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Aufarbeitung von Vergangenheit Materialien zu wichtigen Aspekten zeitgeschichtlicher Bildungsarbeit | APuZ 16/1980 | bpb.de

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APuZ 16/1980 Artikel 1 Aufarbeitung von Vergangenheit Materialien zu wichtigen Aspekten zeitgeschichtlicher Bildungsarbeit Politische Erziehung und Motivationsforschung

Aufarbeitung von Vergangenheit Materialien zu wichtigen Aspekten zeitgeschichtlicher Bildungsarbeit

Hermann Glaser

/ 111 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Betrachtung verfolgt ein zweifaches Ziel: — Erfahrungen, die sich aus „Holocaust“ ergeben, in einem allgemeinen Sinne zu reflektieren; — Forschungsaspekte der Zeitgeschichte, die gerade in letzter Zeit in den Mittelpunkt des Interesses rückten, anhand wichtiger Veröffentlichungen darzustellen. In der Art eines „Dossiers" mit ausführlichen Belegzitaten werden die einzelnen Problembereiche thematisch illustriert; besonders die Exkurse bieten Materialien, die für die praktische Bildungsarbeit direkt verwendet werden können. „Holocaust" hat deutlich gemacht, daß der „objektive Faktor Emotionalität" Verständnis zu initiieren und Nachdenken zu bewirken vermag; die „Banalität des Bösen", die das Dritte Reich charakterisierte, kann man nur verstehen, wenn man auch den Vorgängen und Vorkommnissen des Alltags nachspürt Die „Normalität" der Täter wirft sozialpathologische Fragen auf; neben der strukturellen Diskussion (etwa über den Faschismus-Begriff) kommt der Psychohistorie, und hier wiederum der Erforschung der „Familienperspektiven" (exemplifiziert an Hitler, Heydrich, Bormann, Himmler, Höß) besondere Bedeutung zu. Die NS-Henker bringen es fertig, bürgerliches Glück und äußersten Sadismus miteinander zu verbinden; die Verblendung ist so stark, daß die Perversion des idealistischen Tugendsystems selbst in extremen Situationen unerkannt bleibt. Die „Trauerarbeit” ist vor allem hinsichtlich des die abendländische Geschichte begleitenden Antisemitismus zu leisten. Der Nationalsozialismus hat in raffinierter Weise Abgründe mit Hilfe ästhetischer Fassaden verstellt; die weltanschauliche Obsession wurde durch massive Propaganda vor jeder Reflexion oder Selbstreflexion abgeschirmt. Die „Ästhetisierung der Barbarei" ist ein Schlüsselbegriff für Faschismus-Forschung — ein Phänomen, das weit In die Alltagsbereiche führt (also nicht nur bei Großereignissen, wie etwa Parteitagen, offenbar wurde). Die Regionalforschung, auf die Ergründung politischer Psychotope ausgerichtet, gibt der Erlebnishistoriographie eine räumliche Dimension: Man muß „vor Ort“ bleiben, kann sich weder ins Allgemeine flüchten noch — angesichts der Herausforderung des Spezifischen — so tun, als ob die anderen mehr, man selber weniger betroffen sei. Schließlich analysiert der Beitrag an Hand von Hellmut Diwalds „Geschichte der Deutschen" den Skandal sogenannter „revisionistischer" Geschichtsschreibung.

Das Ziel dieser Betrachtung ist ein zweifaches: — Erfahrungen, die sich aus „Holocaust" ergeben, in einem allgemeinen Sinne zu reflektieren und Folgerungen daraus für die politische Bildungsarbeit zu ziehen;

—bedeutsame Forschungsaspekte der Zeitgeschichte, die gerade in letzter Zeit in den Mittelpunkt des Interesses rückten, anhand wichtiger Veröffentlichungen darzustellen.

Die Ausführungen (eine Art „Dossier" zu aktuellen Aspekten zeitgeschichtlicher Bildungsarbeit) werden durch ausführliche Belegzitate abgestützt und durch Exkurse weiter veranschaulicht, so daß zu den angesprochenen Problemkreisen vielfältig verwendbare Materialien, einschließlich der Vorstellung relevanter Literatur und zusätzlicher Buchhinweise, mitgeliefert werden.

Der objektive Faktor Emotionalität

INHALT Der objektive Faktor Emotionalität Exkurs über Hitlers „Mein Kampf“

Die Faschismus-Diskussion NS-Familienperspektiven Trauerarbeit und Stolzarbeit Politische Psychotope Exkurs über den fränkischen Nationalsozialismus Revisionistische Geschichtsschreibung — Beispiel Diwald

In dem von Peter Märthesheimer und Ivo Frenzel herausgegebenen Band „Holocaust. Eine Nation ist betroffen" hat Tilman Ernst aus der Sicht der politischen Bildungsarbeit die positiven Ergebnisse und Wirkungen der Fernsehreihe wie folgt zusammengefaßt:

Gestaltung und Dramaturgie der Sendereihe liegen weit über dem Niveau einer durchschnittlichen amerikanischen , Soap-Operai‘ dem Vorwurf der unzulässigen Trivialisierung muß entgegengehalten werden, daß die Brei-Unwirksamkeit des Themas nach jahrzehntelanger Gewöhnung der Zuschauer an die Klischees der Massenmedien wohl nur so zu erreichen ist.

Die Reaktionen der Zuschauer auf. Holocaust'decken Defizite auf, machen Ansatzpunkte analysierbar, die sowohl im Bereich des historischen Wissens als auch der sozialen Einstellungen liegen. Nachdem die , Hitler-Welle'einen Markt für den Nationalismus durch zum Teil heroisierende und verherrlichende Publikationen, Filme und Tondokumente geöffnet hat, der gerade auch Jugendliche in den Griff nimmt, ist es an der Zeit, einige der schlimmsten Ereignisse der Nazi-Herrschaft sinnlich erfahrbar zu machen und als Gegengewicht anzubieten. Damit gibt . Holocaust'allen pädagogisch Verantwortlichen die Chance, Themen im Zusammenhang mit der Entstehung, der Wirklichkeit und den Konsequenzen des rTationalsozialismus bis in die heutige Zeit aofzugreifen. Medienundprogrammpolitisch ist die Sendereihe, die innerhalb einer Woche ausgestrahlt wurde, als exemplarischer Fall eines intensiven, thematischen Angebots der Fernsehsenderzu werten, das zugleich auch gesellschaftspolitische, pädagogische Ziele verfolgt.“ Politische Bildungsarbeit muß rund fünfunddreißig Jahre nach der „Stunde Null" davon ausgehen, daß mehr als die Hälfte der heute in der Bundesrepublik lebenden Bevölkerung den Nationalsozialismus nicht mehr aus eigener Anschauung kennt. „Holocaust" hat deutlich gemacht, daß die Forderung, sich mit der braunen Diktatur auseinanderzusetzen, auf sehr große Resonanz stößt, wenn man einen Weg findet, der auch emotionale Betroffenheit zu bewirken vermag. Die Grundfrage, wie es möglich war, daß die Ideologie von Rassenhaß, Rassenwahn, „Blut und Boden" Millionen mitriß bzw. Millionen zu moralisch abgestumpften, gleichgültigen oder ängstlichen Mitläufern machte (eine Frage, die meist jüngeren Menschen unverständlich ist, aber auch für viele ältere Menschen nachträglich rätselhaft erscheint), läßt sich nicht nur dadurch beantworten, daß man kognitiv erkennbare, logisch-rational erklärbare institutionell-strukturelle Fakten, sondern daß man auch Emotionen, Stimmungen, „Atmosphären“, „Unterbewußtseinsnebel" vermittelt, diese aber aufzuklären versucht. Vor allem ist der Alltag im totalitären Staat Hitlers aufzuzeigen — mit seiner beklemmenden Enge, erbärmlichen Spießigkeit und Gemeinheit; mit welchen „Versprechungen" der „Führer", seine Mitkämpfer und die NSDAP an die Macht kamen, auf welche Weise es ihnen gelang, die demokratischen Rechte wie die Tugenden humaner Lebensgestaltung schrittweise abzubauen und dem Unrecht und Unheil den Weg zu bereiten.

Eine geschichtliche Betrachtung muß bei aller Konkretheit (was Daten, Ereignisse, Vorgänge betrifft) stets abstrahieren, um zu Überblicken, Durchblicken, Einblicken zu gelangen. Mit dem Verlust der „epischen Breite" zugunsten „abgehobener Strukturen" geht nicht nur Anschaulichkeit verloren; es wird schwerer nachzuvollziehen, was damals wirklich geschah — „wirklich" im Sinne existentieller Aufarbeitung. So wichtig und unverzichtbar geschichtliches Verständnis und damit individuelle wie kollektive historische Reflexion auch sind: „Holocaust" hat deutlich gemacht, daß die Notwendigkeit des Mitfühlens, Mitleidens und Nacherlebens bislang zu wenig beachtet wurde. Um aus Geschichte zu lernen, muß man auch aus Geschichten lernen können — also umfangreiche Veranschaulichung akzeptieren und didaktisch instrumentalisieren; besonders die Medien können, wie Tilman Ernst mit Recht betont, hierbei eine sehr bedeutsame Aufgabe politischer Bildungsarbeit übernehmen. „Geschichten": das meint „wahre“ Geschichten, letztlich Dokumente — wobei diese Dokumente vor allem, im Sinne des zunehmenden Trends der Forschungsbemühungen, aus der Alltäglichkeit stammen sollten, das Leben und Handeln des durchschnittlichen Menschen charakterisierend; es handelt sich ferner um fiktive Geschichten, also um solche, wie sie z. B. ein Schriftsteller oder Dichter „frei“ erfindet, ohne daß er deshalb Authentizität vernachlässigt, vielmehr — denken wir zum Beispiel an Rolf Hochhuths Erzählung „Eine Liebe in Deutschland“ — in einem tieferen Sinne erst herstellt. Schließlich sind Geschichten gemeint, die eine Mischung von Dokument und Fiktion darstellen: Fakten, Ereignisse, Vorgänge werden auf „Kunstfiguren" projiziert bzw. in solchen konzentriert. „Holocaust" arbeitet weitgehend mit Kunstfiguren. In die Einzelbiographie wurde dementsprechend sehr viel „hineinverpackt", was die Stärke wie Schwäche des Films ausmacht, seine Übersichtlichkeit, aber auch Unwahrscheinlichkeit bewirkt — obwohl manche reale Biographie noch viel mehr an gehäuften „unglaublichen" Furchtbarkeiten aufweist. „Aus-Geschichten-lernen": der abstrakten Zusammenschau der Historiographie wird so die emotional-ansprechende Veranschaulichung beigegeben.

Ein Beispiel: In der fundierten Dukumentation „Judenverfolgung im Dritten Reich" von Wolf-gang Scheffler heißt es zum gesteuerten Pogrom" vom 9. bis 11. November 1938 u. a.:

, Bei dem abendlichen Zusammentreffen der Alten Kämpfer'aufderjährlich wiederkehrenden Gedenkfeier am 9. November gab Goebbels mit einer hetzerischen Rede das Startzeichen'für den Pogrom, der sofort in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 begann und erst am 11. Novemberzu Ende ging. Überallim Reich zündeten SA-Männer und Parteigenossen jüdische Gotteshäuser an, überall demolierten sie jüdische Geschäfte und an vielen Orten selbst die Wohnungen der Juden. Ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht wurden jüdische Mitmenschen geprügelt, verhöhnt, durch Straßen geschleppt, entrechtet und entwürdigt. Ja, selbst vor Mord schreckte man nicht zurück.

So mußte das Oberste Parteigericht der NSDAPzugeben, daß bei diesem Vandalismus 91 Fälle von Tötungen'vorgekommen waren. Allein der angerichtete Sachschaden betrug nach den ersten Feststellungen Heydrichs bereits am 12. November mehrere hundert Millionen Mark. Nach der gleichen Schätzung wurden insgesamt etwa 7500 Geschäfte zerstört.“

Eine „Geschichte" dazu (Auszug aus einem Protokoll des Amtsgerichts Buchen vom 10. November 1938) lautet in „epischer Breite" so:

-.. Ich heiße AdolfHeinrich Frey, bin 26Jahre dt, ledig, Landwirt und Ortsgruppenleiter in Eberstadt.

Ichgebe zu, daß ich die in ihrem Hause hier tot vorgefundene Witwe Susanna Stern, geb. Gimbel, heute vormittag kurz vor 8 Uhr durch Revolverschuß getötet habe.

Ich bin heute morgen um 6 Uhr von dem Kreisleiter Ulmerin Buchen fernmündlich angewiesen worden, eine Aktion gegen die Juden in Eberstadt durchzuführen. Der Kreisleiter erklärte mir, ich könne mit den Juden machen was ich wollte, nur dürfe es zu keinem Hausbrand und zu keinen Plünderungen kommen. Ich habe aufgrund dieser Weisung meine politischen Leiter in Eberstadt und meine SA-Kaueraden von der bevorstehenden Aktion verständigt. Wir haben uns an meiner Wohnung hier in der Robert-Wagner-Straße versammelt uod sind dann erst zu der Judenfamilie Abra- ham Steinhardthiergegangen. Wirhaben dort gefragt, ob die Steinhardts noch im Besitz von Hieb-und Schußwaffen sind. Die Frage wurde von den Steinhardts verneint. Wir haben daraufhin die Eheleute Steinhardt mitgenommen und ins Spritzenhaus gebracht.

Wir haben uns alsdann zu der Familie Hirsch Stern hier begeben und gefragt, ob die Eheleute Stern im Besitz von HiebundSchußwaf-fen sind. Als dies von den Sterns verneint wurde, haben wir uns entfernt. Da es sich um ein älteres Ehepaar handelt, habe ich gegen sie nichts unternommen. Hieraufbegaben wir uns in das Haus der nunmehr getöteten Susanna Stern. In meiner Begleitung befanden sich der für dieses Haus zuständige Zellenleiter A. B., Landwirt in Eberstadt, der Kassenleiter C. D. in Eberstadt und der SA-Truppführer E F, Schreiner in Eberstadt.

Ich habe zunächst an derHaustüre angeklopft. Hierauf schaute die Witwe Stern zunächst durch das links neben der Haustüre liegende verschlossene Fenster. Ich habe der Stern dann gesagt, sie solle die Türe öffnen. Es dauerte etwa 3— 4 Minuten, bis uns von der Frau Stern die Haustüre geöffnet wurde. Als mich Frau Stern dann vor der Türe stehen sah, lächelte sie mich herausfordernd an, indem sie sagte: . Schon hoher Besuch heute morgen. 'Ich habe daraufnichts erwidert. Frau Stern drehte sich um undging in ihr Zimmer. Ich bin ihr auf dem Fuß gefolgt bis zur Türschwelle. Ich habe nun die Stern aufgefordert, sich einmal anzuziehen. Sie ist zunächst aber nur im Zimmer herumgelaufen und hat meine Aufforderung lächelnd abgelehnt. Nach etwa 2 Minuten hat sie sich in die Mitte des rechts neben der Eingangstür zum Wohnzimmer stehenden Sofas gesetzt, worauf ich sie frug, ob sie sich nicht anziehen und meiner Aufforderung Folge leisten wolle. Die mir darauf, sie ziehe sich nicht an und gehe auch nicht mit uns, wir könnten machen was wir wollten. Wir haben nämlich beabsichtigt, die Stern mit ins Rathaus zu nehmen, wohin wir sie aber mitnehmen wollten, haben wir der Getöteten nicht gesagt.

Die Stern hat nun gesagt, wenn wir was von ihr wollten, sollten wir die Gendarmerie holen. Dabei hat sie aber wiederholt betont, daß sie sich nicht anziehe undnicht mitgehe. Ich habe ihr hierauferklärt:, Ich sage Ihnen jetzt, ziehen Sie sich jetzt an undgehen Sie mit. 'Sie hat darauf wieder erklärt: Jeh gehe nicht aus meinem Hause heraus, ich bin eine alte Frau.'Hierauf sagte ich ihr, mir sei bekannt, daß sie noch jeden Tag im Dorf herumlaufe und in ihren Krautgarten gehe. Ihre Weigerung, das Haus zu verlassen, sei unbegründet.

Ich habe nunmehrmeine Dienstpistole aus der rechten Hosentasche genommen. Die Pistolentasche hatte ich dem Propagandaleiter N. O., hier, ausgehändigt, bevor wir in das Haus der Steinhardts gegangen sind. Von diesem Zeitpunkt ab trug ich die Pistole in der Hosentasche. Ich wollte nicht am frühen Morgen mit der Pistolentasche am Koppel herumlaufen und wollte jedes Aufsehen vermeiden. Insbesondere wollte ich auch nicht mit der umgeschnallten Pistolentasche zu Juden hingehen.

Nachdem ich die gesicherte Dienstpistole aus der Hosentasche genommen habe, habe ich die Frau noch 5-bis 6mal aufgefordert, aufzustehen und sich anzuziehen. Darauf hat mir die Stern laut und frech höhnisch ins Gesicht geschrien, ich stehe nicht auf und zieh mich nicht an, machen Sie mit mir, was Sie wollen. In dem Augenblick, als die Frau Stern rief, machen Sie mit mir, was Sie wollen, habe ich den Sicherungsflügel der Pistole berumgedrückt und den ersten Schuß aufdie Frau Stern abgegeben.

Bei der Abgabe des ersten Schusses stand ich ungefähr 10 cm von der Türschwelle entfernt. Ich habe die Pistole nach derBrust der Getöteten zielendgerichtet. Aufden ersten Schuß ist die Stern auf dem Sofa in sich zusammengesunken. Sie hat sich nach rückwärts gelehnt und mit beiden Händen an die Brust gegriffen. Ich habe nun unmittelbar danach den zweiten Schuß auf sie abgegeben, und zwar diesmal nach dem Kopf zielend. Die Stern ist darauf von dem Sofa gerutscht und hat sich dabei gedreht. Sie lag alsdann unmittelbar vor dem Sofa, und zwar den Kopf nach links, den Fenstern zugewandt. In diesem Augenblick hat die Stern noch Lebenszeichen von sich gegeben. Sie hat in kurzen Abständen geröchelt und wieder ausgesetzt. Geschrien undgesprochen hat die Stern nicht. Mein Kamerad C. D. hat vor Sofa liegenden nun den Kopf der dem Stern gedreht, um nachzuschauen, wo der Schuß getroffen hat. Ich habe darauf zu meinem Kameraden gesagt, ich sehe gar nicht ein, warum wir hier herumstehen sollten, ich halte es für das richtigste, wenn wir die Türe abschließen und den Schlüssel abliefern. Damit ich aber ganz sicher war, daß die Stern tot ist, habe ich auf die Daliegende in einer Entfernung von ungefähr 10 cm einen Schuß in die Mitte der Stirn abgefeuert. Hierauf haben wir das Haus abgeschlossen und habe ich von der öffentlichen Fernsprechstelle die Kreisleitung angerufen und den Kreisleiter Ulmer von dem Geschehenen unterrichtet...

Erlaß des Reichsministers der Justiz — III g 10 b — 286/399 — durch den Generalstaatsanwalt in Karlsruhe an den Oberstaatsanwalt in Mosbach vom 10. Oktober 1940 betr. Strafsache gegen Frey.

Staatsanwaltschaft Mosbach: 1 Js 4558/46.

Vermerk des Generalstaatsanwalts in Karlsruhe vom 16. Oktober 1940:, Die Kriminalpolizeileitstelle Karlsruhe und die Staatspolizei stelle Karlsruhe habe ich entsprechend verständigt'.

Das Verfahren ist durch Erlaß des Reichsministers der Justiz — IIIg 10 b 1621/38 g — vom 2. Oktober 1940 niedergeschlagen.

Im Auftrag: Dr. Joel. Konfrontiert mit der „Banalität des Bösen'1, sei an ein Wort der Simone Weil erinnert, das durchzudenken gerade dann angebracht ist, wenn man sich vergegenwärtigt, daß zeitliche Distanz und historiographische Abstraktion häufig sogar so weit führen, daß das Böse geradezu einen faszinierenden Schein erhält: „Das imaginäre Böse ist romantisch, abwechslungsreich, das wirkliche Böse ist stumpfsinnig, eintönig, öde, langweilig. Das imaginäre Gute ist langweilig, das wirkliche Gute ist immer neu, wunderbar, berauschend. Deshalb ist die . Romanliteratur' entweder langweilig oder unmoralisch (oder eine Mischung aus beiden). Dieser Alternative entrinnt sie nur dann, wenn die Kunst in ihr so mächtig ist, daß sie gewissermaßen in den Bereich des Wirklichen hin-übertritt — was zu bewirken einzig das Genie im Stande ist." Ein solcher Satz kann — modifiziert — auch auf politische Bildungsarbeit bezogen werden: Ihre didaktische „Kunst“ muß so angelegt sein, daß sie ständig aus dem Bereich der Abstraktion in den der Wirklichkeit übertritt; die Gefahr, daß analytisch (rational) etwas „erledigt" wird, was existentiell (emotional) „aufgehoben" sein sollte, ist gerade dann gegeben, wenn konkrete Erinnerung mißachtet und moralische Fragen nicht mit genügendem Nachdruck gestellt werden. Trauerarbeit kann eben nicht über den Intellekt geleistet werden, sie muß aus mitleidendem Vollzug bestehen; die historiographische Auratisierung verhindert vielfach, daß das wirkliche Böse so erscheint, wie es ist: stumpfsinnig, eintönig, abgründig. — Zum stumpfsinnig-abgründigen Bösen nachfolgend noch ein Auszug aus einem Gespräch mit dem im ersten Auschwitzprozeß zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilten Josef Klehr:

. Was heißt Sonderbehandlung?

KLEHR: Das war die Injektion. Die Abspritzerei da. Sonderbehandlung.

Können Sie die Sonderbehandlung mal schildern? KLEHR: Ja, wie soll ich das schildern ? Da waren Häftlinge, die unter die Vergasung fielen, undHäftlinge, die mit in kleinem Maße Injektionen durchgeführt wurde. Im Stammlager, im Krankenbau.

Wie ging das dann vor sich ?

KLEHR: Die Häftlinge wurden dann vom Block 28 bei dem Ambulanzbehandlungsblock, da wurden sie rübergeführt in Block 20. Im Block 20 war die Infektionsabteilung. Da kamen sie wieder in ein extra Zimmer, und dann wurden sie einzeln rausgeführt in Block 20, rechts das erste Zimmer. Dort war diese Sache durchgeführt worden. Man hat ja noch nicht mal die zwei Kubik ausgespritzt gehabt, dann sind sie schon im Stuhl zusammengesackt. Dann sind zwei Häftlinge gekommen und haben sie rausgenommen. Und haben sie gegenüber wieder in einen Raum geschafft. Und wenn die ganze Sache vorbei war, dann ist der Wagen gekommen und hat die Leichen da rausgenommen. Und sie wurden ins Krematorium gefahren. Wie soll ich das beschreiben ? Mit was.

Können Sie die Szene noch einmal genau beschreiben, den Vorgang des ... Abspritzens? KLEHR: Sie tun mich ja unheimlich quälen, kann ich sagen. Sie tun mich ja unheimlich quälen hier. Wie soll ich das beschreiben ?

Wie war das, wenn die Häftlinge hereinkamen? Haben die nicht gespürt, daß sie nun getötet werden?

KLEHR: Das hab ich Ihnen ja schon gesagt. Die Häftlinge haben nicht geweint. Die haben sich nicht gewehrt. Die haben sich reinführen lassen, haben sich auf den Stuhl gesetzt. Und haben dann dagesessen, bis das vorbei war. Kein Wort gesprochen, nichts.

Und sie haben die Spritze direkt ins Herz bekommen ?

KLEHR: Zuletzt ist das ins Herz gespritzt, in den Herzmuskel. Weil die Venen waren tief‘iegende Venen. Da hat man die Venen nicht gleich gefunden, da mußte man drei-, viermal stechen. Und die Häftlinge haben das eigentlich erfunden, daß das gleich in den Herzmuskel gespritzt wurde.

Da durften auch Häftlinge andere Häftlinge KLEHR: Das haben sie ja vorher gemacht. Ich nab's erst machen müssen, von dem Moment, als ich die Meldung gemacht habe meinem Vorgesetzten, daß Häftlinge Häftlinge abgespritzt haben. Und daraufhin habe ich mir erst den Befehl eingehandelt, da mußte ich mir die Hände schmutzig machen, auf Grund dieses Befehls. Ich hab mich noch mit dem Lagerarzt da rumgebissen. Undzum Schluß hat ergesagt, wenn Sie nicht wollen, da bring ich Sie vors Kriegsgericht. Sie haben den Befehl auszuführen. Was sollt ich machen? Hätt ich den Befehl verweigert, das gab's doch nicht bei der SS: Befehl verweigern. Erst mal hätte das ja Schule gemacht. Da hätte sich müssen der Reichsheini allein hingestellt und hätte den KZ-Dienstgemacht. Sehen Sie, ich habe mich weg-gemeldet in Buchenwald, und wo bin ich hingekommen? Nach Dachau. In Dachau hab ich mich wieder zur Front gemeldet. Und wo bin ich hingekommen? Nach Auschwitz.

Wie viele Menschen sind durch Injektionen Ihrer Schätzung nach getötet worden?

KLEHR: Meiner Schätzung nach waren das, die im Häftlingskrankenbau getötet worden sind, war das wöchentlich verschieden. Manchmal waren das zwanzig, manchmalfünfzehn, manchmal dreißig. Das kann ich Ihnen nicht genau angeben. So ungelähr.

Pro Tag dreißig?

KLEHR: Nein, nein. Zweimal die Woche. Nicht pro Tag. Das haben Sie gelesen. Aber das ist nicht wahr. Das wird geschrieben. Dreißig. Wenn eine größere Sache war, das die Leute mehr waren, dann sind sie aulgehoben worden, bis die Vergasung im Krematorium losging. Und da hat man sie dort rausgeschafft. Aber mehr sind nicht vorgekommen, wie die in dem Buch schreiben, in dem Auschwitz-Buch da.

Ich bin beschuldigt worden in dem Prozeß, ich hätte 25 000 bis 35 000 Menschen abgespritzt. Ich hab das nur ein Vierteljahr machen brauchen. Dann bin ich abgelöst worden, da mußt ich die Seuchenbekämpfung durchführen.

Weil eine große Seuche, Epidemie, ausgebrochen ist in Auschwitz.

Wie viele haben sie nach Ihrer eigenen Schätzung abgespritzt?

KLEHR: Ich hab zweimal die Woche, einmal fünfzehn, an einem anderen Mal waren es zwanzig. " Wie kann es dazu kommen, daß Menschen das Morden als Routinetätigkeit verstehen, daß in einem Staat die Massenvernichtung von Menschen gewissermaßen als Geschäft „laufender Verwaltung" betrieben wird? Wie ist es möglich, daß individuelle Moral und kollektives Gewissen derart abstumpfen wie im Dritten Reich, furchtbares Unrecht überhaupt nicht mehr bemerkt oder verdrängt bzw. „übersehen“ wird? Das Problem, mit dem uns der Nationalsozialismus konfrontiert, ist die Integration absurder Unmenschlichkeit in alltägliche Normalität.

Exkurs über Hitlers „Mein Kampf"

Der Nationalsozialismus hat das vielschichtig Einfache der Popularaufklärung (für die das Einfache nicht in der Simplifikation bestand und die ihre aufklärerische Arbeit nicht in Herablassung zum „Niedrigen”, sondern als Zuwendung zum Mitmenschen betrieb), der Nationalsozialismus hat dieses dem Trivialen wie dem Kitsch gleichermaßen „enthobene" Einfache pervertiert, ins Gegenteil verdreht, indem er Gedankengänge zerschlug und sie durch Metaphern ersetzte; Einfachheit schlug in Trivialität zurück. Wenn ein aus gedanklichem Kontext herausgelöstes, lediglich den Leerlauf der Gedanken kaschierendes Bild politisch manipuliert wird, besteht ein Ideologern. Das Aneinanderreihen von Metaphernideologemen charakterisiert eine bestimmte Form von Ideologie, die man als Metaphern-weltanschauung oder Metaphernideologie bezeichnen kann — im Gegensatz zu einer aus einem vereinseitigten Gedankensystem abgeleiteten Ideologie, die sich weniger in Bildern, mehr dafür in Konstrukten ausprägt. Der Nationalsozialismus war eindeutig Metaphern-Weltanschauung:Eine Mischung zusammenhangloser, „sinnlich" jedoch eindrucksvoller „Bilder“, die ohne Anstrengung des Begriffs von denjenigen angenommen und aufgenommen wurden, die keine Sensibilität für das „Schöne, Gute und Wahre“ mehr besaßen. Ideologische Trivialitäten, die vor allem dann einen Wurzelboden finden, oder sagen wir besser: auf Rieselfeldern blühen, wenn Lebenssinn verlorengegangen ist und Frustration um sich greift, sind beliebig, mit immer neuen Vokabeln, herstellbar. Der historische Rückblick auf den Nationalsozialismus kann zeigen, wie so etwas gemacht wurde; wir müssen uns bewußt sein, daß solches immer wieder, immer wieder neu und immer wieder anders gemacht wird und gemacht werden kann. Politische Bildungsarbeit die eine phänomenologische Auseinandersetzung mit den Metaphernideologemen der nationalsozialistischen Weltanschauung vornimmt, will somit prophylaktisch wirken. Das Gesagte sei beispielhaft an Hitlers „Mein Kampf“ erläutert. „Am 1. April hatte ich, auf Grund des Urteilsspruches des Münchner Volksgerichts von diesem Tage, meine Festungshaft zu Landsberg am Lech anzutreten. Damit bot sich mir nach Jahren ununterbrochener Arbeit zum ersten Male die Möglichkeit, an ein Werk heranzugehen, das von vielen gefordert und von mir selbst als zweckmäßig für die Bewegung empfunden wurde. So habe ich mich entschlossen, in zwei Bänden nicht nur die Ziele unserer Bewegung klarzulegen, sondern auch ein Bild der Entwicklung derselben zu zeichnen. Aus ihr wird mehr zu lernen sein als aus jeder rein doktrinären Abhandlung. Ich hatte dabei auch die Gelegenheit, eine Darstellung meines eigenen Werdens zu geben, soweit dies zum Verständnis sowohl des ersten als auch des zweiten Bandes nötig ist und zur Zerstörung der von der jüdischen Presse betriebenen üblen Legendenbildung über meine Person dienen kann." So heißt es im Vorwort von Adolf Hitlers . Mein Kampf, dessen erster Band 1925 und dessen zweiter Band 1927 erschien (1934 war bereits eine Gesamtauflage von 1 300 000 Exemplaren erreicht). Der Nationalsozialismus bekam durch dieses Buch seine weltanschauliche Fundierung; was der „Führer" niedergeschrieben hatte, wurde als Offenbarung genommen; die Worte Hitlers erhielten, vor allem ab 1933, einen gleichsam sakralen Stellenwert. Das Buch war freilich in kaum einem Gedanken originell; es erwies sich als Sammelbekken von trüben Strömungen, die im 19. Jahrhundert ihren Ursprung hatten und denen — etwa als Rassismus, Nationalismus, völkischer Sendungsglaube, patriarchalischer Autoritarismus — vielfach die „Agenturen" wie die . Stützen und Spitzen" der Gesellschaft Bahn gebrochen hatten.

Man hat die Meinung vertreten, Bedeutung und Einfluß von Hitlers „Mein Kampf dürften nicht so hoch eingeschätzt werden, da das Buch zwar weit verbreitet, aber kaum gelesen wurde (so erhielt man nach 1933 bei der standesamtlichen Trauung ein Exemplar geschenkt, was Hitlers Autoren-Tantiemen sprunghaft ansteigen ließ!). Man sollte daraus jedoch eine zunächst paradox klingende Folgerung ziehen: Das Buch war gerade deshalb so erfolgreich, weil es überhaupt gar nicht mehr gelesen werden mußte! Lebensgefühl und Weltanschauung eines Großteils der deutschen Bevölkerung stimmten mit dem überein, was in „Mein Kampf dargeboten und propagiert wurde. Er enthielt alles, was aus des Spießers Wunderhorn" (der Pandorabüchse kleinbürgerlicher Traktätchenverfasser) seit Jahrzehnten übernommen und verinnerlicht worden war: Abgründige Stammtisch-Vorurteile, breitgetretenen Wortquark, in schiefe Metaphern geschlagene Ressentiments, endlose Tiraden und rhetorisch aufgeschminkte Platitüden. Ein Kommentar zu Hitlers „Mein Kampf" ergibt somit einen „Spießerspiegel" par excellence. Hitler besaß die Genialität des Mittelmäßigen: seine Durchschnittlichkeit " ar überdurchschnittlich; so wurde seine Mediokrität zum Schicksal eines Volkes, das sich Schritt um Schritt von aufgeklärter Humanität hatte abbringen lassen. „Trauerarbeit" bedeutet, dies erkennen zu lernen.

Im Elternhaus" ist das 1. Kapitel des Buches überschrieben; die zentralen Mythen der nationalsozialistischen Weltanschauung, vor allem der „Bluts-Gedanke“, werden hier gewissermaßen topographisch fixiert. Der Geburtsort Braunau erscheint zugleich als Symbol der „geschichtlichen Schmach", die als kleindeutsche Lösung dem Reichsgedanken angetan worden sei. So wird gleich zu Beginn nationalistisches Pathos aktiviert und der Leser auf patriotische Identität eingeschworen:

, AJs glückliche Bestimmung gilt es mir heute, daß das Schicksal mir zum Geburtsort gerade Braunau am Inn zuwies. Liegt doch dieses Städtchen an der Grenzejener zwei deutschen Staaten, deren Wiedervereinigung mindestens uns Jüngeren als eine mit allen Mitteln durchzuführende Lebensaufgabe erscheint! Deutschösterreich muß wieder zurück zum großen deutschen Mutterlande, und zwar nicht aus Gründen irgendwelcher wirtschaftlichen Erwägungen heraus. Nein, nein: Auch wenn diese Vereinigung, wirtschaftlich gedacht, gleichgültig, ja selbst wenn sie schädlich wäre, sie müßte dennoch stattfinden. Gleiches Blut gehört in ein gemeinsames Reich. Das deutsche Volk besitzt solange kein moralisches Recht zu kolonialpolitischer Tätigkeit, solange es nicht einmal seine eigenen Söhne in einen gemeinsamen Staat zu fassen vermag. Erst wenn des Reiches Grenze auch den letzten Deutschen umschließt, ohne mehr die Sicherheit seiner Ernährung bieten zu können, ersteht aus der Not des eigenen Volkes das moralische Recht zur Erwerbung fremden Grund und Bodens. Der Pflug ist dann das Schwert, und aus den Tränen des Krieges erwächst für die Nachwelt das tägliche Brot. So scheint mir dieses kleine Grenzstädtchen das Symbol einer großen Aufgabe zu sein. Allein auch noch in einer anderen Hinsicht ragt es mahnend in unsere heutige Zeit. Von mehr als hundert Jahren hatte dieses unscheinbare Nest, als Schauplatz eines die ganze Nation ergreifenden tragischen Unglücks, den Vorzug, für immer in den Annalen wenigstens der deutschen Geschichte verewigt zu werden. In der Zeit der tiefsten Erniedrigung unseres Vaterlandes fiel dort für sein auch im Unglück heißgeliebtes Deutschland derNürnbergerJohannes Palm, bürgerlicher Buchhändler, verstockter . Nationalist'und Franzosenfeind. Hartnäckig hatte er sich geweigert, seine Mit-, besser Hauptschuldigen anzugeben. Also wie Leo Schlageten Er wurde allerdings auch, genau wie dieser, durch einen Regierungsvertreter an Frankreich denunziert. Ein Augsburger Polizeidirektor erwarb sich diesen traurigen Ruhm und gab so das Vorbild neudeutscher Behörden im Reiche des Herrn Severing. "

In nuce werden in diesen einleitenden Zeilen wichtige Inhalte des Buches vorweggenommen: „Leitmotive", die dann, systemlos, ohne logische Stringenz, in Form „freier Assozia-tion", immer wieder aufgegriffen und abgewandelt werden:

— die Sehnsucht nach einem „großdeutschen Reich", welches das „gemeinsame Blut", „auch den letzten Deutschen" innerhalb seiner Grenzen umschließt;

— das daraus abgeleitete „moralische Recht", „fremden Grund und Boden" zu erwerben: also die Rechtfertigung aggressiver Großraumpolitik, einer Politik, die dem „Volk ohne Raum“ auf Kosten seiner Nachbarn Expansion verschafft; — die darwinistisch unterlegte Überzeugung, daß der Pflug gleichzeitig Schwert zu sein hat und daß „aus den Tränen des Krieges" für die Nachwelt das „tägliche Brot" erwachse: Wehr-bauerntum, nicht von „Humanitätsduselei" angekränkelt; — ein historisch abgeleiteter Franzosenhaß, der im „welschen" Nachbarland zugleich den Hort aufgeklärter Gleichmacherei und antiautoritärer „Bruderschaftsgesinnung“ bekämpft; — die Diffamierung „neudeutscher Behörden", d. h.des demokratischen Weimarer „Systems", das als korrupt und antideutsch mit besonderem Haß bedacht wird; „Parlamentswanzen" nennt Hitler im Buch später seine Feinde. Besonders signifikant ist die an den zitierten Abschnitt sich anschließende biographische Reminiszenz. In souveräner Mißachtung der wirklichen (und zwar zerrütteten) Familienverhältnisse werden diese ins Licht biedermeierlicher Verklärung versetzt Hier ist bereits alles „drin", was einem in der Enge seiner Verhältnisse verkümmerten Spießer ans Herz gehen mußte: Die in breiten Sentenzen heran-rollende wehmütige Erinnerung an die gute alte Zeit, die patriarchalische Ordnung des Familienlebens, die sentimentale, die Frau freilich abwertende Mutterliebe, das Vaterglück, der Sohnesdank, der Anklang patriotischer Feierlichkeit. Das Ganze ist im Stil schief, voller verquollener Metaphern und Klischees — einschließlich äußerlich wirkungsvoller Partizipien:

„In diesem von den Strahlen deutschen Märtyrertums vergoldeten Innstädtchen, bayerisch dem Blute, österreichisch dem Staate nach, wohnten am Ende der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts meine Eltern; der Vater als pflichtgetreuer Staatsbeamter, die Mutter im Haushalt aufgehend und vor allem uns Kindern in ewiggleicher liebevoller Sorge zugetan.

Hitlers Geist spiegelt die Zerrissenheit des in den Spekulationen der Gründerjahre, Ende des 19. Jahrhunderts, nicht zum Zuge gekommenen Kleinbürgertums wider, das Gefühl der „Habenichtse", die mit Neid auf die Erfolgreichen blicken. Abgedeckt von der Fassade des bürgerlichen Sekundärtugendsystems — bei dem Werte wie Sauberkeit, Ordnungseifer, Pünktlichkeit, Treue nicht danach befragt werden, wozu sie dienen — wird unter der Vortäuschung gemüthafter Redlichkeit der Mythos gegen den Logos, wird Irrationalismus gegen Aufklärung ausgespielt und damit alles „erledigt", was die Zielsetzung des historischen Sozialismus ausmachte:

— das universale Menschsein gilt nichts angesichts rassistischer Überheblichkeit;

— die Emanzipation des Individuums in Selbst-und Mitbestimmung wird mit Hilfe autoritären Führerkults der Lächerlichkeit überführt; — die Grundrechte, etwa die Chancengleichheit, die Abschaffung von Vorrechten, werden zugunsten eines mystischen Volks-und Volkstumsbegriffs denunziert.

Hitler berichtet, daß ihm bei einer Massendemonstration Wiener Arbeiter „ein Licht“ aufgegangen sei:

„Fast zwei Stunden lang stand ich so da undbeobachtete mit angehaltenem Atem den ungeheuren menschlichen Drachen wurm, der sich da langsam vorbeiwälzte. In banger Gedrücktheit verließ ich endlich den Platz und wanderte heimwärts. Unterwegs erblickte ich in einem Tabakladen die . Arbeiterzeitung', das Zentralorgan der alten österreichischen Sozialdemokratie. In einem billigen Volkscafe, in das ich öfters ging, um Zeitung zu lesen, lag sie auch auf; allein ich konnte es bisher nicht über mich bringen, in das elende Blatt, dessen ganzer Ton auf mich wie geistiges Vitriol wirkte, länger als zwei Minuten hineinzusehen. Unter dem deprimierenden Eindruck der Demonstration trieb mich nun eine innere Stimme an das Blatt einmal zu kaufen und es dann gründlich zu lesen. Abends besorgte ich dies denn auch unter Überwindung des in mir manchmal aufsteigenden Jähzorns über diese konzentrierte Lügenlösung. Mehr als aus aller theoretischen Literatur konnte ich nun aus dem täglichen Lesen der sozialdemokratischen Presse das innere Wesen dieser Gedankengär. ge studieren. Denn welch ein Unterschied zwischen den in der theoretischen Literatur schillernden Phrasen von Freiheit, Schönheit und Würde, dem irrlichternden, scheinbar tiefste Weisheit mühsam ausdrückenden Wortgeflunker, den widerlich humanen Moral — alles mit der elB seinen Stirne einer prophetischen Sicherheit hingeschrieben — und der brutalen, vor keiner Niedertracht zurückschreckenden, mit jedem Mittel der Verleumdung und einer wahrhaft balkenbiegenden Lügenvirtuosität arbeitenden Tagespresse dieser Heilslehre der neuen Menschheit! Das eine ist bestimmt für die dummen Gimpel aus mittleren und natürlich auch höheren , Intelligenzschichten', das andere für die Masse. Für mich bedeutete das Vertiefen in Literatur und Presse dieserLehre und Organisation das Wiederfinden zu meinem Volke. Was mir erst als unüberbrückbare Kluft erschien, sollte nun Anlaß zu einer gröberen Liebe als jemals zuvor werden. Nur ein Harr vermag bei Kenntnis dieser ungeheuren Vergiftungsarbeit das Opfer auch noch zu verdammen. Je mehr ich mich in den nächsten Jahren selbständig machte, um so mehr wuchs mit steigender Entfernung der Blick für die inneren Ursachen der sozialdemokratischen Erfolge. Nun begriffich die Bedeutung der brutalen Forderung, nur rote Zeitungen zu halten, nur rote Versammlungen zu besuchen, rote Sucher zu lesen usw. In plastischer Klarheit sah ich das zwangsläufige Ergebnis dieser Lehre der Unduldsamkeit vor Augen.

Die Psyche der breiten Masse ist nicht empfänglich für alles Halbe und Schwache.

Gleich dem Weibe, dessen seelisches Empfinden weniger durch Gründe abstrakter Vernunft bestimmt wird, als durch solche einer undefinierbaren, gefühlsmäßigen Sehnsucht nach ergänzender Kraft, und das sich deshalb lieber dem Starken beugt, als den Schwächling beherrscht, liebt auch die Masse mehr den Herrscher als den Bittenden, und fühlt sich im Inneren mehr befriedigt durch eine Lehre, die Leine andere neben sich duldet, als durch die Genehmigung liberaler Freiheit; sie weiß mit ihrauch meist nur wenig anzufangen undfühlt dch sogar leicht verlassen.

Die Unverschämtheit ihrer geistigen Terrorisierung kommt ihr ebensowenig zum Bewußtsein, wie die empörende Mißhandlung ihrer Menschlichen Freiheit, ahnt sie doch den inneren Irrsinn der ganzen Lehre in keiner Weise. So sieht sie nur die rücksichtslose Kraft und Brutalität ihrer zielbewußten Äußerungen, der sie sich endlich immer beugt. Wird der Sozialdemokratie eine Lehre von besserer WahrhafÜgkeit aber gleicher Brutalität der Durchführung entgegengestellt, wird diese siegen, wenn auch nach schwerstem Kampfe.“

Drei charakteristische Züge in Hitlers Gedan-begangen werden an dieser Textpassage be-sonders deutlich:

-der abgrundtiefe Haß auf die Sozialisten, Vor allem die Sozialdemokraten, da diese von den „Massen“, von weiten Teilen des Volkes, freiwillig, ohne Zwang, getragen werden;

— das absolute Unverständnis dafür, daß „Solidarität“ auf rationaler, gedanklicher Überzeugung und Übereinstimmung beruhen könne; die Ideenwelt der Demokraten und Sozialisten wird als „irrlichterndes, scheinbar tiefste Weisheit mühsam ausdrückendes Wortgeflunker" verächtlich gemacht;

— die „Rationalisierung“ des eigenen Stand-punktes: das heißt die „nachträgliche verstandesmäßige Rechtfertigung eines aus irrationalen oder triebhaften Motiven erwachsenen Verhaltens". Weil Hitler die Sozialdemokraten so haßt, weil er deren geistiges System nicht versteht, weil ihm Solidarität „unheimlich“ ist, weil er für sein zwanghaftes Bedürfnis, humane Strebungen zu unterdrücken und andersdenkende Menschen brutal zu unterjochen, einen Grund braucht, weil Hitler seinen Menschenhaß „nachträglich“ verstandesmäßig zu legitimieren sucht, unterstellt er den Sozialdemokraten Ver die Motive seines eigenen -haltens. Dabei dekuvriert er, wenn er die „Masse" charakterisiert, sich und seine Lehre auf geradezu einmalige Weise:

„Die Unverschämtheit ihrer geistigen Terrorisierung kommt ihr ebensowenig zum Bewußtsein, wie die empörende Mißhandlung ihrer menschlichen Freiheit, ahnt sie doch den inneren Irrsinn der ganzen Lehre in keiner Weise. So sieht sie nur die rücksichtslose Kraft und Brutalität ihrer zielbewußten Äußerungen, der sie sich endlich immer beugt.“

Die deutsche geistige Entwicklung von der Aufklärung bis zum Expressionismus war zwar keine „Einbahnstraße"; Hitler konnte aber davon profitieren, daß es im 19. und 20. Jahrhundert, vor allem in der „Weimarer Republik", sehr viele gegeben hat — Richter, Pfarrer, Offiziere, Beamte, Professoren, Lehrer, Publizisten —, die die „Wegweiser" in die falsche Richtung stellten, die „Merk-Male“ des deutschen Geistes verkehrten.

In seinem Buch führt Hitler einen Popanz vor, der eine Trias an Ressentiments darstellt; die „Schreckgestalt“, die er seinen Lesern als Sündenbock anbietet, an der sie ihre Frustrationen und Aggressionen abreagieren sollen, ist Sozialdemokrat, Marxist und Jude zugleich. „Je mehr ich Einblick in das äußere Wesen der Sozialdemokratie erhielt, um so größer wurde die Sehnsucht, den inneren Kern dieser Lehre zu erfassen.

Die offizielle Parteiliteratur konnte hierbei freilich nur wenig nützen. Sie ist, soweit es sich um wirtschaftliche Fragen handelt, un-11 richtig in Behauptung und Beweis; soweit die politischen Ziele behandelt werden, verlogen. Dazu kam, daß ich mich besonders von der neueren rabulistischen Ausdrucksweise und der Art der Darstellung innerlich abgestoßen fühlte. Mit einem ungeheueren Aufwand von Worten unklaren Inhalts oder unverständlicher Bedeutung werden da Sätze zusammen-gestammelt, die ebenso geistreich sein sollen, wie sie sinnlos sind. Nur die Dekadenz unserer Großstadtboheme mag sich in diesem Irr-garten der Vernunft wohlig zu Hause fühlen, um aus dem Mist dieses literarischen Dadaismus . inneres Erleben 'herauszuklauben, unterstützt von der sprichwörtlichen Bescheidenheit eines Teiles unseres Volkes, die im persönlich Unverständlichsten immer um so tiefere Weisheit wittert.

Allein, indem ich so theoretische Unwahrheit und Unsinn dieser Lehre abwog mit der Wirklichkeit ihrer Erscheinung, bekam ich allmählich ein klares Bild ihres inneren Wollens. In solchen Stunden beschlichen mich trübe Ahnungen und böse Furcht. Ich sah dann eine Lehre vor mir, bestehend aus Egoismus und Haß, die nach mathematischen Gesetzen zum Siege führen kann, der Menschheit aber damit auch das Ende bringen muß.

Ich hatte ja unterdessen den Zusammenhang zwischen dieser Lehre der Zerstörung und dem Wesen eines Volkes verstehen gelernt, das mir bis dahin so gut wie unbekannt war. Nur die Kenntnis des Judentums allein bietet den Schlüssel zum Erfassen der inneren und damit wirklichen Absichten der Sozialdemokratie.

Wer dieses Volk kennt, dem sinken die Schleier irriger Vorstellungen über Ziel und Sinn dieser Partei vom Auge, und aus dem Dunst und Nebel sozialer Phrasen erhebt sich grinsend die Fratze des Marxismus." 11)

Die Negativität des hitlerischen Menschenbildes ist immer wieder „positiv" verpackt: Der Rassenhaß hat zum Pendant den Rassenstolz; der Sozialdemokrat, der Jude, der Marxist sind „Unrat”, sind eigentlich keine Menschen — „So wenig eine Hyäne vom Aase läßt, so wenig ein Marxist vom Vaterlandsverrat!" —; der Arier dagegen, der blutsmäßig „reine" Deutsche, der Nationalsozialist vor allem: das sind die eigentlichen Menschen. „Volk und Rasse" ist das Kapitel von Hitlers „Mein Kampf" überschrieben:

„Es gibt Wahrheiten, die so sehr aufder Straße liegen, daß sie gerade deshalb von der gewöhnlichsten Welt nicht gesehen oder wenigstens nicht erkannt werden. Sie geht an solchen Binsenweisheiten manchmal wie blind vorbei und ist auf das höchste erstaunt, wem plötzlich jemand entdeckt, was doch alle wissen müßten. Es liegen die Eier des Kolumbus zu Hunderttausenden herum, nur die Kolumbusse sind eben seltener zu treffen. So wandern die Menschen ausnahmslos im Garten der Natur umher, bilden sich ein, fast alles zu kennen undzu wissen undgehen doch mit wenigen Ausnahmen wie blind an einem der hervorstechendsten Grundsätze ihres Waltens vorbei: der inneren Abgeschlossenheit der Arten sämtlicher Lebewesen dieser Erde. Schon die oberflächlichste Betrachtung zeigt als nahezu ehernes Grundgesetz all der unzähligen Ausdrucksformen des Lebenswillens der Natur ihre in sich begrenzte Form der Fortpflanzung und Vermehrung. Jedes Tier paart sich nur mit einem Genossen der gleichen Art. Meise geht zu Meise, Fink zu Fink, der Storch zur Störchin, Feldmaus zu Feldmaus, Hausmaus zu Hausmaus, der Wolf zur Wölfin usw.... Die Folge dieses in der Natur allgemein gültigen Triebes zur Rassenreinheit ist nicht nur die scharfe Abgrenzung der einzelnen Rassen nach außen, sondern auch ihre gleichmäßige Wesensart in sich selber. Der Fuchs ist immer ein Fuchs, die Gans immer eine Gans, der Tiger ein Tiger usw. und der Unterschied kann höchstens im verschiedenen Maße der Kraft der Stärke, der Klugheit, Gewandtheit, Ausdauer usw.der einzelnen Exemplare liegen. Es wird aber nie ein Fuchs zu finden sein, derseiner inneren Gesinnung nach etwa humane Anwandlungen Gänsen gegenüber haben könnte, wie es ebenso keine Katze gibt mit freundlicher Zuneigung zu Mäusen. Daher entsteht auch hier der Kampf untereinander weniger infolge innerer Abneigung etwa als vielmehr aus Hunger und Liebe. In beiden Fällen sieht die Natur ruhig, ja befriedigt zu. Der Kampf um das tägliche Brot läßt alles Schwache und Kränkliche, weniger Entschlossene unterliegen, während der Kampf der Männchen um das Weibchen nur dem Gesündesten das Zeugungsrecht oder doch die Möglichkeit hierzu gewährt. Immer aber ist der Kampfein Mittel zur Förderung der Gesundheit und Wderstandskraft der Art und mithin eine Ursache zur Höherentwicklung derselben. Wäre der Vorgang ein anderer, würde jede Weiter-und Höherbildung aufhören und eher das Gegenteil eintreten... Das Ergebnis jeder Rassenkreuzung ist also, ganz kurz gesagt, immer folgendes: a) Niedersenkung des Niveaus der höheren Rasse, b) körperlicher und geistiger Rückgang und damit der Beginn eines, wenn auch langsam, so doch sicher fortschreitenden Siechtums. Eine solche Entwicklung herbeiführen, heißt aber denn doch nichts anderes als Sünde treiben wider den Willen des ewigen Schöpfers. . Ms Sünde aber wird diese Tat auch gelohnt. Indem derMensch versucht, sich gegen die eiserne Logik der Natur aufzubäumen, gerät er in Kampfmit den Grundsätzen, denen auch er selber sein Dasein als Mensch allein verdankt. So muß sein Handeln gegen die Natur zu seinem eigenen Untergang führen. Hierfreilich kommt der echtjudenhaft freche, aber ebenso dumme Einwand des modernen Pazifisten: , Der Mensch überwindet eben die Naturf Millionen plappern diesen jüdischen Unsinn gedankenlos nach und bilden sich am Ende wirklich ein, selbst eine Art von Naturüberwindern darzustellen; wobei ihnen jedoch als Waffe nichts weiter als eine Idee zur Verfügung steht, noch dazu aber eine so miserable, daß sich nach ihr wirklich keine Welt vorstellen ließe... ... Tatsächlich ist diepazifistisch-humaneIdee nelleicht ganz gut dann, wenn der höchststehende Mensch sich vorher die Welt in einem Umfange erobert und unterworfen hat, der ihn zum alleinigen Herrn dieser Erde macht. Es fehlt dieser Idee dann die Möglichkeit einer schädlichen Auswirkung in eben dem Maße, in dem ihrepraktische Anwendung selten und endlich unmöglich wird. Also erst Kampf und dann vielleicht Pazifismus. Im anderen Falle hat die Menschheit den Höhepunkt ihrer Entwicklung überschritten und das Ende ist nicht die Herrschaft irgendeiner ethischen Idee, sondern Barbarei und in der Folge Chaos. Es mag hier natürlich der eine oder andere lachen, allein dieser Planet zog schon Jahrmillionen durch den Äther ohne Menschen, und erkann einst wieder so dahinziehen, wenn die Menschen vergessen, daß sie ihr höheres Dasein nicht den Ideen einiger verrückter Ideologen, sondern der Erkenntnis und rücksichtslosen Anwendung eherner Naturgesetze verdanken. 'Mies, was wir heute auf dieser Erde bewundern — Wissenschaft und Kunst, Technik und Erfindungen — ist nur das schöpferische Produkt weniger Völker und vielleicht ursprünglich einerRasse. Von ihnen hängt auch der Be-stand dieser ganzen Kultur ab. Gehen sie zugrunde, so sinkt mit ihnen die Schönheit dieser Erde ins Grab.

Der Begriff „Rasse“ ist an sich problematisch. Seit Jahrhunderten hat die Vermischung von Menschen unterschiedlicher Herkunft biologische Unterscheidungsmerkmale (sieht man von einer ganz groben Einteilung ab) immer mehr verwischen lassen. Eine ernst zu nehmende Anthropologie kann nicht auf die Physis ausgerichtet sein, sie muß in Kulturräumen denken und psychologisch, soziologisch, ethnologisch, philologisch, mythologisch vorgehen, d. h. alle Äußerungen des menschlichen Geistes in Betracht ziehen; die „morphologische Rassenbetrachtung“ Hitlers dagegen greift bestimmte Merkmale des Menschen heraus und dekretiert, sie seien besonders rasseprägend; diese Merkmale werden zu Typen zusammengeordnet und als „die“ Rasse ausgegeben. Abgesehen von der Unwissenschaftlichkeit des Verfahrens, wird damit der Willkür und dem Ressentiment Tür und Tor geöffnet Besonders gefährlich erweist sich eine solche Rassenlehre, wenn sie geistig-seelische Eigenschaften mit äußerlichen koppelt — etwa treu mit blond.

Daß die Nazis oft selbst den verkündeten rassischen Vorstellungen nicht entsprachen, focht wenig an; der Irrsinn der Lehre machte nicht einmal ihre Überprüfung innerhalb der eigenen (falschen) Prämissen notwendig. Oder aber man interpretierte die eigene . Aufnordung“ nach Belieben herbei; so schrieb A. Richter in seinem seinerzeit weit verbreiteten Buch „Unsere Führer im Lichte der Rassen-frage und Charakterologie" 1933 über Hitler: „Oberhaupt gut gewölbt, nach allen Seiten in harmonischer Wölbung verlaufend, mit guter Spannung: Alliebe, hohe Religiosität, Schönheit und Wesensadel... Hitler ist blond, hat rosige Haut und blaue Augen, ist also rein (arisch) germanischer Natur, und alle anderen Verbreitungen über sein Aussehen und seine Persönlichkeit hat die schwarze oder rote Presse in die Volksseele gesät, was ich hiermit richtiggestellt haben möchte.“

Die Faschismus-Diskussion

Wie tauglich oder untauglich ist der Begriff des „Faschismus" für die Interpretation des Nationalsozialismus? Ist es sinnvoller, den Natonalsozialismus dem Begriff „Totalitarismus" zusubsumieren? Können rechte und linke Totalitarismen auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden?

Hatte zur Zeit des „Kalten Krieges“ der generalisierende Begriff „Totalitarismus" besondere Bedeutung, so wurde in den 60er Jahren (im Denksystem der protestierenden, kritischen Soziologie) der Faschismus-Begriff favorisiert. H. J. Friedrich und Z. K. Brzezinski haben in der Nachkriegszeit sechs Merkmale aufgezählt, die zum Wesen einer totalitären Diktatur gehören: eine Ideologie, eine herrschende Partei, eine terroristische Geheimpolizei, Nachrichtenmonopol, Waffenmonopol und zentral gelenkte Wirtschaft. Dolf Sternberger hat später noch als siebtes Merkmal hinzugefügt: die Organisation der Akklamation. Diese dann auch von Hannah Arendt ausführlich vorgenommene Deutung der „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft" (1955) wurde von linker Seite nicht akzeptiert, da dadurch Herrschaftsmerkmale von Faschismus und Nationalsozialismus mit denen des Kommunismus auf gleiche Ebene gebracht wurden — was angesichts der stalinistischen Verbrechen zwar hingenommen, hinsichtlich des ursprünglich humanen Wurzelgrundes der kommunistischen Weltanschauung aber als ungerechtfertigt empfunden wurde. Die Diskussion um den Themenbereich „Totalitarismus, Faschismus, Nationalsozialismus" ist nach wie vor kontrovers. Im wissenschaftlichen Diskurs hat sich jedoch eine gewisse Annäherung insofern vollzogen, als man, wenn auch von gegensätzlicher Position aus, bemüht ist, die jeweiligen Erklärungsmuster zu objektivieren und damit zu relativieren.

Für Karl Dietrich Bracher ist der Totalitarismus-Begriff nach wie vor unentbehrlich, da er den fundamentalen Unterschied zwischen offenem und geschlossenem Politikverständnis bezeichne und somit auch nach dem Ende Hitlers und Mussolinis, Stalins und Maos heuristische Bedeutung habe.

Erstens zeitgeschichtlich, da die Erfahrungen des Totalitären eine ganze Epoche des politischen Systemvergleichs präge, für die sich kaum ein treffenderer Begriff finden lasse — auch wenn man eine geschlossene Totalitarismustheorie für problematisch hält: „Eine Epoche im Angesicht jener modernen Form der Diktatur, die auf neue Mittel der pseudo-demokratischen Gleichschaltung und der intensiven Indoktrination durch politische Religionen begründet ist (Rassismus, Weltrevolution, Ende der Geschichte). Nicht nur Liberale und Konservative, auch manche Sozialisten und manche Marxisten analysierten und kritisierten damals das totalitäre Phänomen: Man denke an Franz Neumanns-Werk , Behemot'(1941) oder schon an Herbert Marcuses Schrift von 1934, Der Kampfgegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung'.“

Zweitens politik-wissenschaftlich: Die Ana. lyse des Totalitären gehöre nicht nur einer historischen Periode an, sondern bleibe weiterhin unentbehrlich als ein Instrument zur Erkennung und Einordnung der umfassenden Tendenzen und pseudo-demokratischen Ansprüche moderner Diktatur. Totalitäre Ordnungskonzepte und die Fiktionen einer totalen Identität seien auch in der gegenwärtigen Demokratiedebatte präsent, und sei es im Zeichen total demokratischer Erlösungsdoktrinen, die im linken wie im rechten Gewand auftreten können.

Die Renaissance oder Neubegründung eines allgemeinen Faschismusbegriffs sei betont nur auf das rechte Spektrum der Diktatur bezogen; dies bedeute, politisch gesehen, eine Abschwächung des Diktaturvorwurfs an den Kommunismus; Antikommunismus werde nicht mehr als Totalitarismuskritik, sondern geradezu als Kriterium des Faschismus, als potentieller Faschismus verstanden. Zwar sei gelegentlich noch von „Linksfaschismus" die Rede, sogarbei westlich-marxistischen Autoren wie Habermas, aber das scheine eher polemisch als wissenschaftlich gemeint. Sollte auf diese Weise der Faschismusbegriff den Totalitarismusbegriff ersetzen, dann müßte die linke Komponente auch im Faschismus und Nationalsozialismus sehr viel ernster genommen werden, und somit gerade die Selbstbezeichnung „nationaler Sozialismus". Darin sehe wiederum die Linke eine Entweihung des Sozialismus-begriffs. . Jedem theoretisch schlüssigen Faschismus-begriff steht die Erfahrung entgegen, daß die rechten wie die linken Diktaturbewegunget vor allem aus der Kampfansage an die liberale Demokratie, an Werte wie Toleranz, Kompromiß und Gewaltenteilung leben. Seit Lenins und Mussolinis Machtergreifungen sind es diese modernen Versionen von Diktatur, die mit pseudodemokratischer Verführung und sendungsbewußtem Terror, mit Unterdrükkung und Manipulation der Bevölkerung einen Großteil der Erde beherrschen oder bedrohen. Eine vorwiegend ideologische oder sozio-ökonomische Klassifizierung, die bis zu der Weltalternative . Faschismus oder Sozialismus'stilisiert werden kann, verkennt das entscheidende Kriterium zur Beurteilung des modernen Staates: das Kriterium der politischen Freiheit, des limited government. Vor ihm aber sind alle Systeme, die auf Unterdrückung beruhen, durchaus vergleichbar, mögen sie sich als faschistisch oder nationalsozialistisch kommunistisch oder sozialistisch verstehen. Darin liegt nach wie vor die Bedeutung einei umfassenderen Diktaturforschung (z. B. Juat Linz, Leonard Schapiro), die zwischen autoritäxn und totalitären Regimen unterscheidet, stattfaschismustheoretisch alle nichtmarxistixhen Diktaturen von Hitler bis zu den lateinmrikanischen Generalen in einen Topf zu wrien. Aufdieprimäre Frage nach dem totalitiren Charakterpolitischer Systeme kann und iiif nicht verzichtet werden: nicht im Intertsse wissenschaftlicher Klarheit und Objektintät undnicht im Blick aufdiepolitischen und menschlichen Folgen solcher Diktaturen. Ideen und Ansprüche totalitärer Staats-und Gesellschaftsorganisation sind kein Phänomen der Vergangenheit, der Zeit zwischen den Weltkriegen. Sie bleiben eine stets gegen drtige Versuchung. Entgegen dem Optimismus der Aufklärungsund Sozialismustheoretiker bedrängen sie alte und neue Nationen in derÄra der Massendemokratien und Großbüokratien, ’der Entwicklungsdiktaturen und fseudoreligiösen Ideologien. Die totalitäre Vision von George Orwells , 1984', vor drei Jahr-sehnten beschworen, ist noch nicht über Aus ähnlicher Sicht hat Heinrich August Winkler in drei Thesen Kritik am linken Faschismusbegriff geübt. Man verkenne die Bedeutung Hitlers, wenn man den Nationalsozialismus allein aus faschistischen Strukturen abzuleiten versuche. . Erste These: Weil die marxistische Theorie den Faschismus allein aus dem Kapitalismus Gleiten will, begibt sie sich der Möglichkeit, zu erklären, weshalb in der Zwischenkriegsreit von 1918 bis 1939 bestimmte kapitalistische Gesellschaften faschistisch wurden und sndere nicht und warum der Faschismus nach dem Ersten Weltkrieg viel größere Chancen batte als nach dem Zweiten. Zweite These: Die marxistische Theorie hebt die ursprünglich soziale Funktion der natio^Isozialisü' schen Diktatur hervor —, sie sollte das kapitalistische Wirtschaftssystem stabilisieren —, doch ignoriert sie weitgehend die politischen und ideologischen Ziele des Regimes. Aus der . sozialen Funktion 'aber lassen sich diese Ziele nicht ableiten: Sie sind ein eigenständiger Faktor. Wird er unterschätzt, so finden die größten Verbrechen des Nationdsozialismus, allen voran der Massenmord den Beachtung. 4n Juden, nicht die gebührende ^ Was nicht aus dem Kapitalinteresse abgeleitet werden kann, wird zu einer Randerscheinung, deren Erklärung theoretisch nicht lohnt. Die historische Wirklichkeit wird unzulässig verkürzt.

Dritte These: Die Theorien der. Neuen Linken'unterlassen eine genauere Analyse der nationalsozialistischen Herrschaftspraxis. Würden die Herrschaftsmittel des Nationalsozialismus näher erforscht, ließen sich Parallelen zum Stalinismus nicht länger verbergen. Einige Autoren verfolgen die Absicht, faschistische Regime den Jormaldemokratischen'Herrschaftsformen des . Spätkapitalismus'strukturell ähnlich erscheinen zu lassen und damit die Aktualität des Faschismus zu begründen.“

Jürgen Kocka betont die wissenschaftliche Brauchbarkeit beider Begriffe: Sie seien nicht disqualifiziert, solange durchschaut werde, daß sie in den 20er und 30er Jahren aus gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen heraus entstanden und mit den gesellschaftlich-politischen Auseinandersetzungen bis heute verknüpft seien. Sie müßten durch scharfe, objektivierende Definition wie durch Verwendung fachwissenschaftlicher Methoden „gelockert“ werden. Der Totalitarismusbegriff betone am Nationalsozialismus dessen diktatorische Negation liberaldemokratischer Verfassungsprinzipien, bestimmte Eigenarten des Herrschaftssystems, die institutionalisierte Ideologie mit Ausschließlichkeits-und Totalitätsanspruch, die Tendenz zur allumfassenden, gleichschaltenden Mobilisierung der Individuen und einiges mehr. Damit werde am Nationalsozialismus das betont, was er in der Tat mit anderen, eben totalitären Systemen, z. B.der stalinistischen Sowjetunion, gemeinsam hatte. Vom Herrschaftssystem her denkenden Politikwissenschaftlern erscheine diese Einordnung besonders naheliegend. Die prinzipielle Legitimität solchen Vorgehens werde insbesondere der nicht bestreiten, der sich liberaldemokratischen Grundorientierungen verpflichtet weiß, denn von diesen her speise sich ja jene Begriffsbildung, die an „linken" und „rechten“ Diktaturen das betone, womit sie liberale Demokratie bedrohten. Der Faschismusbegriff hebe am Nationalsozialismus zwar auch dessen antiliberaldemokratische, totalitär-diktatorische Elemente hervor, zugleich aber betone er dessen sozialgeschichtlichen Bedingungen, Inhalte und Funktionen, vor allem seine Bedingtheiten durch Krisenerscheinungen kapitalistisch-bürgerlicher Systeme seit dem Ersten Weltkrieg, seine in Klassen-und Schichtungskategorien beschreibbare „soziale Basis“, in der unter Druck geratene Mittelschichten vorwiegen, die Ab-hängigkeit seines Durchbruchs von der Hilfestellung bzw. Koalition bisheriger, sich durch Parlamentarisierung, Demokratisierung oder soziale Reformen in Frage gestellt sehender Führungsgruppen, seine antisozialistische, antikommunistische Stoßrichtung in Entstehungs- und Systemphase sowie seinen jedenfalls kurz und mittelfristig unbestreitbaren Beitrag zur Stabilisierung kapitalistischer Grundprinzipien. „Dadurch wird das betont, was . linke'und . rechte'Diktaturen unterscheidet und den Nationalsozialismus mit dem italienischen fascismo — und der Tendenz nach — mit anderen Faschismen jedenfalls der Zwischenkriegszeit verbindet Gleichzeitig bleibt die klare Abgrenzung faschistischer Bewegungen und Systeme von liberaldemokratischen Bewegungen und Systemen erhalten. Zur Einordnung des Nationalsozialismus in seinen gesellschaftsgeschichtlichen Zusammenhang ist ein solcher Zugriff wohl unverzichtbar und auf jeden Fall dem Totalitarismus-Begriff in seinen verschiedenen Varianten deutlich überlegen. Der Faschismus-Begriff, so verstanden, bewahrt die vom Totalitarismus-Begriff so betonten Abgrenzungen durchaus, er fügt sie jedoch in andere, stärker gesellschaftsgeschichtlich geprägte Bestimmungen ein. Er ist dadurch dem Totalitarismus-Begriffan Trennschärfe überlegen, natürlich auch nuraufeinen engeren Kreis von Phänomenen anwendbar als jener. Politisch mag für den Faschismus-Begriff bei Abwägung unter anderem sprechen, daß er den historisch variablen Zusammenhang zwischen kapitalistisch-bürgerlichen Systemen und Faschismus zum zentralen Thema macht, ohne doch ihre Identität zu behaupten. Unter dem Gesichtspunktpolitisch relevanter, historischer Gegenwartsanalyse dürfte dies für das Selbstverständnis gegenwärtiger bürgerlicher Gesellschaften nicht uninteressant sein. Auch erlaubt dieser Zugriff sehr viel mehr als der totalitarismustheoretische, zwischen den ungleichen Beiträgen zu differenzieren, die einzelne Klassen und Schichten zum Aufstieg des Nationalsozialismus geleistet haben, und — klassen-und schichtenmäßig differenziert — die Frage nach der ungleichen Verteilung von Vorteilen und Nachteilen in der Systemphase zu stellen. Vielleicht läßt sich dafür unter dem Gesichtspunkt historischer Gerechtigkeit auch politisch argumentieren." Klaus Theweleit (in der Nachbemerkung zu Band 2 seines für die Psychohistorie außeror-dentlich wichtigen Buches „Männerphanta sien") hält die Gefahr für besonders groß, dab man sich dem Faschismus mit vorher festliegenden Ansichten nähert, die aus der politischen Lagerzugehörigkeit, aus einer Abscheu vor den faschistischen Greueln, aus apologetischer Absicht, weil man selbst . verstrickt'wat, oder anderen Interessen und Gefühlslagen stammen mögen. Die universitäre Diskussion über den Faschismus sei wesentlich geprägt von der Auseinandersetzung um hauptsächlich zwei Theorien, die den Anspruch erhöben den Hauptteil einer Erklärung der Funktion des faschistischen Staates in der bürgerlichen Gesellschaft zu leisten. Der Theorie, die das „Primat der Politik" für den Zustand der faschistischen Herrschaft behaupte, stehe gegenüber die Theorie, die das „Primat der Industrie'gegenüber dem Staat und der Gesellschaft in besonders scharfer Weise verwirklicht sehe, Die Formulierung vom „Primat der Politik'über Ökonomie stammt von Friedrich Pollock; die Entstehung dieser Theorie kann mit jener Gruppe von Emigranten in Verbindung gebracht werden, die die USA als Emigrationsor der Sowjetunion vorzogen. Sie ist mehr oder weniger eng mit dem Institut für Sozialfor-i schung verbunden; in ihrem Kern steht die ( Ansicht, daß unter der Herrschaft des Faschismus die politischen Kräfte sich so weit ver-i selbständigten, daß sie sich gegen die Interessen der Ökonomie zu richten begännen, also in derem Sinne „irrational" würden.

Die Gegenposition, formuliert von Eberhard Czichon, knüpft direkt an die Position der Dritten Kommunistischen Internationale an, wie sie sich im Dezember 1933 darstellte: „Der Faschismus ist eine offene terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals." Diese Position wird von der DDR-Forschung bevorzugt. Wenn man die (für Theweleit unfruchtbare) Trennung der Forschung in Lagerzugehörigkeiten machen wolle, ließe sich die Formel vom „Primat der Politik" heute wahrscheinlich eher zur Bezeichnung der sich als „bürgerlich" verstehenden Positionen heranziehen und die vom „Primat der Ökonomie" zur Bezeichnung der orthodox-marxistischen". Vernünftig verstanden würden die beiden Positionen ohnehin nicht strikt gegeneinander abgehandelt werden können. Mehr als auf die Betonung eines Primats komme es auf die Analyse der Wechselwirkungen zwischen Ökonomie und Politik an. Theweleit geht es vor allem um einen dritten wesentlichen Aspekt, der in der Alternd tive vom Primat der Politik oder Ökonomie noch gar nicht enthalten sei: um die Wünsche, die Lebenskraft der in den historischen Prozessen agierenden Menschen. Theweleit folgt der Spur Wilhelm Reichs, der in seiner „Massenpsychologie des Faschismus" (1933) als erster nach den Voraussetzungen des Siegs des Faschismus in der psychischen Struktur bestimmter Massen gefragt hat:

Es geht um die Attraktion des Faschismus selbst. Und diese Attraktion ist von Anfang an eine Attraktion der Gewalt. Rache für Versailles, Tod den Bolschewisten, Tod den Juden, Tod den Schiebern, Kriegsgewinnlern und ihren Judenliebchen und Tod — das vor allem in den ersten Jahren nach 1918— den Teilen des Proletariats, die in Verkehrungaller Werte die Staatsmacht begehren und ihren großstädtischen Sittenverfall zur allgemeinen Norm erheben wollen: Tod der, Masse', — das sind von vornherein die offenen Parolen aus dem zunächst diffusen . völkischen'Lager der Nachkriegszeit, aus dem die NSDAPsich herauskristallisiert, um es später ganz in sich aufzunehmen.

Keinen Zug verschweigen die faschistischen Selbstäußerungen weniger, als diesen zur Gewalt. Sie ist keine Folge der faschistischen Machtergreifung'1933; sie geht als Voraussetzung in den Sieg des Faschismus ein.

Ein Verständnis dieser quasi .freiwilligen', lustvollen Feier der Gewalt und der lustvollen Gewaltausübung selbst hat mich interessiert: Die Frage nach dem psychophysischen Gewinn, den eine bestimmte Destruktivität bestimmten Männern einbringt."'7)

Im politischen Bereich wurde jüngst — auf nicht eben gehobenem Niveau — der politologische und politökonomische Denksansatz linker, sogenannter ideologiekritischer Autoren (welche die sozial-psychologische wie weltanschauliche Eigenart des Nationalsozialismus zugunsten eines neomarxistisch unterlegten Kapitalismus-Faschismusbegriff und im besonderen auch das Gesellschafts-und Staatssystem der Bundesrepublik als kapitalistisch-faschistisch bzw. kapitalistisch-faschistoid denunzieren) mit einem — offensichtlich durch politische Taktik motivierten — Pendant versehen: Der Sozialismus habe eine besondere Affinität zum Nationalsozialismus gezeigt — ein Vorwurf, der übrigens in krassem Gegensatz zur These des als konservativ „eingestuften" Faschismus-Forschers Ernst Nolte steht, der Faschismus als Anti-Marxismus deliniert. Zu dieser, vor allem vom CSU-General-Sekretär Stoiber vertretenen These bemerkte ambivalent Friedrich Karl Fromme in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung":

„Bei den Nationalsozialisten, und zwar in der Zeit ihrer Frühgeschichte wie nach der Übernahme der Staatsmacht, lassen sich folgende Merkmale nachweisen: Anti-Bürgerlichkeit; Betonung des . Ganzen'(eher in der Form der . Gemeinschaft'als der der . Gesellschaft) gegenüber den Wünschen des einzelnen; damit zusammenhängend Ablehnung jedes Individualismus; Hinwendung zum — freilich unbestimmt gebliebenen — . Neuen'; Privilegien-feindlichkeit und Hervorhebung der sozialen Gleichheit. Nationalsozialisten und Sozialisten sprachen zum Teil die gleichen Gruppen an, und sie bedienten sich dabei ähnlicher Argumente, ähnlicher Gefühls-Appelle. Was die Ideologie angeht, lehnten die Nationalsozialisten den Marxismus ab. Aber auch die Sozialisten teilten sich in solche, die sich auf den Marxismus stützen, und andere, die ihm gleichgültig oder ablehnend gegenüberstanden. Rassismus als offizielle Ideologie kannten die Sozialisten nicht, aber sie hatten Anhänger, die sich vom Rassismus beim Wechsel zu den Nationalsozialisten nicht stören ließen, zumal solange sie jenen für eine minder bedeutsame theoretische Absonderlichkeit der Nationalsozialisten hielten. Einen gewissen Wert als Gegenprobe hat die Beobachtung, daß in der Sowjetischen Besatzungszone auf besonders auffällige Weise nach 1945 ehemalige Nationalsozialisten es innerlich leicht hatten, sich der dem Sozialismus zustrebenden neuen Ordnung zuzuwenden. Das SED-Regime zog daraus alsbald den Schluß, den . kleinen Nazis'weitere Behinderungen zu ersparen, sie vielmehr am . antifaschistisch-demokratischen Block'zu beteiligen, sei es durch Aufnahme in die SED, sei es durch die Einladung in eine eigens gegründete Partei (Nationaldemokratische Partei Deutschlands).“

In der „Süddeutschen Zeitung" schrieb Albert Wucher, daß die aktuelle Debatte deshalb so fatal sei, weil sie elementare Begriffe und Selbstverständlichkeiten durcheinander bringe — willkürlich, aber wohl mit Absicht.

„ Wenn eine Bewegung den Kampfgegen den Marxismus durchführen will, hat sie genauso intolerant zu sein, wie es derMarxismus selbst ist. Sie darfkeinen Zweifel darüber lassen: wir erkennen ganz genau, daß, wenn der Marxismus siegt, wir vernichtet werden; wir erwarten auch gar nichts anderes; allein, wenn wir siegen, wird der Marxismus vernichtet, und zwar restlos; auch wir kennen keine Toleranz. Wir haben nicht eher Ruhe, bis die letzte Zeitung vernichtet ist, die letzte Organisation erledigt ist, die letzte Bildungsstätte beseitigt ist und der letzte Marxist bekehrt oder ausgerottet ist. Es gibt kein Mittelding.'

So hat er, Adolf Hitler, 1926 — kurz nach seiner Entlassung aus der Festungshaft, wo . Mein Kampfentstand — vor dem gewiß sehr noblen und exklusiven . Nationalclub'in Hamburg getönt. Beifall schlug ihm wiederholt entgegen, wenn er (wie fortan immer lauter und wilder), gegen die , Novemberverbrecher', die , System-politiker', die durch und durch jüdisch verseuchte, von Sozialisten und Kommunisten verbrochene Weimarer Republik loslegte.

Die radikale Kampfansage war wörtlich gemeint, wie man heute weiß: Das Dritte Reich hat seine Gegner, gleich welcher Farbe, tatsächlich . ausgerottet'und ein in jeder Weise . gleichgeschaltetes', durch Terror beherrschtes Volk in den Wahnsinn eines Weltkrieges getrieben, in dem sich der Vulgär-Darwinismus vom Recht des Stärkeren, des germanischen Herrenmenschen über mindere Völker und Kulturen austoben sollte (und ausgetobt hat). Der Historiker fühlt sich ratlos, was eigentlich der . Bewältigung der Vergangenheit', die nach 1945 bis zum Überdruß anstand, noch hinzuzufügen wäre. Ist die Abwendung von der Geschichte (und ihrem Studium) in den letzten fünfzehn bis zwanzig Jahren tatsächlich so weit gediehen, daß einer jungen Generation, die ohne ihre Schuld die Schule quasi ohne Geschichtsunterricht und speziell ohne zeitgeschichtliche Orientierung durchlief, bereits wieder alles, jeder Unsinn verkauft werden könnte?"

Indem Klaus Theweleit den Faschismus als eine Bewegung begreift, die innere Zustände in riesige äußere Monumente übersetzt habe (und dies mit einer Fülle von Materialien aufzeigt), erweist er sich als ein wichtiger Vertreter der psychohistorischen Forschungsrichtung. Zur zwölfjährigen Terrorherrschaft der Nazis sei es letztlich gekommen, nicht weil die Massen auf einen gigantischen Schwindler hereinfielen, sondern weil sie im tiefsten Innern ihres Unbewußten den Faschismus herbeigewünscht hätten. Im besonderen verwirklichte sich im Nationalsozialismus das männlich-patriarchalisch-autoritäre Prinzip, weshalb Frauen in den weltanschaulichen Phantasmagorien der Nationalsozialisten und ihrer Vorläufer nur als namenlose, entkörperte und entsexualisierte keusche Edelwesen oder als schmutzige, schamlose Proletarier-und Spartakistenweiber erschienen. Der in der konservativen und nationalsozialistischen Ideologie deutlich werdende Vernichtungsfeldzug gegen die Frauen, der erbitterte Kampf gegen die weibliche Geschlechtlichkeit sei nichts anderes als die Folge des männlichen Überheblichkeitswahns, der eine schichtenspezifische Identitätskrise signalisiere.

„ Was bei den Freikorpsmännern, die immerzu damit beschäftigt sind, rote Sümpfe trockenzulegen und Dämme gegen die rote Flut zu errichten, zum Ausbruch kommt, erscheint in Theweleits Interpretation keineswegs als momentaner, zeitbedingter Defekt, sondern als Resultat einer jahrhundertelangen Modellierung männlicher Emotionalität und Körperlichkeit, deren ganzes Ausmaß im Faschismus ans Tageslicht kam. Denn der deutsche Faschismus hat solche Ströme von Menschen, Energien und Blut nur deshalb entfesseln können, weil er dem unbewußten Wunsch nach Entgrenzung, den die soldatischen Männer verleugnen mußten, solange er mit weiblicher Sexualität gleich roter Hure codiert war, aul einmal eine nicht mehr sanktionierte Erfüllung versprach."

Es ist naheliegend, in diesem Zusammenhang besonders auch auf Hitlers verklemmtes Verhältnis zu Frauen hinzuweisen, wobei er ständig diesen, gleichermaßen individualpsychischen wie (wenn man an die kleinbürgerliche Schicht denkt, aus der er stammte) sozialpsychischen Defekt ins Weltanschauliche projizierte. Warum der Mensch so wird, wie er dann ist, die Frage also nach der Genealogie von „Mentalitätsmustern" und Bewußtseins-wie Unterbewußtseinsstrukturen versuchen Psychologie, Sozialpsychologie, Sozialpathologie und Psychohistorie zu beantworten. „Wie war Hitler möglich?“ Dazu bedarf es des Vorstoßes in die Bereiche des persönlichen Ichs, Es und kollektiven Über-Ichs.

„Längst hat sich dieses Instrument anthropologischer Tiefen-und Kernforschung über ihren individualpsychologischen Ansatz hinaus entwickelt und differenziert und findet in einer Vielzahl von Varianten und Spezialdisziplinen — als Soziopsychoanalyse, Ethnopsychoanalyse oder Familienanalyse — ihre Anwendung auf den gesamten Bereich der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit. Wenn sie in Amerika oder in Frankreich — oft durch das Verdienst der von Hitler vertriebenen Emi- granten/— sich ganz anders als in Deutschland entfalten konnte und dort über eine wissenschaftliche Autorität und Anerkennung verfügt, die ihr in unserem Lande noch versagt wird, so liegen die Gründe dafür vielleicht auf derselben Linie wie der fatalen Borniertheit dem Phänomen Hitler gegenüber.“

Die Person Hitlers ist im besonderen Maße geeignet, auf die Couch des Analytikers gelegt zu werden — erweist sie sich doch als eine autoritäre Persönlichkeit par excellence. Seit Wilhelm Reichs „Massenpsychologie des Faschismus' 1 (1933) und der von Th. W. Adorno/E. Frenkel-Brunswik/D. J. Levinson/R. N. San-ford herausgegebenen Studie „Die autoritäre Persönlichkeit" (1950) sind eine Fülle von Werken erschienen, die die Bedeutung der Triebe als Triebkräfte der Politik aufzuzeigen versuchen Die sexual-wie sozialpathologische Dimension von Geschichte, im besonderen die Analyse des Männlichkeitswahns und der für die Massenbildung so wichtigen Sündenbock-fixierung, ist von großer Bedeutung für eine politische Bildungsarbeit, die historische Erfahrungen in Sensibilität für gegenwärtige und zukünftige triebdynamische Gefährdungen umzusetzen trachtet. Das Syndrom der autoritären Persönlichkeit erweist sich als ein Modell, das sowohl zur Erklärung des Psychogramms nationalsozialistischer Führer und Mitläufer als auch zur Warnung vor zukünftigen „charismatischen" Führergestalten herangezogen werden kann.

NS-Familienperspektiven

Einer der bekanntesten Vertreter der psychohistorischen Schule ist Rudolph Binion. Sein Buch „Hitler und die Deutschen: eine Psychohistorie" trägt den, Hitlers Sendungsbewußtsein in den Mittelpunkt rückenden, suggestiven Haupttitel: „ .. daß ihr mich gefunden habt." Auf Binion fußt Helm Stierlins Buch Adolf Hitler, Familienperspektiven". Hitler, der das mütterliche Trauma gleichsam mit der Muttermilch einsaugte, war von ihr als „Delegierter" auserwählt. „Delegierter" bedeutete erstens „hinaussenden" und zweitens „mit einer Aufgabe, einer Mission, betrauen".

Die letztere Bedeutung impliziert, daß der Deiegierte, obschon ausgesandt, seinem Absender — wie der Vasall dem Herrn — verpflichtet bleibt. Wo also ein Kind seinen Eltern als Delegierter dient, wird ihm erlaubt — ja, wird ihm verlangt —, daß es sich bis zu einem gewissen Punkt aus dem elterlichen Blickfeld entfernt. Zugleich wird esjedoch gleichsam an der langen Leine der Loyalität gehalten, bleibt doch sein Ausgesandtsein an Bedingungen geknüpft, die eine Wiederkehr zu den Eltern einschließen. Seine Loyalität darf dabei nicht zu blind, zu starr oderrestriktivsein, sie muß vielmehr für Initiative, relative Autonomie, Selektivität und Differenzierung Raum lassen. Wäre dies nicht der Fall, könnte der Delegierte Auftrdge, die von ihm Wendigkeit, Geschick und dgenes Urteil verlangen, nicht ausführen.

Ein Delegierter der beschriebenen Art müht sich ständig um das Lob und die Liebe seiner Eltern (oder seines Herrn) — eine Liebe, die ihm nicht bedingungslos geschenkt wird, sondern von derAusführung seines Auftrags oder seiner Aufträge abhängig gemacht wird. Je schwieriger und riskanter der Auftrag, desto mehr beweist er in dessen Ausführung seine Treue und desto eher kann er erwarten, daß er sich die Liebe seines Auftraggebers erhält oder wiedergewinnt.“

Die große Bedeutung der Familienperspektiven für das Psychogramm nationalsozialistischer Führergestalten läßt sich aus vielen Biographien ablesen. Beispielhaft seien Heydrich, Bormann, Himmler und Höß herausgegriffen. Heydrichs Vornamen waren: Reinhard Tristan Eugen. Reinhard hieß er nach dem Willen der Mutter: „Stark im Ratgeben", benannt nach einer Heldenfigur aus einem Werk ihres Mannes, der als Sänger und Musiklehrer ein privates Konservatorium betrieb und mit einigen Opern, darunter „Amen" (1895 in Köln uraufgeführt) mäßigen Erfolg erzielt hatte. Sein Vater zollte mit „Tristan" dem wagnerianischen Zeitgeist Tribut; das musikalische Werk des Bayreuther Meisters wurde in der Familie besonders verehrt. Diese Namensgebung zeigt die um die Jahrhundertwende vielfach anzutreffende tragikomische, kleinbürgerliche Projektion: Die Eltern sahen in ihren Kindern „Delegierte", die eines Tages die für sie selbst unerreichbaren Sehnsüchte verwirklichen und Ziele erreichen sollten, die der eigenen Exi-stenz versperrt blieben Heydrich hat dann, wie Hitler, auf furchtbare Weise die Ohnmacht seiner Schicht ins Gegenteil verkehrt: Als Herr über Leben und Tod von Millionen war er maßgebend an den Verbrechen der Nationalsozialisten beteiligt. Unter seinem Vorsitz fand die Konferenz am Großen Wannsee am 22. Januar 1942 statt, auf der die „Endlösung", die Judenausrottung, beschlossen wurde. Laut Eichmann war Heydrich von dem Ergebnis der Besprechung so befriedigt, daß er hinterher im engsten Kreise einen Schnaps ausgab. Für Günther Deschner hat Reinhard Tristan Eugen Heydrich die Wagnerträume seines Vaters von der Bühne heruntergeholt und — deformiert, pervertiert — zu verwirklichen versucht. Er wollte den Übermenschen, die „blonde Bestie" spielen; die romantische Illusion wurde zur terroristischen Banalität.

Martin Bormanns ideologischen Wurzel-grund, weitgehend mit dem der NS-Führerschäft insgesamt identisch, beschreibt Jochen von Lang in seiner Biographie dieses Mannes wie folgt:

„Geboren im Jähr 1900, aufgewachsen im kraft-protzenden Kaiserreich, verstört durch die Niederlage am Ende des Ersten Weltkriegs, enttäuscht ihn die Weimarer Republik, weil sie ihm nicht die kollektive Selbsterhebung der Zugehörigkeit zu einer Weltmacht bieten konnte. Aufgewachsen im Kleinbürgermilieu, erlebt er während der Inflation und Arbeitslosigkeit, wie die Menschen seiner Klasse zu besitzlosen Proletariern wurden. Daraus gewann er sein politisches Ziel. Sein Volk mußte wieder mächtig werden, damit auch er zu den Mächtigen gehörte. Und es mußte soziale Sicherheit gewinnen, damit auch er sich gesichert fühlen konnte. Er hielt sich für einen Revolutionär, aber er warnur ein Revoluzzer. Der Radau-Nationalismus der Völkischen zog ihn ebenso an wie der Glaube, daß eine starke Handgenüge, um die Welt wiederin Ordnung zu bringen, die nach seiner Meinung die . Roten'und die Juden aus den Angeln gehoben hatten. Das waren die Bösen, also mußten ihre Gegner die Guten sein. So einfach war das — für einen jungen Mann, der von Taten mehr hielt als vom Nachdenken und der in seiner bescheidenen Halbbildung Schlagworte als Weisheiten betrachtete.“

Immer im Hintergrund, wurde Bormann durch seine „Unentbehrlichkeit" bei vorwiegend fragwürdigen Geschäften und Aktionen zum „starken Mann". Als Sekretär des „Führers" war er dessen Kreatur und versuchte, meist mit Erfolg, die anderen Parteiführer zu seinen Kreaturen zu machen. Das Herrschaftssystem der Nationalsozialisten, das nach der Maxime „Teile und herrsche!" durch vielfach sich überschneidende, gegenseitig überwachende und in Schach haltende, auch gegenseitig sich bekämpfende Instanzen, Kompetenzen und Personen geprägt war, begünstigte Karrieretypen wie Bormann beim unaufhaltsamen Aufstieg. Ein intimes Detail kann Bormanns kleinbürgerliche Patriarchmentalität mit ihren Herrenmenschenallüren illustrieren. 1943 berichtet Bormann stolz seiner treudeutschen Frau Gerda, daß er deren Freundin Manja, von seinen „leidenschaftlichen Küssen entflammt", zu seiner Geliebten gemacht habe. „Du kennst meine Willensstärke, dagegen kam M. auf die Dauer nicht an. Jetzt ist sie die Meine und gerade deswegen fühle ich mich so unglaublich glücklich verheiratet." Die „Mutter seiner Kinder" antwortet stolz: Die Sache mit dem doppelten Glück ihres Mannes lege den Gedanken nahe, daß nach dem Kriege jedem wertvollen Mann durch Gesetz zwei Frauen zugestanden werden könnten. Martin, der doch so viel Einfluß habe, solle dies von oben aus bewirken. „Du wärst in der Lage, dies zu ändern, du müßtest dann darauf achten, daß in dem einen Jahr Manja ein Kind hat und im nächsten Jahr ich, so daß du immer eine Frau hast, die in Ordnung ist."

Die „Buchhaltermentalität" hält Bradley F. Smith in seiner Biographie „Heinrich Himmler 1900— 1926" für einen besonders wichtigen Zug von dessen Persönlichkeit. Aus einer äußerst konservativen Mittelschicht kommend (der Vater war ein pedantischer, pflichteifriger Schullehrer und bayerischer Prinzenerzieher), stieg der durch seine Erziehung deformierte Heinrich Himmler in die „phantastische Welt des professionellen Nationalsozialismus" auf In seiner Phantasie und Kreativität depraviert, versuchte er nun kompensatorisch, die Rolle von „Ritter, Tod und Teufel" zu spielen. Aus den autobiographischen Zeugnissen Himmlers ist abzulesen, wie stark die triebdynamischen Verdrängungen und Verklemmungen seiner autoritär-prüden Umwelt sich auswirkten. Als einzige Ventilierung ergab sich ein manischer Ehrgeiz, der bis zum gesellschafts-traditionellen Höhepunkt, dem «Schmiß“ im Gesicht, führte; dazu enthusiastische Freundschaften, keusche Verhimmelung „herrlicher Mädchen“. Ein rechter Mann liebt eine Frau auf drei Arten, so meinte Himmler in dieser Zeit: als liebes Kind, das man zanken und vielleicht strafen muß in seiner Unvernunft, das man schützt und hegt, weil es eben zart und schwach ist, dann als treuen, verständnisvollen Kameraden, der einem überall zur Seite steht, ohne den Mann in seinem Geist zu hemmen und in Fesseln zu schlagen, «und als Gattin, der man die Füße küssen muß, die einem Kraft gibt durch ihre weibliche Weichheit und kindlich reine Heiligkeit, in den härtesten Kämpfen nicht zu erlahmen, und einem in idealen Stunden der Seele Göttlichstes gibt" Offensichtlich kompensieren sich bei Himmler die Qualen unbefriedigter sexueller Begierde, die mit dem üblichen Sündenkomplex behaftet ist und entsprechend verdrängt wird, durch minuziöse Pedanterie; das Tagebuch Himmlers verzeichnet, wann er sich rasierte, wann er sich das Haar schneiden ließ, wann er badete.

Warum aus diesem Kleinbürger der Massenmörder wurde, ist zwar nicht individual-, wohl aber kollektivpsychologisch verständlich. Eine Gestalt wie Himmler stellt die gewissermaßen „zufällige“ Spitze des Eisberges der Inhumanität dar, der sich unter der Oberfläche einer oppressiven „Kultur“ zusammengeballt hatte. Sie trat an die Oberfläche, als das Niveau der Kultur weiter gesunken und das spießbürgerliche Über-Ich für einen machtvollen Auftrieb sorgte. In der Biographie Himmlers ist dies seine Berufung zum Reichsführer-SS durch Hitler. Himmlersche Polizeiromantik und Darrs Menschenzuchtideologie („Wie wir unser altes Hannöversches Pferd aus weniger reingebliebenen Vater-und Muttertieren wieder herausgezüchtet haben, so werden wir aus dem besten deutschen Blut aus Verdrängungskreuzungen im Laufe der Generation wieder den reinen Typ des nordischen Deutschen züchten!“ verbinden sich auf der Grundlage des Hitlerschen Rassenwahns, dessen sexualpathologische Genealogie Wilfried Daim nachgewiesen hat zu einem Staatsidol, in dem blondhaarige, blauäugige, muskelstarke Über-menschen mit blutreinen Maiden sich paaren und alles Unreine (Jüdischschmutzige) mit manischer Perfektion ausgerottet wird. Die gesetzliche Bestimmung, wonach jeder SS-Mann, der zu heiraten beabsichtigte, eine Heiratsgenehmigung des Reichsführers-SS einzuholen hatte (die . sachgemäße'Bearbeitung der Heiratsgesuche war Sache des Rassenamtes der SS), war für Himmler, der sich dieser Über-prüfungsarbeit besonders gerne persönlich widmete, d. h. die Fotos der Bräute der SS-Männer studierte, der Höhepunkt kleinbürgerlich-patriarchalischer Hybris. Dieser Mann, der in seiner Jugend die Welle am Reck nicht schaffte und später das SS-Sportabzeichen nur durch Schiebung erhielt, der vor Rührung weich wurde, wenn er blonde Kinder sah, der die „Produktion“ von „Voll-Menschentum“ als eigentliche Aufgabe der Gesellschaft und des Staates begriff (und sich seine Zeugungskraft im Umweg über das Verhältnis mit seiner Sekretärin zu beweisen suchte), fordert in seinen kühnsten Träumen die Polygamie, wobei er diese scheinbare Antibürgerlichkeit mit Staatsräson rechtfertigt. Solange man die Polygamie nicht hätte, würden Millionen von Kindern, die der Staat dringend notwendig hätte, nicht geboren. „Auf der anderen Seite wagt der Mann mit derjenigen Frau, mit der er ein sogenanntes Verhältnis unterhält, keine Kinder zu zeugen, obwohl er es gern tun würde, weil ihn die doppelte Moral der sogenannten bürgerlichen Gesellschaft und ihr drohender Boykott davon abhält. Den Schaden hat wiederum der Staat, der nun auch von der zweiten Frau keine Kinder bekommt."

Die autobiographischen Aufzeichnungen des Kommandanten in Auschwitz, Rudolf Höß, sind ein weiteres Beispiel für die hier insgesamt als zeittypisch skizzierte Entwicklung von der Biederkeit zum Massenmord, von der bürgerlichen Moral zum pflichtbewußten Sadismus. Höß ist — wir übernehmen dabei Worte von Ernst Kretschmer über Robespierre — kein Bluthund, sondern ein korrekter, in manchem schüchterner, ja sogar tugendhafter Beamter bzw. Schulmeister, der mit pedantischer Sorgfalt Wahnideen in die Wirklichkeit umsetzt. Er spürt nicht, was er anrichtet, er tötet mit unbestechlichem Pflichtbewußtsein. Er denkt an die Ideale, er ist gerührt, sozusagen ein gemüthafter wie gemütlicher Mörder, zugleich ein Fanatiker kalter und dennoch tollgewordener Reflexion. Höß erweist sich in Wortwahl und Ausdruck als Schöngeist (wie sich der Kleinbürger den Schöngeist vorstellt), er zeigt immer die eilfertig-eifrige Gewissenhaftigkeit eines Mannes, der im Dienst einer Autorität steht, der seine Pflicht tut, der einer Sache um ihrer selbst willen dient. Höß ist ordnungsliebend, tierliebend, naturverbunden, auf seine Weise innerlich veranlagt. Höß'Aufzeichnungen sind die eines kleinbürgerlich-normalen Menschen, der zwischen philisterhaftem Dünkel und betulicher Sentimentalität, zwischen kältester Gnadenlosigkeit und beamtenethischer Pflichterfüllung sein leeres Selbst angesiedelt hat.

Die Jugend von Höß beginnt mit der Idyllik des Landlebens. „Doch die meiste Zeit verbrachte ich in den Ställen der Bauern, wenn man mich suchte, sah man zuerst in die Ställe. Besonders die Pferde hatten es mir angetan. Ich konnte gar nicht genug tun an Streicheln, Erzählen und Leckerbissen-Anbieten“ Als er in die Stadt zieht, wo es keine Ställe, keine „Viecher" gibt, ist er wochenlang fast krank vor Sehnsucht nach den Tieren und nach „seinem Bergwald". Der „Ernst des Lebens", die Schule beginnt. „Durch das Gelübde meines Vaters, wonach ich Geistlicher werden sollte, stand mein Lebensberuf fest vorgezeichnet. Meine ganze Erziehung war darauf abgestellt. Ich wurde von meinem Vater nach strengen militärischen Grundsätzen erzogen. Dazu die tief-religiöse Atmosphäre in unserer Familie: Mein Vater war fanatischer Katholik." Im Elternhaus wird streng darauf geachtet, daß alle Aufträge genau und gewissenhaft ausgeführt werden. „Echtes Pflichtbewußtsein" steht im Mittelpunkt der Erziehung. „Zwischen meinen Eltern bestand ein gütiges, liebevolles Verhältnis voll Achtung und gegenseitigen Verstehens, doch habe ich nie erlebt, daß sie zueinander zärtlich waren.“ Von tiefem Eindruck ist das Kriegserlebnis, w .. dann riß ich durch und sah voll Zittern, wie der Inder im Sprung vornüber sank und sich nicht mehr rührte. Ich kann wirklich nicht sagen, ob ich richtig gezielt hatte. Mein erster Toter! — Der Bann war gebrochen. — Ich schoß nun, wenn auch nicht ganz sicher, weiter Schuß um Schuß, wie man es mir bei der Ausbildung beigebracht hatte. ... Noch am selben Tage wurde weitverlore-nes Gelände zurückgeholt. Beim Vorgehen sah ich mir zögernd und scheu . meine'Toten an, ganz wohl war mir dabei nicht zumute."

Im Lazarett hat Höß sein erstes Liebeserlebnis. „Bis dahin war mir die Liebe zu einer Frau, zum anderen Geschlecht, noch unbekannt. Wohl hatte ich über die geschlechtlichen Dinge in Gesprächen unter den Kameraden viel gehört, und der Soldat spricht darüber ziemlich eindeutig. Doch selbst war mir dieser Trieb noch fremd, vielleicht aus Mangel an Gelegenheit." Nun wird er in den „Zauberkreis der Liebe" eingeführt, und er hat ein „wundersames, unerhörtes Erlebnis in allen Graden bis zur geschlechtlichen Vereinigung". „Dieses erste Liebeserlebnis in seiner ganzen Zartheit und Lieblichkeit wurde für mein ganzes ferneres Leben zur Richtschnur."

Höß ist dabei, als man den Verräter Schlageters an die Franzosen totschlägt; als Fememörder kommt er ins Zuchthaus. „Von Jugend auf zu unbedingtem Gehorsam, zu peinlichster Ordnung und Sauberkeit erzogen, fiel es mir hinsichtlich dieser Dinge nicht besonders schwer, mich in das harte Zuchthausleben einzufügen. Gewissenhaft erfüllte ich meine mir genau vorgeschriebenen Pflichten, machte meine geforderte Arbeit, meist mehr, zur Zufriedenheit der Werkmeister, und hielt meine Zelle stets musterhaft sauber und in Ordnung, so daß selbst die böswilligsten Augen nichts zu Beanstandendes finden konnten.“ Er sagt von sich selbst, daß er immer ruhiger und abgeklärter geworden sei.

Nach der Entlassung kommt er über die Artamanen zur SS; es gibt für ihn nur ein Ziel, für das es sich zu arbeiten, zu kämpfen lohnt: „Der selbsterarbeitete Bauernhof mit einer gesunden großen Familie. Das sollte der Inhalt meines Lebens, mein Lebensziel werden." Drei Kinder werden geboren; er wird Rapport-und Blockführer im Konzentrationslager Dachau; er erlebt die „körperliche Züchtigung“ eines Häftlings. „Mich durchlief es kalt und heiß, als die Schreierei begann. Ja der ganze Vorgang, schon beim ersten, ließ mich schaudern. Ich war später bei der ersten Exekution bei Kriegsbeginn nicht so erregt wie bei dieser körperlichen Züchtigung. Eine Erklärung hierfür kann ich nicht finden." Höß ist Adjutant und Schutzhaftlagerführer im Konzentrationslager Sachsenhausen; er wirkt bei Exekutionen mit; er gibt Fangschüsse, beschäftigt sich mit der Psychologie und Typologie seiner Opfer; 1940 wird er zum Kommandanten von Auschwitz ernannt. Er tut weiterhin seine Pflicht, er setzt sein „ganzes Können", sein „ganzes Wollen" für seine Aufgabe ein. Zu alkoholischen Exzessen läßt er sich nie hinreißen: „Ich konnte noch so spät nach Hause gekommen sein, zum Dienstbeginn war ich da, wieder völlig frisch.“ Es wird mit Genickschuß „gearbeitet", mit Injektionen liquidiert. Die Vernichtung des Zigeunerlagers ist besonders „schwierig“: „Denn in ihrer ganzen Art waren sie eigentlich zutraulich wie Kinder ... es gab einen großen Kindergarten, wo die Kinder nach Herzenslust . rumtollen'konnten, mit Spielzeug aller Art... ihrem Leben und Treiben zuzusehen, wäre interessant gewesen, hätte ich nicht dahinter das große Grauen gesehen — den Vernichtungsbefehl, den in Auschwitz außer mir bis Mitte 1944 nur die Arzte kannten. Diese hatten laut RFSS-Befehl die Kranken, besonders die Kinder unauffällig zu beseitigen. Und gerade die hatten solch Zutrauen zu den Ärzten. Nichts ist wohl schwerer, als über dieses kalt, mitleidlos, ohne Erbarmen hinwegschreiten zu müssen.“

Höß hat den „Stürmer“, die antisemitische Wochenschrift Streichers, „stets abgelehnt", wegen ihrer „üblen Aufmachung“, mit der „Wirkung auf niedrigste Instinkte berechnet". Die Hervorkehrung des Sexuellen in oft „pornographisch-wüster Art" sei ihm zuwider gewesen. Nach dem Willen des Reichsführers SS wurde Auschwitz die größte Menschenvernichtungsanlage aller Zeiten: „Als er mir im Sommer 1941 persönlich den Befehl erteilte, in Auschwitz einen Platz zur Massenvernichtung vorzubereiten und diese Vernichtung durchzuführen, konnte ich mir nicht die geringsten Vorstellungen über die Ausmaße und die Auswirkungen machen. Wohl war dieser Befehl etwas Ungewöhnliches, etwas Ungeheuerliches. Doch die Begründung ließ mich diesen Vernichtungsvorgang richtig erscheinen. Ich stellte damals keine Überlegungen an — ich hatte den Befehl bekommen — und hatte ihn durchzuführen." Beim ersten Gastöten befällt ihn Unbehagen, ja ein Erschauern, obwohl er sich den Gastod schlimmer vorgestellt hatte. «Doch ich muß sagen, auf mich wirkte diese Vergasung beruhigend, da ja in absehbarer Zeit mit der Massen-Vernichtung der Juden begonnen werden mußte.“ Als diese anläuft, ist es ihm peinlich, daß Frauen während des Ausziehens markerschütternd losschreien, sich die Haare ausreißen und sich wie wahnsinnig gebärden; „schnell wurden sie herausgeführt und hinter dem Haus mit dem Kleinkalibergewehr durch Genickschuß getötet". Manchmal haben die Vernichtungsaktionen für Höß sogar etwas Poetisches: „Im Frühjahr 1942 gingen Hunderte von blühenden Menschen unter den blühenden Obstbäumen des Bauerngehöftes, meist nichtsahnend, in die Gaskammern, in den Tod. Dieses Bild vom Werden und Vergehen steht mir auch jetzt noch genau vor den Augen.“ Höß wäre am liebsten vor Mitleid „von der Bildfläche" verschwunden, aber „ich durfte nicht die geringste Rührung zeigen. Ich mußte alle Vorgänge mit ansehen. Ich mußte, ob Tag oder Nacht, beim Heranschaffen, beim Verbrennen der Leichen zusehen, mußte das Zahnausbrechen, das Haarabschneiden, all das Grausige stundenlang mit ansehen. Ich mußte selbst bei der grausigen, unheimlich Gestank verbreitenden Aufgrabung der Massengräber und dem Verbrennen stundenlang dabeistehen. Ich mußte auch durch das Guckloch des Gasraumes den Tod selbst ansehen, weil die Ärzte mich darauf aufmerksam machten. Ich mußte dies alles tun — weil ich derjenige war, auf den alle sahen, weil ich allen zeigen mußte, daß ich nicht nur die Befehle erteilte, die Anordnungen traf, sondern auch bereit war, selbst überall dabeizusein, wie ich es von den von mir dazu Kommandierten verlangen mußte." Höß sagt, daß er in Auschwitz „wahrhaft" nicht über Langeweile klagen mußte; w .. hatte mich irgendein Vorgang sehr erregt, so war es mir nicht möglich, nach Hause, zu meiner Familie zu gehen. Ich setzte mich dann aufs Pferd und tobte so die schaurigen Bilder weg oder ich ging oft des Nachts durch die Pferdeställe und fand dort bei meinen Lieblingen Beruhigung." Die Frau, die mit den Kindern glücklich in der Auschwitz-Villa nebenan wohnt, kann sich gelegentliche trübe Anwandlungen ihres Mannes nicht erklären. „Wenn man die Frauen mit den Kindern in die Gaskammern gehen sah, so dachte man unwillkürlich an die eigene Familie. Ich war in Auschwitz seit Beginn der Massenvernichtung nicht mehr glücklich. Ich wurde unzufrieden mit mir selbst. Dazu noch die Hauptaufgabe, die nie abreißende Arbeit und die Unzuverlässigkeit der Mitarbeiter. Das Nichtverstanden-und Nichtgehörtwerden von meinen Vorgesetzten. Wirklich kein erfreulicher und wünschenswerter Zustand." Immerhin hatte die Frau ihr „Blumenparadies"; die „Häftlinge taten alles, um meiner Frau, um den Kindern etwas Liebes zu tun, um ihnen eine Aufmerksam zu erweisen... In der ganzen Familie war die Liebe für die Landwirtschaft, besonders für alle Tiere, hervorstechend. Jeden Sonntag mußte ich mit allen über die Felder fahren, durch die Ställe gehen, auch die Hundeställe durften nie versäumt werden. Unseren beiden Pferden und dem Fohlen galt die besondere Liebe. Immer hatten auch die Kinder im Garten besonderes Viehzeug, das die Häftlinge immer angeschleppt brachten. Ob Schildkröten oder Marder, ob Katzen oder Eidechsen, stets gab es etwas Neues, Interessantes im Garten. Oder sie planschten im Sommer im Planschbecken im Garten oder in der Sola. Ihre größte Freude war jedoch, wenn Vati mitbadete. Der hatte nur wenig Zeit für all die Kinderfreuden."

So bringen es die NS-Henker und -Schinder fertig, bürgerliches Glück und äußersten Sadismus miteinander zu verbinden. Das Hin-schlachten von Männern, Frauen und Rindern gehört zu den Usancen eines pflichtgetreuen Beamten, Soldaten und Familienvaters, der — nachdem er den Dienstanzug vom Judenblut gesäubert hat — in heimeliger Atmosphäre seinen Lieben sich widmet. Die Fassadenwelt des 19. Jahrhunderts mit dem Bordell als verhältnismäßig harmlosem Entlastungspendant zum triebfeindlichen häuslichen Idyll ist hier ins Ungeheuerliche gesteigert; der sadistische Staat nationalsozialistischer Prägung ermöglicht perverser „Normalität“ letztes Trieb-glück. Eine Psychohistorie, die geschichtlich denkt, muß die sexual-und sozialpathologischen Wurzeln etwa des Rassenhasses und Rassen-wahns weit zurückverfolgen. Auf die Frage, wie es zur Endlösung kommen konnte, ist eine historisch lange, für die Angehörigen dieses Kulturkreises schmerzliche Antwort zu geben. Europäische Humanität war meist nur eine Fiktion, bei den Dichtern und Künstlern gut „aufgehoben“; in der Realität glich Europa vielfach einer Schädelstätte, „Ort“ für Massaker.

„Die feinde entkleideten sie und schleiften sie hinter sich her, wobei sie niemand Schonung gewährten, abgesehen von den paar Gemeindemitgliedern, die die Taufe annahmen. In diesen zwei Tagen beliefsich die Zahl der Getöteten auf achthundert."

So der jüdische Chronist Salomon-Bar-Simeon über den Judenpogrom am 25. Mai 1096 in Worms. Zwei Tage später kamen die Juden von Mainz an die Reihe. Der christliche Erzähler Albert von Aix, einer der wenigen seiner Religion, der Mitleid empfand und über das Gemetzel entrüstet war, schreibt: „Die Mütter ergriffen das Eisen und schnitten den Kindern, die sie noch säugten, die Kehle durch; sie vernichteten lieber sich selbst mit ihren eigenen Händen, als daß sie den Schlägen der Unbeschnittenen erlegen wären. Nur eine ganz geringe Zahl von Juden konnte die sem grausamen Morgen entrinnen; nur einige nahmen die Taufe an, viel mehr aus Furcht voi dem Tod als aus Liebe zum christlichen Glauben."

Wenige Daten sind für die Geschichte des Abendlandes so bedeutsam gewesen wie jener 27. November 1095, an dem Papst Urban II. auf dem Konzil von Clermont-Ferrand es unternahm, den ersten Kreuzzug zu predigen. Man kennt die entscheidende Rolle der Kreuzzüge für die Entfaltung der mittelalterlichen Kultur; es ging um den allgemeinen Aufbruch zu einer Handelstätigkeit und um das Erwachen einer intellektuellen Betätigung, dem der Aufstieg des Bürgertums in den Städten folgte. Das christliche Europa wurde seiner selbst bewußt. Für die Juden aber waren die Folgen fürchterlich. Lon Poliakov berichtet davon in seiner „Geschichte des Antisemitismus". Der Weg der Kreuzritter ist durch zerstörte, ehemals blühende jüdische Gemeinden markiert Nicht, daß es vorher keinen Judenhaß gegeben hätte; er war in der heidnischen Antike, während der ersten Jahrhunderte des Christentums und im Abendland des Hochmittelalters vorhanden; aber nun brach das „Feuer des Hasses“ gegen die Juden mit einer Vehemenz aus, die alles bisher Geschehene weit übertraf. Bis zur „Endlösung" konnte es nicht mehr eingedämmt werden.

Poliakov verwendet für seine Untersuchung den Begriff . Antisemitismus“. Darin wird sowohl der christlich bestimmte Judenhaß (gegen das „ungläubige, gottesmörderische Volk") als auch der ideologisch orientierte (die Feindschaft gegenüber einer „minderwertigen Rasse“) zusammengefaßt. Der Begriff Antisemitismus habe sich in allen westlichen Sprachen eingebürgert; man könne sich seiner im Sinne eines alle Arten des Antijudaismus aller Zeiten bezeichnenden Ausdrucks bedienen. Antisemitismus bedeutet hier also keineswegs eine besondere Form des Rassismus.

Die Antisemiten haben, was dem Mechanismus aggressiver Abreaktions-Projizierung entspricht, den „Semiten" erst geschaffen, indem sie durch jahrhundertelange Verfolgung beim Judentum die Tendenz zur Abkapselung sowie zur inneren und äußeren, vorwiegend religiös bestimmten Geschlossenheit förderten. Der Jude war aber nicht nur Sündenbock, sondern auch ein „nützlicher Jude": Er mußte verachtete Berufe übernehmen, wie den des Geldverleihers im Mittelalter und den des Journalisten im 19. Jahrhundert. Bei der Bildung der geistigen Merkmale des Juden steht die mögliche Rolle der Vererbung nur an zweiter Stelle; die Einwirkung des oktroyierten Milieus ist beherrschend.

. Noch genauer ausgedrückt: Die Rolle der Vererbung kann sich höchstens in der Art und Weise eines Katalysators auswirken, der nur unter ganz bestimmten Umständen, das heißt in diesem Zusammenhang, in der Diaspora tätig wird." Als die kapitalistische Wirtschaft und Gesellschaft sich entwickelten, hatte der Jude auf Grund seines Ausgestoßenseins von „honorigen" Berufen einen besonderen Erfahrungsvorsprung; er wußte freilich nicht nur aus beruflichen Gründen besonders gut mit Geld umzugehen. Ständig verfolgt, enteignet, irgendeiner dunklen Affäre von Vergiftung und Ritualmord bezichtigt, war ihm das Geld wichtiger als das tägliche Brot; es erleichterte die Mobilität — und das hieß in vielen Fällen: die Flucht. „Man kann beobachten, wie das Geld unter diesen Voraussetzungen für den Juden schließlich eine fast heilige Bedeutung erlangte."

Der vom Antisemitismus derart „geformte" Jude bot pseudo-objektive Merkmale, die den Judenhaß weiter anstachelten. Teufel, Hexen und Juden waren eins; Literatur und Kunst, im 19. Jahrhundert vor allem das weltanschauliche Traktätchen-Schrifttum, leisteten der Verdummung und Verrohung Hilfsdienste. Das Getto bedeutete die endgültige Absperrung des Juden. „Das Ende des Mittelalters ist der Zeitpunkt, an dem sich das alte jüdische Wohnviertel in ein Getto verwandelt; seine Tore werden am Abend mit einem Schlüssel zugeschlossen, und seine Bewohner haben nur bei Tag das Recht, die Straßen in christlichen Wohngebieten zu benützen. Hinter dieser Umzäunung zieht sich die jüdische Gemeinde endgültig auf sich selbst zurück."

Und da man immer wieder die Gettos vernichtete, und zwar in manchen Ländern systematisch, so daß diese „judenrein" wurden, entstand bald auch „ein Antisemitismus ohne Juden". Jude war dann eben, wer aus irgendwelchen Gründen nicht „paßte". Im Dictionnaire du Commerce, einem Nachschlagwerk für den Handel von J. Savary des Brusslons (Paris 1723), heißt es zum Beispiel: „Mit dem Ausdruck . Jude'bezeichnet man in Paris recht oft die Trödelhändler, sei es, weil das Volk der Meinung ist, dieselben seien auch so betrügerisch, wie es die Juden früher waren, als sie in Frankreich am Handel mit alten Kleidungsstücken teilnahmen. Es kann aber auch daher rühren, weil man einige Familien dieser Händler verdächtigt, von den alten Juden abzustammen. ”

Ein „Sprung" ins 19. Jahrhundert zeigt, daß die archaisch anmutenden Vorurteile nicht nur gleich blieben, sondern in manchem sich sogar noch verstärkten. Trotz der Aufklärung im 18. Jahrhundert (die in der „infizierten Kirche" gerade auch deren Vorurteile gegen das Judentum bekämpfte) und Emanzipation des Judentums im anfänglichen 19. Jahrhundert grassierten Ressentiments und beherrschten vielfach das geistig-kulturelle Klima. Ein Beispiel: Im Jahr 1871 gelang es der neugegründeten Deutschen Anthropologischen Gesellschaft, die verfügbaren Statistiken aller Schädelformen in Deutschland zu speichern; ein Jahr später fügte sie Angaben über Haar-und Augenfarbe hinzu. Auf Anregung Rudolf Virchows wurde beschlossen, die Unterschiede zwischen jüdischen und christlichen Schulkindern zu untersuchen; außer Hamburg unterstützten alle Kultusbehörden der deutschen Bundesländer diese Aktion. Virchow verfolgte damit eine aufklärerische Absicht — was ihm die Angriffe antisemitischer Kreise einbrachte — und wurde darin durch das Ergebnis bestätigt: Laut Statistik machten im gesamten Deutschen Reich bei nichtjüdischen Kindern die Blonden nur 31, 8 Prozent aus; die Mischtypen überwogen weit mit 54, 15 Prozent; bei den jüdischen Kindern wurden 11 Prozent rein blonde Kinder angetroffen. Gegenüber der Ideologie vom reinrassigen deutschen Ariertum zog Virchow die Folgerung, daß die Juden ein Volk, aber keine Rasse seien; wolle man ein germanisches deutsches Reich, müsse man weite Teile Süd-und Westdeutschlands davon ausschließen.

George L. Mosse untersucht in seinem Buch „Rassismus — Ein Krankheitssymptom in der europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts" die Grundlagen, die Ausbreitung und die Durchführung des Rassismus als gesamteuropäischem Phänomen; ein Gruselkabinett von Wirrköpfen und Wahnideen wird vorgestellt Um ein paar bekanntere „Eckwerte" dieses gleichermaßen geistes-wie sozialpathologischen „Ideogramms" zu nennen: Gobineau, Lombroso, Haeckel, Houston Stewart Chamberlain, Cline. Sowohl individuelle wie kollektive Minderwertigkeitsgefühle und -komplexe wurden durch makabre „geistige" Systeme kompensiert: Der Schoß war fruchtbar, aus dem das kroch.

Für die deutsche Entwicklung erwies sich Wien als Brutstätte antisemitischer Ressentiments, wobei gesellschaftspolitische Probleme (das Einströmen des „Ostjudentums", das dort auf eine assimilierte jüdische Schicht stieß) eine besondere Rolle spielten. Dazu kamen die zu dieser Zeit allenthalben üblichen (üblen) Traktate — etwa Otto Weiningers Buch „Geschlecht und Charakter" (1903), das von Juden-, Frauen-und Selbsthaß diktierte Buch eines Juden (18 Auflagen bis 1919) — und der sektiererische Ostara-Kult des Jörg Lanz von Liebenfels, der seine Zeitschrift ein Blatt „für blonde Leute" nannte.

Im politischen Bereich wirkte von 1897 bis 1910 als Oberbürgermeister Karl Lueger, der seine Bewegung „Christlich-Soziale Partei“ nannte; in einer Stadt, die sehr lange von Liberalen schlecht verwaltet worden war und deren Probleme ein erschreckendes Ausmaß angenommen hatten, sorgte er für die erfolgreiche Verbreitung seiner Popularität, indem er Juden mit Atheismus, Liberalismus, Finanzkapitalismus und Sozialdemokratie gleichsetzte. Der von ihm geprägte Ausspruch: „Wer Jude ist, bestimme ich!" macht deutlich, daß für ihn die rassistische Ideologie ein vorwiegend pragmatisch-politisches Instrument darstellte. Hitler war von allen dreien, von Weininger, Lanz von Liebenfels und Lueger, stark beeinflußt.

Waren auch Antisemitismus und Arier-oder Germanenkult (die Verherrlichung der reinen Rasse) ein gesamteuropäisches geisteswissenschaftliches Phänomen — die deutsche Bevölkerung in ihrer Gesamtheit erwies sich als besonders anfällig (was dann der Nationalsozialismus brutal ausnutzen konnte). In den Kapiteln „Von der Theorie zur Praxis" und „Rassismus und Massenmord" zeigt George Mosse in geraffter Form, wie der Ungeist in Massenmord überging.

Trauerarbeit und Stolzarbeit

„Trauerarbeit" ist als zentraler Begriff in die politische Bildungsarbeit eingegangen; er geht zurück auf Alexander und Margarete Mitscherlichs Buch „Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens". Psychoanalytisch bedeutet Trauerarbeit (nach Sigmund Freud) das auffallendste Beispiel für die mit der Erinnerungsarbeit verbundenen Schmerzen; das Erinnern erweise sich als ein stückweises, fortgesetztes Zerreißen der Bindung an das geliebte Objekt und damit als ein Erlebnis von Rissen und Wunden im Selbst des Trauernden. Werde das „Objekt" auf narzißtische Weise geliebt, sei mit dessen Verlust ein Verlust an Selbstwert verbunden. Objekt-verlust bewirke einen psychischen Energie-verlust, führe zur Ich-Verarmung. Es komme nicht zum Schmerz in der Trauer um das verlorene Objekt, sondern zur Trauer über einen selbst und, in der Verbindung mit ausgeprägter Gefühlsambivalenz, zum Selbsthaß der Melancholie. Der Trauerklage um das verlorene Objekt stehe die melancholische Selbstanklage gegenüber; die Selbstzerfleischung der Melancholie sei im Grunde eine Anklage gegen das Objekt, dem eigenen Selbst einen solchen Verlust zugefügt zu haben. Hätten nicht die Abwehrmechanismen der Verleugnung, der Isolierung, der Verkehrung ins Gegenteil des Aufmerksamkeits-und Affektentzuges, vor allem also der Derealisation, der ganzen Periode des Dritten Reiches gegenüber eingesetzt, so wäre im Nachkriegsdeutschland der Zustand schwerer Melancholie für eine große Zahl von Menschen die unausweichliche Konsequenz gewesen, als Konsequenz ihrer narzißtischen Liebe zum „Führer" und der in ihrem Dienst gewissenlos verübten Verbrechen. Ja der narzißtischen Identifikation mit dem Führer war sein Scheitern ein Scheitern des eigenen Ichs. Zwar hat die Derealisation und haben die übrigen Abwehrvorgänge den Ausbruch der Melancholie verhindert, aber sie haben nur unvollständig die . großartige Ich-Verarmung'abwenden können. Dies scheint uns die Brücke zum Verständnis des psychischen Immobilismus, der Unfähigkeit, in sozial fortschrittlicher Weise die Probleme unserer Gesellschaft in Angriff zu nehmen.

Der Unfähigkeit zu trauern ist also unsere weniger einfühlende als auf Selbstwertbestätigung erpichte Art zu lieben vorangegangen. Die Anfälligkeit für diese Liebesform ist ein kollektives Merkmal unseres Charakters. Die Struktur der Liebesbeziehung der Deutschen zu ihren Idealen oder deren Inkarnationen scheint uns eine lange Geschichte des Unglücks zu sein. Zumindest im politischen Feld dient unser Sendungsbewußtsein der Kompensation von Kleinheitsängsten, der Bekämpfung unseres Gefühls der Wertlosigkeit. Ebenso wichtigist, daß wir durch Idealisierung die unvermeidbare Ambivalenz unserer Gefühle zu verleugnen suchen, um sie dann projizieren zu müssen. Menschen oder gar Kollektive wie , das Vaterland'sindkeine eindeutigen Ideale, wir machen sie höchstens dazu. Zu den Reifungsaufgaben gehört es, daß man die Ambivalenzspannungen mildern, verstehen und integrieren kann. Wir sollten nicht in eine Art multiple Persönlichkeit zerfallen, deren Teile nuridealisieren, hassen oder durch abgewehrten Haß sich verfolgt fühlen können. Einfühlung hilft bei diesem Ausgleich am entschiedensten. Eine solche Beziehung, die sich Ambivalenz bewußt macht, verarbeitet und erträgt, eine solche reife Beziehung zu uns selbst, zu unseren Mitmenschen und zum Lauf der Welt haben wir im Verhaltensstil unserer Kultur, vor allem in den politischen Affekten, bisher nur in Ansätzen gezeigt; wir schwanken nur allzu oft wie weiland in den Duodezfürstentümern zwischen Provinzialismus und imperialen Größenträumen, zwischen Überheblichkeit und Selbsterniedrigung, die aber Weniger die Züge der Demut als der Melancholie trägt und sich in dergeheimen Anklage äußert, daß die anderen an unserer Erniedrigung, an unserer Niederlage, daran, daß es uns so schlecht ergangen ist, daß man uns so mißversteht, schuld sind."

Auf eigene Art hat unter dem Eindruck von Holocaust Bruno Bettelheim die Frage der Trauerarbeit aufgegriffen: „Meine Überlegungen gelten nicht den Toten, sondern den Lebenden. Der Ablaufder gräßlichen Ereignisse ist inzwischen fester Gegenstand historischer Beschreibung. Mich beschäftigt die Bedeutung des nationalsozialistischen Massenmordes für die heutige Generation. Sie sollte den Sinn der Ereignisse nicht verfälschen. Entsetzliches ist vor einem Menschenalter von Durchschnittsmenschen an Durchschnittsmenschen verübt worden — die Sinnverfälschung aber ist eine gefährliche Bedrohung für die heutigen Menschen."

Vom Beginn der langen Ereigniskette nationalsozialistischer Untaten an seien psychologische Mechanismen nicht auf Anerkennung der Fakten, korrekte Einschätzung und Deutung ihrer Implikationen und Bewältigung des Geschehens auf dieser Grundlage eingerichtet gewesen. Vielmehr hätte man Abwehrmechanismen verschiedenster Art, falsche Analogien und Formen glatter Verweigerung benutzt, um mit der Wirklichkeit nicht fertig werden zu müssen. Der Regression des Nationalsozialismus (dem Rückfall in vorkulturelle Barbarei) entsprach die Regression in die Verweigerung als der frühesten, primitivsten, unpassendsten und unwirksamsten aller psychologischen Verteidigungsmaßnahmen des Menschen.

Im Falle eines potentiell zerstörerischen Ereignisses sei sie die schädlichste psychologische Verteidigungsart, weil sie gerade jenes Handeln verhindere, das gegen die wahren Gefahren Schutz bieten könne. Verweigerung mache das Individuum daher äußerst verletzbar gegenüber eben den Übeln, vor denen es sich zu schützen sucht.

Hat nun Holocaust dieses Verweigerungssyndrom aufgebrochen und damit die Fähigkeit zu trauern, die Fähigkeit, furchtbare Wirklichkeit wahrzunehmen, ermöglicht? Der überwiegende Teil des deutschen Volkes habe der Verfolgung der Juden entweder Beifall gezollt oder sie einfach hingenommen und damit gleichsam entschuldigt. Nur wenige einzelne Stimmen hätten sich gegen die Verbrechen erhoben. Ein solches Phänomen belaste auch die nachfolgenden Generationen, die sich kollektiver Verantwortung nicht entziehen könnten. Gegenüber den Todeslagern versagten die gewohnten moralischen Kategorien, aber die Tatsache, daß die normalen psychologischen Begriffe nicht genügten, um das Geschehnis zu begreifen, sei kein ausreichender Grund, der Vernichtung der Juden mittels abwegiger Ab-wehrmechanismen die Gültigkeit abzusprechen. Die Verschleierung der Vorgänge wurde von den Nationalsozialisten (allein schon durch das Wort „Endlösung") praktiziert. Aber selbst ein Wort wie „Holocaust“, das auf affektive Weise moralisches Bewußtsein bei vielen Menschen herstellte, sei gefährlich; denn mit ihm — ursprünglich „Brandopfer", der Sprache der Psalmen entstammend — würden durch dessen bewußte und unbewußte Konnotationen völlig falsche Assoziationen zwischen dem gemeinsten aller Massenmorde und antiken Ritualen von tiefreligiösem Charakter hergestellt. Gebrauche man ein Wort mit einer so starken religiösen „Unterströmung", wenn man vom Mord an Millionen Juden spricht, so beraube man die Opfer dieses abscheulichen Massenmordes des einzigen, was ihnen geblieben ist: ihrer Einmaligkeit Den gefühllosesten, brutalsten, häßlichsten, ruchlosesten Massenmord ein „Brandopfer" zu nennen, heiße, sich eines Sakrilegs, einer Profanierung Gottes und des Menschen schuldig zu machen.

Der Rückzug in das Schweigen angesichts unfaßbarer Leiden und unfaßbarer Verbrechen würde aber das Feld jenen überlassen, die das Geschehene verfälschen, die der Welt ein trügerisches Bild von einem der tragischsten Kapitel der jüngsten Geschichte vermittelten. Damit werde dem nachdenklichen Menschen der Weg zu der Einsicht verstellt, welche Verhaltensweisen er entwickeln müsse, um zu verhindern, daß sich das Geschehene je wiederhole. Trauerarbeit: das bedeute nicht nur das Einmalige des Verbrechens zu erkennen, sondern die Wiederholbarkeit des Einmaligen zu befürchten. Denn der Abgrund der Todeslager sei die Machtergreifung der zerstörerischen Mächte im Menschen. Wer das Wesen der Todeslager und ihre Auswirkungen nicht voll erfasse, schrecke davor zurück, den destruktiven Tendenzen im Menschen ins Auge zu sehen. „Nichts kann uns eine klarere, gründlichere Erkenntnis der Übel des Totalitarismus verschaffen, als wenn wir uns im Geiste den Millionen Menschen , zugraben', die so grausam, so sinnlos und so leichtfertig vernichtet worden sind. Aufkeine bessere Weise können wir zwischen ihnen und uns ein Band schmieden. Zwar kann es die anderen nicht mehr vom Tode erwecken, aber uns sehr wohl zu einem sinnvolleren Leben."

Trauerarbeit, die vor allem dabei helfen muß, die Folgen, die sich aus der Verweigerung von Faktizität ergeben, zu überwinden, darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß für die „Identitätsgewißheit" des einzelnen wie von Kollektiven „Stolzarbeit“ gleichermaßen notwendig ist. Dieser Ausdruck impliziert die Sehnsucht nach Heimat, nach einem gleichermaßen realen wie geistig-seelischen Raum, der das Gefühl der „Enteignung" nicht aufkommen läßt Selbstbestimmung und Selbstfindung stehen in wichtiger Korrelation zueinander; indem wir auf etwas stolz sind, indem wir „Spuren“ entdecken, denen wir nachfolgen können, entdecken wir die „Fährte" zum eigenen Ich, gewinnen wir Ichstärke. Die Notwendigkeit von Trauerarbeit schließt die Hoffnung ein, auch Stolz empfinden zu „dürfen". Was solche (geistige) Heimat betrifft, so bietet die deutsche Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts genügend Möglichkeit, einen fundierten Standort zu beziehen. Die Tatsache, daß der deutsche Geist von den Nationalsozialisten pervertiert, schamlos mißbraucht wurde, ändert nichts daran, daß es ihn gab, daß er sich in unübertroffenen Manifestationen der Dichtung, Philosophie, Musik und Kunst niederschlug. Stolzarbeit und Trauerarbeit liegen auch hier eng nebeneinander. Indem man sich deutscher Kultur erinnert, muß man beklagen, daß die . Agenturen“, die Stützen und Spitzen der Gesellschaft, die Wegweiser in die falsche Richtung stellten, die Merkmale des deutschen Geistes verdrehten Die Notwendigkeit von Traditionspflege muß begriffen, diese selbst aber von ihrer Fatalität befreit werden. Gerade im 19. und 20. Jahrhundert hat man die Pflege der Tradition als schiere Reproduktion mißverstanden. Die Klassiker wurden zitiert, aber nicht rezipiert. Daß man das Erbe erwerben müsse, um es zu besitzen, war nicht als Erkenntnis, sondern nur als geflügeltes Wort vorhanden. Eine „Stolzarbeit", die auf die deutsche Kultur der Vergangenheit rekurriert, muß affirmative Kultur „aufheben", und das heißt überwinden; zugleich aber muß das aus affirmativer Erstarrung befreite, erlöste Erbe, nämlich der fortschrittliche, der über die erreichte Organisation des Daseins, hinausweisende Charakter dieser Kultur „aufgehoben", und das heißt erhalten und erhöht werden. Die Empfindung des Stolzes darf also nicht „affirmieren", kritiklos bejahen, Anpassung fördern; man muß den jeweils „anderen", alternativen Weg aufzeigen, Grenzen überschreiten, Grenzen transzendieren wollen.

In einem engeren zeitgeschichtlichen Begründungszusammenhang bedeutet „Stolzarbeit'1 vor allem Sozialgeschichte von unten. Viele demokratische und republikanische Ansätze hatten im Laufe der Geschichte zwar nicht Ausdruck im staatlichen System gefunden; sie haben aber ihre deutlichen positiven Spuren im Bewußtsein hinterlassen, im besonderen dazu beigetragen, daß nach 1945 der Weg der Humanisierung beschritten werden konnte. Auch das Positive hat seine Ursachen, hat seine Vorgeschichte. „Spurensuche" und „Spurensicherung" in diesem Sinne sind eine wichtige Aufgabe politischer Bildungsarbeit.

Auf eine eigenartige, in Ansätzen sehr interessante, insgesamt aber wohl mißlungene Art hat Hans-Jürgen Syberberg mit seinem mehrstündigen Hitlerfilm versucht, Trauer-und „Stolzarbeit" miteinander zu verbinden; er verfällt jedoch selber dem, was der Nationalsozialismus so perfekt inszenierte: der Ästhetisierung der Barbarei.

In seinem Buch „Hitler. Der Führer und das Volk” kommt J. P. Stern, indem er auf detaillierte Weise der Persönlichkeit und Sprach-struktur Hitlers, den geistigen Wurzeln des Nationalsozialismus, seiner Weltanschauung, im besonderen der Ideologie des Willens und des Rassenhasses, den Methoden der Propaganda, den psycho-religiösen Obsessionen, dem Führerkult nachspürt, zu dem Ergebnis, daß Hitler einen zur Macht gelangten Künstler-Politiker verkörpere (der seine Politik bewußt nicht als Ausfluß einer Moral, sondern einer neuen Ästhetik darbot) Eine derartige Ästhetisierung der Barbarei" reüssierte, da im Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts Ästhetik (bei Schiller noch die Einheit von Stoff und Form, Sinnlichkeit und Moral) sowieso „heruntergewirtschaftet“ war. Friedrich Nietzsche hat in . Also sprach Zarathustra" solches „verkleckste", diffuse, eklektische, aus lauter Versatzstücken zusammengesetztes „Künstlertum", das „Land der Bildung" insgesamt als „Heimat aller Farbentöpfe" bezeichnet (die Nationalsozialisten pinselten daraus ihre Pseudomythen zusammen!): „Ich lachte und lachte, während der Fuß mir noch zitterte und das Herz dazu:, Hieristja die Heimat aller Farbentöpfe!'— sagte ich. Mit fünfzig Klecksen bemalt an Gesicht und Gliedern, so saßet ihr da zu meinem Staunen, ihr Gegenwärtigen! Und mit fünfzig Spiegeln um euch, die eurem Farbenspiele schmeichelten und nachredeten!"

Zu solchem pervertierten Künstlertum gehört der Mythos vom Künstler als säkularisiertem Heilspender — Erlösung verheißend. Aus diesem Grunde erweist sich auch die Ästhetik seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als die große Fluchtbewegung der bürgerlichen Gesellschaft; angesichts materieller (materialisierter) Obsessionen sucht sie in der Kunst Enthebung. Hitler als Künstler-Politiker erscheint als Inkarnation entsprechender Projektionen. „Die Verkörperung dieser Erlösung finden sie im messianischen Führer. Je totaler und . religiöser' oder (um eines von Hitlers Lieblings-worten zu gebrauchten) . fanatischer'die Forderungen sind, die er an sie stellt, undje kompromißloser sein Ruf nach den kriegerischen Tugenden des Gehorsams, der Härte und der Selbstaufopferung, um so sicherersindsie, daß seine Berufung aufeine vom . Herrgott'verliehene Autorität und aufden . historischen'Charakter seiner Sendung authentisch, daß er der wahre Messias ist. In einer Zeit, der es weitgehend an gültigen religiösen Dogmen und auf Loyalität beruhenden gesellschaftlichen Institutionen gebricht — in einer unerfreulichen Zeit des geistigen Chaos und der materiellen Not —, wird sein messianischer Glaube als anachronistisch im doppelten Sinne, als zugleich rückwärtsgewandt und utopisch erfahren und begrüßt.

Je weiter das messianische Bild sich vom Status quo entfernt, der die unmittelbare Quelle der Unzufriedenheit ist, desto mehr wird es zu einem Objekt des Glaubens undzu einem starken Faktor gesellschaftlicher Integration."

Politische Psychotope

Der Erlebniskomplex bzw. Erlebnisknotenpunkt, der Erinnerungseindruck oder -abdruck, welcher Subjektives und Objektives, Bewußtes und Unbewußtes, Faktisches und Symbolisches, Stoffliches und Strukturelles beinhaltet, der das Lernen aus den „Geschichten“ zur Geschichte hinführt, aus individueller Erfahrung heraus Geschichte in ihrer aufklärenden Bedeutung erfahren läßt — eine solche Erlebnis-Historiographie auf psychohistorischer Basis hat auch ihre psychotopische Dimension. Deutlich werden auf diese Weise zum Beispiel die regionalen Einfärbungen bestimmter Vorurteile, Denk-und Handlungsmuster, zum anderen auch ganz spezifisch-topographische Besonderheiten. Eine regional bezogene Nationalsozialismus-Forschung ist erst im Entstehen. Der überschaubare Raum einer Stadt, einer Provinz ist in einem ganz besonderen Maße geeignet, der Selbstanalyse dienlich zu sein. Man muß „vor Ort" bleiben, kann sich da weder ins allgemeine flüchten, noch — angesichts der Herausforderung des Spezifischen — so tun, als ob die anderen mehr, man selber weniger betroffen sei. William Sheridan Allen hat mit seiner bereits 1966 erschienenen politgeographischen Studie „Das haben wir nicht gewollt. Die nationalsozialistische Machtergreifung in einer Kleinstadt 1930— 1935" diese Betrachtungsweise maßgebend beeinflußt. Der Namen des Ortes sowie die Namen der handelnden Personen sind fingiert, verfremdet; ansonsten handelt es sich um eine empirische Studie. „Schlägt man in einem Atlas eine Karte von Mitteleuropa auf und setzt den Finger etwa in die Mitte des Deutschland von 1937, dann besteht durchaus die Möglichkeit, daß man auf Thalburg, eine Stadt im früheren Preußen, stößt. Zur Zeit der Weimarer Republik war es immer noch eine Kleinstadt mit ungefähr zehntausend Einwohnern. Damals gab es in Deutschland etwa tausend Städte dieser Größe und jeder siebte Deutsche lebte in einem solchen Ort“ Thalburg ist Prototyp der deutschen Kleinstadt; sie zeigt seine innere und äußere Topographie. Der Ort schmiegt sich an eine Reihe bewaldeter Hügel; das Tal ist nur einige Kilometer breit, der Ort erhält dadurch etwas Geborgenes, Abgeschlossenes, vor der Außenwelt Geschütztes. Von den Hügeln über der Stadt sieht man die Haupt-strecke der nach Norden führenden Eisen-bahnlinie; ein Teil der Stadt ist mit Mauer und Graben umgeben; dahinter liegen winkelige Straßen und Kopfsteinpflaster, saubere Fachwerkhäuser mit Ziegeldächern. . Jede Haus-front ist durch die Balken des Fachwerks geometrisch aufgegliedert. Die oberen Stockwerke sind von kleinen, unregelmäßig angeordneten Fenstern erhellt, und darüber die steilen Dächer, die mit ihren verwinkelten Giebeln und den Schornsteinen eine abwechslungsreiche Silhouette bieten." Außerhalb des mittelalterlichen Stadtkerns liegen Mühlbach und Getreidemühle, kleine Einfamilienhäuser, der Schützenplatz für Bälle, Feste und Massenversammlungen, einige industrielle Unternehmungen, gemäßigt-feudale Villen für die Honoratioren. Seit 1900 gibt es Abwasser-kanalisation. Auf dem Markt wurde für neuntausend Mark ein Brunnen mit der Bronzestatue des alten Grafen von Thalburg errichtet; das Kriegerdenkmal erhielt eine bronzene Germania. 253 Thalburger fielen im Ersten Weltkrieg für „Deutschlands Ehre“. Das harmonische Bild trügt: Die Wahlstatistik zeigt harte Gegensätze. Bei der Reichspräsidentenwahl des Jahres 1925 erhielt der Kandidat der Sozialdemokraten und des Zentrums 2 080 Stimmen, Hindenburg 3 375, der kommunistische Kandidat 19 Stimmen. „Obwohl Thalburg aussah wie eine Stadt aus dem Bilderbuch und der Welt scheinbar so fern lag, fanden sich in dieser Kleinstadt all die gegensätzlichen Überzeugungen und Spannungen der Weimarer Republik.“ Die alten Thalburger — familiär vielfach miteinander verbunden — schauen überheblich auf die Zugezogenen herab; Bürgertum und Proletarier sind klar geschieden; die Arbeiterschaft bildet eine Subkultur, die patriarchalisch gegängelt wird. Das gesellschaftliche und kulturelle Leben spielt sich in einer Reihe von Vereinen ab: Es gibt sieben bürgerliche und einen Arbeitergesangverein, die „Liedertafel" als Verein der Oberschicht; ferner Sportvereine, Schützengilde und Gartenbauverein, Stammtisch und Bier-verein mit nationalem Anspruch — insgesamt 161 verschiedene Vereine. Ein kleinstädtisches Idyll — am Horizont steht jedoch das Unwetter der Wirtschaftskrise: „Der durch-schnittliche Thalburger sah sich als Nachkomme der mittelalterlichen Spießbürger: ruhig, uninteressiert an großen Problemen, zufrieden mit dem Leben, angenehm erfüllt mit gutem Essen, bescheidenen Hoffnungen und der Überzeugung, daß eine überschaubare Ordnung herrsche. Am Sonntag waren die Thalburger gewohnt, nach Tisch einen Familienspaziergang in die gepflegten alten Wälder oberhalb der Stadt zu unternehmen und langsam über die sauberen Wege zu Aussichtspunkten zu schlendern, wo sie über das Gradtal zu den dunstigen Hügeln im Westen hinüberblicken konnten. Wenn dann das sonntägliche Mahl verdaut war, kehrten sie in die schmucke Stadt mit ihren mittelalterlichen Häusern zurück. Die Umgebung verlieh ihnen ein Gefühl für die Kontinuität des Lebens; alten Gewohnheiten durfte und konnte man vertrauen; Stabilität war ebenso wünschenswert wie rechtmäßig. Doch im Jahr 1930 erschütterte eine neue Furcht die Stadt, denn die Weltwirtschaftskrise verbreitete sich, und die stürzenden Kurse an der New Yorker Börse zogen sogar diese abgelegene Tal in Mitleidenschaft." Überdeckte und verdrängte Aggressivität bricht auf. Frustration gebiert Angst. Spießerliches Wohlwollen ist verflogen; Haß und Neid breiten sich aus. Handgreifliche Auseinandersetzungen prägen das politische Leben, das in Saal-und Straßenschlachten gipfelt. Versager und gescheiterte Existenzen aus bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Familien stellen sich an die Spitze der Bewegung. Die SA beginnt zu marschieren. Das kleinstädtische Pflaster liefert Wurfgeschosse; Messer, Totschläger, auch Pistolen gehören zur Standardausrüstung der politisch-militanten Gruppen; aus einer verschlafenen Provinzstadt wird Thalburg zu einem Zentrum explosiver Gewalttätigkeit. Auf die wenigen Juden fixiert sich das Bedürfnis nach aggressiver Enthemmung.

Das Institut für Zeitgeschichte in München hat mit den Forschungsprojekten „Widerstand und Verfolgung in Bayern 1933 bis 1945“ und >Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1933 bis 1945. Geschichte und Zerstörung" wichtige Beiträge zur Geschichtsschreibung „von unten" mit regionaler Begrenzung und exemplarischer Auswahl unterschiedlicher sozialkultu-reller „Milieus" wie politisch-gesellschaftli-cher Lebensverhältnisse geleistet. Mehr als Jie „große" Nationalgeschichte des Ereignis-und Entscheidungshandelns ist solche „Betrof-fenheitsgeschichte" geeignet, unmittelbar an das historische Erinnerungs-und Erfahrungspotential der Zeitgenossen anzuknüpfen und Zeitgeschichte lebendig zu vermitteln. Der Rahmen, den die Theorie oder die allgemeine Geschichte längst gezogen hat, wird mit wirklichem Leben erfüllt Dazu Golo Mann: „Das Prinzip: Fort von den Zentren, von Berlin, von München, von den Ministerien und Staatskanzleien; hin zur Wirklichkeit des Lebens und Erlebens in derProvinz, in Kleinstädten, Marktflecken, Dörfern. Hin zur Bevölkerung, die kaum je etwas entschied, die Vorgeschriebenes tat oder nicht tat, sich anpaßte oder Widerstandleistete, die reagierte undanderswo gemachtes Schicksal erlitt Das Prinzip erzwingt methodisch ein exemplarischesAuswahlverfahren. Nicht nur Schauplätze in der Provinz', auch die Münchner Kammerspiele sind Gegenstand einer exemplarischen Geschichte, einer Fallstudie; und eben Fallstudien werden, mit Ausnahmen, in beiden Bänden vor allem geboten.

Unvermeidlich ist das Werk strukturalisch aufgebaut, obgleich ohne Dogma; die historischen 'Ereignisse', die vorkommen und erzählt werden, sind gefiltert durch ihre lokale Erscheinungsweise, und das Schicksalsbestimmende erscheint so, wie es sich im Denken und Fühlen der Menschen spiegelt. Nie wird vergessen, daß Strukturen, industrielle, landwirtschaftliche, regionale, kommunale, kirchliche, kulturelle, von lebenden Menschen getragen werden. Eben darum lesen alle Beiträge sich mit nicht erlahmendem Interesse. Ausführlich sind sie, aber bekanntlich ist nur das Ausführliche interessant. Vorbildlich die Genauigkeit, Gründlichkeit, abwägende Gerechtigkeit der Autoren, dort, wo sie kommentieren oder Dokumente auswählen; keiner erlaubt sich, den Emotionen, die sie doch alle beim Gegenstand ihrer Arbeit erfahren mußten, Ausdruck zu geben.“

Exkurs über den fränkischen Nationalsozialismus

Nehmen wir zum Beispiel Forstmeister B. aus K., Ortsgruppenleiter. Fast jeden Sonntag im Saal der renommierten Gaststätte — bei irgend einer Gedenk-, Feier-oder Propagandastunde — wutschäumender Aufruf zum Kampf gegen „Alljuda". Zur Mittagsessenszeit wurde er (in späteren Jahren, bei Kriegsbeginn) von einem blondhaarigen und blauäugigen Hitlerjungen als Adjutant (Adju nannten ihn die vom BDM und kicherten) vom Büro abgeholt und zur Wohnung gebracht. Drinnen waltete die als sehr feinsinnig gepriesene Hausfrau — die Frau Forstmeister; man sah sie selten; im Sommer sowieso nicht; da waren die Jalousien stets zur Hälfte heruntergelassen. Wenn er gegen . Alljuda" wetterte und gegen das jüdische Ungeziefer, das sich da überall ausgebreitet habe und das es nun zu vernichten gelte, durfte man ihm nicht zu nahe kommen; die Zähne waren schadhaft bzw. ausgefallen; und der ärztlichen Behandlung ging er aus dem Weg. Im Weltkrieg habe er, so hieß es, eine wichtige Aufgabe in der Etappe zu erfüllen gehabt; man wunderte sich, daß er kein Eisernes Kreuz trug. Es waren wenige Juden im Ort; einige emigrierten; einige verschwanden. Man kümmerte sich nicht um sie. Bekämpft wurde das internationale Judentum, das — einer Pest gleich — alles verseuche.

Nehmen wir zum Beispiel den Oberlehrer Knöchlein, der im obersten Stockwerk eines schönen alten Hauses in der E. -Straße in N. wohnte; einige Zimmer hatten geschrägte Wände, gerade deshalb war es so gemütlich dort. Auf seinem Schreibtisch standen einige Fotos; zwei Söhne in Uniform; fünf Bleistifte gespitzt, genau ausgerichtet; ein Stoß Hefte, exakt aufeinandergeschichtet; zwei Kaktusstöckchen. Im Bücherschrank Bücher und Mokkatassen. Ein zerbeulter Stahlhelm an der Wand; von Verdun. Die Schüler kannten die Wohnung ziemlich gut, denn immer, wenn die Ferien kamen, schleppten sie die Blumentöpfe aus dem Klassenzimmer in die Oberlehrer-wohnung, wo sie gepflegt wurden. Zu Hause hatte der Oberlehrer eine Raucherjoppe an; aber er rauchte nicht. In der Schule trug er einen braunen Arbeitsmantel, auf dem man weiße und bunte Kreidespuren sah. Die Anzugsjacke hängte er sofort in den Schrank, in dem auch Handtuch und Seife waren; oben auf dem Schrank lag das Spanisch-Röhrchen, mit dem man gelegentlich Hiebe bekam. Häufig waren „Pfötchen"; entweder hielt der Lehrer die Hand des Delinquenten am Daumen fest,! oder dieser mußte sie frei hinhalten; wenn man wegzuckte, mußte der Lehrer Knöchlein sehr lachen; er schlug dann auf die Oberseite der Finger, was schmerzlicher war; so zuckten wenige. — Die Schüler malten, wo der Führer geboren wurde; Braunau mit viel Fachwerk und zwei Türmen; wie der Führer die NSDAP gründete und zum Retter Deutschlands wurde; das Hakenkreuz wurde öfters umgekehrt gezeichnet; da mußte man es wegradieren. Nach der Heimatkunde das Singen; er hatte eine volle Stimme — „Wem Gott will rechte Gunst erweisen ... Oberlehrer Knöchlein war deutsch-national; aus alter Lehrerfamilie. Als man den Juden im November 1938 die Läden zerschlug und die Wohnungen verwüstete, als die Kinder sich ängstlich an dem aus den Fenstern geworfenen, zerschellten Mobiliar vorbeidrückten — in vielen Häusern waren die Türen aus den Angeln gerissen und die Fensterscheiben zersplittert —, am Morgen auf dem Weg zur Schule trafen sie „ihren“ Oberlehrer; da fühlten sie sich wieder geborgen. Und er muntert sie auf und lachte jovial, strich seinen Schnurrbart. Vor einem Haus lag ein Haufen Federn, der beim Vorbeigehen auf-stiebte; aus einem aufgeschlitzten Inlett herausgequollen war. Haben die doch heute nacht ein bißchen Frau Holle gespielt, meinte er; und er zupfte einem Jungen den Tafellappen zurecht, der beim Zumachen der Mappe eingeklemmt worden war und nun wieder wie ein Fähnchen herunterhing. Und er lachte nochmals und in der Heimatkunde erzählte er, wie dem Führer erstmals in Wien über Alljuda die Augen aufgegangen seien

Zwei kleine Portraits aus dem Fränkischen — dem fränkischen bürgerlichen „Heldenleben". Personen, längst verweht. Die Spuren mittlerer und kleiner Unmenschlichkeit längst verwischt. Man sollte sie sichern. Nicht der Schuldigen wegen. Im Gedenken an die Opfer. Und zum Nachdenken — damit sich solches nicht mehr ereignet.

Kann man Forstmeister B. und Oberlehrer K auf ein fränkisches Psychoprogramm hin entschlüsseln? Gibt es einen fränkischen Typus der nationalsozialistischen Unmenschlichkeit? Ist hier die Banalität des Bösen anders gewesen — zeigen sich neben quantitativen vor allem auch qualitative Unterschiede? Der Nationalsozialismus in Franken ist hinreichend erforscht — so wie es Untersuchungen über Schleswig-Holstein, Hamburg, Pommern, Niedersachsen, Südbyern gibt. Wodurch aber unterschied sich der fränkische Nationalsozialismus vom allgemeinen Erscheinungsbild? Wie ist das fränkische Psychotop zu beschreiben?

Die Franken, wie sie uns mit Forstmeister B. und Oberlehrer K. entgegentreten, sind gutbürgerlich: Das sekundäre Tugendsystem ist intakt. Es sind, was allerdings eine strukturelle, keine regionbezogene Aussage ist, „autoritäre Persönlichkeiten". Die historische und soziologische Struktur Frankens bot einen besonders guten Wurzelboden für das Gedeihen der autoritären Persönlichkeit. Das zeigen zwei statistische Feststellungen: 1928 lag der Reichstagswahlkreis 26 (Franken) mit seinem NS-Wahlergebnis an der ersten Stelle im Reich; 1932 konnte Hitler eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung in einzelnen Bereichen Mittel-und Oberfrankens für sich gewinnen (und zwar dort, wo eine starke, durch die Weltwirtschaftskrise ausgelöste ökonomische und politische Unsicherheit vorherrschte und wo eine mittelständische Sozialschicht sowie eine möglichst einheitliche evangelische Einwohnerschaft gegeben waren).

Rainer Hambrecht, dem eine gründliche und umfassende Darstellung des . Aufstiegs der NSDAP in Mittel-und Oberfranken, 1925— 1933" zu danken ist, stellt fest:

Für die Geschichte der NSDAPgewann Franken — besonders in Nfittelfranken und Ober-franken — zwischen 1920 und 1933 eine Bedeutung, die weit über den numerischen Anteildieser Region an der Reichsfläche und -bevölkerung hinausging. ... Ihre ersten Anhänger fand die fränkische NSDAP im unteren Mittelstand der Städte und Kleinstädte, bei den kleinen Gewerbetreibenden, Händlern, Handwerkern und Beamten. Etwa ab 1929 gewann sie den ländlichen Mittelstand, die Bauern, hinzu. Größere Einbrüche in die Schicht derArbeiterschaft gelangen nicht. Da sich die erwerbslosen Arbeiter — anders als lange Zeit ^genommen — im großen und ganzen politisch wie ihre erwerbstätigen Kollegen verhielten, können sie nicht für den politischen Erdrutsch von 1930 verantwortlich gemacht Werden. Auch in Franken trugen sie nur mittelbar zum Aufstieg der NSDAP bei, indem sie das verunsicherte Bürgertum allein durch ihre Existenz derHitlerbewegungin dieArme trieben.“

Das Soziogramm Frankens, das uns das Psychotop „Franken“ verstehen läßt, ist wie folgt zu beschreiben (ich folge hier weiterhin Rainer Hambrecht): — Die vielen reichsstädtischen und -ständischen Herrschaften hinterließen einen tief eingewurzelten Reichspatriotismus, der, zum Nationalsozialismus gewandelt, in Mittel-und Oberfranken in der Regel weit vor dem bayerischen Staatsbewußtsein rangierte. Man fühlte sich als Anwalt der Reichsinteressen, im, wie man meinte, separatistische Ziele verfolgenden Bayern. Der Name Bayreuths mag stellvertretend für eine in Mittel-und Ober-franken weitverbreitete Geisteshaltung stehen. Zusätzlich wähnte man sich durch den bayerischen Zentralismus nicht seiner Bedeutung gemäß wirtschaftlich und kulturell gefördert und zugunsten Münchens und Südbayerns benachteiligt. — Da in Mittelfranken fast überall ein einigermaßen einträglicher Ackerbau möglich war und kein Anreiz von Bodenschätzen ausging, fehlte der äußere Zwang zur Industrialisierung. Impulse dazu gab allein Nürnbergs mittelalterliche Tradition einer bodenständigen Kleineisenindustrie, die sich im 19. Jahrhundert zu einer leistungsfähigen Großindustrie weiterentwickelt hat Die Menschen im westlichen und südlichen Mittelfranken fanden ihren Lebensunterhalt ausschließlich auf dem Agrarsektor. Im Unterschied dazu erlaubten die natürlichen Grundlagen Oberfrankens nur in den südlichen und westlichen Landesteilen eine einigermaßen lohnende landwirtschaftliche Bodennutzung. Die Bedingungen zwangen die Bevölkerung im Fichtelgebirge und Frankenwald schon frühzeitig, sich neben der Land-und Forstwirtschaft nach einem zusätzlichen Erwerb umzusehen. So entstand eine dezentralisierte, auf Heimarbeit basierende Textil-, Korbwaren-und Spielzeugindustrie neben einzelnen Glashütten, Keramikwaren und großen Steinbrüchen. Diese Struktur begünstigte keine Entwicklung, die über eine Mittel-und Kleinindustrie hinausgegangen wäre. Sie erklärte auch die erhöhte Krisenanfälligkeit inmitten einer sich zunehmend mechanisierenden Volkswirtschaft. — Der Anteil der Klein-und Mittelstädte in Mittel-und Oberfranken war erheblich über dem Durchschnitt; von der Größenordnung her gesehen bewegten sich die meisten in der unteren Hälfte ihrer Klasse. Diese statistische Tatsache erklärt sich aus dem fränkischen Territorialismus, der zahlreiche Zentren und Subzentren ausbildete, die nach der Eingliederung in den bayerischen Staat durch die verschiedenen Verwaltungsreformen ihre Mittelpunktsfunktion verloren und absanken. Der Charakter der Kleinstädte war geprägt durch eine überwiegend mittelständische Bevölkerung von Kleinhändlern, Handwerkern und Beamten.

Kleinstadt. Krähwinkel. Der fränkische Schoß war fruchtbar. Innerhalb verwinkelter Historismen verbauten ökonomischer und politischer Nationalismus den Weg in eine urbane Humanität. Rassismus und Antisemitismus gediehen beim Bier der bösen Denkungsart; in muffigen Hinterstübchen tradierter Ressentiments (bereits vor dem Ersten Weltkrieg zählte Nordbayern zu den Hochburgen des Antisemitismus!) kultivierte man Biologismus, Antiliberalismus und Antidemokratismus; stubenhockerische Frustration sehnte sich nach dem totalen Führerstaat, wo der Marktplatz noch etwas wert war und im Saalbau aggressive Tiraden Abreaktion ermöglichen.

Das Nesthockeridyll — nicht mehr das Idyll auf dem Grunde der Schwermut (wie es das fränkische Biedermeier in seiner frugalen Besinnlichkeit darstellt), sondern das unheimliche Idyll, die „Gartenlaube", in der man auf dem Polster der Platitüde dahindämmert, unterbrochen von den Zuckungen der Aggressivität — sehen wir zum Beispiel „im Spiegel vertraulicher Berichte“ vor uns, wie sie uns aus dem „Bayern in der NS-Zeit" erhalten sind. Da heißt es etwa im Lagebericht des Regierungspräsidenten von Ober-und Mittelfranken vom 10. Oktober 1935: „In verschiedenen Gemeinden um Hersbruck wurden Bauern, die ihren Hopfen an jüdische Händler verkauft hatten, mit umgehängten Plakaten als Volksverräter gebrandmarkt, durch die Ortschaften geführt In Wittelshofen, Bezirksamt Dinkelsbühl, weigern sich die Einwohner, an die dort noch ansässigen 15Juden irgendwelche Lebensmittel abzugeben, so daß diese sich vollständig von auswärts versorgen müssen.“

Nesthockeridyll. Das Idyll ist die Stunde der Ambivalenz.

Franken ist Psychotop für die Aporie der deutschen Provinz. „Aporie" der Provinz: das bedeutet „Ratlosigkeit", ja Unmöglichkeit, eine Ortsbestimmung „eindeutig", „richtig“ vorzunehmen. Die Ungleichzeitigkeit der Provinz (nach Ernst Bloch die für die deutsche Geschichte charakteristische widersprüchliche Koexistenz von entfalteten kapitalistischen oder industriellen und mitgeschleppten vorkapitalistischen, agrargesellschaftlichen Produktionsverhältnissen und Ideologien) bewirkt die Gleichzeitigkeit divergierender Urteile — sowohl Sehnsucht als auch Abneigung, Faszination wie Abstoßung signalisierend.

Der Mutterboden der Provinz gibt aber auch — und das ist in Franken und an den Franken immer wieder erlebbar — Kraft fürs Fortschreiten und Weggehen aus der Kleinheit und Kleinlichkeit der Lebens-und Geistesverhältnisse. Das gilt zumal vom Psychotop „Nürnberg". Das Lied vom braven Mann kann hier häufiger angestimmt werden. Im besonderen auch, wenn man an den bürgerlich-republikanischen Oberbürgermeister denkt, der in der Weimarer Republik für diese Stadt einen ganz besonderen Glücksfall darstellte: was die Leistungen seiner amtlichen Tätigkeit wie die moralisch-politische Integrität seiner Person betrifft Hermann Hanschei schreibt in seiner Studie über die Nürnberger Kommunalpolitik in der Weimarer Republik „Oberbürgermeister Hermann Luppe“: „Seinen Fähigkeiten und seiner starken Persönlichkeit nach ist Luppe ganzzum Typus des . großen'Oberbürgermeisters zu rechnen. Initiative, Entschlußkraft und fachliche Tüchtigkeit waren ihm in hohem Maße zu eigen und er meisterte sein Amt mit der vom großen Oberbürgermeister geforderten Verbindung von kühlem und nüchternem Verwaltungsverstand mit Einfallsreichtum und schöpferischer Phantasie.

Was sich hinter einer solchen Würdigung an menschlicher Kraft und fachlicher Kompetenz verbirgt wird erst ganz deutlich, wenn man Luppes Leistungen auf dem Hintergrund der Aktionen sieht, die im Stadtrat und außerhalb davon von den Nationalsozialisten gegen ihn und die ihn tragenden Parteien betrieben wurden. Luppe hatte einen „Gegenspieler", wobei die Bezeichnung „Gegenspieler" diesem eigentlich zu viel Ehre antut, der zu den Typen gehörte, die das nationalsozialistische „Reich der niederen Dämonen"

hervorgebracht hat: Julius Streicher. Das, was uns beim Psychotyp „Franken" und „Nürnberg“

zu tiefst beunruhigen muß, ist nicht die Tatsache, daß hier ein (dem Lehrerstand entstam! mender) „Politiker" auftrat, dessen Psychogramm nur sexual-bzw. sozialpathologisch zu deuten ist, sondern daß dieser Mann als „Frankenführer" weitreichende Resonanz fand. Gerade in Franken. Und in dieser Stadt. Zwar ging Streichers Kampfweise, die in ständigen Verleumdungen und Infamien bestand, manchmal selbst Nationalsozialisten zu weit, aber die „Volksseele" war keineswegs immun gegen das, was an Bösartigkeit und Verhetzung sytematisch ausgesät wurde. Hermann Hanschei schreibt:

Streicher gelang es, auch Anerkennung rechtskonservativer seriös-bürgerlicher Kreise zu gewinnen. Sie mochten seinen Antisemitismus und die Art seines Kampfes wohl unfein finden, sahen in ihm aber vor allem den fanatischen nationalsozialistischen Kämpfer, dem man die Wahrung vaterländischer Interessen zubilligen mußte, die man einem Luppe absprach. In Streicher den Trommler für eine letztlich nationalkonservative Sache zu sehen, das war ein Irrtum, der sich ebenso rächen sollte wie im Falle Hitler. Beispielhaft für die Sympathien, die Streicher und der Nationalsozialismus in den rechtskonservativen Kreisen des sogenannten . besseren 'Bürgertumsgenoß, var die Haltung des renommierten . Fränkischen Kurier

Um das Ausmaß solcher abgründiger Kultur-Heuchelei zu erfassen, muß man die unflätigen Ausgaben des „Stürmer" parallel zu den Ausgaben dieser auf kulturelles Erbe und politische Tugendhaftigkeit pochenden bürgerlichen Gazette lesen. Und dann auch die sozialdemokratische „Fränkische Tagespost", die ihren Kampf gegen Streicher und Konsorten unter erschwerten Bedingungen nicht aufgab — bis sie verboten wurde. -wei „Szenen“, welche die Polarität der fränkisch-nürnbergischen Gesinnung wie Gesittung zu spiegeln vermögen — moralische Kor-ruption wie Integrität gleichermaßen signalisierend — seien noch beschrieben:

Bei der Kundgebung anläßlich des Abbruches der Synagoge 1938 hielt der damalige Ober-bürgermeister Liebel eine Rede. Das nachfolgende Zitat daraus macht auf besonders abgründige Weise deutlich, wie sehr im Nationalsozialismus Kultur und Geschichte als Fassade verwendet wurden, um die Regression in die Barbarei abdecken zu helfen: „Als der Gauleiter von Franken, unser Frankenführer Julius Streicher, mich 1933 nach den Jahren des Kampfes im Nürnberger Rathaus mit der Führung dieser Stadt beauftragt hatte, da gab ich ihm und der ganzen Nürnberger Einwohnerschaft das Versprechen, daß wir alles tun würden, aus dieser Stadt wieder eine wahrhaft deutsche Stadt, das Schatzkästlein des Deutschen Reiches zu machen. Fünfeinhalb Jahre haben wir uns bemüht, dieser uralten, dieser deutschesten aller Städte ihren Charakter wieder zurückzugeben ... Eines aber — was uns schon immer ein Dorn im Auge war— haben wirnoch nicht tun können. Wenn am Reichsparteitag Hunderttausende von Menschen aus dem InundAuslande hierher gekommen sind und die Formationen der Bewegung hierin dieseralten deutschen Stadt marschierten, da mußten wir oft die unangenehme Frage hören: Alles habt ihr gemacht, nur diesen alten staubigen orientalischen Bau da unten, wollt ihr den immer stehen lassen? Da mußten wir sagen, die Zeit ist noch nicht reif. Nun aber, Volksgenossen und Volksgenossinnen, ist die Zeit reif geworden. Die Kleinarbeit ist vorüber. Die Stadt Nürnberg hat ihren alten Charakter wieder erhalten. Nun haben wir den letzten Stein in das Bauwerk der Wiederherstellung Nürnbergs einzufügen, und dieser letzte Stein ist nicht ein Stein zum Aufbauen, er ist ein Stein, der herausgerissen werden muß. Ich meine die Synagoge, die mit Recht in diesen Wochen wieder und wieder als die Schande von Nürnberg bezeichnet worden ist, hier auf diesem wunderschönen, uralten Platz, auf dem das Denkmal von Hans Sachs und die Kirche steht, in der 400 Jahre hindurch die Reichsinsignien und die Reichskleinodien einer vergangenen, großen deutschen Zeit aufbewahrt wurden. Der Platz, der umrahmt ist von den alten Nürnberger Bürgerhäusern, ist verunziert und verschandelt durch diesen Bau der Synagoge, die einstmals ein vom Judengeist durchdrungener Magistrat hieran dieserStelle des alten Nürnberg erbauen ließ ... Ich bitte Sie, das Wahrzeichen der Judenherrschaft in Nürnberg, die Hauptsynagoge, nunmehr dadurch dem Erdboden gleichzumachen, daß Sie das Zeichen zum Beginn des Abbruchs geben, und ich verspreche Ihnen, daß bis zum Beginn des Reichs-35 Parteitages 1938 die Synagoge verschwunden sein wird.“

Der Frankenführer und Gauleiter Julius Streicher gab dann „das Zeichen", wobei er diejenigen, die einst — auch als Sühne für frühere Verbrechen an Juden in dieser Stadt — das jüdische Gotteshaus errichtet hatten, beschimpfte und ankündigte, daß bald die Zeit kommen werde, in der einmal „die Judenfrage in der ganzen Welt radikal gelöst" werde. — Die Reden des seinerzeitigen Oberbürgermeisters wie des „Frankenführers" verweisen expressis verbis und zwischen den Zeilen freilich auch auf das andere, das ganz andere Nürnberg (das andere Deutschland): die Zeit sei lange nicht reif gewesen ... ein vom Juden-geist durchdrungener Magistrat...

In dieser Stadt haben in der Tat viele das Verbrechen nicht nur nicht gebilligt, sondern Widerstand geleistet bzw. Widerstand zu leisten versucht — auch wenn er oft zu spät kam oder in den Mechanismen eines totalitären Regimes sich festlief oder von diesem im Keim erstickt oder nach erster Ausprägung niedergewalzt wurde. Erinnert sei in diesem Zusammenhang etwa an die tapfere Haltung des damaligen Rektors des Predigerseminars in Nürnberg, Julius Schieder, und im besonderen an eine Szene aus dem Jahre 1934, die einen viel erfreulicheren Topos für das Nürnbergische Mentalitätsmuster im Dritten Reich abzugeben vermag: „Schieder war es, der mit Helmut Kern und Eduard Putz am 7. Mai 1934 zur Bildung einer nicht kirchenpolitischen Pfarrerbruderschait mit Laienkreisen aufrief. Führend beteiligteet sich am Pfingstmontag, 21. Mai 1934, an der ersten Zusammenkunft der Pfarrerbruderschaft in Rummelsberg und blieb ihr eng verbunden. Auch sonst war Schieder der selbst-'verständliche Sprecher der Nürnberger Pfar- 1 rerschaft, als am 15. September 1934 der stell-'vertretende Gauleiter Holz in Nürnberg die Ehre des Landesbischofs mit Zeitungsartikeln und großen Plakaten , Fort mit Meiserfangriii. Schieders Protest beim Polizeipräsidenten erreichte die Entfernung der Plakate in der Stadt. Die Gemeinde sah sich selbst angegriffen, ging nach dem Sonntagsgottesdienst in St. Lorenz am 16. September auf die Straße und sang den Schutz-und Trutzchoral: , Eine feste Burg ist unser GottfFür Montag, 17. September, rief die Partei zu einer Großkundgebung aufden NürnbergerHauptmarkt, die den Ruf, Fort mit Meiserf wiederholen sollte. Doch Schieder hatte den Landesbischofnach Nürnberg gerufen und die Gemeinde versammelt Er berichtet: . Während die Parteiformationen mit klingendem Spiel auf den Hauptmarkt zogen, strömten die Massen in die Lorenzkirche. In einigen Minuten war die Kirche bis zum letzten Stehplatz gefüllt. In Heilig-Geist und Egidien mußten Parallelgottesdienste gehalten werden. Meiser zog predigend von einer Kirche zur anderen. Auf dem Egidienberg eine Stunde lang Singen von Chorälen. Am Mittwoch darauf Bekenntnisgottesdienst in fünfzehn Kirchen, die alle überfüllt waren. ’“

Revisionistische Geschichtsschreibung — Beispiel Diwald

Das römische „Videant consules, ne quid res publica detrimenti capiat" („Die Konsuln mögen dafür sorgen, daß die Republik keinen Schaden leidet!“) bedeutet — übertragen auf demokratische Verhältnisse —: daß jeder Staatsbürger in den Stand versetzt wird, das Konsul-Wächteramt auszuüben. Dazu ist nicht nur ständige Aufklärung von Informationsverschmutzung, sondern auch Ichstärke notwendig. Diese Ichstärke schließt kritische Sympathie zu dem ein, was positiv unsere staatliche und gesellschaftliche Wirklichkeit ausmacht; die Möglichkeit, es anders, besser als in der Vergangenheit zu machen, ist eine große Chance. Daß wir diese Chance haben, ist durchaus ein Verdienst derjenigen, die 1945 von dem Willen beseelt waren, den Thomas Mann in seiner Schillerrede, 1955 in beiden Teilen Deutschlands gehalten, mit durchdachtem Pathos als den Willen zum Schönen, Wahren und Guten, zur Gesittung, zur inneren Freiheit, zur Kunst, zur Liebe, zum Frieden, zu rettender Ehrfurcht des Menschen vor sich selbst beschwor. Diese Möglichkeit, das Leben, den Staat, die Gesellschaft, die Familie, die Schule, die Kirche, die Arbeit, die Parteien, die Verwaltung humaner zu gestalten, ist aber auch Glück, Fortüne. Begreift die Jugend, die, umstellt von Begehrlichkeit und Larmoyanz, oftmals selbst mehr aufs „Frischwärts" denn aufs „Inwärts", mehr aufs Verneinen denn aufs „AufB heben" hin orientiert ist — begreift die Jugend, begreifen wir alle, daß Glück auch Dank, Dank ans Schicksal, abnötigt? Dank dafür, daß es besser geworden ist. Um ein ganz konkretes Beispiel zu geben: Wer vor einigen Jahrzehnten Juden, mit gelbem Stern gekennzeichnet, Schritt um Schritt ihrer Würde und ihrer Lebensmöglichkeiten beraubt, in Staat und Gesellschaft dahinvegetieren sah, Menschen, die — wenn auch noch „gesehen" (mit gelbem Stern markiert und zum . Abschuß" freigegeben) — so „übersehen" wurden, daß man ihren Abtransport und die Kunde von ihrer Liquidierung nicht mehr wahrnahm, wer dies erlebt hat, der wird konkret zu schätzen wissen, daß heute die individuelle wie kollektive, gesellschaftliche wie staatliche Gesinnung und Moral entschieden besser sich darbieten. Dies aber ist nur durch den engagierten Einsatz derjenigen möglich geworden, die 1939— 1945 militärisch den Nationalsozialismus nieder-zwangen, und derjenigen, die nach 1945 die . Dreckarbeit" der Reform leisteten. Die fatale Kontinuität deutscher Geschichte ist auf Dauer zu durchbrechen; es muß in diesem Lande eine Kontinuität der Humanität hergestellt werden — damit Geschichte sich als . redlichste Schutzwehr gegen die Verführung durch plakative Illusion und penetrante Ideologie, gegen die Suggestion der heillosen Heilsversprechung" (Peter Wapnewski) erweist. Die Zunahme von Neonazismus und Rechtsradikalismus wie die Zunahme staatsindifferenter und demokratiefeindlicher Kräfte müssen beunruhigen.

Der in seiner Stärke und Bedeutung unterschiedlich beurteilte Neonazismus bzw. Neofaschismus in der Bundesrepublik stützt sich, soweit er überhaupt argumentativ vorzugehen versucht (und nicht nur triebdynamische Abreaktion zu organisieren sucht), auf die sogenannte „revisionistische" Geschichtsschreibung; die sich als solche geriert, ist — abgesehen von der notorischen Wiederauflage hinreichend bekannter, fälschender bzw. geschichtsklitternder Werke — Spekulation auf die Uninformiertheit des Lesers, zudem infamer Versuch, die vielfach nicht abgesättigte geschichtliche Identitätssehnsucht betrügerisch zu befriedigen.

Häufig vollzieht sich solcher Revisionismus auf der Ebene weltanschaulicher Traktätchen-Literatur. Anders bei Hellmut Diwalds Buch „Geschichte der Deutschen" (Berlin 1978). Es stellt, gerade weil es als seriöse Publikation in Erscheinung tritt, einen besonderen Tiefpunkt des angedeuteten Trends dar. Diwalds wissenschaftlich unsolide, den Nationalsozialismus verniedlichende, seine historische Sendung behauptende, bis ins Bildmaterial hinein sich apologetisch gebende Geschichtsschreibung, die Souveränität, mit der dieser universitäre Historiker zeitgeschichtliche Forschung mißachtet, bedeuten angesichts ihres Erfolgs eine ganz besondere Herausforderung an eine politische Bildungsarbeit, welche Demagogie durch Information und ethische Substanzlosigkeit durch das Bemühen um einen werte-orientierten Wahrheitsbegriff zu überwinden hofft.

Der Verlag solle — meinte Karl Otmar von Aretin in einer Besprechung von Diwalds Buch — den Mut haben, diese Publikation zurückzuziehen. „Es ist ein durch keine Ergänzung zu rettendes, wirres und dummes Buch. Da es aber ein sehr erfolgreiches Buch war und ist, hat der Verlag statt dessen eine 2. Auflage neu herausgebracht (die erste soll 100 000 betragen haben!), wobei drei Seiten des insgesamt 760 Seiten zählenden Werkes eine Korrektur erfuhren. In der „Zeit" schrieb Eberhard Jäckel, daß Diwald, was seine Ausführungen über das 20. Jahrhundert beträfen, die Forschungsergebnisse seiner Kollegen nahezu samt und sonder mißachte. Was er gelesen habe, sage er nicht; sein Buch enthalte nicht eine einzige Literaturangabe, keine Anmerkung, nichts über den Stand der Forschung. Erkennbar sei nur, daß die gesamte in-und ausländische Zeitgeschichtswissen-schäft der letzten 30 Jahren mit all ihren Quellenveröffentlichungen an ihm so gut wie spurlos vorüber gegangen zu sein scheine. Dafür biete er eine endlose Kette von Fehlern und einäugigen Vorurteilen — Dagegen lobte das „Deutschlandmagazin", das Organ der Adenauer-Stiftung, diese „unbequeme Geschichte der Deutschen“. Es wirke hier eine Historikergeneration ohne „Bewältigungsneurose". Aretins Verriß sei mit deutlich sichtbarem Schaum vor dem Mund geschrieben worden; die Kulturredaktion der FAZ habe darauf verzichtet, den Schaum wenigstens nachträglich abzuwischen.

Die Rezeption von und die Auseinandersetzung mit Diwalds Buch läßt folgende Feststellung zu: — Ein skandalöses, methodisch unsinniges und inhaltlich voller Ressentiments steckendes Buch wird von weiten Kreisen nicht nur gekauft, sondern akzeptiert; nach Häufigkeitsmerkmalen zu schließen, hat das Buch besondere Resonanz bei den Geschichtslehrern der mittleren und älteren Generation gefunden; auch unter jüngeren Historikern ist eine positive Resonanz festzustellen; man kann sich in etwa vorstellen, was den Schülern in Zukunft zugemutet wird, wenn ein derart wirres Buch mit herangezogen wird, um im Unterricht neue nationale Ichstärke zu vermitteln. Diejenigen, welchen die „ganze Richtung“ bislang schon nicht paßte (nämlich die Richtung einer aufklärenden, auf schonungslose Aufdeckung der Hintergründe und Vorgänge des Dritten Reiches bedachten Geschichtsschreibung), werden nun durch das Buch eines Universitätsprofessors legitimiert; die sogenannte „revisionistische Geschichtsschreibung“, die die „alliierten Lügen“ über das Deutschland des Dritten Reiches zu korrigieren beabsichtigt, bislang meist nur in Traktätchen und obskuren Pamphlets verbreitet, erfährt eine pseudowissenschaftliche Aufwertung.

— Die Publizistik hat in überwiegendem Maße Diwalds Halbwahrheiten, die schlimmer sind als Fälschungen („Süddeutsche Zeitung"), offen angeprangert; und zwar haben dies fast alle Zeitungen getan, ganz gleich, wo sie politisch stehen. Dies zeigt, daß die deutsche Publizistik nach wie vor „intakt" ist, also von der restaurativen und reaktionären „Welle“ nicht oder noch nicht erfaßt wurde. Es muß freilich vermerkt werden, daß Hellmut Diwald inzwischen zum Leitartikelschreiber der „Deutschen Zeitung“ (jetzt „Deutsche Zeitung — Rheinischer Merkur") avanciert ist. In einem seiner Kommentare schreibt Diwald: „Unser Vertrauen zur Vernunft hat bittere Enttäuschungen hinzunehmen gehabt"; und : „Vielleicht versteht sich das Moralische doch nicht von selbst, wie geglaubt wurde.“ Wie wahr: Sein eigenes Buch zeigt, daß das Vertrauen zur Vernunft, besonders was die Universitäten betrifft, bittere Enttäuschungen hat hinnehmen müssen; auch ist es richtig, daß sich das Moralische nicht von selbst versteht; deshalb muß ein derart unmoralisches Buch wie das von Diwald mit aller Deutlichkeit kritisiert werden. — Die härteste Auseinandersetzung um Diwald ist in der Tagespresse und in den Wochenzeitungen geführt worden; es zeigte sich dagegen, daß der universitär-wissenschaftliche Ton nicht recht taugt, wenn es gilt, unlautere Methoden anzuprangern; zwar gab es einige Auseinandersetzungen um das Diwald-Buch an der Erlanger Universität, ansonsten jedoch hat die Wissenschaft sich vornehm zurückgehalten. Oder sollte es sich um Anpassungserscheinungen an einen Trend halten, der Geschichte keine erhellende, sondern mystifizierende Funktion zuordnet?

Damit die negativen Urteile über das Buch verifiziert werden, seien nachfolgend einige der gravierenden Feststellungen des Mach-werks herausgegriffen; und zwar in der Reihenfolge, wie sie der Seitenzahl nach erscheinen.

Symptomatisch schon die erste Seite der Einleitung (S. 15); es heißt: „Unsere heutige Lage ist mit der Jahreszahl 1945 unlösbar verkettet. Mit ihr verbindet sich der verheerendste Bruch in der deutschen Geschichte. Wir können diese Tatsache inzwischen einigermaßen sachlich registrieren. Im Jahr 1945 riß die historische Kontinuität der Deutschen ab."

Der „Bruch" war nicht verheerend, sondern das, was den Bruch notwendig machte; die historische Kontinuität riß nicht ab, sondern sie knüpfte wieder an das an, was zumindest bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts als demokratische und republikanische Tradition durchaus vorhanden war. Für den Geist dieses Buches ist es insgesamt charakteristisch, daß immer das Jahr 1945 als negatives Schlüsseljahr bezeichnet wird, die Jahre 1933 oder 1939 hingegen weniger mit einem Verdikt belegt werden. Auf S. 16 schreibt Diwald: „Geschichtsschreibung schloß zu allen Zeiten auch eine moralische Bilanz ein. Doch erst nach 1945 trat sie bei den Deutschen in den Dienst einer Selbst-diskriminierung." Der Autor will nicht nur nicht die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, sondern auch nicht die Geschichte der Geschichtsschreibung objektiv zur Kenntnis nehmen; sonst müßte er gerade umgekehrt formulieren. Die deutsche Geschichtsschreibung hat bis 1945 vielfach die „moralische Bilanz" vergessen; sie war, wie die Professorenschaft insgesamt, der Macht hörig; man denke an die Rolle des Historikers im Wilhelminischen Kaiserreich; an die nationalistischen Tendenzen der Professorenschaft in der Weimarer Republik; an ihre deprimierende rassistische Anfälligkeit im Dritten Reich. Eine Geschichtsschreibung ä la Treitschke überwog; die Mommsens waren selten! Erst das Jahr 1945 ermöglichte mit dem Abschied an eine solche Geschichtsbetrachtung eine neue Wissenschaftsethik; Diwald fühlt sich ihr allerdings nicht verpflichtet. Auf S. 21 beginnt Diwalds „Erzählung“, die dem Prinzip „GegenChronologie" verpflichtet ist In einem Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hat Diwald dieses Prinzip mit dem Bild des Flusses beschrieben: „Wer stromabwärts fährt, sieht entsprechend dem Gefälle nur die Einmündungen der Nebenflüsse, der Hauptstrom treibt ihn darin vorbei. Wer dagegen stromaufwärts zieht, kann die Nebenflüsse kaum übersehen; sie kommen gemäß seiner Blickrichtung genauso in sein Gesichtsfeld wie der Hauptstrom."

Das klingt als Metapher ganz gut; dabei wird freilich Methode mit Kausalität verwechselt. Die Methode kann man selbstverständlich umdrehen; man kann von der Beschreibung ei-nes gegenwärtigen Zustandes ausgehen und seine geschichtlichen Wurzeln bzw. Ursprünge zu ergründen suchen. Die Chronologie jedoch — daß auf 1933 1939 und auf 1939 1945 folgte — kann man nicht umdrehen. Diwald möchte sie aber umdrehen, da ihn gerade bei der Zeitgeschichte das Verhältnis von Ursache und Wirkung irritiert. Dem Leser soll z. B. aufgeschwätzt werden, daß Jalta quasi Ursache, nicht Folge gewesen ist: Die Welt sei nicht aufgeteilt und verteilt worden, weil sie Hitler mit seinem Weltkrieg überzog und das Deutsche Reich verspielte; vielmehr wird Hitlers Tun durch die Fehler und Verbrechen von Jalta entschuldigt. Wie läßt sich eine solche Perversion der geschichtlichen Abfolge bewirken? Der Beginn des ersten Kapitels „Die Hypotheken des verlorenen Krieges" sei zur Beantwortung einer solchen Frage zitiert: , Jalta ist ein herrliches Bad, ein Ort vollerZauber, ein Luxusprodukt der Natur. Mit seiner großartigen Lage an der Südküste der Krim, seinem verführerisch sanften Klima gehört es zu den Sonderschöpfungen der Götter. Die Vorzüge der Krim, besonders die unvergleichliche Bucht vor dem Jaila-Gebirge, wurden schon in der frühen Antike endeckt. Griechische Siedler landeten hier um 600 vor Christi Geburt. Ihre Städte, so sagte man, waren dem kostbaren , Saum des Gewandes der griechischen Kultur angewebt'. Jaltas geographisch-klimatische Erlesenheit wurde allerdings erst im zaristischen Rußland derEndzeit in persönlichen Genuß ausgemünzt. Vor hundert Jahren ließ der russische Hochadel die schönsten Villen erbauen, prunkvolle Sommersitze in Gärten mit den Ausmaßen stattlicher Parkanlagen. — Das HerzJaltas ist Liwadia. Hierliegt derPalast, die Sommerresidenzdes letzten Zaren, Nikolaus'IL: in einem Meer von Zedern, Mammutbäumen, Kakteen, Zypressen, Lorbeer, immergrünen Eichen, Pinien und Palmen. Das Schloß wird umringt von Gästehäusern, weitläufigen Terrassen, Springbrunnen, Laubengängen; sie umfassen es wie einen Schmuckstein. Hier blühen die Rosen bis in den November. Vom Solarium aus geht der Blick endlos übers Schwarze Meer, im Osten schimmern die zarten Umrisse der Schneegipfel des Kaukasus. Kein Ort hätte besser sein können für den russischen Adel, der sich erholen mußte von den Zumutungen der Gutsverwaltung, von der strapaziösen Geselligkeit Moskaus, von den bedrückenden Vorahnungen eines baldigen Epochenwechsels und Um-bruchs. Jalta ist ein Ort zum Meditieren über die Schönheiten der Welt, ihre unerbittliche Vergänglichkeit und die Hinfälligkeit allen Tuns. "

Solche Suada, bei der Nebensächlichkeiten ausgebreitet und breitgetreten werden, liebt Diwald vor allem dann, wenn er sich den Gegnern Hitlers zuwendet; dann berührt ihn „die unerbittliche Vergänglichkeit und die Hinfälligkeit allen Tuns". Geht es um die Schilderung der nationalsozialistischen Verbrechen, ist Diwald wesentlich lapidarer. Er versäumt es etwa, auch nur eines der erschütternden Zeugnisse aus der Leidensgeschichte des europäischen Judentums zu zitieren. In der „Zeit" schrieb Eberhard Jäckel mit Recht: „Nichts aber ist abgefeimter als Diwalds Beschreibung der , Endlösung'. Er leugnet das Verbrechen nicht, schildert es aber höchst unvollständig und verharmlost es durch die niedrigsten Insinuationen. Er gibt zu verstehen, es sei nicht bewiesen und in . zentralen Fragen noch immer ungeklärt'. Er hebt hervor, daß Auschwitz , eine Hauptfunktion bei der völligen moralischen Herabwürdigung der Deutschen erfüllte'. Er schreibt von den Vernichtungslagern, daß es , in Deutschland kein einziges gegeben habe'; daß sie in Polen lagen, schreibt er nicht."

Diwald beschreibt neun Zeilen lang die Zusammenstellung der Menüs für die Konferenzteilnehmer von Jalta; daß solcher Kontrast auch bei den Größen des Dritten Reiches sehr anschaulich gewesen wäre, kommt ihm nicht in den Sinn: Wie man z. B. im Berghof auf dem Obersalzberg lebte, während die Juden deportiert und vergast wurden.

Im Sinne der Gegenchronologie, welche die Kausalität umdrehen will, wird nicht nur Jalta an den Anfang gestellt, sondern Jalta ausführliehst beschrieben und bebildert. Die Bebilderung spielt in Diwalds Demagogie überhaupt eine große Rolle; da sieht man die Villa Alexanders III., Bomberflotten und Flüchtlinge nach einer Zeichnung von Frans Masereel, die „Großen Drei“ (Stalin, Roosevelt und Churchill), einen Stich der Halbinsel Krim, erneut die Großen Drei mit ihren Unterhändlern, das Gemälde „Die Klage Bremens" von Franz Radziwill (ohne daß deutlich wird, daß dieser mit seinen in der Tat ergreifenden Bildern gerade den Nationalsozialismus anklagte); da wird ein Flugblatt abgebildet, das die psychologische Kampfführung der Alliierten illustriert; eine Karikatur von A. Paul Weber („Das Erbe der Jalta-Konferenz“); Stalin beim Abfassen einer Rede — und so fort. Mit anderen Worten: Wer es aus dem Text noch nicht einsieht, kann's an den Bildern ablesen: Das große, starke Deutschland wurde durch die Infamie der Siegermächte zerstört. Im zweiten Kapitel „komponiert" Diwald Bild und Text auf besonders subtile Weise, er spricht nun von der „neuen Ostpolitik“. Ein Bildchen (die Abbildungen besitzen meistens Briefmarkengröße, sind technisch minderwertig, aber raffiniert kombiniert!) hat eben noch die Empörung und den Widerstand der Prager Bevölkerung gegen die Besatzungstruppen des Warschauer Paktes 1968 gezeigt — schon sieht man: den Sonderzug des Bundeskanzlers auf dem Weg nach Erfurt beim Passieren der innerdeutschen Grenze; ein Faksimile des Vertrags zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR; den symbolischen Kniefall Brandts vor dem Ehren-mal in Warschau, die Unterzeichnung des Warschauer Vertrages, das Gipfeltreffen der beiden deutschen Staatschefs in Erfurt, das Treffen Bahr-Kohl (die letzteren drei Photos in Großformat). In Worten: Die deutsche Außenpolitik dem Osten gegenüber — ein Canossa-gang. Gerade wurde Deutschland verbrecherisch geteilt, schon unterwerfen sich die Sozialdemokraten dem Kommunismus. Natürlich ist das im Text subtiler dargestellt; die Tendenz ist aber eindeutig. Die „neue Ostpolitik“ ist im Sinne der „Gegenchronologie" nicht der Versuch, die durch Hitler bewirkte Vernichtung des Deutschen Reiches und seine Teilung zu mildern und die Schuld des Dritten Reiches abtragen zu helfen; sie ist, da ja alles mit Jalta anfing, der unverständliche Versuch, der Bedrohung aus dem Osten durch Unterwerfung entgegen zu kommen.

In geschickter Komposition werden die „friedlichen Tage" auf der Krim, das Treffen Brandts mit Breschnjew (September 1971) ausgebreitet; man merkt die Absicht, aber viele werden nationalistisch befriedigt und keineswegs verstimmt sein. Hat man gesehen und gelesen, wie sich Willy Brandt dem Osten anbiederte, erfährt man, daß er innere Reformen verhieß. Dieses Kapitel wird eingeleitet mit einem Bild des Ehepaares Brandt; im Hintergrund auf der Terrasse eine unerkennbare Figur; im Bildtext wird erläutert, daß es sich um Guillaume handelt. Im Sinne der Gegenchronologie erfährt man von den inneren Reformen, ehe man etwas von der Wirtschaftswunderzeit erfährt. Daß die Bundesrepublik gewisse Erstarrungssymptome zeigte, die man durch Reformen auflockern wollte, widerspräche dem angewandten Denunziationsverfahren. Diwald verteilt dabei seine methodisch raffiniert geplanten, inhaltlich jedoch plumpen Schläge nach allen Seiten. Die bedeutsame politische Leistung Adenauers, die Annäherung der Bundesrepublik an den Westen, wird von Adenauers „letztem Triumph, einer Niederlage", aus gesehen:

. Adenauer mußte schließlich erkennen, daß de Gaulles Hauptwirkung in der Wiederbelebung des französischen Nationalstolzes bestanden hatte und als Folge davon in der Kräftigung des nationalen Selbstbewußtseins aller anderen europäischen Völker. Für Deutschland dagegen war diese Entwicklung von äuB ßerster Widerwärtigkeit; denn für nationales Selbstbewußtsein gab es keine realen Möglichkeiten einerausgewogenen Manifestation. Das war die bitterste Konsequenz des deutschtranzösischen Vertrages von 1963, dieses letzten Triumpfes des Außenpolitikers Adenauer, der zugleich seine letzte Niederlage bedeutete.“

Die Gegenchronologie „bringt es an den Tag": Die Versöhnung mit dem Westen folgte dem Bemühen, auch das Verhältnis zum Osten zu verbessern. Um so schlimmer für die Wirklichkeit, daß die Reihenfolge umgekehrt war! So hakelt sich der Gegenchronologe Diwald langsam bis zum Jahre Null zurück — ein Jahr, das er allerdings mit Jalta schon ganz an den Anfang gestellt hatte. Ist solche Geschichtsbetrachtung auch Wahnsinn, hat sie doch Methode.

. Kein Land war in derjüngeren Geschichte so vollständig verwüstet worden wie das Deutsche im Zweiten Reich Weltkrieg. Zwischen Ostpreußen und dem Rheinland, von den Nordküsten bis zu den Alpen dehnte sich ein Gebiet der Vernichtung, des Todes. Im Mai 1945 blickte HarryLloydHopkins, der Sonder-berater Präsident Roosevelts in Jalta, vom Flugzeug aus erschüttert auf die Trümmer Berlins, den Totenschädel der Reichshauptstadt. Fast fünf Millionen Wohnungen waren in Deutschland zerstört worden, durch Spreng-und Brandbomben, durch Minen und Granaten. Nach groben Schätzungen betrug die Trümmermenge in Deutschland an die fünfhundert Millionen Kubikmeter; das hätte einen Quadergefüllt von zehn Kilometer Länge, einem Kilometer Breite und fünfzig Meter Höhe. Das Ausmaß der Vernichtung machte Deutschland zur makabersten Sehenswürdigkeit Die amerikanische Abordnung auf der Potsdamer Konferenz ließ es sich nicht nehmen, auf einer ausgedehnten Rundfahrt , den Schutthaufen zu besichtigen, der einst Berlin war'.

Die Alliierten als „Trümmerfeld-Touristen“! Nirgendwo bei Diwald steht, daß Millionen Menschen dieser Länder hatten sterben müssen, damit endlich Deutschland von sich selbst befreit werden konnte, damit endlich Rettung für diejenigen kam, die unterdrückt und verfolgt gewesen waren, damit die Verführten und Mitgelaufenen die Chance erhielten, sich eine Existenz der Selbstverwirklichung aufzubauen.

Weitere Kapitel lauten: „Die Großen Drei in Potsdam", „Die kollektive Schuld der Deutschen", „Mord im Frieden", „Richter und Angeklagte". Keine Darstellung der nationalsozialistischen Verbrechen wird gegeben; es geht um die Frage, ob die Deutschen den Vorwurf der Kollektivschuld verdient haben oder nicht Wie soll der 'schlichte'Leser zu einer solchen Frage sich ein Urteil bilden können, wenn er nichts über die Vorgänge erfährt, die zum Vorwurf der Kollektivschuld führten? Was bleibt, ist, daß die Deutschen eben wieder einmal ungerecht behandelt wurden; deshalb wird wohl auch der Ausspruch des russischen Schriftstellers Ilja Ehrenburg zitiert (nach Diwald „ein treffliches Indiz für die Atmosphäre des grenzenlosen Hasses auf beiden Seiten"): „Wenn du einen Deutschen getötet hast, bringt den nächsten um — es gibt nichts Schöneres als deutsche Leichen." Niemand wird einen solchen Satz billigen wollen; wo aber werden die NS-Täter zitiert, welche die nationalsozialistische Ausrottungspolitik im Osten zu verantworten hatten?

Die Entnazifizierung war in der Tat problematisch; wie menschlich aber war sie im Vergleich zu der systematischen Diskriminierung und Verfolgung von Minderheiten im Dritten Reich. Das Verfahren dieses Autors ist immer das gleiche: Man erfährt nichts über die Rolle der Schuldigen und Hauptschuldigen im Dritten Reich; ausführlich erfährt man jedoch, was sie nach 1945 zu erdulden hatten.

Für Diwald bildeten die Millionen von russischen Gefangenen, die während des Krieges in Deutschland gearbeitet hatten, „ein anderes Problem in dieser Zeit". „Sie waren ... menschenunwürdig behandelt und ausgebeutet worden". Einen solchen Satz, welcher der Wahrheit entspräche, bringt Diwald selbstverständlich nicht übers Herz. Zitiert man ihn nämlich vollständig, also ohne Pünktchen, lautet er: „Sie waren, wie die Alliierten den Deutschen vorwarfen, menschenunwürdig behandelt und ausgebeutet worden." Die „Nebensatzdemagogie“ ist überhaupt eine Spezialität von Diwald. Ein objektiver Tatbestand wird dadurch fragwürdig gemacht, daß man ihn denjenigen in den Mund schiebt, die man vorher denunziert hat. Weil die Alliierten den Deutschen die Gefangenenmißhandlung vorwarfen, wird es schon nicht so recht stimmen! Konsequent fährt Diwald fort: „In Wirklichkeit hatten die meisten von ihnen nicht sehr viel schlechter gelebt als die deutsche Zivilbevölkerung, von der Unterkunft in den Lagern abgesehen." Auch hier steckt die Wahrheit wie die Bösartigkeit wieder im Nebensatz: w.. von der Unterkunft in den Lagern abgesehen' Von den vielen hunderttausend Verhungerten aber kann man als Historiograph nicht absehen! — Das Verbrechen der Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten darf nicht bagatellisiert werden; bei Diwald erfährt man von den alliierten Verbrechen nach 1945, ehe man etwas von den deutschen Verbrechen vor 1945 erfährt. Kein kleiner Unterschied! „Diese Leute", die sich Verbrechen wie Vertreibung aus dem Osten und Bombardierung deutscher Städte schuldig machten, saßen dann zu Gericht, zu Gericht über „Führer", von deren Verbrechen der Leser noch immer nichts weiß — man ist inzwischen auf Seite 125 angekommen.

Aber selbst wenn man derartiges in Kauf nimmt — der letzte Glaube an die Honorigkeit dieses Geschichtsschreibers schwindet, wenn man die Schilderung der Vertreibungen mit der Schilderung dessen, was in den Konzentrationslagern und Vernichtungslagern geschah, miteinander konfrontiert:

„Die Zahl der Menschen, die auf der Flucht oder während der Vertreibung getötete wurden, beträgt 2, 28 Millionen. Nicht exakt erfaßt sind die rund zwei Millionen Deutschen, die während des Krieges zum Schutz vor Bombenangriffen aus den Reichsgebieten in östliche Distrikte evakuiert worden waren. Nach einer vorsichtigen Schätzung erhöht sich die Zahl der Toten auf 2, 4 Millionen, wenn man die Gruppe der Evakuierten dazurechnet. Diese Menschen also starben nach dem 8. Mai 1945, nach dem Tag, mit dem die Ära . unserer Gemeinsamkeit an unschätzbaren Werten'beginnen sollte, wie es einer der Sieger ausdrückte. , Wenn wir unsere Augen auf dieses Ziel richten, können keine Hindernisse auf dem Wege der Zusammenarbeit unübersteigbar sein.

Weit mehr: Wenn diese Wahrheit in das letzte Dorf und in die Herzen aller Menschen eingedrungen ist, dann können wir endlich unsere Schwerter in Pflugscharen umschmieden und alle Nationen können sich der Fruchtbarkeit dieser Erde freuen.'So General Eisenhower auf einer Siegesfeier in London. Oder Roosevelt in seinem Gebet am Tag der Vereinten Nationen:, Gott der Freien, wir geloben unser Herz und unser Leben derSache dergesamten freien Menschheit Gib uns das Geschick und den Mut die Welt von der Unterdrückung und der alten gemeinen Lehre, daß die Starken die Schwachen fressen müssen, zu säubern. Amen.

Abgesehen von den 2, 4 Millionen getöteten Deutschen nach 1945 und den rund zwei Millionen Kriegsgefangenen, die in sowjetischen Lagern gestorben sind: Von 1945 bis heute, also seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, wurden auf dem Erdball rund fünfzig Kriege geführt, von denjenigen Staaten, die nach der Kapitulation befohlen hatten, die überlebenden Verantwortlichen des deutschen Volkes als Schuldige, als verantwortlich für die Vorbereitung und Durchführung eines Angriffskrieges, als Kriegsverbrecher vor Gericht zu stellen und ein Orientierungsexempel zu statuieren für alle, die sich jemals wieder unterfangen sollten, Kriege vorzubereiten." „Kein Zweifel besteht daran, daß sich die Rolle derJuden fürHitler während des Krieges vom Feindbild gewandelt hat zu einem Generalvehikel der Entlastung und persönlichen Rechtfertigung. Ebenso eindeutig sind die durchorganisierten riesenhaften Deportationen der jüdischen Bevölkerung in die Lager der Ostgebiete. über diese Tatsachen, vor der Kulisse der abscheulichen Entrechtung der Juden im Dritten Reich, sind nach 1945 zahlreiche Schriften veröffentlicht und Behauptungen aufgestellt worden, die sich nicht beweisen ließen und das Schandbare durch Zynismus erweiterten: Man beutete eins der grauenhaftesten Geschehnisse der Moderne durch bewußte frreführungen, Täuschungen, Übertreibungen für den Zweck der totalen Disqualifikation eines Volkes aus. So nannten die alliierten Sieger Vernichtungslager, von denen es in Deutschland kein einziges gegeben hat. Oder es wurden jahrelang im KZ Dachau den Besuchern Gaskammern gezeigt, in denen die SS angeblich bis zu fünfundzwanzigtausendJuden täglich umgebracht haben soll, obschon es sich bei diesen Räumen um Attrappen handelte, zu deren Bau das amerikanische Militär nach der Kapitulation inhaftierte SS-Angehörige gezwungen hatte. Ähnlich verhielt es sich mit dem berüchtigten KZ Bergen-Belsen, in dem fünfzigtausend Häftlinge ermordet worden seien, fn Wirklichkeit starben in der Zeit, in der das Lager existierte, von 1943 bis 1945, rund siebentausend Insassen, und zwar vorwiegend in den letzten Monaten des Krieges aufgrund von Seuchen und Unterernährung, da im Zuge des Bomben-krieges die medikamentöse Versorgung und Verpflegung zusammengebrochen war. Der britische Kommandant, der nach der Kapitulation das Lager übernahm, stellte fest, daß in Bergen-Belsen Verbrechen großen Ausmaßes nicht vorgekommen waren ... Während des Krieges war unter dem Ausdruck . Gesamtlösung'oder . Endlösung'zunächst zu verstehen: Da eine Auswanderung nicht mehr möglich war, sollten alle Juden in den Osten evakuiert, aus Zentraleuropa her-ausgelöst, von der deutschen Bevölkerung ab-gesondert und in neuen Gettos zusammengefaßt werden. Diesen Plan umriß der Chef des Reichssicherheitshauptamtes Reinhard Heydrich am 24. Juni 1940. Was sich in den folgenden Jahren tatsächlich abgespielt hat, ist trotz aller Literatur in zentralen Fragen noch immer ungeklärt. ^Auschwitz'ist das deutsche Stigma dieses Jahrhunderts. Es ist ein Symbol des Entsetzens, doch es ist auch symbolisch für die sowohl tatsächlich nachzuweisende als auch gegen besseres Wissen absichtlich hineingedeutete Gleichsetzung vom Dritten Reich und Deutschland. Dies freilich gehört zu dem Prozeß einer allgemeinen intellektuell-sittlichen Verwirrung als Ergebnis radikaler Standortbezogenheiten und ideologischer Festlegungen, der in Deutschland bereits in den beginnenden dreißiger Jahren eingesetzt hat“

Der Autor, der — wie gesagt — die Ränder seines Buches mit Bildchen übersät (meistens zwei auf einer Seite), der immer wieder ganzseitige Bildtafeln einschiebt, widmet den Opfern des SS-Staates nur eine Abbildung der Größe 3, 5 cm mal 4 cm. Zum Vergleich: Der Abdruck des Erlasses der Stadtverwaltung von Berlin vom 13. Mai 1945, der die Lebensmittelration pro Person und Tag festsetzt P Gramm Fett für die nichtberufstätigen Familienangehörigen und die übrige Bevölkerung), wird in einer Größe von 14 cm mal 19 cm abgedruckt.

Ehe man in der oben angegebenen Form über die Endlösung erfährt, ist man ausführlich über den Zweiten Weltkrieg unterrichtet worden. Dessen Schilderung beginnt freilich nicht — was im Sinne der Gegenchronologie wenigstens logisch wäre — mit dem Debakel von 1945, der totalen Niederlage, sondern mit „Blitzkriegen, Blitzsiegen''. Man beginnt eben jeweils mit dem, was dem angestrebten positiven oder negativen Image dient. Die Alliierten sind zynische Touristen des totalen Krieges, die Deutschen tapfere Blitz-Krieger und Blitz-Sieger. Wird man endlich auch etwas über Hitler als Kriegstreiber hören? Wird man erfahren, wie er die europäischen Nationen demütigte, ehe diese sich zum Widerstand entschlossen? Die Österreicher, die Tschechen, die Franzosen, die Engländer, die Polen! Für Diwalds Strategie ist es in diesem Augenblick günstiger, auf das Jahr 1933 zurückzuspringen. Nicht der größenwahnsinnige Hitler gerät ins Visier; er erscheint mehr oder weniger als Folge des „Schwarzen Freitags" und natürlich auch des Versailler Vertrages. Den Kriegskapiteln folgt die „Revolution des nationalen Sozialismus", reich bebildert (unter anderem das Brandenburger Tor im Fackelglanz, 30. Januar 1933, ganzseitig; Hitler auf dem Weg in die Kroll-Oper, 23. März 1933, ebenfalls ganzseitig). Vom nationalen Aufbruch aus geht es dann keineswegs wieder nach vorn, sondern erst nochmals zurück; die Wirren der Auflösung der Weimarer Republik gilt es ausführlich darzustellen. Als Kronzeuge wird Zehrer zitiert.

So endet für Diwald die von 1933 aus zurückverfolgte Republik dort, wo sie enden mußte: bei ihrem Zusammenbruch 1933. Das Mischmasch von Chronologie und Gegenchronologie bringt es mit sich, daß Weimar mit Versailles und Potsdam zusammenfällt; die Weimarer Republik ist offensichtlich verantwortlich für die Zerstörung des Zweiten Reiches, während sie doch dessen unseliges Erbe übernehmen mußte; sie macht Hitler notwendig, weil sie von diesem vornehmlich zerstört wurde.

Ich breche hier ab. Es ist kaum möglich, die Collage dieses Buches im Detail nachzuzeichnen; ihre Struktur ist freilich überdeutlich. Indem Zusammenhängendes voneinander getrennt und neu kombiniert wird, ergibt sich eine „Folgerichtigkeit“ von Geschichte, die nicht das, was wirklich geschah, einfängt, sondern einem restaurativen, reaktionären, revisionistischen Ziele unterworfen wird. Das mit diesem Buch angerichtete geschichtliche Chaos hat somit durchaus seinen Zweck: Vor allem derjenige, der die wahren Abläufe nicht mehr aus der Erfahrung kennt, soll einer geschichtlichen Gehirnwäsche unterzogen werden; der Nationalsozialismus wird weitgehend exkulpiert; Diwalds „Erkenntnisse" lauten:

— So schlimm waren die Deutschen jedenfalls nicht;

— die anderen waren noch schlimmer-, — Geschichte ist sowieso undurchschaubar; — irgendwie werden die Deutschen ständig ungerecht behandelt.

Es bleibt zu hoffen, daß es der politischen Bildungsarbeit gelingt, „revisionistische" Geschichtsschreibung, auch wenn sie sich ein wissenschaftlich-seriöses Mäntelchen umhängt, stärker als bisher zum Gegenstand ihres kritischen Bemühens zu machen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Tilman Ernst, Holocaust aus der Sicht der politischen Bildung, in: Peter Märthesheimer/Ivo Frenzel, Holocaust. Eine Nation ist betroffen, Frankfurt/M. 1979, S. 315.

  2. Rolf Hochhuth, Eine Liebe in Deutschland, Reinbek bei Hamburg 1978.

  3. Wolfgang Scheffler, Judenverfolgung im Dritten Reich, Berlin 1964. Sonderdruck für die Bundeszenvale für politische Bildung, Bonn o. J., S. 30.

  4. Aus: Dokumente über die Verfolgung der jüdischen Bürger in Baden-Württemberg, Stuttgart 1966; zit., nach: Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums, Heft 68/1978, S. 30 ff.

  5. Zit. nach Hermann Glaser, Weltliteratur der Gegenwart, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1970, S. 262.

  6. Ebbo Demant (Hrsg.), Auschwitz — „Direkt von der Rampe weg .. Kaduk, Erber, Klehr: Drei Täter geben zu Protokoll, Reinbek bei Hamburg 1979, S. 101 ff.

  7. Adolf Hitler, Mein Kampf, München 1934, Vorwort.

  8. Ebd., S. 1 f.

  9. Ebd., S. 2.

  10. Ebd, S. 43 f.

  11. Ebd., S. 53 f.

  12. Ebd., S. 311 ff.

  13. A. Richter, Unsere Führer im Lichte der Rassen-frage und Charakterologie, Leipzig 1933.

  14. Karl Dietrich Bracher, Streit um Worte — Streit 197g" erte, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. 12. V gl. hierzu auch: Reinhard Kühnl, Der deutsche Fa-Fhismus in Quellen und Dokumenten, Köln 1977. Eeinhard Kühnl, Faschismustheorien. Texte zur Faschismusdiskussion, Reinbek t, ej Hamburg 1979.

  15. Heinrich August Winkler, Ist unser Land faschistisch? Eine Kritik an linken Theorien, in: Die Zeit, 30. 6. 1978.

  16. Jürgen Kocka, Gegen einen Begriffskrieg. Was leisten die Formeln „Faschismus“ und „Totalitarismus“?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Dezember 1978.

  17. Klaus Theweleit, Männerphantasien, 2. Bd„ Frankfurt/M. 1978, S. 534.

  18. Friedrich Karl Fromme, Ein Stoiber, Staub aufwirbelnd. Was an den Thesen des CSU-Generalsekretärs über Nazis richtig und was an ihnen bedenklich ist, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. 10. 1979.

  19. Albert Wucher, Zynismus im Umgang mit Worten und Idealen: Hitler und der Sozialismus. Dem Terror ein ideologisches Mäntelchen, in: Süddeutsche Zeitung, 20. /21. 10. 1979.

  20. Lothar Baier, In den Staub mit allen Feinden der Frau. Klaus Theweleits halb wissenschaftliche, halb persönliche Untersuchung, wie sich der Faschismus in der Literatur spiegelt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. 4. 1978.

  21. Nicolaus Sombart, Wir sind mit Hitler noch lange nicht fertig. Die künftige Aufgabe der „Psy-chohistorie", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. 11. 1977.

  22. Vgl. auch Hermann Glaser, Sexualität und Aggression. Sozialpathologische Aspekte der modernen Gesellschaft (1967), München 1975.

  23. Helm Stierlin, Adolf Hitler. Familienperspektiven, Frankfurt/M. 1975, S. 52 f.

  24. Vgl. für das Nachfolgende: Günther Deschner, Reinhard Heydrich. Statthalter der totalen Macht, Esslingen 1977.

  25. Jochen von Lang, Martin Bormann. Der Mann, der Hitler beherrschte, Stuttgart 1977, S. 7 f.

  26. Ebd., S. 281 ff.

  27. Bradley F. Smith, Heinrich Himmler 1900— 1926. Sein Weg in den deutschen Faschismus, München 1979.

  28. Zit. nach H. Fraenkel/G. Manvell, Himmler. Kleinbürger und Massenmörder, Berlin, Frankfurt/M„ Wien 1965, S. 19.

  29. W. Darrä, Neuadel aus Blut und Boden, München 1930; Ferner W. Darre, Das Schwein als Kriterium für nordische Völker und Semiten, 1927.

  30. W. Daim, Der Mann, der Hitler die Ideen gab, München 1958.

  31. Zit. nach H. Fraenkel/G. Manvell, Himmler. Kleinbürger und Massenmörder, a. a. O., S. 170 f.

  32. E. Kretschmer, Körperbau und Charakter, Berlin, Göttingen, Heidelberg 1961, S. 393 f.

  33. Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen des Rudolf Höß, hrsg. von M. Broszat, München 1963. Dieses Zitat und die nachfolgenden auf den Seiten 23, 24, 24ff., 30, 32f„ 46, 53, 56, 98, 109ff., 124, 126, 129, 132ff.

  34. Löon Poliakov, Geschichte des Antisemitismus, Band I.: Von der Antike bis zu den Kreuzzügen, Worms 1977; Band II: Das Zeitalter der Verteufelung und der Ghettos. Mit einem Anhang zur Anthropologie der Juden, Worms 1978; Zitat: Band I, S. 381.

  35. Leon Poliakov, Geschichte des Antisemitismus, Band II, a. a. O„ S. 204.

  36. Leon Poliakov, Geschichte des Antisemitismus, Band I, a. a. O., S. 74.

  37. Leon Poliakov, Geschichte des Antisemitismus, Band II, a. a. O., S. 62.

  38. Ebd., S. 95.

  39. George L. Mosse, Rassismus. Ein Krankheitssymptom in der Europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Königstein/Ts. 1978.

  40. Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1967, S. 80f.

  41. Bruno Bettelheim, Holocaust. Überlegungen, ein Menschenalter danach, in: Der Monat, Heft 2/1978, S. 5.

  42. Ebd., S. 24.

  43. Vgl. hierzu Ferdinand Mount, Das Gefühl der Enteignung, in: Der Monat, Heft 2, 1979, S. 17ff.

  44. Vgl. Hermann Glaser, Spießer-Ideologie. Von der Zerstörung des deutschen Geistes im 19. und 20. Jahrhundert und dem Aufstieg des Nationalsozialismus (1964), Frankfurt/Main, Berlin, Wien 1979.

  45. J. P. Stern, Hitler. Der Führer und das Volk, München 1978.

  46. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Leipzig 1909, S. 174 f.

  47. J. P. Stern, Hitler. Der Führer und das Volk, a. a. O„ S. 92.

  48. William Sheridan Allen, Das haben wir nicht gewollt. Die nationalsozialistische Machtergreifung in einer Kleinstadt 1930— 1935, Gütersloh 1966, S. 15.

  49. Ebd., S. 16.

  50. Ebd., S. 19.

  51. Ebd., S. 32.

  52. Martin Broszat/Elke Fröhlich/Falk Wiesemann (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit. Soziale Lage und politisches Verhalten der Bevölkerung im Spiegel vertraulicher Berichte, München, Wien 1977.

  53. Golo Mann, Fort von den Staatskanzleien, hin zur Bevölkerung. Neue Perspektiven der Zeitgeschichte am Beispiel Bayern, in: Süddeutsche Zeitung, 30. 6. /1. 7. 1979, vgl. auch die Einleitung zu diesem Beitrag.

  54. Vgl. Hermann Glaser/Axel Silenius, Jugend im Dritten Reich, Frankfurt/M. 1975.

  55. Rainer Hambrecht, Der Aufstieg der NSDAP in Mittel-und Oberfranken (1925— 1933), Nürnberg 1976, S. 404ff.

  56. Martin Broszat/Elke Fröhlich/Falk Wiesemann (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit Soziale Lage und politisches Verhalten der Bevölkerung im Spiegel vertraulicher Berichte, a. a. O., S. 456.

  57. Hermann Hanschei, Oberbürgermeister Hermann Luppe. Nürnberger Kommunalpolitik in der Weimarer Republik, Nürnberg 1977, S. 408.

  58. Hermann Hanschei, Oberbürgermeister HerMann Luppe, a. a. O., S. 190ff.

  59. Zit. nach Stadtarchiv Nürnberg (Hrsg.), Schicksal jüdischer Mitbürger in Nürnberg 1933— 1945, Nürnberg 1978, S. 26ff.

  60. Georg Kuhr, Julius Schieder, in: Fränkische Lebensbilder, 6. Band, Würzburg 1975, S. 306.

  61. Hierzu:

  62. Karl Ottmar von Aretin, Eine Springprozession durch die deutsche Geschichte. Nicht zu retten: Hellmut Diwalds Geschichte der Deutschen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1979.

  63. Eberhard Jäckel, Geschichte im Rückwärts-gang?, in: Die Zeit, 1. 12. 1978.

  64. Hellmut Diwald, Das Prinzip Gegenchronologie, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. 1. 1979.

  65. Hellmut Diwald, Geschichte der Deutschen, Frankfurt/Main, Berlin, Wien 1978, S. 21.

  66. Eberhard Jäckel, Geschichte im Rückwärts-gang?, a. a. O.

  67. Hellmut Diwald, Geschichte der Deutschen, «• a. O„ S. 66.

  68. Ebd., S. 107.

  69. Ebd., S. 124.

  70. Ebd., S. 125.

  71. Ebd., S. 164f.

Weitere Inhalte

Hermann Glaser, Dr. phil., geb. 1928, Schul-und Kulturdezernent der Stadt Nürnberg; Schriftsteller. Veröffentlichungen u. a.: Das Dritte Reich — Anspruch und Wirklichkeit, Freiburg (1961), 1979 (Herder-Taschenbuch); Spießer-Ideologie. Von der Zerstörung des deutschen Geistes im 19. und 20. Jahrhundert und dem Aufstieg des Nationalsozialismus, Berlin (1965), 1979 (Ullstein-Taschenbuch); Eros in der Politik. Eine sozialpathologische Untersuchung, Köln 1967 (als Kindler-Taschenbuch: Sexualität und Aggression, München 1975); Sigmund Freuds Zwanzigstes Jahrhundert. Seelenbilder einer Epoche, München 1976 (als Fischer-Taschenbuch Frankfurt am Main 1979); Bundesrepublikanisches Lesebuch (Hrsg.), München 1978; Fluchtpunkt Jahrhundertwende. Ursprünge und Aspekte einer zukünftigen Gesellschaft (Hrsg.), Bonn 1979; Literatur des 20. Jahrhunderts in Motiven, Band 1: 1870— 1918; Band 2: 1918— 1933, München 1978 und 1979.