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Aspekte der „britischen Krise" | APuZ 45/1977 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 45/1977 Die intellektuelle Opposition in der DDR seit 1956. Ernst Bloch — Wolfgang Harich — Robert Havemann Aspekte der „britischen Krise" Schweden -Die „politische Wende" findet nicht statt

Aspekte der „britischen Krise"

Jürgen Hartmann

/ 39 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die „britische Krise'weckt zunächst Assoziationen mit den akuten wirtschaftlichen Schwierigkeiten Großbritanniens. Hinter den ökonomischen Problemen blicken Ursachen durch, die den Spielraum der britischen Politik einengen und kurzfristig wirksame Lösungen verhindern. Die britische Wirtschaft ist durch einen empfindlichen Mangel an Investitionen zur laufenden Modernisierung der Industrieanlagen sowie durch eine geringe Produktivität gekennzeichnet. Seitdem Großbritannien einen wachsenden Teil seiner Einfuhren als entwickelte industrielle Fertigungsgüter aus den westeuropäischen Konkurrenzländern bezieht und auch — mit dem Bedeutungsverlust der traditionellen Commonwealth-Märkte — seine Exporte in höherem Maße in diese Länder absetzen muß, gewinnen Produktivitätsund Preisvorteile der britischen Industrie entscheidende Bedeutung für die außenwirtschaftliche Selbstbehauptung Großbritanniens. Die chronischen Handelsbilanzdefizite wei-sen darauf hin, daß die britische Wirtschaft im internationalen Wettbewerb überfordert ist. Die Wirtschaftspolitik erkannte erst spät die Ursachen dieses Problems und reagierte mit den unterschiedlichsten Verbesserungsstrategien. Seit langem kommt hierbei den verschiedenen Versuchen einer „Einkommenspolitik", die auch der Idee des gegenwärtig praktizierten „social contract" zugrunde liegt, ein zentraler Stellenwert zu. Dem Verhältnis zwischen der Labour Party und den Gewerkschaften kommt eine wichtige Funktion für die Erklärung des Verlaufs der britischen Politik in den letzten Jahren zu. Labour-Regierungen betrieben oft eine Politik, die vitale Interessen der Gewerkschaften ignorierte. Die Folge waren ein Leerlauf der Regierungsmaßnahmen im wirtschaftlichen Bereich und das Entstehen heftiger innerparteilicher Auseinandersetzungen in der Labour Party. Erst die Vereinbarung des „social contract" hat vorläufig ein Einvernehmen und die praktische Zusammenarbeit zwischen den Gewerkschaften und einer Labour-Regierung wiederhergestellt und die innerparteilichen Kräfteverhältnisse in der Labour Party stabilisiert. Dagegen besteht zur Zeit für die Gewerkschaften kaum eine Gesprächsbasis mit der konservativen Oppositionspartei. Drei alternative Konzepte, das „pragmatische“ der Regierungspolitik, das „sozialistische" der Labour-Linken und das „neoliberale" der beherrschenden Richtung in der Konservativen Partei, konkurrieren um die richtige Strategie für die Bewältigung der „britischen Krise“. In Anbetracht der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse und der starken Außenabhängigkeit des Landes scheint der „mittlere Weg“ der Regierung Callaghan realistischer und erfolgversprechender zu sein.

I. Historische Grundlagen

Tabelle 1:

Klassenzusammensetzung nach manuellen und nicht-manuellen Berufen (1970)

Die englische „Krankheit" fällt zunächst in ihren wirtschaftlichen Aspekten ins Auge.

Hier soll es um eine Darlegung der Entwicklungen gehen, die auf die heutige Situation hinführten, sowie um die politischen und gesellschaftlichen Strukturen, von denen die Gegenwartslage Großbritanniens geprägt wird. Besondere Beachtung soll den Grundzügen der britischen Wirtschaft, der neueren Wirtschaftspolitik und den Parteien in ihrer Eigenschaft als „Transformatoren" gesellschaftlicher Interessen in politische Entscheidungen gelten.

Zahlreiche gegenwärtige Strukturschwächen der britischen Politik wurzeln im Industrialisierungsprozeß des 19. Jahrhunderts. Als das erste industrialisierte Land befand sich Großbritannien bis in die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts in der Rolle des dominierenden Landes in einem arbeitsteiligen Weltwirtschaftssystem: Das für geraume Zeit konkurrenzlose britische Industriesystem belieferte den Weltmarkt mit kapitalintensiv hergestellten Gütern und bezog zu den günstigsten Bedingungen diejenigen Rohstoffe, die es nicht selber besaß. Als die neuen Industrieländer zu Konkurrenten der britischen Industrie aufstiegen, besaß Großbritannien bereits eine relativ alte technologische Struktur. Soweit Innovationen erfolgten, erwuchsen sie mehr aus der Defensive, aus dem Zwang, besetzte Marktpositionen zu verteidigen, und nicht — wie bei den Aufsteigerindustrien — aus der Notwendigkeit, sich gegen bestehende Weltmarktstrukturen mit neueren Verfahren und geringeren Kosten durchzusetzen. Die Grundlagen der britischen Industriestruktur — Textilherstellung, Metallverarbeitung und Schiffbau — blieben in ihrer Leistungsfähigkeit hinter den amerikanischen und deutschen Industrien zurück. Der Warenaustausch mit dem Ausland war chronisch defizitär, die »sichtbaren" Einfuhren überstiegen die „sichtbaren" Exporte bei weitem. Dennoch blieb die gesamte Zahlungsbilanz positiv. Dies erklärte sich aus dem Startvorteil, mit dem Großbritannien in den Industrialisierungsprozeß eingetreten war: Erhebliche Kapitalsummen flossen in der Zeit der Monopolisierung der industriellen Produktion durch Großbritannien ins Ausland, wo sie in Europa und den USA den Industrialisierungsprozeß förderten und einen Gewinnrückfluß nach Großbritannien ermöglichten.

Der europäischen und amerikanischen Konkurrenz waren britische Güter bereits vor 1914 nicht mehr gewachsen. Dennoch konnte das im 19. Jahrhundert entstandene, nicht sonderlich leistungsfähige industrielle System ohne den Anschluß an anderwärts längst durchgeführte produktive Innovationen fort-existieren: Es zog sich zunehmend in die geschützte Absatzzone des Empire zurück, wo die terms of trade zwischen dem Mutterland und den Kolonien weitaus günstigere Bedingungen setzten als für die europäischen Konkurrenzindustrien. Diese waren einem größeren Kostendruck, ausgesetzt, sie mußten Rohstoffe teurer erschließen und sich im wechselseitigen Wettbewerb durchsetzen.

Erst nach 1918 entstand neben den älteren, „klassischen" Industrien eine Massenverbrauchsindustrie; die vorhandenen Leicht-und Schwerindustrien waren nicht geeignet, die Bedürfnisse des expandierenden Binnenmarktes zu decken. Breitere Bevölkerungskreise wurden jetzt erstmals in größerem Umfang für die Produktionsstruktur der britischen Wirtschaft interessant. Auf diese Weise kam es zur Spaltung der britischen Industrie in einen traditionellen, stagnierenden sowie in einen neueren, für die vergleichbaren Industriegesellschaften charakteristischen Sektor Für die Entwicklung der britischen Nachkriegs-wirtschaft sollte diese Spaltung große Bedeutung gewinnen.

II. Innere und äußere Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg

Tabelle 2:

Parteipräferenz nach Selbsteinschätzung und berufliche Position in vH (1970)

Zwei neue Prämissen bestimmten die ökonomische und soziale Nachkriegsentwicklung in Großbritannien: Zunächst hatte die hohe Massenarbeitslosigkeit der Zwischenkriegszeit, die dann durch die Kriegsproduktion beseitigt wurde, die Erhaltung eines maximalen Beschäftigungsstandes an die Spitze der politischen Prioritäten gerückt. Die Anwendung der Prinzipien einer Keynesianischen Wirtschaftspolitik gewährleistete bis zum Beginn der 60er Jahre eine erfolgreiche Vollbeschäftigungspolitik. Ferner brachte die Zäsur gegenüber den politischen Konstellationen der Zwischenkriegszeit die Anerkennung der Labour Party als regierungsfähige Alternativ-partei. Der spektakuläre Labour-Wahlsieg von 1945 verschaffte der Labour Party erstmals eine breite, auf längere Regierungsausübung angelegte Unterhausmehrheit. Darüber hinaus prägte-die Labour Party in ihrer Wirtschafts-und Sozialpolitik die Grundzüge des modernen britischen Sozialstaates. Auch die Konservativen — hierin bestand die weitere wichtige Wirkung der Verfestigung des sich seit 1930 anbahnenden Zweiparteiensystems — mußten daraufhin ihrer Politik im sozialen und ökonomischen Bereich neue Verteilungsziele zugrunde legen. Ohne ein aktives Bemühen um die Verbesserung oder zumindest die Gewährleistung des Lebensstandards und der öffentlichen Leistungen für die britische „working dass" konnte die Konservative Partei sich nicht länger als aktuelle Regierungspartei oder chancenreiche Regierungspartei im Wartestand behaupten Vollbeschäftigung und Sozialleistungen erzeugten eine hochdifferenzierte, auch in anderen europäischen Industrieländern seit langem zu beobachtende Konsumstruktur. Auf der anderen Seite blieb jedoch die Produktivität der britischen Wirtschaft hinter derjenigen vergleichbarer Länder zurück. In vieler Hinsicht mutet deshalb das Kernproblem Großbritanniens — auf einen Nenner gebracht — als der mißlungene Versuch an, einer nicht ausreichend leistungsfähigen Wirtschaftsstruktur hochentwickelte Konsumerwartungen und -gewohnheiten aufzustülpen. Altere Strukturen, politische Dogmen, im Erziehungssystem verfestigte soziale Einstellungen und eine komplizierte, schwer wandlungsfähige Form der gewerkschaftlichen Interessenvertretung behinderten ein Zurückschrauben dieser Diskrepanz auf ein wirtschaftlich langfristig vertretbares Maß.

III. Gesellschaft

Die britische Gesellschaft blieb auch nach dem Zweiten Weltkrieg von krassen Klassen-gegensätzen geprägt. Eine Zuordnung zur Mittelklasse oder zur „working dass" betrachten die meisten Briten als selbstverständlich. Eine 1970 durchgeführte Befragung ergab, daß 77 °/o aller Angesprochenen sich mit einer der beiden Klassenkategorien identifizierten. Herausragendes Unterscheidungskriterium waren berufliche Merkmale. Vier Fünftel aller Arbeiter identifizierten sich danach mit der „working dass", die sich von den Angehörigen der Mittelklasse darin unterscheidet, daß sie ihren Lebensunterhalt durch manuelle Lohnarbeit verdient. Etwa zwei Drittel derjenigen, die sich selbst als Mittelklasse einstuften, arbeiten in nicht-manuellen Berufen Eine sehr hohe Entsprechung zwischen der Berufskategorie und der subjektiven Klasseneinstufung zeigen der industrielle, von der Industriearbeiterschaft geprägte Norden sowie der südöstliche Landesteil und die Londoner Region, wo sich die privaten und staatlichen Dienstleistungszentren befinden (vgl. Tabelle 1). Die Selbsteinschätzung der britischen Bevölkerung erreicht eine hohe Annäherung an ein dichotomisches Gesellschaftsmodell. Diese Beobachtung wirft die Frage nach den Faktoren auf, die das soziale Dasein der beiden Klassen in der britischen Gesellschaft beeinflussen. Neben der beruflichen Erfahrung gehört die Wohnsituation zu den prägenden sozialen Erlebnissen. Die Verstädterung setzte in Großbritannien frühzeitig ein und hat noch heute einen höheren Stand als in vergleichbaren Ländern. Häuser und Wohnungen, die von den Eigentümern bewohnt wurden, umfaßten 1972 mit 52°/0 aller Wohneinheiten über die Hälfte des britischen Wohnungsbestandes, der sich damit seit 1945, als dies auf 26% aller Wohneinheiten zutraf, verdoppelte. Der soziale Wohnungsbau expandierte ebenfalls:

Er umfaßte 1972 30%, 1945 aber lediglich 12% des Wohnungsbestandes. 17% aller Wohnungen und Häuser waren 1972 von Privaten vermietet; gegenüber 1945 ist das ein Rückgang von 37 % Öffentliche und private Mietwohnungen wurden zu 70 % von Arbeitern bewohnt (1972); höhere Angestellte und Freiberufler dagegen bewohnten zu 80 % und sogar noch die mittleren Angestellten sowie die übrigen nicht-manuell Beschäftigten zu 60% eigene Wohnungen und Häuser *. Mithin besitzen die verschiedenen britischen Mittelklassen — ungeachtet ihrer beruflichen Stellung — als Haus-und Wohnungseigentümer spezifische Besitzerinteressen und unterscheiden sich auch dadurch von der working class Darüber hinaus bedingt die hohe Zinsbelastung des Wohneigentums besondere Erwartungen an entlastendes staatliches Handeln, während die überwiegende Mehrzahl der Mieter eher ein Interesse an Mietpreisgarantien besitzt. Die Einheitsmieten für den öffentlichen Wohnsektor fördern die Polarisierung zwischen den Haus-und Wohnungsbesitzerinteressen sowie den Sozialund Privatmietern zusätzlich. Insgesamt unterstreichen mithin die Wohnbesitzverhältnisse die Klassengegensätze in der britischen Gesellschaft.

1944 entstand in Großbritannien ein Schulsystem, das als Mobilitätsleiter auch für Kinder aus working-class-Familien konzipiert war. Im Alter von 11 Jahren wurden die Schüler, die bis dahin gemeinsame Primärschulen besuchten, auf drei Zweige des sekundären Schulsektors verteilt: auf die Modern Secondary Schools, für die keine besonderen Aufnahmevoraussetzungen bestanden, auf die

Technical Secondary Schools, deren Besuch

von Leistungstests der Schüler abhing, und auf die Grammar Schools, die auf einen abiturähnlichen Abschluß hinführten, die Aufnahme in eine Universitätsausbildung vorbereiteten und deshalb sehr hohe Testleistungen verlangten. Die Lenkung aller Schüler bereits in einer niedrigen Altersstufe auf diese drei Schulzweige konservierte aber faktisch die Bildungsprivilegien der britischen Mittelklasse Die berufliche und soziale Position der Mittelklassen vermittelte deren Kindern von vornherein die Zugangschancen zu den Grammar Schools, die mit hoher Wahrscheinlichkeit eine tertiäre (Hochschul-) Ausbildung verbürgen und somit ähnliche oder gehobenere Berufe als die der Eltern Working-class-Kinder blieben aufgrund der Leistungstests so auf die Modern Secondary und Technical Secondary Schools beschränkt. Modern-School-Abgänger wurden im wesentlichen auf manuelle Berufe vorbereitet, Technical-School-Abgänger für gering qualifizierte, vorwiegend nicht-manuelle Berufe Nach einer 1970 durchgeführten Umfrage besuchten we-niger als 20 % der Kinder aus Working-class-Familien, aber über 50 % der Kinder aus Familien mit nicht-manuellem Berufshintergrund und 80 % der Kinder aus Freiberufler-und höheren Angestelltenfamilien Grammar Schools oder äquivalente Privatschulen.

Die offenkundige Konservierung der Klassenunterschiede durch das dreigliedrige Schulsystem veranlaßte die Suche nach Schulmodellen, die das Bildungsdefizit der Working-class-Kinder kompensieren sollten. So forderte 1965 die Regierung die mit großen Autonomierechten ausgestatteten Schulbehörden in den Grafschaften auf, die Schultests abzuschaffen und alle drei Schultypen in Gesamtschulen, Comprehensive Schools, zu integrieren. Vor allem in der Mittelklasse bestanden jedoch gegen diese Nivellierung des über-kommenen Schulsystems erhebliche Vorbehalte. Die konservative Regierung Heath suspendierte daher die Förderung der Gesamtschulbildung, die erst 1974 nach dem Wahlsieg der Labour Party wieder aufgenommen wurde. Heute bestehen drei Schultypen nebeneinander: Secondary Schools, Comprehensive Schools und Grammar Schools oder vergleichbare Privatschulen. 197 1/72 befanden sich immer noch weit über die Hälfte der Kinder mit manuell-beruflichem Hintergrund der El-tern auf den Modern Schools, knapp unter einem Drittel besuchten Gesamtschulen und lediglich ein Zehntel Grammar Schools und Privatschulen Die Wirkungen der comprehensive education für die soziale und berufliche Mobilität in der britischen Gesellschaft sind noch nicht absehbar.

1970 hatte ein Fünftel der britischen Wähler berufliche Aufstiegserfahrungen im Vergleich mit der beruflichen Stellung der Eltern erfahren. Einen beruflichen Abstieg verzeichnete ein Zehntel. Diese berufliche Mobilität zwischen den Generationen erklärt sich aus der wirtschaftlichen Entwicklung, in deren Verlauf sich die Zahl der Beschäftigten im manuell-industriellen' Bereich zugunsten der Beschäftigten im Dienstleistungssektor verschob. Die politischen Konsequenzen dieses sozialen und beruflichen Wandlungsprozesses blieben jedoch in bescheidenen Dimensionen. Die Labour Party besaß in der Arbeiterschaft eine vergleichsweise homogene Basis, während die Konservativen sich auf etwa 75 °/o der sozial differenzierten Mittelklasse stützten. Der Kern der working dass — Träger eines klassenbezogenen, dichotomischen politischen Bewußtseins — blieb von sozialen Aufstiegsprozessen weitgehend isoliert Sowohl Aufsteiger als auch Nichtaufsteiger aus der working dass halten jedoch an ihren früheren politischen Präferenzen bzw.denen der Eltern fest, während Absteiger aus der Mittelklasse eher bereit sind, die Präferenzen zu wechseln. Eine hohe soziale und berufliche Mobilität müßte folglich die soziale Basis der Labour Party stärker verbreitern

Bis in die 50er und 60er Jahre hinein schlug sich die berufliche Mobilität von der working dass zu den Mittelklassen jedoch nicht merklich in der Verteilung der Präferenzen für die beiden großen Parteien nieder. Es stiegen überwiegend diejenigen Angehörigen der working dass beruflich auf, die abweichend von den übrigen Arbeitern Mittelklassennormen akzeptierten und die Konservative Partei wählten Das vergleichsweise lang-same und geringe Wirtschaftswachstum hatte zur Folge, daß die sozialen Strukturwandlungen bzw. die Umschichtung der Berufsstruktur den Kern der working dass erst allmählich erreichten Das starre, schwer durchlässige Schulsystem und die Wohnbesitzverhältnisse banden überdies die working dass in ein soziales Beziehungsgeflecht ein, das die Bereitschaft zum beruflichen Aufstieg eher hemmte als förderte. Infolgedessen besaß eine reformistische Politik auf Dauer nur geringen Spielraum. Konservative Wähler aus der working dass brachten die konservative Partei an die Regierung, während umgekehrt die Labour Party als Oppositions-und Regierungspartei sowohl auf die Klassenbindung ihrer Wählerschaft achten als auch an Teile der beruflich und sozial vorwiegend an die Konservativen gebundenen Mittelklasse appellieren mußte, die bei der starken Distanz zwischen den ökonomischen Klassen doch andere politische Sichtweisen und Interessen verkörperten (vgl. Tabelle 2). Von daher erklärten sich die Schwierigkeiten reformorientierter Labour-Regierungen.

IV. Wirtschaft

Die britische Nachkriegswirtschaft zeichnet sich durch ein geringeres Wachstum aus als die in vergleichbar industrialisierten westeuropäischen Ländern oder Nordamerika. Zwischen 1964 und 1974 wuchs das Bruttoinlandsprodukt im Jahresdurchschnitt um real 2, 5 °/o;

die Bundesrepublik Deutschland verzeichnete ein reales Wachstum von 4 °/o, Frankreich 5, 3 °/o, Italien 4, 70/0 und die USA 3, 7 °/o

Vor allem zwei Faktoren bedingten die geringe Wachstumskapazität der britischen Wirtschaft: die Struktur der britischen Industrie und die wirtschaftspolitischen Strategien der britischen Regierungen.

Eine Strukturschwäche der britischen Wirtschaft, die auf die Frühindustrialisierung zurückgeht, stellt sich heute in den sog.depressed areas dar. Diese Entwicklungsgebiete beherbergen diejenigen Industrien, die lan-ge den weltwirtschaftlichen Vorrang Großbritanniens begründeten und dank der Wirtschaftsverbindungen mit dem Empire bzw.

später mit dem Commonwealth ihre Bedeutung behielten. Hierzu zählen der Schiffbau, die Textilindustrie, Teile der eisenverarbeitenden Produktion und die Kohleförderung. Der Bedeutungsschwund gerade dieser Bran-chen erzeugte nicht nur sektorale, sondern auch hohe regionale Arbeitslosigkeit in Schottland, Wales und Teilen Nordenglands. Neuere Massenverbrauchsgüterindustrien, Automobilherstellung, Elektroindustrie etc. sowie der wachsende Dienstleistungsbereich, Banken und Versicherungen, konzentrierten sich auf Südengland, auf die Londoner Region und zum Teil auf die Midlands. Hier erreichte die Arbeitslosigkeit bei weitem nicht solche Ausmaße wie in den „depressed areas"

Eine externe Entwicklung, der „Reparatureffekt“ der westeuropäischen Konkurrenzindustrien, wirkte sich äußerst nachteilig in der wirtschaftlichen Nachkriegsentwicklung Großbritanniens aus. Unter Kriegszerstörungen hatte die britische Industrie nicht in nennenswertem Umfang gelitten. In den wirtschaftlich stärker vom Krieg betroffenen Ländern entstanden bis Anfang/Mitte der 50er Jahre neue und modernere Industrieanlagen, die produktiver arbeiteten und in den Wett-bewerb mit britischen Industriegütern eintraten. In England dagegen blieben die erforderlichen Investitionen, die allein einen Anschluß an die technologischen Standards der Konkurrenzländer hätten erreichen können, aus Die amtliche Wirtschaftspolitik trug bis in die 70er Jahre hinein erhebliche Verantwortung für eine Situation, die Investitionen in neue Produktionsanlagen eher entmutigte als anregte. Selbst in den letzten zehn Jahren, als britische Regierungen sich bemühten, der Investitionsschwäche der Industrie entgegenzuwirken, bewegte sich der Index der industriellen Produktion zwischen 90, 6 1966 und 102, 2 1976 (100 = 1970). Seinen höchsten Stand erreichte er 1973 mit 110, 3

Ein kontinuierliches Wachstum fand lediglich in den Dienstleistungsindustrien, bei Gas, Elektrizität und Wasser statt, während die heimische Energieerzeugung, Kohle, und die Bauindustrie entweder Stagnation oder rückläufige Produktionswerte auswiesen. Lediglich in der herstellenden Industrie war bis zum Beginn der Rezession Anfang der 70er Jahre ein leichtes Wachstum festzustellen, das jedoch nach 1973 ebenfalls in eine Schrumpfung überging. Generell steigerten die Verbrauchsgüterindustrien ihre Produktion rascher als die Investitionsgüterindustrien mit einem Indexanstieg von 95, 4 (100 = 1970) im Jahr 1968 auf 118, 9 1973 gegenüber 94, 7 1968 und 104, 4 1973 bei den Investitionsgüterindustrien. Ähnlich traf die nach 1973 zu beobachtende Produktionsverringerung die Investitionsgüterindustrien härter als die Verbrauchsgüterindustrien; erstere erzielten 1976 einen Index-stand von 98, 2, letztere einen Index von 112, 5.

Das Grundproblem der britischen Wirtschaft blieb die geringe Produktivität in der herstellenden und verarbeitenden Industrie. Bei einem sinkenden Beschäftigungsstand stieg die Pro-Kopf-Erzeugung eines Industriearbeiters dank der politischen Bemühungen früherer Regierungen nach 1970 kräftig an. Von 1966 bis 1970 erzielte die herstellende/verarbeitende Industrie eine Produktivitätsindexverbesserung von real 13, 1, von 1970 bis 1973 jedoch eine Steigerung der Produktivität um ei18 nen Indexwert von 17, 8. Nadi einem leichten Rückschlag 1976 erreichte sie erneut diesen Stand Eine merkliche Verbesserung der Produktivität im Vergleich zu den ausländischen Industrien trat jedoch nicht ein, da die britische Industrie von Anbeginn von einem niedrigen Produktivitätsniveau her ansetzte. Aus diesem Grund sind Investitionen in industrielle Anlagen der Schlüssel zum Verständnis der Strukturmängel im Wirtschaftssystem Großbritanniens.

Der Kapitalstock der britischen Industrie, Anlagen und Maschinen, zeigte über 14 Jahre hinweg eine kaum veränderte Neuerungsrate. 1960 waren 58, 7% der Industrieausrüstungen länger als 11 Jahre im Gebrauch; 1970 nur mehr 57, 3 %, aber 1974 über 59%. Dagegen betrug der Bestand an Produktionsanlagen, die seit höchstens 5 Jahren genutzt wurden, 1960 und 1970 23, 4% und verringerte sich bis 1974 auf 4% und verringerte sich bis 1974 auf 21, 4 21). Die Nettoinvestitionsrate, die effektive Modernisierung der bestehenden Industrieanlagen bzw.der Zuwachs an realer Produktionskapazität, verzeichnet seit 20 Jahren einen Rückgang: Zwischen 1955 und 1960 erreichten die Investitionen, bezogen auf den Wert der vorhandenen Ausstattungen des Produktionsapparates, 4, 4 %, zwischen 1960 und 1965 4, 1 %, zwischen 1965 und 1970 3, 9% und zwischen 1970 und 1975 nur mehr 2, 6 % 22). Aufgrund der hohen Abnutzungsrate eines alten Kapitalgrundstocks vermochten die höheren Bruttoanlageinvestitionen, die im Vergleich zu den Vorjahren zwischen 1960 und 1970 auftraten, die faktische Verschlechterung des industriellen Produktionsapparates nicht aufzuhalten 23).

Das Nachlassen der Investitionstätigkeit wog um so schwerer, als die Zahl der Beschäftigten in der herstellenden und verarbeitenden Industrie wie in den übrigen Industriebranchen sank. Im Vergleich zu 1970 sank der Beschäftigungsstand in den manufacturingIndustries bis 1973, dem letzten erfolgreichen Wachstumsjahr der britischen Wirtschaft, auf 12, 2 Punkte, in den übrigen Industrien auf 10, 1 Punkte Entsprechend stärker wuchs die Zahl der Beschäftigten in den Dienstleistungsbereichen, allein bei Ban-ken,Versicherungen und Finanzinstituten zwischen 1969 und 1974 um %, im wissenschaftlichen und Forschungsbereich um 18, 4 %, bei klassischen Dienstleistungen (Handwerk, Touristik, Gaststätten, Hotels etc.) um 13, 4% und bei den Kommunalverwaltungen um 13, 7 % 25). Zur Entstehung des Bruttoinlandsprodukts trug 1973 in Großbritannien die Industrie 40, 7 % bei, in der Bundesrepublik waren es 1973 51, 8%, in Frank-reich 45, 4 %. Dagegen bestanden in Großbritannien 54 % des Bruttoinlandprodukts aus staatlicher Tätigkeit und Dienstleistungen, in der Bundesrepublik nur 46, 5 %, in Frankreich 51, 1 % und in den USA 63, 9 % In den Vergleichsländern lag jedoch trotz eines ähnlichen Zahlenverhältnisses die Investitionstätigkeit und Produktivität höher als in Großbritannien, das sich damit eine im großen Be-reich öffentlicher und privater Dienstleistungen ausgedrückte, moderne Verbrauchsstruktur und eine große Nachfrage aus unproduktiver Arbeit leistete, aber nicht entsprechend kostengünstig ausreichende Industriegüter produzierte, um aus den industriell erwirtschafteten Einkommen und Gewinnen (sowie unter der Vermeidung hoher staatlicher und internationaler Verschuldung) die angebotenen und verbrauchten Dienstleistungen zu bezahlen. In dieser Diskrepanz wurzeln Inflation, Arbeitslosigkeit und außenwirtschaftliche Probleme, die unter ökonomischen Aspekten die britische Krise definieren.

Im defizitären Warenverkehr mit dem Ausland zeigten sich die Folgen der mangelnden industriellen Leistungsfähigkeit Großbritanniens. Der britische Anteil an der Weltgesamteinfuhr sank von 8, 4% 1966 auf 7, 2% 1970 und 6, 6% 1974. Noch schneller gingen die britischen Ausfuhrleistungen zurück: 1966 — 8, 1 %; 1970 — 6, 9%; 1974 — 4, 7 Hauptursache für die schrumpfende britische Rolle im Welthandel waren die zu geringen Investitionen in der Exportgüterindustrie. Die Konkurrenzfähigkeit der britischen Exporte gewann nach 1945 jedoch immer größere Bedeutung, da die Sterling-Block-Länder ihren früheren Stellenwert im britischen Außenhandel einbüßten. An deren Stelle traten jetzt die Länder Westeuropas und die EG. Zwischen 1956 und 1960 verteilten sich die Güterexpor-te noch zu 28°/0 auf Westeuropa, aber zu 42 ’/o auf den Sterling-Block und zu 11 ’/o auf die USA’ Zwischen 1971 und 1975 gingen 45% der britischen Ausfuhren in die EG, 15% in die USA und 20% in die Sterling-Block-Länder. Mehr als die Hälfte der britischen Exporte konkurrierten jetzt in Westeuropa und in den USA mit den Exporten anderer Länder und heimischen Wirtschaftserzeugnissen. Produktivität und Preisvorteile der britischen Exportindustrie gewannen deshalb eine ausschlaggebende Bedeutung für die Behauptung Großbritanniens im Welthandel. Etwa 85 % der britischen Exporte bestehen aus Industrieprodukten Während aber in dieser Hinsicht über die letzten Jahre hinweg kaum nennenswerte Verschiebungen auftraten, ergaben sich in der Struktur der britischen Importe erhebliche Änderungen. Rohstoffe, Nahrungsmittel und Luxusverbrauchsgüter sowie Brennstoffe machten bis 1960 wie schon in der Zwischenkriegszeit etwa drei Viertel der britischen Importbilanz aus. In dieser Relation kam die enge Verknüpfung der britischen Wirtschaft mit den rohstoffproduzierenden und lebensmittelerzeugenden Commonwealth-Ländern bzw. Sterling-Block-Ländern zum Ausdruck, die stets einen erheblichen Teil der britischen Industrieproduktion abnahmen. In den 60er und 70er Jahren wuchs jedoch sehr rasch der Anteil der industriellen Fertigungsgüter in der Importstruktur, von 32 % zwischen 1960 und 1963 auf 56% zwischen 1972 und 1973; bis 1975 behielten sie dieses Niveau annähernd b % zwischen 1960 und 1963 auf 56% zwischen 1972 und 1973; bis 1975 behielten sie dieses Niveau annähernd bei 30). Dieser Prozeß weist darauf hin, daß die Nachfrage nach industriellen Fertigungsgütern am Binnenmarkt sich in einem Umfang und in eine Richtung entwickelte, die von der britischen Industrie allein nicht mehr bewältigt werden konnte. Dieser im Ergebnis keineswegs ungewöhnlich hohe Anteil von Industriegütereinfuhren schuf jedoch deshalb für die britische Wirtschaft beachtliche Probleme, weil umgekehrt die Exportleistungen nicht ausreichten, um die Importkosten zu kompensieren.

Einen Ausgleich für die defizitäre Handelsbilanz besorgte lediglich die Kapitalverkehrsbilanz, die aus Rückflüssen britischer Auslandsinvestitionen, ausländischen Kapitalguthaben und privaten und öffentlichen Krediten einen ständigen Überschuß erwirtschaftete. Der britischen Wirtschaftslage kam hier besonders die traditionelle Funktion Londons als Weltfinanzplatz zugute, dessen Hauptkomponenten hohe Pfundkonten der Commonwealth-Länder und kurzfristige Kapitalgeschäfte auf dem Euro-Dollar-Markt waren 31). Zwischen 1966 und 1972 schwankten die Handelsbilanzdefizite, der Warenimportüberschuß, zwischen 25 und 700 Mio. Pfund Sterling 32). Die Verteuerung der Energieimporte 1973 verschärfte jedoch die chronischen Überschüsse und verlieh ihnen ihre heutige krisenhafte Dimension. Hinzu kam, daß das Pfund seit 1972 in der europäischen Währungsschlange floatete und der automatische Kursverfall des Pfundes die Warenimporte zusätzlich verteuerte Aufgrund der Olpreiserhöhungen kam es 1973 und 1974 jeweils zu einer Verdreifachung des Handelsdefizits Ab 1975 war ein leichter Rückgang zu verzeichnen, der auf den Deflationsmaßnahmen der Regierung beruhte Jetzt verursachten immerhin zu mehr als 95 % Mineralölimporte das verbleibende Defizit In derselben Zeit stieg der Überschuß im Kapitalverkehr ebenfalls außergewöhnlich stark an. Allerdings trug diese Entwicklung eben-falls negative Aspekte: Einerseits lag ihr der Transfer der steigenden Gewinne der ölexportierenden Länder auf Londoner Pfund-und Investment-Konten zugrunde, andererseits ging sie auf die internationalen Kredite an die britische Regierung (und private Investoren) zurück, die teilweise zur Stützung der britischen Zahlungsfähigkeit eingeräumt wurden. Internationale Kredite erzeugten eine langfristige Belastung der gesamten Zahlungsbilanz, indem sie hohe Zinsrückzählungsverpflichtungen gegenüber dem Ausland schufen die hohen Pfundkosten waren insofern belastend, weil sie von ihren Haltern spekulativ abgezogen wurden, sobald Abwertungssignale von der Regierung oder vom Verlauf des britischen Wirtschaftsprozesses ausgingen.

Nimmt man allein die Preisentwicklung und den Beschäftigungsstand als Indikatoren für die Folgen der Wirtschaftspolitik oder die generelle wirtschaftliche Entwicklung, so bleibt in beider Hinsicht seit Ende der 60er Jahre eine akute Verschlechterung festzustellen. Die raschere Steigerung der Preise ließ lediglich in den zwei Phasen einer restriktiven Einkommenpolitik nach, um jedoch sogleich nach dem Abbau der Preis-Lohnpolitik wieder um so stärker anzuziehen: 1966 — 3, 9%; 1969 — 5, 4 %; 1971 — 9, 4 %; 1974 — 16, 1 %; 1975 — 24, 2%; 1976 — 16, 5 % Erst die Politik des Social contract brachte erstmals auf längere Dauer eine erhebliche Minderung und anschließende Stabilisierung des Preisni-veaus. Die Beschäftigungskurve seit 1965 zeichnet die expansiven und restriktiven Phasen der Regierungspolitik nach: 1966 — 1, 4 %; nach der Pfundabwertung und der Einleitung der Deflationspolitik 1967 — 2, 3 0/0; 1970 — 2, 6 %; auf dem Höhepunkt der Austerity-Politic des Kabinetts Heath 1972 — 3, 7 %; in den darauffolgenden Jahren der Expansion bis 1974 — 2, 6 %. Im ersten Jahr des Social contract, 1975, sdmellte die Arbeitslosenzahl auf 3, 9 % hoch, 1976 auf 5, 4 %

V. Wirtschaftspolitik

1951— 1961 Die Aufrechterhaltung der geltenden Pfundparität und der Vollbeschäftigung bestimmten die Grundzüge der britischen Wirtschaftspolitik nach 1945. Die teilweise kriegs-und rüstungsbedingte hohe Auslandsverschuldung und der chronische Importüberhang im Warenverkehr mit dem Ausland erzeugten einen starken Druck auf eine Abwertung des Pfundes, dem erstmals 1949 nachgegeben wurde. Die nachfolgenden konservativen Regierungen waren dagegen nicht bereit, in einer weiteren Pfundabwertung mit ihren exportverbilligenden und importverteuernden Wirkungen die klassische Antwort auf die sich wiederholenden Pfundkrisen zu geben. Drohten starke Währungsverluste, die aus der Verschlechterung der Handelsbilanz und einer erwarteten Pfundabwertung entstanden, tatsächlich die Änderungen der Pfündparität zu erzwingen, so verordnete die Regierung nachfrage-und investitionshemmende Deflationsmaßnahmen steuerlicher und geldpolitischer Art, die den Importsog merklich verringerten und die Abwertungsspekulation beruhigten. Dies geschah in den Jahren 1952, 1955/56 und 1960. Als das Deflationsprogramm jedoch mit Beschäftigungskonsequenzen drohte, schaltete die Regierungspolitik auf „go" um. Die Investitions-und Nachfragebremsen wurden gelöst, die Beschäftigungslage stabilisiert. Aber nach kurzer Zeit schon stellte sich die Pfundabwertungsspekulation erneut ein, da die Importe aufgrund der steigenden Inlandsnachfrage erneut anzogen. Dies geschah 1954/55, 1958/59 und 1961/62. Jede „go" -Phase zog beinahe zwangsläufig das nächste „stop" -Signal nach sich Der schwerwiegendste langfristige Schaden aus dieser Wirtschaftspolitik ergab sich aus der dämpfenden Wirkung für industrielle Investitionen. Das Experiment der „stop-and-go policy' bedeutete eine entscheidende Weichenstellung für die Wirtschaftsprobleme der 60er und 70er Jahre, die im Zeichen des Bemühens standen, die Investitionsschwäche der britischen Industrie und die damit zusammenhängenden außen-und binnen-wirtschaftlichen Folgen abzubauen. Folgende Phasen lassen sich im Ereignisablauf der Jahre nach 1960 unterscheiden: 1962— 1963 Bereits der konservative Schatzkanzler Maudling erkannte die Investitionsschwäche der britischen Industrie als politisches Problem und handelte entsprechend Nach seiner Vorstellung sollte eine Steigerung der Inlandsnachfrage stabile Amortisierungsaussichten für britische Investoren herstellen, wobei er jedoch bewußt einen mittelfristigen Importsteigerungseffekt in Kauf nahm, der angesichts des Nachfrageüberhangs im Verhältnis zur Kapazität der britischen Industrie unvermeidlich war 1964— 1965 Die Nachfolgerregierung Wilson fand grundsätzlich zu einer gleichlautenden politischen Analyse: Es galt kräftige Investitionsförderung zu betreiben, aber gleichzeitig sollte die geltende Pfundparität nicht aufgegeben werden. Mit Hilfe eines an der fanzösischen „pla-nification"

ausgerichteten Indikativplanes, des National Plan, sollten Wachstumsdaten für die einzelnen Wirtschaftszweige postuliert werden, für deren Erreichung die staatliche Wirtschaftspolitik die Voraussetzungen zu schaffen hatte, um wirkungsvoll sichere Gewinnerwartungen bei potentiellen Investoren zu etablieren. Eine staatliche Einkommenspolitik, d. h. ein System gesetzlicher Einkommenskontrollen, sollte von der Preis-und Lohnkostenseite her Investitionsanreize schaffen. Sowohl die Maßnahmen der letzten konservativen Regierung als auch die der Labour-Regierung Wilson stabilisierten tatsächlich den Umfang der industriellen Investitionen, aber sie konnten die faktische Überbewertung des Pfundes und die Handelsbilanzlücke nicht abbauen 1967— 1969 1967 kam es endlich — mitverursacht durch die Sperrung des Suez-Kanals — zur erwarteten zweiten Pfundabwertung nach dem Kriege. Danach wechselte die Regierung Wilson ihren wirtschaftspolitischen Kurs. Jetzt galten abermals alle Anstrengungen dem Ziel, nach dieser Abwertung eine weitere zu vermeiden. Deshalb ordnete die Regierung eine breite Palette von deflatorischen Maßnahmen an, vor allem über die Reduktion der Haushaltszuwachsraten und steuerliche Eingriffe. Der Abwertungseffekt sorgte für eine zeitweilige Verbesserung der Handelsbilanz, die Investitionstätigkeit ging jedoch in dieser Phase der Deflationspolitik zurück 1970— 1973 Die ab 1970 amtierende Regierung Heath baute die letzten Überreste der Lohnkontrollen ab; sie setzte ganz auf die „heilsamen" Konkurrenzimpulse des britischen EG-Beitritts für die britische Industrie. Allerdings endete die-se Politik des „ansatzweisen Laisser-Faire“ mit zwei grundlegenden Fehlschlägen gerade im Hinblick auf diejenigen zusätzlichen Probleme neben der Handelsbilanz, die nach der Pfundabwertung von 1967 an Bedeutung gewonnen hatten: Inflation und Arbeitslosigkeit. Die konservative Regierung setzte den restriktiven Haushaltskurs des Vorgängerkabinetts bis 1972 fort: Tarifabschlüsse schnellten angesichts der bereits in den 60er Jahren leicht ansteigenden Preise in die Höhe; sie unterlagen jetzt nicht einmal mehr schlecht funktionierenden Lohn-Preis-Richtlinien. 1972 kehrte auch die Regierung Heath wieder zu den wirtschaftspolitischen Mitteln der 60er Jahre zurück, die sie jedoch, anders als damals, in einzigartiger Weise miteinander verkoppelte. Das Pfund wurde zum „floaten" freigegeben und verteuerte zusammen mit den steigenden Rohstoffpreisen die britische Importrechnung; der Haushalt wurde auf Expansion geschaltet und förderte über seinen Nachfrageeffekt angesichts der geringen Kapazität der britischen Industrie Inflation und Warenimporte gleichermaßen. Investitionen blieben jedoch gerade dort aus, wohin sie die gesteigerte Nachfrage lenken sollten, nämlich in die Industrie. Statt dessen gelangten Kapitalgewinne in den inflationssicheren Grundstücksmarkt oder wurden ins Ausland transferiert 1974 Das Jahr 1974 markiert eine Zäsur in der Wirtschaftspolitik Großbritanniens. Alle vorherigen Regierungen hatten versucht, durch gesetzliche Lohnkontrollen einen für die industriellen Innovationen als wichtig eingeschätzten Faktor zu beeinflussen. Die Gewerkschaftsführungen und die gewerkschaftliche Basis hat-ten jedoch alle Versuche, gewerkschaftliche Kampfmittel wie offizielle oder spontane Streiks zu regeln und die Lohntarifgestaltung politischen Kriterien zu unterwerfen, mit Erfolg unterlaufen. Die Regierung Heath scheiterte an einer Kraftprobe mit den Bergarbeitern. Die Regierung Wilson war sich nach 1974 bewußt, daß keine wirtschaftspolitische Strategie praktikabel war, die nicht in der offiziellen Kooperation mit den Gewerkschaften eine Absicherung fand. Deshalb hatte bereits die Labour-Opposition nach 1970 für den Fall einer künftigen Regierungsübernahme auf gesetzliche Lohnkontrollen verzichtet. Die Gewerkschaften wiederum waren um die Erfahrung reicher, daß in der Konfrontation mit einer konservativen Regierung anders als im Verhältnis zu einem Labour-Kabinett keine annähernd wirksamen direkten oder indirekten Druck-oder Einflußmöglichkeiten bestanden. Aus dieser Situationswahrnehmung heraus waren die Gewerkschaften nun für die Unterstützung der Labour-Wirtschaftspolitik, die nunmehr offen für Reallohnsenkung, Profitsteigerungen für private Investoren und die Abzweigung von Investitionsmitteln aus den Unternehmensgewinnen eintrat Auch die Gewerkschaften teilten jetzt die Auffassung — nach der Erprobung aller alternativen Möglichkeiten in den letzten 15 Jahren —, daß keine andere Politik erfolgreich sein könnte. Im sog. social con-tract verpflichteten sich die Gewerkschaften, im Interesse einer Modernisierung bzw. Leistungssteigerung des britischen Produktionsapparates, temporäre Lohnverzichte und eine Reduzierung der öffentlichen Dienstleistungen hinzunehmen, zumal ein Versagen des „social contract" die unverzichtbaren internationalen Kredite zur Gewährleistung der britischen Zahlungsfähigkeit zu gefährden drohte.

VI. Gewerkschaften und Parteien

Für die Politik der letzten zwölf Jahre trägt die Labour Party besondere Verantwortung. Die Konservativen waren in dieser Zeit lediglich für die knappe Spanne von gut dreieinhalb Jahren im Amt. Gerade die Labour Party riskiert jedoch als Regierungspartei gravierende Konflikte im Bereich der Wirtschaftspolitik. Wie bereits oben erläutert, basiert die Labour Party in der Hauptsache auf der britischen Allerdings stellt sich -die Loya working dass.

zur ihr als Aspekt des Klassensyndroms lediglich ein im sozialen und politischen Selbstverständnis der britischen Arbeiter dar. Ein anderer Aspekt, der für die Labour Party besondere strukturelle Bedeutung gewinnt, ist di enge Gewerkschaftsbindung der Arbeiter, die manuell arbeiten. Zwar bestehen enge institutioneile Verknüpfungen zwischen den Gewerkschaften und der Labour Party. Dennoch verstehen sich die Gewerkschaften zunächst als Interessenvertretung, während die Labour Party politische Entscheidungen aus einer breiten Interessenperspektive heraus trifft. Trotz der wachsenden Bedeutung der white-collar-Gewerkschaften, die nicht-manuelle Berufsinteressen vertreten, stellen die Gewerkschaften die mit Abstand wichtigste politische Formation der in ihrer working dass gesellschaftlichen, durch den Arbeitsplatz, die Wohnbesitzverhältnisse und das Erziehungssystem bedingten Isolation von der britischen Mittelklasse dar. Ihr Bezugsfeld ist die nicht-mobile working dass, die sich aus den Trägern eines ökonomisch determinierten und sozialisationsvermittelten dichotomischen Klassenbewußtseins zusammensetzt. Von daher rühren die Spannungen zwischen den Gewerkschaften bzw.der ökonomischen Interessenvertretung der working dass und der Labour Party bzw.der politischen Repräsentanz der working dass. Die Gewerkschaften orientieren sich am industriellen Wochen-lohnempfänger, die Labour Party an den Bedürfnissen der gesamten britischen Volkswirtschaft, in deren Einschätzung sie gewerkschaftliche Interessen oft zweitrangig behandeln muß.

Die Mitgliedsgewerkschaften im Trade Unions Congress (TUC) agieren keineswegs als ein monolithischer Block. Dennoch haben sich klare Meinungsführerschaftsverhältnisse herausgebildet. Mit zusammen 31 °/o der Stimmen kontrollieren die beiden Industriegewerkschaften TGWU (die Transportarbeiter-gewerkschaft) und die AUEW (die Ingenieurs-gewerkschaft) als die größten bzw. mitglieder-stärksten Gewerkschaften faktisch die Mehrheiten des TUC-Jahreskongresses, da sich zahlreiche kleinere Gewerkschaften an ihren Stimmen orientieren. Transportarbeiter-und Ingenieurgewerkschaften, die in den 50er Jahren kein sonderlich scharfes Profil zeigten, erwarben sich in den 60er Jahren unter neuen und jüngeren Führungsmannschaften den Ruf entschiedener tarifpolitischer Interessenpolitik und gewannen hieraus die Fähigkeit, für die Gewerkschaften generell zu sprechen bzw. wirksame Überzeugungsarbeit an der Gewerkschaftsbasis zu leisten Die Dominanz dieser größten Gewerkschaften setzt sich bis in den Generalrat des TUC fort, der zwischen den Jahreskongressen in der wichtigen Eigenschaft als Verhandlungspartner der Regierung und des Unternehmensverbandes fungiert Gewerkschaften und Labour Party sind über den Kollektivmitgliedercharakter der Einzelgewerkschaften engstens mit der Willensbildungsstruktur der Labour Party verzahnt. Sieben Achtel aller Jahreskongreßdelegierten repräsentieren die Gewerkschaften; auch hier kommt wieder den großen Gewerkschaften der Transport-und Ingenieurarbeiter, die mit ihren Blockstimmen ca. ein Drittel der Gesamtstimmen kontrollieren, eine Schlüsselfunktion zu. Im Parteivorstand der Labour Party stellen die Gewerkschaften über 40 °/o der Mitglieder.

Die Politik der Gewerkschaften im Verhältnis zur Labour Party bestimmt sich nach ökonomischen, nicht nach politischen Gesichtspunkten. Das überragende Interesse der Gewerkschaften besteht in der Erhaltung bzw.

Wiederherstellung der Vollbeschäftigung und der Reallohnverbesserung sowie generell in tarif-und wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die kurzfristig einen spürbaren Effekt bei den organisierten Arbeitern zeitigen. Die Erfahrung der Labour-Regierung zwischen 1964 und 1970 führte die Grenzen der politischen Loyalität der Gewerkschaften zur Labour Party vor Augen. Zur Bekämpfung der sich seit 1964 akut verschlechternden Wirtschaftslage jonglierte die Regierung Wilson mit Lohn-Preis-Kontrollen, die von der gewerkschaftlichen Basis durchweg als Beschränkung des Streikrechts aufgefaßt wurden. Damit liefen die Regierungspolitik und die Gewerkschaftspolitik auseinander. Die historische Allianz zwischen den Gewerkschaften und der Labour Party war an diesem Punkt ihrer stärksten Belastungsprobe ausgesetzt 49). Anfang 1973, erneut in einer Oppositionsphase der Labour Party, vereinbarten jedoch TUC und Labour Party eine neue Kooperationsgrundlage für eine künftige Labour-Regierung, die nach den Umständen unter ähnlich schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen handeln mußte wie in den konfliktreichen Jahren der ersten Labour-Regierung Wilson. Das Abkommen trug die Bezeichnung „social contract" und sah im Gegenzug für die Mitsprache der Gewerkschaften in der Wirtschaftspolitik, die sich seit 1974 in einem Verbindungsausschuß der Labour Party und der Gewerkschaften vollzieht, das Einsetzen der Gewerkschaftsführer für eine freiwillige Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften vor. Allerdings stand der So-zialkontrakt unter dem Vorbehalt der Zustimmung der Gewerkschaftsmitglieder, die —wenn auch zum Teil mit erheblichen Mühen — 1975 und 1976 gewonnen werden konnte Die Grenzen des social contract wurden bereits 1977 bei den Überlegungen zur Verlängerung des Abkommens in das Jahr 1978 hinein deutlich. Der Widerstand in der gewerkschaftlichen Basis gegen einen weiteren Einkommensverbesserungsverzicht artikulierte sich in einer Verhärtung des Standpunktes einiger Gewerkschaften im Hinblick auf die von der Regierungspolitik zu erbringenden Gegenleistungen, obgleich bei den meisten Gewerkschaftsführern noch die Bereitschaft zu einer Fortsetzung des social contract überwog

Auch diese Wiederannäherung der Gewerkschaften an die Labour Party war ökonomisch motiviert, aber sie spiegelte eine veränderte Lageeinschätzung wider, die nach den Konfrontationserfahrungen mit der konservativen Regierung Heath davon ausging, daß der gewerkschaftliche Standpunkt bei einer Labour-Regierung immer noch größeren Einfluß besaß Hieraus ergeben sich derzeit für das Verhalten der Gewerkschaften die folgenden Maximen:

a) Die Labour-Regierung Wilson/Callaghan darf nicht scheitern; b) sie kann sich nur durch eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik behaupten, die das Beschäftigungsniveau stabilisiert und die Inflation senkt; c) eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik verlangt temporäre Lohnverzichte und eine Senkung des Lebensstandards

Die häufigste und für die Nachkriegsentwicklung wichtigste Konstellation zwischen den Gruppen der Labour Party war eine Koalitionsachse, die den rechten Flügel mit dem größten Teil der Mittelgruppe und den Gewerkschaften verband. Zwischen 1966 und 1970 zerfiel die Mitte-Rechts-Allianz, die beherrschende Koalition während der 40er und 50er Jahre, infolge der stringenten Wirtschaftspolitik einer Labour-Regierung, die seit 1966 mit ihren Lohn-Preis-Kontrollen vor al-lem bei den Gewerkschaften heftige Widerstände auslöste, aber nach 1967 nicht nur auf dem linken Flügel, sondern auch in Teilen der Mitte mit dem Verzicht auf umfassende sozialstaatliche Reformen Befremden hervorrief. Als die Labour Party nach 1970 in die Opposition zurückkehrte, wurde sie durch die Debatte um den britischen EG-Beitritt weiteren Belastungen ausgesetzt, die jedoch we-gen der verbreiteten EG-Gegnerschaft gänzlich ungewohnte Fronten zogen: Gemeinsam opponierten der linke Flügel, die Gewerkschaften, die wichtige Mittelgruppe und sogar Teile des rechten Flügels gegen den Beitritt; nur ein Teil des rechten Flügels war dafür. Angesichts dieser temporären Spaltung und der partiellen Isolation des rechten Flügels erreichte der entschieden EG-feindliche linke Flügel den Höhepunkt seines Einflusses als das agitatorische Zentrum der Anti-Beitrittskoalition

Als organisatorischer und intellektueller Kristallisationskern des linken Labour-Flügels fungiert die sog. Tribune-Group in der Labour Party und in der Unterhausfraktion

Die Kritik des linken Flügels an der Politik des seit Kriegsende letztlich beherrschenden rechten Labour-Flügels geht dahin, daß die Labour-Party nach dreißig Jahren der Regierungskontrolle oder der parlamentarischen Opposition die Machtausübung im Rahmen der parlamentarischen Institutionen als Selbstzweck suche, aber auf die Überwindung der Klassengegensätze verzichtet hätte Die Orientierung an den Grenzen des Durchsetzbaren und an mittelfristigen Wahlerfolgen hätten die Labour-Party von einer inhaltlich konsequenten Reformpolitik abgedrängt. Den stärksten Rückhalt besitzt die Labour-Linke in den Organen der außenparlamentarischen Partei, vor allem unter den Aktivisten der Wahlkreisorganisationen. Zwölf von 38 Mitgliedern des Parteivorstandes zählten zum lin-ken Flügel, drei weitere sympathisierten mit diesem; nur vier von diesen insgesamt 15 „Linken" repräsentieren jedoch die Gewerkschaften Im gegenwärtigen Parlament hat die organisierte innerfraktionelle Linke, die Tribune Group, mit ca. 25 °/o der gesamten

Fraktionsstärke bzw. 77 Abgeordneten einen Höchststand erreicht. Dieser lag noch in den 60er Jahren bei 50 bis 60 Abgeordneten. Die jüngeren Abgeordnetenjahrgänge zeigen die stärkste Affinität zur Tribune Group und lassen hierin den „Linksrutsch" in den nominierenden Wahlkreisparteien erkennen

Mit den Stimmen der Gewerkschaften bestimmte der linke Flügel die sozialistische Grundtendenz und die Einzelforderungen des Parteiprogramms von 1973. Dem linken Flügel gehören die Sympathien vieler Gewerkschaften und eines großen Teils der Mittelgruppe in der Labour Party. Allerdings besteht in Fragen praktischer Korrekturen an der Regierungspolitik ein erheblicher Dissens. Hier ergriffen die Gewerkschaften seit dem Abschluß des Sozialkontrakts abermals regelmäßig Partei für den rechten Labour-Flügel, nachdem es im Verlauf der EG-Kontroverse kurzfristig zu einer Aktionseinheit von Gewerkschaften und linkem Flügel kam. Mit dem rechten Flügel und dem regierenden Teil der Labour Party lehnen die Gewerkschaften die von der Labour-Linken geforderten, in ihren Auswirkungen ungewissen Maßnahmen zur Wirtschaftssanierung ab zugunsten einer konventionellen Politik, die kalkulierbarer und „eingeführter" erscheint und von ihren. Prämissen her vitale gewerkschaftliche Interessen wahrt So verurteilen die Gewerkschaften die Kritik des linken Flügels an Regierungshilfen für konkursbedrohte Privatunternehmer mit dem Argument, die Arbeitsplatzsicherung hätte Vorrang vor allen anderen Überlegungen.

In der Gestaltung der Oppositions-und Regierungspolitik der Labour Party spielte der revisionistische rechte Flügel eine wich-tige und gelegentlich ausschlaggebende Rolle. Der Mangel an aktiven Parteiarbeitern, die sich mit dem rechten Flügel identifizieren, ist der schwächste Punkt des rechten Flügels, dessen Wortführer zum Teil in ihren eigenen Wahlkreisen mit oppositionellen oder oppositionsgeneigten Wahlkreisorganisationen konfrontiert sind. Im National Executive Commit-tee verfügt die Labour-Rechte über lediglich sieben von 28 Mitgliedern, von denen allein vier die Gewerkschaften, aber keiner die aktiven Wahlkreismitglieder vertreten Allerdings schließen sich lediglich die kleineren Gewerkschaften dem rechten Flügel an; von den größten Gewerkschaften kann lediglich die (drittgrößte) Gewerkschaft der öffentlichen Angestellten als sympathisierend bezeichnet werden. Die Hauptstütze des rechten Flügels war und ist die Unterhausfraktion. „Rechte"

Labour-Abgeordnete besetzten stets eine Reihe von Schlüsselressorts in Labour-Regierungen, darunter besonders oft das Außen-und das Schatzministerium. Die Ausschließung linker Labour-Abgeordneter von bestimmten Ressorts und die Konzentration kaum ambitionierter, administrativ wenig beschlagener Hinterbänkler in der breiten Mittelgruppe der Unterhausfraktion erklären das große Gewicht des rechten Flügels in den Labour-Kabinetten. Erst das rasche Anwachsen und die parlamentarische Aktivität der Tribune Group veranlaßten die Labour-Rechte, sich wie die Labour-Linke als innerfraktionelle Gruppe zu organisieren. 1974 konstituierte sich eine Manifest-Gruppe aus 76 Mitgliedern, das sind 25 % aller Labour-Abgeordneten im Unterhaus 61). Die Manifest-Gruppe lehnte eine vollständige Wirtschaftskontrolle durch den Staat ab und plädiert für ein Einfrieren bzw. eine Senkung der Staatsausgaben als Mittel der Inflationsbekämpfung

Die Mittelgruppe in der Labour Party zeichnet sich hauptsächlich durch ihre enge Verbindung mit den größten und wichtigsten Gewerkschaften aus. Als besonderes Merkmal auf parlamentarischer Ebene ist die Loyalität zur jeweiligen Parteiführung hervorzuheben. Die Mittelgruppe umfaßt mit mehr als der Hälfte der Jahreskongreßdelegierten, mit 50 °/o der Unterhausfraktion und neun von 28 Parteivorstandsmitgliedern die stärkste Gruppe in der Labour Party. Die Mehrheit dieser Gruppe tendiert in der Unterhausfraktion und im National Exekutive Commitee, im Partei-vorstand, zum Standpunkt des rechten Flügels in wirtschaftlichen und außenpolitischen Fragen, vermeidet jedoch dessen antisozialistische Schärfen und zeigt Kompromißbereitschaft in bezug auf linke Positionen. Dagegen betreiben die Gewerkschaftsführer mit der Mehrheit ihrer Delegierten eine Politik der wechselnden Koalitionen. '

Der dominierende Gesichtspunkt im Verhalten der Mittelgruppe ist die Integration einer Regierungspolitik, die von den bestehenden Strukturen ausgehend Machtgewinn oder Machterhaltung anstrebt, mit einer innerparteilichen Strategie, die den Zusammenhalt der Labour Party wahrt. Im Konfliktfall müssen dementsprechend Konzessionen an den linken Flügel die Regierungspolitik korrigieren, wenn diese in ihrer ursprünglichen Richtung den innerparteilichen Polarisierungsprozeß auf die Loyalitätsverweigerung des linken Flügels zuspitzt. Diese Ausgleichsfunktion, die der Mittelgruppe in der Labour Party zufällt, beeinflußt in typischer Weise den Stil der Labour-Führer, die — mit der einzigen Ausnahme Gaitskells (1955— 1963) — weder vom linken noch vom rechten Flügel rekrutiert wurden Gewiß sympathisiert die Mittelgruppe, was besonders für die großen Gewerkschaften zutrifft, mit den Zielen des linken Flügels. Aber die aktuellen Regierungsprobleme und der Wille, den Regierungsparteistatus nicht zu verspielen sowie insbesondere die kurz-und mittelfristigen Gewerkschaftsinteressen binden diese Schlüsselgruppe in der Parteistruktur mit dem rechten Flügel zusammen, während die Labour-Linke in ihrer Oppositionsrolle verbleibt. Dies heißt in der aktuellen politischen Konsequenz, daß vorbehaltlich gravierender Änderungen in der britischen Wirtschaftslage die gegenwärtige Politik des Kabinetts Callaghan fortgeführt werden kann.

Während bis spät in die 60er Jahre hinein die Gewerkschaften der Labour-Führung den Primat bei der politischen Vertretung der briti/sehen Arbeiterinteressen einräumten, kehrte sich dieses Verhältnis spätestens 1969 um. In diesem Jahr legte die Labour-Regierung ihren Plan eines Gewerkschaftsgesetzes vor, der im Zusammenhang mit einer Formalisierung des diffusen, großenteils auf Konventionen beruhenden Arbeitsrechts den Arbeitskampf bestimmten Regeln unterwerfen, die Autorität der offziellen Gewerkschaftsorgane gegen die informellen betrieblichen Gewerkschaftsvertreter stärken und in der Konsequenz die häufigen spontanen Streiks unterbinden sollte.

Diesem Plan lag die Absicht zugrunde, die unberechenbaren Produktionsstockungen und volkswirtschaftlichen Verluste aus „wilden“ Aktionen im Wege der Gesetzgebung zu erschweren. Doch gerade vor dem Hintergrund der geringen Disziplinierungsmöglichkeiten der Gewerkschaftsführungen und der Dezentralisierung gewerkschaftlicher Autorität auf die Betriebe und die informellen gewerkschaftlichen Arbeitersprecher drohte hieraus der unvermeidliche Konflikt zwischen der gewerkschaftlichen Basis und dem gewerkschaftlichen Funktionärskörper, den beide Teile zu vermeiden suchten. Erst nach dem massiven Druck der Gewerkschaften und nachdem aus der Unterhausfraktion eine Loyalitätsverweigerung drohte, die den Sturz der Regierung hätte herbeiführen müssen, zog die Regierung ihr Projekt zurück.

In der Oppositionszeit arbeiteten daraufhin Labour-Führung und Gewerkschaften ein formelles Konsultationsverfahren aus, das künftig derartige, auf Fehleinschätzung der gewerkschaftlichen Interessen beruhende Konflikte vermeiden sollte. Es kam zur Bildung eines Labour-Party-TUC-Verbindungsausschusses, in dem die Repräsentanten des Gewerkschaftsbundes und die Labour-Führung den von der Labour-Regierung einzuschlagenden Kurs aufeinander abstimmten, so daß Verlautbarungen und Entscheidungen der politischen Organe der Labour-Party von vornherein vitale Gewerkschaftsinteressen berücksichtigten und sich mithin eine nachträgliche Kritik oder Korrektur durch maßgebliche Gewerkschaftsvertreter erübrigte. Seit 1974 werden alle wirtschaftspolitischen Entscheidungen des Labour-Kabinetts in diesem Verbindungsausschuß beraten, wobei wichtige Fragen, wie etwa die Fortsetzung des social contract, unter dem Vorbehalt der Zustimmung durch die gewerkschaftliche Basis stehen. Aber jede Erklärung im Verbindungsausschuß beinhaltet die Verpflichtung der Gewerkschaften, bei ihren Mitgliedern auf eine Unterstützung des Regierungskurses hinzuwirken. In seiner Funktion ähnelt dieser Koordinationsmechanismus einem Koalitionsausschuß zwischen zwei politischen Parteien. In der Tat kommt ihm die Aufgabe zu, zwischen konkurrierenden politischen Ansprüchen zu vermitteln. Seitdem sich Großbritannien in einer akuten Wirtschaftskrise befindet, steht wegen Arbeitslosigkeit, Inflation und realen Einkommensverlusten besonders für die working dass mit dem materiellen Lebensstandard ein selbst-selbstverständlich gewordener Way of Life auf dem Spiel. Nur die Gewerkschaften befinden sich in der Lage, rigoros und ausschließlich den Standpunkt der Industriearbeiter zur Geltung zu bringen, der für die Labour Party, die auf das strategische Grundziel einer Parlamentsmehrheit fixiert ist, zu eng wäre. Die Suprematie des Kabinetts und der Unterhaus-fraktion im Entscheidungsprozeß der Labour Party verhindern auf der anderen Seite, daß sich die Gewerkschaften über die bestehenden Parteikanäle erfolgreich Gehör verschaffen Die zahlreichen Verurteilungen der Wilson-Regierung durch den Labour-Kongreß blieben bis 1970 ohne merkliche politische Konsequenzen. Deshalb erscheint nur der gegenwärtig beschrittene Weg einer über den Verbindungsausschuß gewährleisteten direkten Einwirkung und Mitsprache der Gewerkschaften in der Regierungspolitik — d. h. eine Politisierung der Gewerkschaftsstrategie im institutionellen Rahmen der Labour-Party — geeignet, weitere größere Konflikte und damit ein Auseinanderbrechen der britischen Arbeiterbewegung in eine ausschließlich parlamentsbezogene „politische" Komponente und in eine ausschließlich „gewerkschaftsbezogene" Komponente auf lange zu verhindern. Die „Mitregierung" der Gewerkschaften als autonome politische Kraft bleibt für die Zukunft eine unverzichtbare Prämisse sowohl für den Zusammenhalt der Labour-Party als auch für die erfolgreiche Politik einer Labour-Party. Dies schließt allerdings auch die Gefahr ein, daß die starke Abhängigkeit von den Gewerkschaften unter besonderen Umständen zwar die Labour Party unter dem Gebot der Konfliktvermeidung zur Anpassung an die Gewerkschaften zwingt und damit die Einheit der Partei wahrt, aber zugleich parlamentarisch politische Erfolge bei der Wählerschaft verbaut.

Die Konservative Partei hat im Gegensatz zur Labour-Party noch keine Klärung ihres Verhältnisses zu den Gewerkschaften erzielt. Sie erreichte den Höhepunkt ihres Einflusses in der Nachkriegszeit in den 50er und beginnenden 60er Jahren, als Großbritannien eine bis dahin unbekannte Steigerung der Masseneinkommen und eine starke Annäherung an den Zustand der Vollbeschäftigung verzeichnete. Konflikte mit den Gewerkschaften kamen unter diesen Bedingungen nicht in größerem Umfang auf. Die krisenhafte Zuspitzung der britischen Wirtschaftsprobleme vollzog sich hauptsächlich unter der Ägide der Labour-Ka binette Wilson und Callaghan. Lediglich von 1970 bis 1974 amtierte eine konservative Regierung unter ähnlich schwierigen Bedingungen. Gerade in dieser Zeit belastete sich die Konservative Partei jedoch mit einer schweren Hypothek, indem sie sogleich ein ähnliches Arbeits-bzw. Streikkontrollgesetz verabschiedete wie jenes, das die vorausgehende Labour-Regierung unter innerparteilichem und gewerkschaftlichem Druck zurückgezogen hatte. Die meisten Gewerkschaften boykottierten dieses Gesetz und hielten an der herkömmlichen Arbeitskampfpraxis fest, woraufhin die Regierung im Wege gerichtlicher Entscheidungen eines eigens eingerichteten Industrial Relations Court dem Gesetz Geltung zu verschaffen versuchte, aber damit nur die Beziehungen zu den Gewerkschaften weiter verschlechterte Eine zweite, ebenso kräftige Konfliktquelle bildete die Einkommenspolitik. Die Auseinandersetzung mit der Bergarbeitergewerkschaft, die höhere als die von der Regierung konzedierten Lohnsteigerungen verlangte, führte zu einem andauernden Streik, zu Engpässen in der Energieversorgung und letzlich zur Einführung der Drei-Tage-Arbeitswoche. Inmitten dieses Kräftemessens schrieb die Regierung Neuwahlen aus, die in der gegebenen Situation auf eine Abstimmung für oder gegen den Standpunkt der Regierung hinausliefen. Die Regierung unterlag.

In die Opposition zurückgekehrt, bildeten sich in der Konservativen Partei zwei Fraktionen heraus, die in der Frage der Haltung zu den Gewerkschaften unterschiedliche Strategien empfahlen Die Gruppe um den ehemaligen Premierminister Heath, die eine kleine Minderheit in der konservativen Partei darstellt, tritt für eine Wiederannäherung an die Gewerkschaften und für umfassende Regierungseingriffe — ähnlich denen der vergangenen und gegenwärtigen Wirtschaftspolitik — zur Verbesserung der wirtschaftlichen Situation ein Eine andere Gruppe um den Schattenkabinettsminister Sir Keith Joseph, die zur Zeit einen dominierenden Einfluß in der Unterhausfraktion, dem einzigen und maßgeblichen Entscheidungsgremium der Konservativen Partei, ausübt, nimmt eine Konfrontation mit den Gewerkschaften bewußt in Kauf. Sie setzt darauf, daß eine Wirtschaftspolitik entsprechend ihrem neoliberalen Konzept, die unter bestimmten Voraussetzungen hohe Arbeitslosigkeit nicht vermeiden kann, die Konfliktfähigkeit der Gewerkschaften die Grundlage entzieht Diese in der Amtszeit der Oppositionsführerin Thatcher vorwiegende Einstellung bestärkte die Gewerkschaften in dem Trauma einer konservativen Regierung so sehr, daß kürzliche Versuche der konservativen Führung, ihren rigorosen Standpunkt zu revidieren und mit den Gewerkschaften Gespräche anzuknüpfen, von den Vertretern des TUC zunächst abgelehnt wurden, dann schließlich doch zustande kamen, aber noch keineswegs eine Annäherung der Gewerkschaften an die Positionen des konservativen Schattenkabinetts bedeuteten. Die breitere Öffentlichkeit und die Börse fürchten die Regierungsübernahme der Konservativen, wie sich bei der jüngsten Vertrauensabstimmung über das Kabinett Callaghan zeigte, weil den Konservativen in ihrer gegenwärtigen programmatischen Verfassung nicht zugetraut wird, ähnlich wie die Labour Party in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik durchzusetzen

VII. Auswege

Drei politisch relevante Konzepte konkurrieren um einen Ausweg aus der gegenwärtigen »britischen Krise":

a) Investitionsschwäche und mangelnde Gewinnerwartungen definieren die Ansatzpunkte der britischen Wirtschaftspolitik. Deshalb muß diese alles Erforderliche in den Grenzen des politisch Durchsetzbaren unternehmen, um diese zentralen Einzelprobleme der britischen Wirtschaftsstruktur zu bewältigen. Die-se Analyse der „britischen Krise" beruht auf einem Vorverständnis, wonach Großbritanni-en eine „mixed economy", d. h. neben dem staatlichen auch einen privaten Wirtschaftssektor, beibehalten muß. Die Verstaatlichung sämtlicher Produktionsbereiche, wie sie vom linken Labour-Flügel gefordert wird, würde danach dem Wirtschaftsprozeß in der privaten, mit der Aussicht auf späteren Gewinn getroffenen Unternehmensinvestitionsentscheidüng unentbehrliche dynamische Impulse entziehen. Hieraus resultieren die politischen Entscheidungen, private Unternehmen notfalls mit staatlichen Mitteln zu stützen, falls sie in Schwierigkeiten geraten, und der Verzicht des Staates auf eine weitere Belastungssteigerung der Verbraucher-und Produzenteneinkommen und in der Folge auf weitere Expandierung der öffentlichen Ausgaben und Dienstleistungen sowie schließlich das Bemühen um irgendeine — möglichst freiwillige — Form von Lohneinkommensbeschränkungen. Alle diese Schritte dienen dem Zweck, die Kosten der industriellen Produktion zu verringern und die erwirtschafteten Erträge, aus denen Investitionen finanziert werden müssen, zu verbessern. Nur unter der Voraussetzung, daß diese Strategie gelingt, d. h. tatsächlich die erwarteten Investitionen getätigt werden, können auch langfristig die außenwirtschaftlichen Probleme gelöst werden Dieses Konzept entspricht der derzeit praktizierten amtlichen Wirtschaftspolitik. Seine wichtigsten Fürsprecher finden sich auf dem rechten Labour-Flügel und mit unterschiedlicher Nuancierung in Einzelpunkten bei grundsätzlichem Einverständnis auf dem linken Flügel der Konservativen Partei bei den sog. Reform Tories.

b) Die „britische Krise" ist die Krise der Wirtschaftsverfassung bzw.der Besitzverhältnisse im sekundären und tertiären Wirtschaftsbereich. Die britische Wirtschaft krankt daran, daß sie noch einen umfangreichen Bestand an privaten Unternehmen duldet und ihren Handelsverkehr vor allem mit privatkapitalistisch strukturierten Industrie-ländern der westlichen Welt unterhält. Um Großbritannien aus der Krise herauszuführen, bedarf es der Verstaatlichung der verbliebenen privaten Wirtschaftsbereiche (Industrie/Banken) und der Einrichtung einer politisch kontrollierten Investitionslenkung, die zentral das Wachstum und den Investitionsbedarf der einzelnen Wirtschaftssektoren plant. Das Planziel liegt in der Nivellierung der sozialen Unterschiede, in der Transformation der be7) stehenden sozio-politischen Strukturen in eine sozialistische Gesellschaft. Importkontrollen sollen die Abhängigkeit der britischen Wirtschaftsentwicklung und den Aufbau einer egalitären Gesellschaft von der Außenwelt bzw. von ausländischen Krediten verringern. Für dieses Konzept, das der linke Labour-Flügel um die Tribune-Group und den Kabinettsminister A. Wedgwood-Benn vertreten und das sich an die Grundzüge des Labour-Grundsatzprogramms von 1934 anlehnt, hat sich die Bezeichnung der „siege economy", der Belagerungswirtschaft, eingebürgert.

c) Die zweite Alternative, die zum erstgenannten Konzept angeboten wird, gibt eine neo-liberale Antwort im Sinne des „Laisser Faire" auf die britischen Wirtschaftsprobleme. Jegliche Staatseingriffe in den Wirtschaftsprozeß, die über ein bestimmtes, gering anzusetzendes Minimum hinausgehen, sind danach abzulehnen. Auch Lohnkontrollen — freiwilliger oder obligatorischer Art — sind eine Abirrung vom richtigen politischen Weg der Garantie des freien Spiels der Marktkräfte; gegen die Rückkehr zu freien Tarifvereinbarungen ist nichts einzuwenden. Die strikte Kontrolle der zentralen Kreditversorgung hat dafür zu sorgen, daß hieraus keine neue Inflationsquelle entsteht wie überhaupt die Stabilisierung der Währung das kardinale Ziel aller Wirtschaftspolitik sein muß. Bekanntester Repräsentant dieses wirtschaftspolitischen Konzepts ist der Schattenminister und Grundsatzbeauftragte des Schattenkabinetts Sir Keith Joseph, der sich voll zum marktwirtschaftlichen Rigorismus der Theorien M. Friedmans bekennt. Joseph nimmt bereitwillig in Kauf, daß als Konsequenz dieser Auffassung erhebliche Arbeitslosigkeit entstehen kann. In Übereinstimmung mit den politischen Interessen der britischen Mittelklassen verlangt das neo-liberale Konzept ferner eine drastische Senkung der Haushaltslasten bzw. die Senkung des Anteils der Staatsausgaben am Bruttosozialprodukt

Das sozialistische und das neo-liberale Konzept beinhalten puristische Strategieempfehlungen, die den sozialen und ökonomischen Realitäten in Großbritannien nicht hinreihend Rechnung tragen. Die Verstaatlichung der noch verbliebenen privaten Wirtschaftsunternehmen würde die Investitionsbereitschaft des Auslandes gegenüber Großbritanni72 en mit großer Wahrscheinlichkeit noch weiter herabdrücken oder gar lähmen und andere Bedingungen im Verhältnis zu ausländischen Kreditgebern schaffen, von denen gegenwärtig die internationale Zahlungsfähigkeit des Landes abhängt. Importkontrollen würden die betroffenen Länder, die zugleich auch britische Auslandsmärkte darstellen, zur Eröffnung eines Handelskrieges zwingen, den sich gerade Großbritannien noch weniger leisten kann als jedes andere vergleichbare Land. Die Idee einer zentralen Investitionsplanung taugt wenig, solange ungeklärt bleibt, wo und wie die Investitionsmittel in einem Land beschafft werden sollen, das bereits jetzt nur noch durch auflagengebundene internationale Kredite seinen Zahlungsverpflichtungen gegenüber dem Ausland nachkommen und seinen Haushalt finanzieren kann. Insgesamt scheint diese Vorstellung von der Lösung der britischen Krise kaum geeignet, Probleme abzuarbeiten, sondern eher dazu, weitere Probleme zu schaffen.

Die Realisierung der neo-liberalen Konzeption bräche mit allen wirtschaftspolitischen Traditionen der Nachkriegszeit, indem sie bis auf einen Grundbestand die fiskalpolitischen Lenkungsmechanismen der Regierung aufgäbe. Der ausschließliche Verlaß auf geldpolitische Instrumente, die zudem im Dienst der Inflationsbekämpfung stünden, brächte mit der in der gegenwärtigen Situation unvermeidlichen höheren Arbeitslosigkeit eine beinahe sichere Verschärfung des sozialen Klimas mit sich. Eine ganz auf die Geldversorgung abstellende Wirtschaftspolitik im Sinne des konservativen Schattenministers wäre von situationsgebundenen Widerständen und Verwirklichungschancen abhängig, aber im Kontext der bestehenden politischen und wirtschaftspolitischen Institutionen technisch ohne weiteres durchführbar. Eben daraus erklärt sich die Ablehnung, die das neo-liberale Konzept bei der Labor Party und bei den Gewerkschaften findet.

In den kurzfristigen Maßnahmen zur Verbesserung der Wirtschaftslage stimmen partiell die Regierungspolitik und die Empfehlungen der Neo-Liberalen in der Konservativen Partei überein. So plädieren beide zur Zeit für eine Senkung der Steuerlasten und eine Verringerung des Staatsanteils am Bruttosozialprodukt. Für die Labour-Regierung handelt es sich hierbei jedoch um Notmaßnahmen, die aus der schwierigen Situation heraus erzwungen werden. Die entscheidende Differenz zwischen beiden Ansätzen besteht in den politischen und sozialen Kosten, die das eine oder das andere Konzept bedingen. Die Regierungspolitik entscheidet sich für einen Weg, der die wirtschaftlichen Probleme in der für die britischen Lohnempfänger erträglichsten Weise und bei weitestgehender Antizipation der in den letzten Jahren wichtigsten Konflikt-ursachen im Verhältnis zu den Gewerkschaften zu lösen versucht. Hierbei bedient sie sich der konventionellen politischen Interventionsmechanismen im Wirtschaftsprozeß, der Steuer-und Geldpolitik, der Subventionierung bestimmter Branchen und wichtiger Verbrauchsartikel des alltäglichen Bedarfs. Die amtliehe Wirtschaftspolitik konnte insofern Erfolge verbuchen, als sie die Inflationsspirale zunächst reduzierte und dann stabil halten konnte sowie die Defizite in der Handelsbilanz verringerte. Der Handelsbilanz kam hierbei zusätzlich zum Nachfragedämpfungseffekt der Regierungspolitik und der Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften die seit 1976 steigende Selbstversorgung mit Ol aus den Nordseequellen zugute. Dennoch bleibt die Kooperation von Regierung und Gewerkschaften im Social Contract ein unverzichtbar scheinendes Grundelement der aktuellen Wirtschaftspolitik. Ob es jedoch sogar unter der Voraussetzung, daß der Social Contract aufrechterhalten wird, gelingen kann, über Jahrzehnte hinweg gewachsene Struktur-schwächen in kürzerer Zeit zu bewältigen, steht dahin.

Fussnoten

Fußnoten

  1. E. J. Hobsbawm, Industry and Empire (The Peli-can Economic History of Britain, Bd. 3), London 1969, S. 134— 154, 207— 255.

  2. S. H. Beer, Modern British Politics, London 1969*. 1974*, S. 69— 72.

  3. D. Butler and D. Stokes, Political Change in Britain: The Evolution of Electoral Choice, London 1969*, S. 69— 72. ‘

  4. D. Butler and A. Sloman (Hrsg.), British Political Facts, 1900— 1975, London 19754, S. 272; Central Statistical Office (CSO): Social Trends, No. 6/1975, London 1975, S. 17.

  5. CSO: Social Trends, ebenda.

  6. Philip Garrahan, Housing. The Class Milieu and Middle-Class Conservatism, in: British Journal of Political Science, 7. Jg. (1977), S. 126 f.

  7. T. Noble, Modern Britain. Structure and Change, London 1975, S. 245— 261.

  8. K. MacDonald und J. Ridge, Social Mobility, in: A. H. Halsey (Hrsg.), Trends in British Society since 1900. A Guide to the Changing Social Structure of Britain, London/Basingstoke 1972, S. 148 bis 192.

  9. Butler und Stokes, S. 103, Tabelle 5. 7.

  10. CSO: Social Trends, 6/1975, S. 22, Tabelle 5. 2.

  11. P. R. Abramson and J. W. Brooks, Social Mobility and Political Attitudes, in: Comparative Politics, 3. Jg. (1971/2), S. 425.

  12. B. Jessop, Traditionalism, Conservatism and British Political Culture, London 1974, S. 193 f. Vgl. Butler/Stokes, Political Change in Britain, London 1974, S, 203, Tabelle 9. 4.

  13. P. R. Abramson, Intergenerational Social Mobility and Partisan Preference in Britain and Italy, in: Comparative Political Studies, 6. Jg. (1973), S. 230.

  14. Butler und Stokes, S. 418.

  15. E. A. Nordlinger, The Working Class Tories. Authority, Deference and Stable Democracy, Berkeley and Los Angeles 1967, S. 26 f.

  16. Statistische Grundzahlen der Gemeinschaft 1975/76, hrsg. vom Statistischen Amt der Europäischen Gemeinschaften, S. 23.

  17. P. Donaldson, Guide to the British Economy, London 19764, S. 155 ff.

  18. S. Dollard, The Development of the British Economy 1914— 1967, London 19692, S. 442— 451.

  19. Central Statistical Office (CSO): Economic Trends, No. 28/1977, S. 26.

  20. Ebenda.

  21. OECD Economic Survey: United Kingdom, März 1976, S. 13.

  22. Ebenda, siehe auch OECD Economic Survey, United Kingdom, March 1977, Paris 1977, S. 32 ff.

  23. CSO: Economic Trends 28/1977, S. 34.

  24. National Institute of Economic and Social Research (NIESR): The United Kingdom Economy, London 19762, S. 41 ff.

  25. Statistische Grundzahlen der Gemeinschaft 1975/76, S. 24, Tabelle 4.

  26. Ebenda, S. 117 ff., Tabellen 92 und 93.

  27. Vgl, NIESR: The United Kingdom Economy, s. 100, Tabelle 6. 4.

  28. Ebenda.

  29. Ebenda, S. 98, Tabelle 6. 3.

  30. CSO: Economic Trends 28/1977, S. 46, 80.

  31. Ebenda, S. 46.

  32. NIESR: The United Kingdom Economy, S. 94 ff.

  33. CSO: Economic Trends 27/1977, S. 80.

  34. CSO: Economic Trends, No. 270/1976, S. 46.

  35. OECD Economic Survey: The United Kingdom, März 1976, S. 19.

  36. CSO: Economic Trends, No. 283, Mai 1977, S. 42.

  37. Ebenda, S. 36.

  38. S. Brittan, The Treasury under the Tories, London 1964; Dollard, S. 442 ff.

  39. Allgemein zur Wirtschaftspolitik der 60er und 70er Jahre S. Brittan, Steering the Economy, The Role of the Treasury, London 1969, S. 102 ff.; R Bacon and W. Eltis, Britain’s Economic Problem. Too Few Producers, London 1976, S. 1— 34; Donaldson, S. 153 ff.; NIESR: The United Kingdom Economy, S. 116— 120.

  40. Vgl. Bacon und Eltis, S. 40— 46.

  41. Ebenda, S. 46— 53.

  42. Ebenda, S. 53— 56.

  43. Ebenda, S. 56— 61.

  44. „Labour’s Tum to the Left“, in: Business Week vom 29. 3. 1976, S. 90ff.; Times vom 5. 5. 1976.

  45. Irving Richter, Political Purpose in Trade Unions, London 1973, S. 232 ff.

  46. L. Minkin, The British Labour Party and the Trade Unions: Crisis and Compact, in: Industrial and Labour Relations Review, 28. Jg. (1974), S. 23 H. Pelling, A History of British Trade Unionism, London, S. 245— 250; B. Hooberman, An Introduc tion into British Trade Unions, London, S. 16 ff.

  47. Financial Times vom 18. 10. 1974, 14. 4. 1975, 1. 9. 1975 und 5. 3. 1976.

  48. Times vom 7. 9. 1976, 17. 12. 1976, 9. 2. 1977 und vom 2. 4. 1977.

  49. „Do the Unions Rule Britain?", in: The Economist vom 29. 11. 1975, S. 38 f.

  50. Vgl. Financial Times vom 3. 10. 1975 und Times vom 16. 3. 1976.

  51. Vgl. J. Mackintosh, Machtkampf in der Labour Party, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. 6. 1973.

  52. R. Rose, The Problem of Party Government, London 1976 (Pelican), S. 321.

  53. D. Coates, The Labour Party and the Struggle for Socialism, Cambridge 1975, S. 162, 165; E. Heffer, Two Labour Parties or One?, in: The Political Quarterly, 46. Jg. (1975), S. 385— 394.

  54. Financial Times vom 12. 11. 1976.

  55. „The Tribune Group Prepares to Celebrate a Hollow Victory“, in: The Economist von 26. 4. 1975, S. 17 f.; siehe ferner A. Kronberg and R. C. Frasure, Policy Differences in British Parlia mentary Parties, in: American Political Science Review, 65. Jg. (1971), S. 702, Anm. 19.

  56. Financial Times vom 14. 4., 10. 8. und 18. 10. 1974 sowie vom 1. 9. 1975; siehe auch „Do the Unions Rule Britain?", in: The Economist vom 29. 2. 1975, S. 38 f. Times vom 12. 1. 1977.

  57. Financial Times vom 12. 11. 1976.

  58. Times vom 2. 2. 1977.

  59. H. M. Drucker, Leadership Selection in the Labour Party, in: Parliamentary Affairs, 29. Jg. (1976/77), S. 378— 395.

  60. Financial Times vom 29. 2. 1976.

  61. Richter, S. 217 ff.; siehe auch V. J. Hanby, A Changing Labour Elite, in; I. Crewe (Hrsg.), Britts Political Sociology Yearbook, Vol. 1: Elite» in W 6 Stern Democracy, London 1974, S. 142 f.

  62. S. Bernd-Jürgen Wendt, Industrial Democracy. tur Struktur der britischen Sozialbeziehungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 46/75, S. 32— 35.

  63. D. Watt, The Westminster Scene, in: The Political Quarterly, 45. Jg. (1974), S. 352.

  64. Times vom 5. 1., Financial Times vom 29. 11. 1976.

  65. Financial Times vom 6. 9., 8. 10. 1975 und vom 19. 9. 1976, Times vom 11. 3. 1977 und Neue Zürcher Zeitung vom 22. 1. 1977.

  66. Times vom 27. 2. 1976 und Financial Times vom 1. 3. 1976.

  67. Times vom 5. 5. und 25. 5. 1976.

  68. Financial Times vom 6. 9. 1974 und Times vom 22. 2. 1975; OECD Economic Survey, The United Kingdom, März 1977, Paris 1977, S. 42.

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Jürgen Hartmann, Dr. phil., Dipl. Pol., geb. 1946; seit 1974 Wissenschaftlicher Assistent am Seminar für Sozialwissenschaften der Universität Hamburg. Veröffentlichungen: Politikverflechtung am Beispiel von Gemeinden in den föderativen Systemen der Bundesrepublik Deutschland und der Vereinigten Staaten von Amerika, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Heft 4/1976; Der amerikanische Präsident im Bezugsfeld der Kongreßfraktionen. Strukturen, Strategien und Führungsprobleme in den Beziehungen der Präsidenten Kennedy, Johnson und Nixon zu den Mehrheitsfraktionen im Kongreß (1961— 1973), Berlin 1977.