Nachfolgern Chruschtschows wesentlich verstärkt hat, wenn er auch nicht die Auswüchse der Stalin-Ära aufweist. Die Beschränkung der Befugnisse der sowjetischen Staatspolizei (KGB-MWD) ist eine der Hauptforderungen der demokratischen Oppo-sition. Dies gilt vor allem auch für die besondere Rolle der Polizei im Strafvollzug. In dem Sacharow-Brief wird neben einer Amnestie für politische Häftlinge eine gesellschaftliche Kontrolle über alle Gefängnisse, Lager und psychiatrischen Kliniken gefordert. Eine weitere Forderung, die sich auf den Bereich der inneren Verwaltung bezieht, ist die Einführung eines einheitlichen Paßsystems für die Einwohner von Städten und Dörfern und die stufenweise Aufhebung des Systems amtlicher Paßvermerke.

Die Auseinandersetzung mit der demokratischen Opposition dürfte einer der Gründe gewesen sein, der die Nachfolger Chruschtschows veranlaßt hat, auch das 1956 aufgelöste unionsrepublikanische Justizministerium mit dem Dekret vom 31. August 1970 (AOS UdSSR 1970, Nr. 36, Art. 361) wiederherzustellen. Dem Justizministerium wird unter Beseitigung der bisherigen Zweigleisigkeit auf dem Gebiete der Justizverwaltung (Juristische Kommissionen, Oberste Gerichte) die Aufgabe zufallen, die Tätigkeit der Justizorgane und Gerichte der einzelnen Republiken zu koordinieren und die Rechtsprechung zu vereinheitlichen.

Große Bedeutung kommt auch dem mit Dekret vom 3. August 1966 (AOS UdSSR 1966, Nr. 32, Art. 692) errichteten neuen unionsrepublikanischen Ministerium für Bildung zu. Fast 49 Jahre lang sind die Volksbildung und damit die allgemeinbildenden Schulen eine Angelegenheit der Unionsrepubliken gewesen. Für die Hochschul-und höhere Fachschulbildung, die seit Stalin einem unionsrepublikanischen Ministerium unterstand, war dagegen in erster Linie der Bund zuständig. Die Unterstellung des gesamten Schulwesens unter die Moskauer Zentrale dürfte bildungs-und gesellschaftspolitische Gründe haben. Sie dient vor allem der Ausdehnung der allgemeinen Schulpflicht auf die oberen Klassen der „Mittelschule“. Durch die verstärkte Zentralisierung wird aber nicht nur die Modernisierung, sondern auch die Russifizierung des gesamten Erziehungsund Bildungswesens gefördert.

Die Rechtsstellung der Ministerien ist in Verbindung mit der Wirtschaftsreform durch die Allgemeine Ordnung über die Ministerien der UdSSR, die durch die Verordnung des Minister-rats der UdSSR vom 10. Juli 1967 bestätigt worden ist (VOS UdSSR 1967, Nr. 17, Art. 116), neu geregelt worden. In der Ordnung werden die Hauptaufgaben und grundlegende Organisationsfragen sowie die Funktion der Ministerien behandelt. Dabei wird auch auf das Verhältnis zwischen Ministerium und Betrieb eingegangen. Die Ministerienordnung ist ergänzt worden durch eine zweite VO vom 10. Juli 1967 „Uber die zusätzliche Erweiterung der Rechte der Minister der UdSSR" und durch eine weitere VO betreffend Fragen, die den Ministerräten der Unionsrepubliken zur Entscheidung übertragen wurden.

In dem Bericht Kossygins wird gefordert, daß sich die Wirtschaftsministerien auf die Grundentscheidungen in ihrem Verwaltungsbereich konzentrieren sollen. Die operative Leitung der Betriebe soll durch die Produktionsvereinigungen erfolgen. Er teilte mit, daß in den Ministerien für Kohlen-, Ol-und Chemische Industrie eine Überprüfung ihrer Organisationsstruktur stattgefunden hat, die auch bei anderen Ministerien erfolgen soll. Bei dem Aufbau der Wirtschaftsverwaltung ist in der Regel von zwei oder drei Stufen auszugehen.

Die Gesamtzahl der in der Verfassung aufgeführten Komitees hat sich in der gleichen Zeit von 12 auf 17 vergrößert. Unter ihnen ist die zentrale Kontrollbehörde den größten Veränderungen unterworfen gewesen. Unter Chruschtschow war im November 1962 durch die Schaffung einer einheitlichen Partei-und Staatskontrolle, deren Leitung dem ZK-Sekre-tär Schelepin übertragen wurde, ein gewaltiger Kontrollapparat geschaffen worden. Hauptsächlich aus machtpolitischen Erwägungen, vor allem um den Einfluß Schelepins zurückzudrängen, wurde die Verbindung zwischen der Partei-und Staatskontrolle ebenso wie 1934 wieder aufgelöst. Durch das Gesetz „Uber die Organe der Volkskontrolle in der UdSSR" vom 9. Dezember 1965 (AOS UdSSR 1965, Nr. 49, Art. 718) wurde das bisherige Komitee für Staats-und Parteikontrolle, soweit es für den staatlichen Bereich zuständig war, in ein Komitee für Volkskontrolle umge-wandelt und mit einem gesellschaftlichen Unterbau versehen. Im Gesetz wurde der Ministerrat der UdSSR ermächtigt, ein Statut der Volkskontrolle zu erlassen. Seine Veröffentlichung erfolgte erst drei Jahre später durch eine gemeinsame Verordnung des Zentralkomitees der KPdSU und des Ministerrats der UdSSR vom 17. Dezember 1968 Aus dem Statut geht eine verstärkte Einflußnahme der Partei auf die Volkskontrolle und ein weiterer Ausbau der gesellschaftlichen Elemente hervor.

Aus der Aufgabenstellung ist zu ersehen, daß es sich bei der Volkskontrolle in erster Linie um eine Wirtschaftsund Disziplinarkontrolle handelt.

Nach der Reorganisation der Staatsverwaltung ist unter Berufung auf Lenin immer wieder eine klare Abgrenzung der Verwaltungsbereiche von Partei und Staat gefordert worden, Die zuständigen Parteiorgane sollen die Arbeit der Verwaltungsorgane der Sowjets, die auch für die Wirtschaft zuständig sind, lenken. Sie sollen sie in ihrer operativen Verwaltungstätigkeit nicht ersetzen. In diesem Zusammenhang ist die allgemeine Tendenz, die Befugnisse der lokalen Sowjets und damit auch ihrer Verwaltungsorgane zu vergrößern, bedeutsam. Dies ist in begrenztem Umfange in dem Gesetz vom 26. Juni 1968 „über die Grundrechte und -pflichten der Dorf-und Siedlungssowjets der Deputierten der Werktätigen" (AOS UdSSR 1968, Nr. 27, Art. 236) geschehen. Ein weiteres Gesetz „Uber die Grundrechte und -pflichten der Rayon-(Bezirks-) und Stadtsowjets der Deputierten der Werktätigen" befindet sich in Ausarbeitung. Mitte März 1971 ist ein ZK-Beschluß über Maßnahmen zur weiteren Verbesserung der Arbeit der Rayonund Stadtsowjets veröffentlicht worden

Die Stärkung der verfassungsrechtlichen Stellung der örtlichen Sowjets wird mit der Notwendigkeit des Ausbaus der gesellschaftlichen Selbstverwaltung begründet. Tatsächlich kann von einer Selbstverwaltung auf lokaler Ebene solange keine Rede sein, wie die Verwaltungsorgane der örtlichen Sowjets integrierende Bestandteile einer einheitlichen Staatsverwaltung bilden, die auf dem Organisationsprinzip des „demokratischen Zentralismus beruht. Die Umwandlung der Stadt-, Rayon-und Dorfsowjets in wirkliche Selbstverwaltungsorgane, die in der Zukunft durchaus möglich wäre, würde einen wesentlichen Schritt auf dem Wege der Demokratisierung des Sowjetstaates und der Sowjetgesellschaft darstellen. Die beabsichtigte Erweiterung der Rechte der lokalen Organe der unmittelbaren Staatsverwaltung könnte den Ansatzpunkt zu dieser Entwicklung bilden.

Als weiteren Schritt auf dem Wege der gesellschaftlichen Selbstverwaltung wird die stärkere Teilnahme der Bevölkerung an der Verwaltungstätigkeit hingestellt. Durch die frei-willige Mitarbeit der Bürger soll ein wesent licher Abbau des hauptamtlichen Sowjetapparats erreicht werden. Die bisherigen Bemühungen in dieser Richtung betreffen allerdings meist Verwaltungsabteilungen von geringer politischer Bedeutung, so auf dem Gebiete der Bildung, des Handels und des Wohnungswesens. Im Oktober 1969 wurden in einer gemeinsamen Verordnung des ZK der KPdSU und des Ministerrats der UdSSR Maßnahmen zur Vervollkommnung und Verbilligung des Verwaltungsapparats vorgesehen. 4. Das Verhältnis von Legislative und Exekutive Von der regen Gesetzgebungstätigkeit des Obersten Sowjets der UdSSR läßt sich jedoch nicht auf eine größere Bedeutung der Legislative schließen, da das Sowjetparlament bisher nur zu kurzen Tagungen zusammentrat. 1967 hat man unter Verletzung des Art. 46 Abs. 1 der Bundesverfassung sogar unterlassen, das Sowjetparlament zweimal einzuberufen. Dabei hatte Podgornyj den Sowjets auf dem XXIII. Parteitag größere Selbständigkeit und teilweise erweiterte Befugnisse in Aussicht gestellt. Die offiziellen Reformbestrebungen sind darauf gerichtet, die Sowjetlegislative im Verhältnis zur Sowjetexekutive wesentlich zu stärken. Dies soll teils durch eine Ausdehnung der Sitzungsperioden der großen Vertretungskörperschaften, teils durch eine Begrenzung der Befugnisse der Exekutivorgane erreicht werden. Die vom Standpunkt des Rätesystems und nicht nur eines westlichen Parlamentarismus unmöglich kurze Tagungsdauer des Obersten Sowjets der UdSSR hat zur Folge, daß seine Tätigkeit in der langen Zwischenzeit vom Präsidium, also dem kollegialen Staatsoberhaupt, wahrgenommen wird. Dies führt dazu, daß die Gesetzgebung fast die ganze Zeit über durch Dekrete (Ukazy) des Präsidiums erfolgt, welche die Kraft endgültiger formeller Gesetze (Zakony) erst nach der Bestätigung durch den Obersten Sowjet der UdSSR erlangen. In einzelnen Fällen wurde in den letzten Jahren von dieser Bestätigung bewußt abgesehen. Eine weitere Form der Rechtsetzung auf dem Verordnungswege stellen die »gemeinsamen Rechtsverordnungen des Ministerrats der UdSSR und des Zentralkomi-fees der KPdSU" dar. An ihnen soll auf der undesebene anscheinend festgehalten wer-den. Dagegen wird eine ähnliche Form der echtsetzung oder Beschlußfassung auf den unteren Verwaltungsstufen bekämpft, um einer Bevormundung der Sowjetorgane durch die Parteiorgane, die ständig beklagt wird, vorzubeugen.

Um das Rätesystem zu beleben, ist von dem bekannten Staatsrechtler Lepeschkin aber auch von anderer Seite vorgeschlagen worden, bei den Wahlen zu den Sowjets, die aufgrund einer Einheitsliste erfolgen, in Zukunft nicht einen, sondern mehrere Kandidaten zuzulassen. Ähnliche Forderungen werden seit einiger Zeit auch bei den Wahlen zu den wesentlich wichtigeren Parteiorganen erhoben. Mit der Verwirklichung dieser Vorschläge dürfte bei der heutigen innenpolitischen Lage nicht zu rechnen sein. Eine gewisse Bedeutung kommt der Wiederherstellung des kollegialen Aufbaus der Exekutivorgane der Sowjets aufgrund des kollektiven Führungsprinzips zu. Die kollegiale Struktur fördert die Diskussion und trägt zu einer Berücksichtigung verschiedener Gesichtspunkte und damit zur Auflockerung des totalitären Systems bei. Einen ähnlichen Effekt erhoffte sich Chruschtschow von dem von ihm eingeführten Turnussystem, das die gewählten Funktionäre in bestimmten Abständen auswechselte. Nachdem es in der Partei abgeschafft worden ist, ist es auch für die Sowjets und Massenorganisationen, für die es im Parteiprogramm vorgesehen war, gegenstandslos geworden.

Diese schüchternen Ansätze zum Ausbau der Sowjetdemokratie, die auf dem XXIV. Parteitag keinen Auftrieb mehr erhalten haben, genügen der demokratischen Opposition nicht. Im Sacharow-Brief wird eine Erweiterung der Rechte und der Verantwortung des Obersten Sowjets der UdSSR, die Aufstellung von mehreren Kandidaten bei den Wahlen zu den Partei-und Sowjetorganen sowie die Unabhängigkeit der Gerichte und der Staatsanwaltschaft gefordert. Andere Dokumente der demokratischen Opposition gehen in ihren Forderungen noch wesentlich weiter. 5. Die Gewährung der Grundrechte Im Rahmen der Bestrebungen, das Rätesystem zu beleben, kommt der Frage nach einer Garantie der in der Bundesverfassung aufgeführ-ten Grundrechte eine besondere Bedeutung zu. Die Grundrechte stellen nach der bisherigen sowjetischen Auffassung, die sich aus der orthodox-kommunistischen Grundauffassung ergibt, nur Rechtsgewährungen des Staates dar, die jederzeit eingeschränkt oder zurückgenommen werden können. Obwohl sich diese grundsätzliche Einstellung zu den Grundrechten nicht geändert hat, haben sich unter Chruschtschow gewisse Ansätze zu einem Schutz der Grundrechte herausgebildet. Sie sind in einer stärkeren Berücksichtigung des Schutzes der Persönlichkeit im materiellen Recht, in der Beschränkung der Befugnisse der Verwaltungsorgane im Verhältnis zum Staatsbürger und in der Einführung eines auf dem Enumerationsprinzip beruhenden Verwaltungsstreitverfahrens im Rahmen des Zivilprozesses zum Ausdruck gekommen.

Unter Chruschtschows Nachfolgern ist die einheitliche Regelung des Beschwerderechts, das in der Bundesverfassung nicht verankert ist, hinzugetreten. Ihr liegt das Gesetz vom 26. Juni 1968 (AOS UdSSR 1968, Nr. 27 Art. 237) zugrunde. Bei der formlosen Verwaltungsbeschwerde, die mit einer Petition nicht gleichzusetzen ist, wird in der neuen Beschwerdeordnung zwischen dem Vorschlag (predlozenie), der Eingabe (zajavlenie) und der Beschwerde im engeren Sinn (zaloba) unterschieden. Auch wenn sich das Beschwerdeverfahren zusammen mit dem gerichtlichen Verwaltungsstreitverfahren besser als bisher bewähren sollte, könnte es den besonderen Schutz der Grundrechte, den selbständige Verwaltungsgerichte und ein Verfassungsgericht bieten würden, nicht ersetzen. 6. Das Schicksal der Verfassungsreform Während die derzeitige Sowjetführung an der absoluten Parteidiktatur festhält, strebt die demokratische Opposition teils eine konstitutionelle Einparteiherrschaft, teils ein Mehrparteiensystem auf sozialistischer Grundlage an. Diese Lage hat die Bereitschaft des Führer-kollektivs im Kreml, die von Chruschtschow angestrebte Verfassungsreform zu verwirklichen, weiter vermindert. Durch Beschluß des Obersten Sowjets der UdSSR vom 11. Dezember 1964 (AOS UdSSR 1964, Nr. 51, Art. 572) ist Breshnew an Stelle von Chruschtschow zum Vorsitzenden der Verfassungskommission gewählt worden. In dieser Eigenschaft hat er bisher keinerlei Aktivität entwickelt. Durch Beschluß des Obersten Sowjet der UdSSR vom 19. Dezember 1966, (Nr. 51, Art. 1052) wurden 33 Mitglieder der Kommission, die einen Bestand von insgesamt 96 Mitgliedern neben den Vorsitzenden aufweist, ausgewechselt. Dabei schieden mit Denisow und Romaschkin die einzigen Staatsrechtler aus. über die Tätigkeit der Kommission ist seitdem nichts mehr bekannt geworden. Breschnew hat sich auf dem XXIV. Parteitag über die Verfassungsreform nicht geäußert. Anscheinend sind die Nachfolger Chruschtschows der Auffassung, daß sie ihre orthodoxe Linie besser im Rahmen der geltenden Bundesverfassung der UdSSR, die früher als „Stalinsche Verfassung" bezeichnet wurde, verwirklichen können.

Die Entwicklung zwischen den beiden Parteitagen zeigt, daß dem Staatsapparat im Verhältnis zum Parteiapparat eine wesentlich größere Bedeutung zukommt, wie dies auf dem XXIV. Parteikongreß der KPdSU zum Ausdruck gekommen ist.

Die verstärkte Kontrolle der Parteiorgane über die Staatsorgane, die auf dem Parteitag gefordert wurde, wird sich daher nur schwer verwirklichen lassen.

Breshnew wird dem Ziel der Alleinherrschaft nur näher kommen, wenn es ihm gelingt, die Kontrolle über den Staatsapparat in größerem Umfange zu gewinnen. Dabei bieten sich ihm zwei Möglichkeiten. Er kann den erneuten Versuch machen, die Ämter des Partei-und Regierungschefs, wie es auch in einer späteren Phase unter Stalin und Chruschtschow der Fall war, in einer Hand zu vereinen, soweit er es nicht vorzieht, das Amt eines Vorsitzenden des Ministerrats der UdSSR einem Mann seines Vertrauens zu übertragen. Er kann aber auch einen anderen Weg beschreiten. Er könnte die von ihm angestrebte Kontrolle auch über die Verbindung der Ämter des Generalsekretärs und des „Staatspräsidenten" erreichen, wie sie in Rumänien vorliegt und jetzt auch in Bulgarien beabsichtigt ist. Bis vor kurzem war dies auch bei der DDR der Fall. Eine solche Lösung würde den Ausbau oder die Umwandlung des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR zu einem „Staatsrat" erfordern, was im Rahmen der bisher wieder aufgeschobenen Verfassungsreform leicht zu erreichen wäre.

Beiden Lösungen werden sich diejenigen Sowjetführer widersetzen, welche wie Kossygin für die Eigenständigkeit des Staatsapparats eintreten oder das „kollektive Führungsprinzip" in jedem Fall einer Einmannherrschaft vorziehen. Daher wird in nächster Zeit im Zusammenhang mit der von Breshnew angekündigten Parteisäuberung mit einer wesentlichen Verschärfung des Machtkampfes im Kreml und damit auch der Auseinanderset-zung zwischen dem Partei-und Staatsapparat zu rechnen sein. Auch wird sich die „demokratische Opposition" durch die verstärkte ideologische Indoktrination und repressive Maßnahmen kaum davon abhalten lassen, ihre Forderung nach einer „Liberalisierung“ und „Demokratisierung" des bestehenden politischen Systems weiterzuverfolgen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl B. Meissner, Wandlungen im Herrschaftssystem und Verfassungsrecht der Sowjetunion, in:

  2. P. Fedossejew, Die KPdSU — die Vorhut des Sowjetvolkes, 1971, Nr. 3, S. 301.

  3. Vgl. B. Meissner, Die Sowjetunion auf dem Wege zum XXIV. Parteitag, in: Osteuropa, 21. 9" 1971.

  4. Vgl. Prawda vom 10. 4. 1971.

  5. Vgl. Prawda vom 31. 3. 1971.

  6. Vgl. Prawda vom 4. 4. 1971.

  7. Vgl. Prawda vom 7. 4. 1971.

  8. Vgl. A. D. Sacharow, Rasmyschlenija o progresse, mirnom sosuschtschestwowanii i intellektual'noj sWobode (Gedanken über den Fortschritt, die fried-‘die Koexistenz und die intellektuelle Freiheit), cankfurt a. M. 1968; deutsche Übersetzung: Die eit vom 9. 8. 1968; A. Amalrik, Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben? Zürich 1970; Soviet wssent, Survey, Autumn, 1970, S. 128 ff.; L. S, reuer, The Intelligentsia in Opposition, Problems ° Communism, Nov. /Dec. 1970, S. 1 ff.

  9. Wortlaut: Neue Zürcher Zeitung vom 22. und 24. 4. 1970.

  10. Der Anzeiger des Obersten Sowjets der UdSSR (Russische: Wedomosti Werchownowo Sowjeta SSSR) wird in diesem Beitrag mit AOS UdSSR, die Verordnungssammlung der Regierung der UdSSR (Russisch: Sobranie Postanowlenija Prawitel’stwa SSSR) mit VOS UdSSR abgekürzt.

  11. Vgl. G. Geilke, Rehabilitierung der Wolgadeut-schen, in: Jahrbuch für Ostrecht, Bd. VI, 1. Hal band, 1965, S. 56.

  12. Zum Stand des Ministerrats am 31. Juli 1968 nS Osteuropa, 19. Jg., 1969, s-37 ff.; Stand zum aC der Regierungsbildung am 15. Juli 1970 — AOS UdSSR 1970, Nr. 29, Art. 277.

  13. Wortlaut: Sprawotschnik partijnowo rabotnika (Handbuch des Parteiarbeiters), 9. Folge, Moskau 1969, S. 184 ff.

  14. Vgl. Prawda vom 14. 3. 1971.

  15. Vgl. A. I. Lepeschkin: Woprossy rasvitija nauki Sowjetskowo gosudarstwennowo prawa (Fragen der Entwicklung der sowjetischen Staatsrechtswissenschaft), Sowjetskoje Gossudarstwo i Prawo, 1965, Nr. 2, S. 12. Vgl. auch die Besprechung von A. Sawin im Mai-Heft 1969 der Zeitschrift Nowyj Mir.

Weitere Inhalte

Boris Meissner, geb. 10. August 1915 in Plessau, Dr. jur., Dipl. -Volkswirt, o. Professor und Direktor des Instituts für Ostrecht der Universität Köln, Mitglied des Direktoriums des Bundesinstituts für ostwissenschaft-liehe und internationale Studien, Mitglied des Ostkollegs der Bundeszentrale für politische Bildung, Köln. Veröffentlichungen u. a.: Das Ende des Stalin-Mythos, Frankfurt 1956; Rußland und Chruschtschow, München 1960; Sowjetgesellschaft im Wandel, Stuttgart 1966; Sowjetische Innenpolitik, Stuttgart 1968 (mit Richard Löwenthal).