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Sozialunion -Stimulans der westeuropäischen Gemeinschaftsbildung ? | APuZ 44/1974 | bpb.de

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APuZ 44/1974 Die Welternährungskrise hat erst begonnen. Zur Welternährungskonferenz 1974 *) Sozialunion -Stimulans der westeuropäischen Gemeinschaftsbildung ?

Sozialunion -Stimulans der westeuropäischen Gemeinschaftsbildung ?

Reinhardt Rummel

/ 15 Minuten zu lesen

Der bisherige westeuropäische Gemeinschaftsbildungsprozeß scheint an die Grenze seiner Entwicklungsfähigkeit gelangt zu sein. Noch ist ungeklärt, ob es sich um vorläufige oder endgültige Grenzen, um vordergründige oder grundlegende Entwicklungsschranken handelt. Sowohl der Integrationsweg über den wirtschafts-und währungspolitischen Ausbau der Europäischen Gemeinschaft als auch der Weg über die außenpolitische Kooperation zeigen Stagnations-und Desintegrationserscheinungen. Wenn — aus übergeordneten Gründen — die EG dennoch erhalten bzw. fortentwickelt werden soll, ist es sinnvoll, andere Mittel und Wege der Gemeinschaftsbildung zu erwägen. Eine solche Erwägung soll hier anhand der möglichen Konstruktion einer europäischen Sozialunion vorgenommen werden.

Mit dem Projekt Sozialunion 1) wird ein Vorschlag aufgegriffen, den die Bundesregierung unter anderem Terminus und anderen Vorzeichen der Pariser Gipfelkonferenz 1972 unterbreitet hatte. Die damalige «Deutsche Initiative für eine europäische Sozial-und Gesellschaftspolitik 2) hatte zum Ziel, gleichrangig neben die ökonomische Integration die sozial-und gesellschaftspolitische Integration

I. Einleitung

Abbildung 1

zu stellen. Hauptmotive für dieses Vorhaben waren:

— die Entfaltung der Wirtschafts-und Währungsunion (WWU) sollte gesichert werden; — die Gemeinschaft sollte über den reinen wirtschaftlichen Zweckverband hinausgeführt werden, und — der Bundeskanzler wollte als sozialdemokratischer Regierungschef eine gewisse gesellschaftspolitische Führungsrolle in der EG anstreben.

Das deutsche Memorandum sah gemeinschaftliche Regelungen in der Arbeitsmarktpolitik, in der Gestaltung der Arbeitsbedingungen und der Beteiligung der Arbeitnehmer an den Entscheidungen in Betrieb und Unternehmung vor. Rahmenrichtlinien zum europäischen Tarifvertragsrecht und gemeinschaftliche Grundprinzipien für die soziale Sicherung wurden empfohlen. Die Initiative erstreckte sich auch auf Maßnahmen zur Regional-und Struktur-31 Politik sowie Fragen der Verbesserung der Gemeinschaftsinstitutionen.

Zwar wurde die deutsche Initiative von den Staats-und Regierungschefs des Pariser Gipfels begrüßt, das Kommunique brachte jedoch eine Aufspaltung des weit ausgreifenden deutschen Vorschlags in eine Vielzahl von sektoralen Aktionsprogrammen. Insbesondere fehlte auch die intendierte gesellschaftspolitische Komponente. Dagegen wurde indirekt anerkannt, daß der soziale Fortschritt in der Gemeinschaft nicht nur Anhängsel des wirtschaftlichen Wachstums sein dürfe, sondern zugleich eigenständige Richtschnur des Handelns zu sein habe. Den Maßnahmen im sozialen Bereich komme die gleiche Bedeutung zu wie der Verwirklichung der WWU Damit zeichnete sich ein Wandel in der gemeinschaftlichen Sozialpolitik ab. Die soziale Integration wird aus ihrer funktional untergeordneten Rolle herausgeführt und in eine gewisse Gleichgewichtigkeit mit der ökonomischen Gemeinschaftsbildung gesetzt.

Allerdings wird diese qualitative Tendenzwende weder durch das vom Ministerrat endgültig gebilligte gemeinschaftliche sozialpolitische Aktionsprogramm noch durch die sozial- und gesellschaftspolitischen Inhalte in den übrigen Teilpolitiken der EG hinreichend substantiiert. Insbesondere sind solch grundlegende Fragen wie die Vorabkoordinierung der Programme in den einzelnen Prozeßpolitiken der EG oder die finanzielle Absicherung der geplanten Sozialmaßnahmen weit unter dem funktional Erforderlichen zurückgeblieben.

Trotz und wegen dieses relativ bescheidenen Erfolges und des Fortbestehens des gesellschaftspolitischen Defizits in der EG scheint sich heute unter weitgehend veränderten Voraussetzungen die Wiederaufnahme eines umfassenderen, durchkonstruierten Plans einer Sozialunion — verführerischerweise — anzubieten. Diese Verlockung ergibt sich aus einer Reihe in der gegenwärtigen Situation nahe-liegender Argumente.

II. Argumente für die Errichtung einer Sozialunion

1. Sozial-und gesellschaftspolitische Notwendigkeiten Die Länder der Gemeinschaft stehen vor national schwer unter Kontrolle zu bringenden Entwicklungen. Die Rekordhöhen der Inflationsrate sind durch die Preiserhöhungen im Gefolge der Erdölkrise weiter angewachsen * Die Gefahr einer Rezession und ihre Folgen verschärfen die bestehenden Beschäftigungsprobleme. Strukturschwache Regionen wie z. B. Großbritannien haben einen überproportionalen Anteil an diesen Belastungen zu tragen. Die Auswirkungen auf die sozial schwachen Bevölkerungsgruppen sind erheblich. Sie könnten sachgerecht in einer Sozialunion abgefangen werden, die dafür mit finanziellen, institutionellen und politischen Steuerungselementen ausgestattet wäre. »'eitere dringliche Problemlösungskapazitäa europäischen Ausmaßes werden für Gast-

xbeiterfragen benötigt, insbesondere in der hase drohenden „Exports von Arbeitslosigeit". Auch Gegengewichte zur wachsenden Zähl transnationaler Unternehmen lassen sich sational weder von administrativer noch von gewerkschaftlicher Seite hinreichend wirksam arganisieren. Die bewußte Förderung des Zusammenschlusses von Unternehmen im EG-Raum bedingt zugleich die Kontrolle dieser Machtkonzentrationen beispielsweise über Fu-sonskontrollen oder Formen der Mitbestim-mung.

Innerhalb einer Sozialunion ließen sich mögicherweise auch grundlegende Reformen der Agrar-bzw. Industriestruktur unter sozialem Aspekt in europäischer Dimension in die Wege leiten oder z. B. koordinierte Experimente zur Humanisierung der Fließbandarbeit beginnen, ohne schwerwiegende nationale Wettbewerbs-nachteile befürchten zu müssen. Gewiß geschieht in diesen Problembereichen, deren Ausmaß deutlich über die nationalen Grenzen hinausgeht, bereits einiges Jedoch stellt sich die bisher gewachsene soziale Infrastruktur der EG als Geflecht von mehr oder weniger unkoordinierten Einzelmaßnahmen dar, die nur ein geringes eigenständiges Gewicht und weder ein klares gesellschaftspolitisches Ziel noch eine gewichtige Funktion im Gesamtzusammenhang des Integrationsprozesses haben.

Eine europäische Sozialunion würde als Ziel-begriff und Entwicklungsrahmen die gebündelte Erfassung der sozialen Probleme der Gemeinschaft erlauben und damit eine Koordinierung der Lösungsansätze — möglichst unter Einbezug der Betroffenen in den Entscheidungsprozeß, z. B. in Gestalt eines einflußreichen gemeinschaftlichen Wirtschafts-und Sozialrats, mit dem einige Mitgliedstaaten auf uationaler Ebene teilweise brauchbare Erfah-rungen gemacht haben Mit diesem Vorgehen ließe sich nicht nur das rapide wachsende Volumen transnationaler Prozesse eher steuern, sondern es erlaubte auch gleichzeitige strukturelle integrationspolitische Verbesserungen. 2. Bedeutung im integrationspolitischen Kontext Zweifellos könnte der westeuropäische Integrationsprozeß in der jetzigen Phase eine neue Dynamik „verkraften". Der Zeitpunkt wäre besonders günstig, weil an die gegenwärtige Mißstandslage in der EG angeknüpft werden und damit der Schritt von der programmatischen zur konkret realisierbaren Konzeption getan werden könnte. Eine Sozialunion könnte insofern in gewissem Umfang jene stimulierende und orientierende Funktion übernehmen, die bezüglich der verschiedenen Teilpolitiken bisher der Wirtschafts-und insbesondere der Währungsunion zufiel. Ihr Schwergewicht würde anfangs bei der Konsolidierung erreichter Integrationsfortschritte und der Verhinderung desintegrativer Entwicklungen liegen.

Dieser „Sozialen Politik“ wäre ein weitgespannter Einflußbereich beizumessen. Politik innerhalb einer Sozialunion würde im Kern nicht als sektorale Politik betrieben, sondern in Zusammenfassung fraktionierter Teilpolitiken als europäische Ordnungspolitik unter sozialem Aspekt. Insofern ginge sie weit über das traditionelle Aktionsfeld nationaler Sozialpolitik hinaus in Richtung gestaltender Eingriffe in große Teile des gemeinschaftlichen Gesellschaftslebens. Dieses Merkmal einer neuen Sozialen Politik, mehr zu sein als lediglich ein Glied in der Kette gemeinschaftlicher Prozeßpolitiken, befähigt sie, Instrument einer aktiven Integration zu sein. Durch das übergreifen der sozialen Integration auf andere Politiken haben Impulse in diesem Bereich einen nicht unerheblichen gestaltenden Effekt auf den Integrationsprozeß als Ganzes.

Vom Aspekt der Gemeinschaftsbildung her scheint der sozial-und gesellschaftspolitische Bereich auch deshalb ein idealer Ansatzpunkt, weil die hier berührte politische Materie offenbar die erforderliche Bürgernähe hat (im Gegensatz etwa zur gemeinsamen Währungs-und Außenpolitik). Hier ließe sich Bejahung für Europa oder sogar Engagement in breiter Front einleiten, z. B. durch Erweiterung der Mitwirkungsmöglichkeiten auf verschiedenen Entscheidungsebenen. Der Integrationsprozeß könnte mittelbar politisiert werden; der Zeitpunkt des Umschlags von Quantität in Qualität brauchte nicht abgewartet zu werden. Der Beginn im vorparlamentarischen Raum, bei Gewerkschaften, Parteien und Verbänden ließe eine transnationale Substruktur entstehen, auf der europäisierter Machterwerb denkbar würde. Auf diesem Wege ließe sich allmählich sowohl das demokratische Kontrolldefizit bei EG-Maßnahmen als auch das Dilemma der Ratsverfassung abbauen, wonach die Regierungsvertreter in Brüssel im Interesse der Gemeinschaft entscheiden sollten, sie aber andererseits ihre Legitimationsbasis nach wie vor im nationalen Feld mit nationalen Kriterien vorfinden. Insofern wäre die Gefahr nationaler Regressionen in Belastungssituationen wie im Falle konjunktureller Einbrüche eher vermeidbar. Die Konstruktion von der Basis aus bzw. durch Mannigfaltigkeit der Integrationsträgerschaft würde der Sozialunion eine Eigenheit verschaffen, die sie signifikant von Währungsunion, Wirtschaftsunion und Zollunion unterscheidet, die sich aber mit all diesen Unionen plus der politischen Zusammenarbeit plus einer späteren Verteidigungskooperation zu einer Europäischen Union vereinigen ließe, über den integrativen Gewinn für die gegenwärtige schwierige Entwicklungsphase der EG hinaus böte die Sozialunion somit die Chance, Westeuropa langfristig innere und äußere Attraktivität zu verleihen und Potentiale für eine europäische „Zivilmacht" vorzubereiten.

III. Realisierungschancen des Projekts Sozialunion

1. Schwierigkeiten der Installierung Kommt es in der gegenwärtigen Phase der EG zu einer Entscheidungssituation über die Installierung einer Sozialunion, so können die bisher angeführten Argumente positiv wirken. Aber bereits eine Gegenüberstellung des hohen Erwartungshorizonts hinsichtlich der Sozialunion und der gegebenen Befriedigungskapazitäten in der EG würde eine wirksame Einführung zweifelhaft erscheinen lassen. Die vorhandenen Gemeinschaftseinrichtungen, die für die erste Generation der EG-Politiken angemessen waren, sind nicht nur teilweise überlastet, sondern auch von ihrer Struktur her für die neue Variante nicht ausreichend

Grundlegende Reformen der EG-Administration bzw. neue Institutionen sind aber ohne Verfassungsdebatte nicht denkbar; Änderungen der Verfassung sind jedoch schwierig und langwierig. Selbst wenn eine bescheidenere Ebene angesteuert würde, wäre der Erfolg höchst zweifelhaft. Einige Länder werden eine Verschmelrung nationaler Besonderheiten fürchten. Was bliebe noch spezifisch italienisch oder britisch an Tarifauseinandersetzungen, wenn diese europäisch geführt würden? Es ist auch kaum denkbar, daß die jetzige französische Regienmg bereit wäre, umfangreiche Steuerungsgewalt für zentrale innenpolitische Konflikt-bereiche nach Brüssel zu geben. Erstens würden damit länderspezifische Lösungen zurückgehen; zweitens wird man bezweifeln müssen, daß ein europäischer »Mai 78“ so kanalisierbarbliebe wie der französische „Mai 68“.

Unter diesem Blickwinkel werden sich auch alle anderen Regierungen fragen, auf welches Abenteuer sie sich mit der Entscheidung für eine Sozialunion einlassen. Da die Chancen und Risiken eines solchen Schrittes offensichtlich noch unkalkulierbarer sind als im Falle wirtschaftlicher oder monetärer Unionskonstruktionen, dürfte es fraglich sein, ob sich die erforderliche Einstimmigkeit über die Einführung der Sozialunion erzielen ließe. 2. Entwicklungsrisiken Selbst wenn jedoch aufgrund sachlicher und politischer Zwänge sowie von der Basis des bisherigen gemeinschaftlichen Sozial-und gesellschaftlichen Potentials aus eine Sozialunion begonnen werden könnte, müßten hinsichtlich ihrer Entfaltungsmöglichkeiten einige grundlegende Bedenken angemeldet werden.

Anstatt, wie man erwarten könnte, den Bürger für Europa zu gewinnen, um einen gewissen Grad an europäischer Solidarität zu erzeugen, muß befürchtet werden, daß die Leistungen der Gemeinschaft innerhalb einer Sozialunion weit hinter den sprunghaft steigenden Ansprüchen der Bürger Zurückbleiben, so daß das Resultat dieses Integrationsunternehmens dem Ziel einer stärkeren Identifizierung des Bürgers mit der Gemeinschaft zuwiderlaufen wird. Darüber hinaus wird die zumindest vorübergehend erhöhte Ungleich-artigkeit der sozial-und gesellschaftspolitischen Interessen und ihrer Vertreter den Zusammenhalt der Gemeinschaft insgesamt beeinträchtigen. Alles deutet darauf hin, daß sich die gesellschaftlichen Antagonismen zunächst vervielfältigen und intensivieren würden.

Die Unterschiede in den sozialen Leistungen, in den gesellschaftspolitischen Auffassungen, in der Haltung zu hohen Inflationsraten oder in der Einstellung zum sozialen Versorgungssystem sind für europäische Empfindlichkeiten so schwerwiegend, daß auch mit dem Prinzip der progressiven Konvergenz nur begrenzte Fortschritte zu erzielen sind. Denjenigen, die aufzuholen haben, wird die Dosierung nicht ausreichen. Die sozial-und gesellschaftspolitischen Vorreiter werden andererseits zu Abstrichen an ihrem Fortschritt zugunsten eines europäischen Kompromisses nicht bereit sein. Die Bundesrepublik wird als Spitzenreiter der Verführung und dem Druck bestimmter sozialer Gruppen kaum widerstehen können, deutsche Regelungen (wie z. B. die Mitbestimmung) auf die Gemeinschaft zu übertragen. Andererseits dürfte sie auch auf der Finanz-seite der Sozialunion (z. B. bei der Schaffung einer europäischen Arbeitslosenkasse) mit unter den wenigen „Geberlängern" sein. Die „Nehmerländer" würden also in eine integrationspolitisch und -psychologisch unfruchtbare finanzielle und ideelle Kostgängerrolle gegenüber der Bundesrepublik gedrängt Die Bundesrepublik selbst käme in eine Zwickmühle, sollte sie auf der einen Seite die Sozialunion propagieren, auf der anderen aber nicht bereitwillig zahlen wollen, überhaupt bleibt die Frage offen, ob die sozial-und gesellschaftspolitische Hausse im Rahmen einer Sozial-union nicht vorzeitig die finanzielle Kapazitätsgrenze der EG erreichen würde.

Der hohe Bindungsgrad und der häufig langfristige Charakter der Festlegung bei sozialen Maßnahmen könnte die innen-und außen-politische Handlungsfähigkeit der EG bzw. ihrer Mitgliedstaaten auf die Dauer in gefährlicher Weise belasten. Der Spielraum für weitere Reformen und Zukunftsinvestitionen könnte sich bedenklich verengen. Die kooperative Gestaltung der Außenbeziehungen könnte finanziell und politisch beschnitten werden. Darüber hinaus wird der Ausbau der Sozial-union das außenpolitische Dilemma der Gemeinschaft verschärfen, indem sie sich nämlich einerseits gezwungen sieht, sich zur Identitätsfindung geographisch abzugrenzen, von ihr aber andererseits verlangt wird, daß Teil ihrer Identität die Nichtabgrenzung bzw. Nichtdiskriminierung sei (Stichwort: Gastarbeiter aus Drittstaaten).

Die soziale Attraktivität der EG hätte also durchaus ambivalente Wirkungen.

IV. Folgerungen für den Integrationsprozeß

1. Langfristiger Charakter der Sozialunion Weniger noch als im Falle der WWU wird die Errichtung der Sozialunion auf dem funktional-technokratischen Weg angefaßt werden können. Vielmehr empfiehlt sich ein flexibles . leises“ Vorgehen, das sachlich an den bisherigen sozialen, gesellschaftspolitischen und institutioneilen Schwächestellen der Gemeinschaft angreift, zugleich aber die sozialen Gruppen mit in den Problemlösungsprozeß einbezieht. Die Übertragung und Orientierung innerpolitischer Kernbereiche von der nationalen in die europäische Dimension setzt eine teilweise Lockerung gewachsener Strukturen voraus; das gilt sowohl für die administrative Ebene als auch für die organisierten Bevölkerungsgruppen und die sozialen Erwartungsstrukturen des einzelnen Bürgers.

Europäische Strukturbildung wird vorzugsweise über die sozial-und gesellschaftspolitische Interessenverfolgung der zahlreichen Integrationsakteure (Parteien, Verbände, Sozial-partner) angeregt. Sachzwang verbindet sich mit politischem Zwang; die soziale Integrationsmaterie besitzt von Anfang an politische Qualität. Kurz-und mittelfristig werden in dieser Sphäre erhöhter sozial-und gesellschaftspolitischer Heterogenität die Empfindlichkeiten für das . Rühren'an nationalen Systemen wachsen. Auch ist für die Konflikt-Verlagerung von der nationalen in die europäische Größenordnung und die oben beschriebene Vervielfältigung der Antagonismen unter den sozialen Gruppen mit zunächst wenig eingespielten Lösungsregelungen zu rechnen. Die Enge der nationalen und gemeinschaftlichen Budgets und die Langfristigkeit des strukturellen, regionalen und sozialen Disparitätenabbaus läßt nur geringe Fortschritte zu. Die Schere zwischen sozialem Anspruchsniveau und dafür verfügbaren Befriedungsmitteln erhält bereits durch den Ankündigungseffekt einer Sozialunion Tendenz zu weiterer Öffnung.

Da all diese Momente bereits von Anfang gegeben sind, wird die Einführungsphase der Sozialunion besonders reich an Hemmnissen, Friktionen und Fallstricken sein. Schnelle Erfolge sind nicht zu erwarten. Deshalb liegt das Lohnende bei dem Projekt Sozialunion weniger im aktuellen Beitrag zur Überwindung von Frustrationserscheinungen im Integrationsprozeß als vielmehr in den grundlegenden längerfristigen Perspektiven der Gemeinschaftsbildung, d. h. in der Steigerung der Belastungsfähigkeit der Gemeinschaft auf lange Sicht, in der Profilierung als Sozialgemeinschaft neben der ökonomischen Komponente sowie in der Fortentwicklung einer europäischen sozialen und ordnungspolitischen Tradition in Konkurrenz zu anderen Kulturkreisen. 2. Umrisse einer Sozialgemeinschaft Eine der Lehren, die wir aus den vergangenen fünfzehn Jahren des Bestehens der EG ziehen können, ist die Erkenntnis, daß es keine Sach-B sänge gibt die automatisch zur europäischen segration führen. Es gibt Sachverhalte, die adh einem politischen Wollen verlangen. Da-at dieses Wollen jedoch sinnvoll ist, muß hm, und sei es auch in groben Zügen, ein Hel vorgegeben werden. Zur Formulierung dnes Zielkatalogs für die künftige Sozialmion wäre zunächst von einer Analyse der sozialen Erwartungen und Interessen der Bürjer und ihrer Organisationen in den einzelnen Hitgliedstaaten der Gemeinschaft auszugehen.

Zu den gewonnenen Anhaltspunkten wären die wesentlichen Aufgabenkomplexe zu addieren, die im sozial-und gesellschaftspolitischen Bereich auf Westeuropa zukommen. Die Inan-

griffnahme dieser Zukunftsprobleme wird im Verein mit den anstehenden Gegenwartsaufgaben eine beträchtliche Motivationssubstanz für die Errichtung der Sozialunion abgeben. In den bereits eingerichteten Fonds, in den praktizierten sozial-und gesellschaftspolitischen Gemeinschaftsregelungen und in den institu-tionellen Ansätzen der EG wären zwar keine tragfähigen Pfeiler, jedoch ausbaufähige Grundlagen vorhanden.

Die Verwendung dieser Konstruktionsmaterie für die Sozialunion muß nicht in einen Stufenplan wie den der WWU gepreßt werden. Man kann vielmehr mit einer Art strategischem Pragmatismus vorgehen, der sowohl die integrativen Notwendigkeiten wie die sozialpolitischen Realitäten einbezieht. Ein solcher Aktionsablauf steht einerseits unter den Balance-bedingungen fortschreitender sozialer Ansprüche und entsprechend wachsender Befriedungskapazität, orientiert sich aber andererseits an einer mehr oder weniger konsistenten Gesamtstrategie der Sozialunion. Die periodische Bestimmung dieses globalen sozial-und integrationspolitischen „Überbaus“ (z. B. auf turnusmäßigen Sozialkonferenzen garan-tiert, daß die Schritt-für-Schritt-Politik der „offenen* Integrationsmethode nicht ohne größere Zielzusammenhänge verläuft.

Inhaltlich wäre eine europäische Sozialunion vor allem als Stabilitätsgemeinschaft zu installieren, d. h. eine gemeinsame Antiinflationspolitik wäre die Voraussetzung für die Sicherung des erreichten Wohlstands-und Versorgungsniveaus der sozial schwachen Bevölkerungsgruppen in der Gemeinschaft. In Westeuropa dürfte es keine Gebiete mit großer Arbeitslosigkeit geben. Regionale Wirtschaftspolitik und Beschäftigungspolitik müßten dafür eingesetzt werden, in strukturschwachen Gebieten Arbeitsplätze zu schaffen und für die geeignete Ausbildung bzw. Fortbildung und Umschulung der Arbeitnehmer zu sorgen. Ergänzend wäre ein einheitlicher europäischer Arbeitsmarkt zu schaffen, der für alle transparent ist und dessen Informationssysteme und Statistiken den Beratungsstellen in den Arbeitsämtern die notwendigen Unterlagen über den ganzen Markt gewähren. Die Bedürfnisse des einzelnen würden bei der regionalen und sektoralen Mobilität in der Beschäftigungspolitik auf europäischer Ebene weitgehend berücksichtigt werden. In einer Sozialunion wäre ein ständiger Prozeß zur Verbesserung der Bedingungen am Arbeitsplatz eingeleitet, der von technischen Problemen, wie der gemeinschaftlichen Unfallforschung, bis zur Entwicklung der sozialen Rechte im Betrieb reichen würde.

Die Arbeitnehmer aus Drittstaaten und ihre Angehörigen könnten in allen Mitgliedstaaten der Sozialunion Gleichbehandlung erwarten. Besonders hohe Unterschiede in den Sozialleistungen von Land zu Land würden gemildert. Soziallastoasen, d. h. Fälle, in denen durch nicht abgestimmte Sozialpolitik in den Mitgliedsländern industriepolitische Entscheidungen getroffen werden, die sich hinsichtlich des Standortes davon leiten lassen, die mög-liehst geringe Belastung mit Abgaben für Sozialleistungen als Maßstab zu nehmen, würden weitgehend beseitigt bzw. verhütet.

Die Sozialunion wäre von dem Prinzip der progressiven Konvergenz der Sozialleistungen geprägt, d. h., das Ziel ist nicht eine Gemeinschaft mit völlig einheitlicher Sozial-gesetzgebung und mit in jeder Hinsicht gleichen Leistungen, Beiträgen und Ausstattungen. Vielmehr könnte und müßte die nationale Differenziertheit in größerem Maße erhalten bleiben als etwa bei Zoll-oder Währungsunion. Entscheidendes Charakteristikum wäre die gleiche Ausrichtung der sozialen Politik in ihren konkreten Zielen. Dieser Grundsatz gälte vor allem auch für weniger „finanzielle" Gemeinschaftspolitiken, wie z. B. die Mitbestimmungsregelung im Unternehmen. Hier wäre weniger die Art und Weise als das Prinzip der Kontrollrechte der Arbeitnehmer kennzeichnend für eine Sozialunion.

Eine europäische Arbeitslosenkasse, eine europäische Konzertierte Aktion, ein offener interregionaler Finanzausgleich, europäische Investitionslenkung für Ballungszentren und Berufssteuerung für westeuropäische Strukturveränderungen sind bisher für die EG nicht gegeben. Als Inhalte einer Sozialunion zeigen sie die Dimension der zu bewältigenden Aufgaben auf. Die Herausforderung dieser Probleme liegt vor allem im politischen Bereich. Die bisherige Praxis, wonach die Regierungen der Partnerstaaten und deren nationale und europäische Bürokratie die nahezu alleinigen Planer, Vollzieher und Träger von Integrationsschritten waren, wird für die Entwicklung einer westeuropäischen Sozialgemeinschaft keineswegs ausreichen. Die Prozeduren und Inhalte der Sozialunion werden mit den Bürgern und ihren Verbänden und Organisationen in dauernde Übereinstimmung gebracht werden müssen. Erst unter diesen Voraussetzungen entfällt der gegenwärtig so evidente Zwang für die nationalen Regierungen, daß sie bei politisch brisanten Materien und unter dem Eindruck stärkerer Belastungen von bereits gegebenen Integrationszusagen wieder abrücken müssen, wenn ihre nationale Macht-basis nicht instabil werden soll.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Bulletin des Presse-und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 148 vom 24. 10. 1972, S. 1763 ff.

  2. Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Soziales Aktionsprogramm, Brüssel, Oktober

  3. Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Zusammenfassung der wichtigsten bisherigen Tätigkeiten der Europäischen Gemeinschaft auf sozialem Gebiet; ergänzende Unterlagen II zum Sozialen Aktionsprogramm, Brüssel 13. 11. 1973.

  4. Die Bundesrepublik liegt mit einer Preissteigerungsrate von 6, 9 vH für 1973 gegenüber 1972 zwar am unteren Ende innerhalb der EG, hat allerdings seit der Korea-Krise derartige Werte nicht mehr gekannt. Zum Vergleich die Preissteigerungsraten für Frankreich: 9, 4 vH; Italien: 10, 8 vH; Irland: 11, 8 vH; USA: 6, 2 vH; Kanada: 7, 6 vH; Japan: 11, 4 vH. Einige Länder (Frankreich, Italien, Irland) müssen nach den bisherigen Werten des laufenden Jahres damit rechnen, daß sich diese Steigerungsraten für 1974 im Vergleich zu 1973 sogar verdoppeln!

  5. Vgl. Bericht über die Entwicklung der sozialen lage in der Gemeinschaft im Jahr 1973, Brüssel, Februar 1974.

  6. Der existierende Wirtschafts-und Sozialausschuß ist trotz seines inzwischen erworbenen Initiativrechts für eine solche Funktion ungeeignet; eher wäre bei dem beim Ministerrat „angesiedelten" Ständigen Ausschuß für Beschäftigungsfragen anzuknüpfen.

  7. Diese Tatsache erklärt sich daraus, daß die Verträge von einer funktionalen Sozialpolitik ausgegangen waren, die Fragen wie z. B. die Mitbestimmung oder die Dynamisierung der Sozialleistungen logischerweise nicht miteinbezogen. Dies wiederum macht die sich als Lösung bietende Anwendung des Artikels 235 EWG-Vertrag schwierig, denn diese Vorschrift, die eine — politisch problematische, weil außerhalb der nationalen Parlamente laufende — Vertragsergänzung durch den Rat vorsieht, setzt voraus, daß es um die Verwirklichung von Zielen des Gemeinsamen Marktes gehtl Möglicherweise könnte dieser Bedingung durch die allgemeine Zielsetzung nach Artikel 2 EWG-Vertrag genügt werden, worin eine „beschleunigte Hebung der Lebenshaltung" anvisiert wird.

  8. Diese Relationen besagen wenig bezüglich des tatsächlichen Input-Output-Vergleichs für die Bundesrepublik als „Zahlmeister“ der EG. Vgl. Michael Jungblut, Törichtes Gerede von der deutschen Melkkuh: Deutsche Hilfe für die EG-Partner hilft vor allem uns selber. Keine Opfer, sondern Investitionen; in: Die Zeit, vom 7. Juni 1974, S. 25.

  9. Eine solche Sozialkonferenz unter Beteiligung der Kommission, des Rates und der europäischen Sozialpartner sollte Mitte 1973 den Entwurf des sozialen Aktionsprogramms diskutieren. Wegen Uneinigkeiten über den Teilnehmerkreis unter den Sozialpartnern trat das Forum jedoch nicht zusammen, obwohl es in den Direktiven der Pariser Gipfelkonferenz verlangt worden war.

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