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Aspekte einer „arbeitnehmerorientierten Wissenschaft". Die Bildungsarbeit als Wegbereiter einer Kooperation von Arbeitnehmern und Wissenschaft | APuZ 47/1982 | bpb.de

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APuZ 47/1982 Aktuelle Probleme des Bildungswesens in den achtziger Jahren Die Oberstufenreform — ein Zankapfel der Bildungspolitik Aspekte einer „arbeitnehmerorientierten Wissenschaft". Die Bildungsarbeit als Wegbereiter einer Kooperation von Arbeitnehmern und Wissenschaft

Aspekte einer „arbeitnehmerorientierten Wissenschaft". Die Bildungsarbeit als Wegbereiter einer Kooperation von Arbeitnehmern und Wissenschaft

Kurt Johannson

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Zusammenfassung

Das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Arbeitnehmern, zwischen Hochschule und Gewerkschaften, ist „traditionell gestört" (H. O. Vetter). Die Gründe dafür sind vielfältig. Sie ergeben sich zum einen aus der problematischen Rolle, in der die Wissenschaft im Alltag des Betriebes den Arbeitnehmern entgegentritt, sie sind aber auch in der traditionellen Verweigerung der deutschen Universität zu suchen, sich den Arbeitnehmern und ihren Problemen zu öffnen. Diese ablehnende Haltung der Universität gegenüber den Arbeitnehmern hat im großen und ganzen die historischen Erschütterungen der letzten 50 Jahre überdauert und ist erst in den letzten Jahren brüchig geworden. Unter dem Eindruck tief-greifender Strukturveränderungen an den Hochschulen, besonders aber im Beschäftigungssystem, wuchs in vielen Hochschulen die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Arbeitnehmern und ihren Gewerkschaften. In verschiedenen Kooperationsverträgen zwischen Hochschulen und Gewerkschaft fand diese Annäherung ihren Ausdruck. Wie jedoch die Praxis gemeinsamer Projekte im Rahmen derartiger Kooperationsverträge zeigt, gibt es Schwierigkeiten, die aus den spezifischen Anforderungen der jeweiligen Institutionen entstehen. Unübersehbar ist, daß traditionelle wissenschaftliche Methoden sich in kooperativen Vorhaben als hinderlich erweisen. Deshalb ist der Versuch gemacht worden, Ansätze zu einer Konzeption arbeitnehmerorientierter Wissenschaft zu entwickeln. Dieser Versuch ist über Anfänge noch nicht hinausgekommen und hat auch mancherlei Kritik auf sich gezogen; dennoch dokumentiert sich darin der Anspruch der Gewerkschaften, die Interessen und Probleme der Arbeitnehmer stärker als bisher in das Blickfeld wissenschaftlicher Tätigkeit zu rücken. So hoffnungsvoll angesichts dieser Entwicklung die Kooperationsansätze zwischen Wissenschaft und Arbeitnehmern auch erscheinen mögen, unübersehbar ist ihr Randdasein. Weite Teile der Hochschulen, und das gilt besonders für die Ingenieur- und naturwissenschaftlichen Fachbereiche, sind zu einer Kooperation mit den Gewerkschaften nicht bereit. Die Interessenbindung an die Industrie steht hier offenbar einer Kooperation in anderer Richtung im Wege. Ein Ausnahmebereich im Bildungssystem war stets die Arbeiterbildung. Hier fanden sich bereits im 19. Jahrhundert Wissenschaftler und Arbeitnehmer in deren Organisationen zusammen. In den Jahren der Weimarer Republik öffnete sich partiell sogar die Universität den Ansprüchen der Gewerkschaften und auch nach 1945 ergaben sich in diesem Bereich erste langfristige Kooperationsansätze. Diese haben sich im Laufe der Jahre zu umfangreichen Kooperationsprojekten entwickelt, deren Finanzierung nicht selten aus öffentlichen Mitteln erfolgt. Beispielhaft läßt sich diese Vorreiterrolle der Arbeiterbildung bei der Kooperation zwischen Wissenschaft und Arbeitnehmern am Beispiel von zwei Vorhaben darstellen, die in den letzten Jahren verwirklicht wurden. Da ist einmal das „Sprockhövler Modellseminar" der IG Metall, ein Curriculum-Projekt, das mit breiter wissenschaftlicher Unterstützung und Kooperation und mit finanzieller Förderung durch das BMBW durchgeführt wurde. Zum anderen ist aus dem Kooperationsvertrag der IG Metall mit der Ruhr-Universität Bochum ein Forschungsinstitut hervorgegangen, das sich mit finanzieller Förderung durch die Landesregierung Nordrhein-Westfalens Problemen der Arbeiterbildung zuwendet Gerade an dem zuletzt genannten Beispiel zeigt sich, wie auch in anderen Kooperationsprojekten, daß Wissenschaft sich in Kooperation mit den Arbeitnehmern und ihren Gewerkschaften sehr gut zu entfalten vermag, weil sie die Möglichkeit gewinnt, sich neuen Arbeitsfeldern zuzuwenden.

I. Historische Entwicklung eines „gestörten Verhältnisses"

Die Frage, was die Arbeitnehmer in ihrer Mehrheit in der Bundesrepublik von der Wissenschaft halten, ist zwar noch nicht repräsentativ erhoben worden, aber eine Antwort dürfte dennoch nicht schwerfallen. In Gesprächen mit Arbeitern und Angestellten, aber auch in den Diskussionen der Gewerkschaften ist das Bild von der Wissenschaft sehr widersprüchlich und keineswegs immer schmeichelhaft für die Wissenschaft. Distanz herrscht vor, viel Kritik wird geäußert und oft wird auch Ablehnung spürbar. Diese Einstellung ist von Erfahrungen geprägt, die aus dem Alltag abhängiger Arbeit kommen. Dort tritt Wissenschaft den Arbeitenden nur allzu oft in gegnerischer Rolle entgegen.

Als „wissenschaftliche Betriebsführung" trägt sie in vielen Betrieben und Büros zur sinnentleerenden Zerlegung der Arbeit bei, denn man darf nicht vergessen, daß der Taylorismus mit dem Anspruch auftrat, die Arbeitsabläufe nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten zu gestalten.

Neue Technologien, als Ergebnis gewaltiger wissenschaftlicher Erfolge wohl verstanden, können zwar die Arbeit erleichtern, aber sie vernichten auch vorhandene Arbeitsplätze und dequalifizieren die verbleibenden. Den Arbeitnehmern treten viele — nicht alle — wissenschaftlich qualifizierte Personen als Vorgesetzte gegenüber, die ihnen Arbeitsplätze zumuten, die humanen Gesichtspunkten nicht genügen, oder gar die Aufgabe des Arbeitsplatzes verlangen, die als Ärzte vorschnell gesundschreiben, obwohl der Arbeitsund Sozialmedizin die notwendige Unterstützung versagt wird, oder die als Juristen das geltende Recht gegen sie auszulegen verstehen.

Erfahrungen dieser Art sind nicht erst neueren Datums. Sie reichen weit in die Vergangenheit zurück und gehören zu den historischen Erfahrungen der Arbeiterbewegung. Daher sprach der ehemalige DGB-Vorsitzende Heinz Oskar Vetter auch vom „traditionell gestörten Verhältnis zwischen Hochschulen und Gewerkschaften", das es aufzuarbeiten gelte

Daß dieses gestörte Verhältnis tatsächlich eine lange Tradition hat, wird deutlich, wenn man nachliest, was Wilhelm Liebknecht schon vor hundert Jahren über die Wissenschaft seiner Zeit dachte: „Im selben Maße, wie das Kapital sich die Wissenschaft dienstbar macht, macht es die Arbeiter weniger wissenschaftlich. In der Maschine konzentriert sich die Intelligenz, die dem Arbeiter genommen wird. Die Intelligenz des Menschen verkörpert sich in der Maschine und gibt damit dieser Maschine die Kraft, den intelligenten Menschen in eine Maschine zu verwandeln. Geistlose Arbeit für die geistvolle Maschine — das ist der Charakter der modernen Produktion."

Sätze wie diese mögen vielen als überaus weitsichtig erscheinen. In ihrer tiefen Skepsis sind sie Ausdruck einer Epoche, in der die Universitäten den Arbeitern mit ganz seltenen Ausnahmen schon aus finanziellen Gründen versperrt blieben und wo ihre sozialen Probleme weder in der Forschung noch in der Lehre eine angemessene Berücksichtigung fanden. Die Forderung nach sozialer Fürsorge für die „unteren" Klassen, wie sie mit herablassendem Wohlwollen in der sozialpolitischen Doktrin des „Kathedersozialismus" zum Ausdruck ge-bracht wurde, war für die Mehrheit der Wissenschaftler verbunden „mit dem Kampf gegen das Recht auf eigenständige gewerkschaftliche und politische Organisation der abhängig Beschäftigten" Wohlgemerkt, der Wissenschaft, die damals an den Hochschulen die herrschende war. Daß es daneben stets auch andere Wissenschaftler gab, die sich ganz offen an die Seite der Arbeiterbewegung gestellt haben, soll als bekannt vorausgesetzt werden.

Der wissenschaftliche Sozialismus, so umstritten er in seiner Analyse sozialer und ökonomischer Wirklichkeit auch sein mag, ist schließlich das Ergebnis wissenschaftlicher Anstrengungen bürgerlicher Intellektueller, die ihren Platz in der Arbeiterbewegung gefunden hatten, denen allerdings gerade deshalb die akademische Anerkennung allzu oft versagt blieb.

Wenn es Wissenschaftler gab, die sich den Zielen der Arbeiterbewegung verpflichtet hatten, dann waren es einzelne, und nicht die Institution Universität.

Veränderungen im Verhältnis zwischen den Arbeitnehmern und ihren Organisationen einerseits und den Universitäten andererseits ergaben sich erst aus den Folgen der Novemberrevolution 1918/19. Das gesamtgesellschaftliche Kräfteverhältnis hatte sich geändert. Betriebsräten und Gewerkschaften wurden in Betrieben und in der Gesellschaft neue, umfangreiche Aufgaben übertragen. Diese waren nicht zu bewältigen ohne die Vermittlung entsprechender Qualifikationen, ohne wissenschaftliche Analyse und ohne wissenschaftliche Beratung. Dessen war man sich bei den Gewerkschaften bewußt und mancherorts war man sich auch in den Universitäten darüber im klaren.

An mehreren deutschen Universitäten entwickelten sich Einrichtungen zur Schulung von Gewerkschaftsmitgliedern und Funktionären. So wurde schon 1919 in Köln ein „Wirtschaftswissenschaftliches Arbeitsseminar" für Gewerkschaftsmitglieder errichtet, woraus sich das „Freigewerkschaftliche Seminar für Wirtschafts-und Sozialwissenschaften" entwickelte, das auch als erste Gewerkschaftshochschule galt. Nach der Verabschiedung des Betriebsrätegesetzes im Jahre 1920 wurden an der Universität Münster Gewerkschafter als Lehrer für Betriebsrätekurse ausgebil. det. 1921 erfolgte die Gründung der „Akademie der Arbeit" an der Universität Frankfurt und im Frühjahr 1922 wurden in Berlin und Düssel, dorf zwei staatliche Fachschulen für Wirtschäft und Verwaltung gegründet, an denen vor allem die gewerkschaftlichen Bedürfnisse berücksichtigt wurden. Daneben gab es einige sehr aktive Zentren der Arbeiterbildung, wo auch enge Kontakte zu Hochschulen bzw. zu einzelnen Akademikern geknüpft wurden. Besondere Aufmerksamkeit verdient heute noch die Volkshochschule Leipzig, die von Hermann Heller zusammen mit einigen anderen Akademikern zu einem bedeutenden Zentrum der Arbeiterbildung ausgebaut wurde. Und auch auf anderen Ebenen wissenschaftlicher Tätigkeit, so in wirtschafts-und rechtswissenschaftlichen Fragen, gab es eine Reihe Wissenschaftler, die den Gewerkschaften beratend und unterstützend zur Seite standen. Dennoch kann nicht behauptet werden, daß es den Gewerkschaften und anderen demokratischen Kräften in der Weimarer Republik gelungen sei, die Universitäten maßgeblich zu beeinflussen. Die Arbeiterbildungseinrichtungen, wie z. B. die Frankfurter Akademie der Arbeit, hatten gegenüber den Universitäten einen Sonderstatus und blieben Ausnahmen. Initiativen dieser Art vermochten nicht in die Universitäten hineinzuwirken, wo ganz im Gegenteil bei Professoren wie Studenten mangelndes Demokratieverständnis und antidemokratisches Verhalten den Nährboden für verfassungsfeindliche Aktivitäten hergaben, die später in aktive Unterstützung der nationalsozialistischen Diktatur übergingen. Nach 1945 war die Hoffnung auf eine demokratische Erneuerung aller gesellschaftlichen Bereiche besonders bei den Gewerkschaften sehr weit gespannt, und die Universitäten waren darin ebenso selbstverständlich eingeschlossen wie das gesamte Bildungssystem.

Von ihnen erwartete man, daß sie nicht länger mehr das „Bildungsmonopol der besitzenden Klasse" absichern würden Die Gewerkschaften haben daher auch ihre Vorschläge zu einer Reform der Hochschule vorgelegt, aber deren Umsetzung scheiterte an der mangelnden Bereitschaft der Universitäten und am Widerstand der Alliierten. Daher stellte der DGB schon 1954 fest, „daß die Ansätze zu einer echten Hochschulreform verkümmert sind. Bei der Bedeutung der Hochschulen entstehen hierdurch besonders ernste Gefahren sozialer und politischer Art" Mittlerweile hatten die Gewerkschaften, wie bereits in den zwanziger Jahren, die Gründung von Hochschuleinrichtungen vorangetrieben, die gewerkschaftlichen Interessen zugänglich waren: Die Akademie der Arbeit wurde wieder eröffnet, die heutige Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg und die Sozialakademie in Dortmund neu gegründet. Später kam als gewerkschaftliches Forschungsinstitut das Wirtschafts-und Sozialwissenschaftliche Institut des DGB hinzu, und die Stiftung Mitbestimmung (seit 1977 Hans-Böckler-Stiftung) etablierte sich als gewerkschaftliches Studienförderungswerk. Zwar wurden an verschiedenen Hochschulorten Gewerkschaftliche Studentengruppen gegründet, aber es mußten doch noch mehr als zwanzig Jahre ins Land gehen, bis es zu formellen Kooperationsverträgen zwischen Hochschulen und Gewerkschaften kommen konnte. In diesen zwanzig Jahren hatte es aber auch Veränderungen gegeben, die in den Hochschulen die Voraussetzung für eine Kooperation ebenso nachhaltig veränderten wie außerhalb der Hochschule. Da ist zunächst einmal die Gründung neuer Hochschulen zu nennen, die als Reformuniversitäten bereits in der Entstehungsphase den Kontakt zu den Gewerkschaften herstellten und festigten und in ihrem Selbstverständnis die Hinwendung zu den Problemen und Personen jener gesellschaftlichen Schichten aufnahmen, deren Zugang zu Lehre und Forschung der Hochschule traditionell sehr erschwert war.

Andererseits ist besonders die wirtschaftliche Entwicklung der siebziger Jahre durch Verringerung des wirtschaftlichen Wachstums, gesteigerte Rationalisierung vieler Arbeitsabläufe in Werkstätten und Büros und durch einen krisenhaften Anstieg der Arbeitslosen-zahlen gekennzeichnet. Neue Technologien und Produktionsverfahren vernichten nicht nur Arbeitsplätze, sondern beeinträchtigen in ihrer Gesamtheit die Arbeits-und Lebensbedingungen der Arbeitnehmer und ihrer Familien empfindlich. Eine gewerkschaftliche Interessenvertretung, die auch die soziale Beherrschung der Produktivitätsentwicklung zum Ziel hat, ist auf die wissenschaftliche Analyse der Gefährdungsbereiche von Arbeitnehmerinteressen angewiesen. Daher heißt es in einer Veröffentlichung im Rahmen der Hans-Böckler-Stiftung: „Ohne wissenschaftliche Beratung und Unterstützung von Betriebsräten und Gewerkschaften können die durch Wirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit und Rationalisierung entstehenden Probleme nur unzureichend gelöst werden. Im Zuge der Verwissenschaftlichung technischer, wirtschaftlicher und politischer Prozesse wächst die Notwendigkeit, sich der Wissenschaft als Planungs-, Analyse-und Prognoseinstrument zu bedienen. Eine kritische Auseinandersetzung mit Zielen, Ansatzpunkten und Inhalten wissenschaftlicher Arbeit kann dazu beitragen, abweichend von einem bloß reaktiven Verhalten Elemente zukunftsorientierter Interessenvertretung zu verstärken. Baustein dieses Konzepts ist die Beeinflussung von oder auch der Hinweis auf Problemstellungen am sozialen Ort ihrer theoretischen Bearbeitung, der Hochschule. Die damit verbundene Erschließung neuer Erkenntnismöglichkeiten für Hochschule und Gewerkschaften bezieht sich dabei nicht nur auf den Bereich der Forschung, sondern schließt wissenschaftliche Aus-und Weiterbildung unmittelbar mit ein."

Entwicklungen, wie sie hier beschrieben werden, haben die Gewerkschaften in den siebziger Jahren veranlaßt, mit Nachdruck auf die Hochschulen zuzugehen und ihr Kooperationsanliegen vorzutragen. Nicht überall war auf Hochschulseite die Bereitschaft groß, dieses Kooperationsangebot auch aufzugreifen. Zu groß waren vielfach die Interessenbindungen einzelner Wissenschaften und Wissenschaftler an die Unternehmer und ihre betrieblichen Praxisfelder. Das wird bis heute deutlich an der großen Distanz, die bei fast allen Ingenieurwissenschaftlern gegenüber den Gewerkschaften vorherrscht.

Andererseits darf nicht übersehen werden, daß es auch schon in den fünfziger und sechziger Jahren Kooperationsbeziehungen zwischen Gewerkschaften und Wissenschaft gab, wobei man allerdings betonen muß, daß sie auf einzelne Wissenschaftler beschränkt blieben und nicht die Institution Hochschule betrafen. Gleichwohl zeigen z. B. die „Automationskongresse", die zu den Themen Technologischer Wandel, Rationalisierung und soziale Folgewirkungen mehrfach unter großer Beteiligung in-und ausländischer Fachwissenschaftler von der IG Metall durchgeführt wurden, daß es eine punktuelle, weil themenbezogene Kooperation stets gegeben hat Aber auch die Anti-Atomtod-und Anti-Notstandsgesetzgebungskampagne brachten viele Gewerkschafter und Intellektuelle enger zusammen.

In den siebziger Jahren zeigten sich Strukturveränderungen an den Hochschulen, die mit Veränderungen im Beschäftigungssystem ein-hergingen, von denen auch die Akademiker-berufe betroffen wurden. Starkes Anwachsen der Studienanfängerzahlen vermehrte die Zahl der akademisch qualifizierten Arbeitnehmer, deren Arbeitsplatzsituation sich dadurch nicht nur verunsicherte, sondern unter dem Druck umfassender Rationalisierungsmaßnahmen auch eine tendenzielle Angleichung der Arbeitsbedingungen von Hochschulabsolventen mit anderen Arbeitnehmern zur Folge hat.

Angesichts verhärteter Strukturen an den Hochschulen, die eine Anpassung der Studiengänge und Arbeitsbedingungen der Hochschulbeschäftigten an die neueren Entwicklungen im Beschäftigungssystem kaum noch zuließen, wurde auch innerhalb der Hochschulen der Ruf nach Studienreform und Mitbestimmung laut. Die Gewerkschaften haben Forderungen dieser Art aufgegriffen und sie zu Antriebsmomenten der eigenen Politik gemacht Daß Studienreform zu den Aufgabenfeldern der Gewerkschaften gehört, auch der Industriegewerkschaften, ist neueren Datums, spiegelt aber Wissenschaft das neue Verhältnis zwischen und Arbeitnehmerorganisationen wider.

Unter diesen stark veränderten Umständen war es in den siebziger Jahren möglich, die Kooperation zwischen Hochschule und Gewerkschaften zu intensivieren, institutionell abzusichern und mit Leben zu erfüllen — so schwer letzteres auch manchmal gewesen sein mag. Mittlerweile gibt es mehr oder weniger institutionell abgesicherte Kooperationsvereinbarungen zwischen Hochschule und Gewerkschaft in Bremen, Oldenburg, Berlin, Bochum, Dortmund, Saarbrücken, Konstanz, Marburg und Hamburg.

Die weitestgehende Kooperation wurde zwischen der Ruhr-Universität Bochum und der IG Metall vereinbart. Der Kooperationsvertrag wurde auf höchster Ebene zwischen Rektorat und Vorstand der IG Metall abgeschlossen. Damit wurde Bochum die erste Universität in der Bundesrepublik, die eine Zusammenarbeit mit einer Industriegewerkschaft institutionell vereinbarte; und die IG Metall war die erste Einzelgewerkschaft, die eine vertrag, liehe Bindung der Zusammenarbeit mit einer Universität einging. Die Vereinbarung geht vom Grundsatz der Gleichberechtigung der Vertragspartner aus, die sich darin verpflichten zusammenzuarbeiten: „Sie sind an einer verstärkten Hinwendung der Wissenschaft zu Problemen interessiert, die sich aus den Lebensverhältnissen der abhängig Beschäftigten und deren Arbeitsbedingungen im Betrieb sowie unmittelbar am Arbeitsplatz ergeben.“

Ein Kuratorium, gleichermaßen von Gewerkschaftern und Wissenschaftlern besetzt, sichert die Durchführung des Vertrages; in fünf Ausschüssen werden die gemeinsamen Arbeitsvorhaben diskutiert und vorbereitet und eine gemeinsame Arbeitsstelle, finanziert aus Mitteln der Landesregierung, dient der Unterstützung, Koordination und Umsetzung der Aktivitäten.

Diese „Vereinbarung über Zusammenarbeit" zwischen der Ruhr-Universität und der IG Metall wurde vor sieben Jahren abgeschlossen; zwar ist diese Vereinbarung auf höchster Ebene ein wichtiges Fundament für gemeinsame Vorhaben, aber die Erfahrungen mit der Praxis zeigen, daß diese nicht einfach durchzuführen ist. In Bochum wie an anderen Kooperationsorten entstehen Verständigungsprobleme und Reibungsverluste vor allem aus der Unkenntnis der jeweiligen Arbeitsbedingungen und Problemlagen. Die Gewerkschafter vermissen in der wissenschaftlichen Bearbeitung alltäglicher Probleme die Praxisnähe und das Eingehen auf ihre spezifischen Interessenlagen; Wissenschaftler sehen sich in ihrem Anspruch, die wissenschaftlichen Standards einhalten zu müssen, oft mißverstanden.

Allerdings werden auch in den Diskussionen der wissenschaftlichen Öffentlichkeit immer häufiger Zweifel an der Angemessenheit eben dieser Standards geäußert. Die Frage ist, ob traditionelle wissenschaftliche Methoden in der Lage sind, jene Distanz zu überwinden, die bisher Arbeitnehmer und Wissenschaft voneinander getrennt hielt, und ob sie die Möglichkeit bieten, in den Arbeitnehmern nicht länger mehr Objekte der wissenschaftlichen Forschung zu sehen, sondern sie als gleichberechtigte Partner zu akzeptieren, mit denen zusammen neue können.

Erkenntnisse gewonnen werden Fragen dieser Art müssen sich die Teilnehmer einer Kooperation von Wissenschaft und Arbeitnehmern oder ihren Organisationen stets aufs neue vorlegen. Von der Fähigkeit, dazu tragfähige Antworten zu finden, wird die Zukunft der Kooperation abhängen. Ansätze, aus derartigen Fragestellungen zu neuen wissenschaftlichen Standards zu gelangen, liegen vor. Die Konzeption einer arbeitnehmerorientierten Wissenschaft steckt zwar noch in ihren Anfängen und hat in ihrem ersten Entwurf vielerlei Kritik auf sich gezogen. Dennoch stellt sie den Versuch von Wissenschaftlern dar, gemeinsam mit Gewerkschaftern die Grundzüge einer arbeitnehmerorientierten Forschungspolitik zu entwickeln. Daß dabei manche der Überlegungen noch unzureichend sind, ändert nichts an der Notwendigkeit, dieses Problem zum Gegenstand weiterführender Forschung und Diskussion zu machen.

II. Aspekte einer Konzeption arbeitnehmerorientierter Wissenschaft

Die Konzeption arbeitnehmerorientierter Wissenschaft ist im Rahmen eines vom Deutschen Gewerkschaftsbund und vom Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft getragenen Forschungsprojekts an der Universität Bielefeld entwickelt worden, wo Wissenschaftler und Gewerkschafter in einem engen Kommunikationsprozeß standen Die Ausgangsfrage für dieses Projekt ist einfach und plausibel: Wie konnte es geschehen, daß die Forschung insbesondere auf dem Gebiet neuer Technologien zwar in kurzer Zeit große Erfolge vorweisen konnte, aber „die aktuelle und künftig mögliche Gefährdung von Arbeitnehmerinteressen im Vollzug technologischer und organisatorischer Innovationen ... in der Regel nicht mit untersucht (wird)"

Kurz ausgedrückt hieß die Frage: Warum hat man nur an das technisch Machbare gedacht und die Menschen einfach vergessen? Am Beispiel der staatlichen Forschungspolitik für die Entwicklung neuer Technologien der Daten-und Textverarbeitung wird dieser Frage nachgegangen. In einer Analyse der Herausbildung von Forschungsschwerpunkten wird gezeigt, „über welche internen und externen Mechanismen es kapitalorientierten Interessen gelingt, erfolgreich Einfluß auf die Hochschulforschung zu nehmen ... Dabei sollen auch die Selbstregulierungsmechanismen der Hochschulforschung und die durch diese verursachten Schwierigkeiten, gesellschaftlichen Bedarf an Forschung aufzunehmen und zu befriedigen, in die Analyse einbezogen werden“

Einseitige Interessenbindung und eingefahrene Selbstregulierungsmechanismen waren und sind Hindernisse für die Aufnahme von Arbeitnehmerinteressen. Damit Forschung aber die Fähigkeit gewinnt, diese in ihren wissenschaftlichen Arbeitsprozeß einzubeziehen, werden aus der gewerkschaftlichen Diskussion drei Kriterien für eine stärkere Orientierung der Wissenschaft an den Interessen der Arbeitnehmer übernommen und daraus eine Konzeption arbeitnehmerorientierter Wissenschaft erstellt. Dabei wird ausdrücklich betont, daß „das Projekt nicht die Absicht (verfolgt) und auch nicht die Notwendigkeit (sieht), eine neue Wissenschaftstheorie zu entwickeln. Vielmehr werden einzelne durchaus bekannte wissenschaftstheoretische Aspekte herausgegriffen und für die eigene Arbeit überprüft und fruchtbar gemacht.“

Als die drei entscheidenden Kriterien für arbeitnehmerorientierte Wissenschaft werden — der Interessenbezug, — der Praxisbezug und — die Kooperation erläutert.

Interessen werden als „ein bewußtes, d. h. ein zwecksetzendes praktisches Verhältnis zur Umwelt (gekennzeichnet), die durch Handeln den eigenen Bedürfnissen angenähert werden soll(en)"

Grundbedürfnisse von Arbeitnehmern nach Arbeitsplatzsicherheit, angemessenem Einkommen und Humanisierung der Arbeit werden am ehesten von den Gewerkschaften aufgegriffen und durchsetzbar gemacht. Ihnen wird die Fähigkeit zugetraut, „unterschiedliche Interessen von Arbeitnehmern aufzunehmen, Interessengegensätze der Arbeitnehmer auszutragen, kollektive Interessen von Arbeit-nehmern zu entwickeln und verschiedene Gruppen von Arbeitnehmernin gemeinsamem Handeln zu vereinigen'' Dabei wird auch versucht, den Vorwurf abzuwehren, dieser Interessenbezug gefährde den wissenschaftlichen Charakter der so gewonnenen Aussagen, weil Objektivität nicht mehr gewährleistet sei. Dem wird entgegengehalten, daß die Objektivität wissenschaftlicher Aussagen unabhängig von Interessen sei. „Denn sonst würde es mehrere Wahrheiten geben können ... Der wissenschaftliche Charakter von Aussagen wird danach beurteilt, ob diese Aussagen ein ädäquates Bild des Erkenntnisgegenstandes wiedergeben ... Zum einen kann Objektivität durch die Befolgung methodologischer Normen des wissenschaftlichen Arbeitens und die Anwendung von Forschungstechniken gewährleistet werden ...

Zum anderen kann sich der Grad der Objektivität wissenschaftlicher Aussagen bei ihrer praktischen Anwendung erweisen." Abschließend wird ein gewerkschaftliches Argument noch einmal aufgegriffen, indem darauf verwiesen wird, daß durch den Interessen-bezug Objektivität erst ermöglicht wird, weil sich daraus Anstöße zu neuen und komplexeren Fragestellungen ergeben, die aufgrund der bisher üblichen Interessenbindungen an die Kapitalinteressen unberücktsichtigt bleiben mußten.

Das Kriterium des Praxisbezuges zielt auf die Berücksichtigung von Arbeitnehmerinteressen auf allen Stufen des Forschungsprozesses, also bereits im Stadium der Prioritätensetzung bei der Festlegung von Forschungsfeldern; aber es zielt ebenso auf die Umsetzung von Forschungsergebnissen im gewerkschaftlichen Handeln. „Ohne eine Rezeption wissenschaftlicher Ergebnisse durch Gewerkschafter und die Existenz bestimmter . Kanäle', über die Erkenntnisse in gewerkschaftliche Politik einfließen können, ist die Nutzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen undenkbar."

Kooperation als letztes Kriterium arbeitnehmerorientierter Wissenschaft stellt den Zusammenhang von Theorie und Praxis her. Sie ist Instrument des Erkenntnisprozeßes, weil sie dem Wissenschaftler den Zugang zu jenen Erkenntnissen und Erfahrungen eröffnet, die im Organisationswissen der Arbeiterorganisationen angesammelt sind. Sie ermöglicht andererseits den Transfer wissenschaftlicher Er-kenntnisse in die gewerkschaftliche Praxis weil Wissenschaftler an deren Umsetzung selbst teilhaben. Somit trägt Kooperation zum Abbau jener sozialen Distanz zwischen Wis. senschaftlern und Arbeitnehmern bei, die über lange Epochen das Verhältnis beider so belastet hat.

Die Kritik an dieser Konzeption entzündete sich zum einen an der verkürzten inhaltlichen Bestimmung der Kriterien, die nur durch ge. werkschaftliche Politik und Gewerkschaftshandeln ihren Sinn erhalten: „Die Problematik des Zusammenhanges von objektiver Lage, . objektiven'Interessen einerseits, deren subjektivem bzw. institutionellem Reflex andererseits, wird nicht einmal erwähnt... Dieses Defizit ist besonders gravierend, da ausschließlich gewerkschaftlich artikulierte Interessen Referenzpunkt dieser arbeitnehmerorientierten Wissenschaft sein sollen ... Das Kernproblem einer Arbeitnehmerorientierung der Wissenschaft wird damit ignoriert: die zentrale Frage nach der adäquaten Ermittlung von Arbeitnehmerinteressen und deren Gültigkeit wird nicht einmal gestellt ... Zwar ist gewerkschaftliches Handeln von zentraler Bedeutung für die Durchsetzung von Arbeitnehmerinteressen; beschränkt sich arbeitnehmer-orientierte Wissenschaft jedoch ... vornehmlich auf Zulieferarbeiten für jeweils aktuelle . gewerkschaftliche Praxis', läuft sie Gefahr, nur noch Stabsfunktionen für Gewerkschaftsorganisationen zu erfüllen.“

Diese Kritik kommt daher zu der Vermutung, daß die „arbeitnehmerorientierte Wissenschaft“ nur das Gegenstück zur kapitalorientierten sei und „deren Struktur nur mit anderen Inhalten auffüllt bzw. an anderen Interessen orientiert wird"

So sehr diese Position eine Einstellung verrät, die an deutschen Hochschulen Tradition hat — insofern sie von tiefsitzender akademischer Abneigung gegen die Organisationsstärke der organisierten Arbeiterschaft geprägt ist —, so geht ein anderer kritischer Einwand von den Erfahrungen gewerkschaftsbezogener Aktionsforschung aus. Dieser Einwand richtet sich gegen „die Trennung zwischen zwei unterschiedlichen Erkenntnisweisen und Erkenntnisqualitäten ... Systematisch-methodisches Erkennen bleibt also Domäne der Wis-senschaft, in die die nichtwissenschaftlich tätigen Arbeitnehmer sich nicht wirklich einmischen können, weil sie dazu nicht kompetent sind."

Diese Trennung, so wird weiter argumentiert, mag für weite Bereiche möglicher Kooperation von Wissenschaft und Gewerkschaft einleuchtend sein, so z. B. bei den Natur-und Ingenieurwissenschaften. Brüchig wird diese Trennungslinie, „wenn interessengeleitetes Handeln der Lohnabhängigen selber zum Gegenstand kooperativer wissenschaftlicher Forschung wird, wenn also nicht primär objektive Strukturen und Verhältnisse, sondern die handelnden Kollegen selber, ihre Lernprozesse und Willensbildungsstrukturen, zum . Objekt'der Untersuchung werden Dann, so heißt es weiter, sind andere Methoden notwendig, solche nämlich, in denen „es keinen prinzipiellen Kompetenzenunterschied in bezug auf Erkenntnisse zwischen Wissenschaftlern und Untersuchten (gibt). Vielmehr müssen die Untersuchten selber zu Forschern, die Forscher zu Mit-Lernenden werden."

Diese Kritik ist nicht unwidersprochen geblieben; es wurde u. a. darauf verwiesen, daß die Möglichkeit der Arbeitnehmer, Mitforscher zu sein, in verschiedenen Disziplinen unterschiedlich ausgeprägt und in der Umsetzungsforschung noch am ehesten gegeben sei

Gerade die zuletzt zitierte Kontroverse zeigt, daß die Konzeption der arbeitnehmerorientierten Wissenschaft durch Diskussionen weiterentwickelt werden kann, aber vor allem durch die Forschungsprojekte selbst. Daß hier auf ein Forschungsprojekt verwiesen wird, in dem es ganz wesentlich um Lernprozesse von abhängig Beschäftigten geht, lenkt die Aufmerksamkeit auf die Arbeiterbildung ganz allgemein, die schon stets ein Feld arbeitnehmer-orientierter Vorgehensweisen war und an der sich die Probleme der Kooperation ebenso darstellen lassen wie die der arbeitnehmer-orientierten Wissenschaft.

III. Arbeitnehmerorientierung der Wissenschaft am Beispiel der Bildungsarbei

Wenn es einen Bereich der Arbeiterbewegung gibt, in dem die Zusammenarbeit der Wissenschaftler mit den Arbeitern und ihren Organisationen schon eine Tradition hat, dann ist es die Bildungsarbeit. Diese Tradition reicht weit ins 19. Jahrhundert zurück und hatte verschiedene Ausdrucksformen, die von der ersatzweisen Elementarbildung bis zur politischen Bildung reichten. Die Rolle der Bildung bei der Entstehung der Gewerkschaften ist mehrfach dargestellt worden, denn „die Forderung nach einer Bildung, die . allgemein', d. h. öffentlich und unentgeltlich und also jedermann zugänglich sein sollte, findet sich unter den ersten, die von der jungen, selbst von der gerade erst ins Leben tretenden . embryonalen'Arbeiterbewegung gestellt worden sind"

Es gab stets bürgerliche Intellektuelle, die bereit waren, die Arbeiterbewegung bei der Durchsetzung dieser Forderung zu unterstützen; aus dieser Kooperation entstand bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die politische Arbeiterbildung. Es waren bürgerliche Intellektuelle, die „im /wesentlichen die . bildnerische Vorleistung'erbracht (haben), die den organisatorischen Zusammenschluß der Arbeiterschaft um die Mitte des vorigen Jahrhunderts überhaupt erst möglich machte. Sie tragen entscheidend dazu bei, daß der Begriff des . Proletariats'nicht mehr nur einen neu sich formierenden Stand bezeichnete, sondern programmatischen Charakter annahm, daß sich ein . proletarisches Bewußtsein'bildete."

In den folgenden Jahrzehnten haben wissenschaftlich qualifizierte Vertreter des Bürgertums ganz wesentlichen Anteil an dem Ausbau eines wirkungsvollen Bildungswesens in den Organisationen der Arbeiterbewegung gehabt. Auch nach 1918/19 waren es die Bildungsprobleme der Arbeiter und ihrer Funktionäre in den Organen der Interessenvertretung, die Wissenschaftler, Arbeitnehmer und Gewerkschaften zusammenführten. Die Öffnung der Universitäten für Gewerkschafter, wie z. B. in Köln und Münster, geschah, um diesen die dringend notwendigen Bildungsmöglichkeiten einzuräumen. Lange bevor sich die wissenschaftliche Forschung den spezifischen Problemen der Arbeitnehmer zuzuwenden bereit war, wagten Teile der Universität als Einrichtung der Lehre so etwas wie eine soziale Öffnung. In diesen Zusammenhang gehört auch die aktive Mitarbeit von namhaften Wissenschaftlern in Einrichtungen der Arbeiterbildung. Stellvertretend für andere sei hier nur an Hermann Heller, Ernst Fraenkel und Fritz Borinski erinnert, die sich in der Arbeiterbildung einen ebenso bedeutsamen Namen gemacht haben wie in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit als Forscher und Hochschullehrer.

Daß die Bildungsarbeit ein Bereich ist, der für die Kooperation von Wissenschaftlern und Arbeitnehmern geradezu prädestiniert ist, hängt mit seinen Gegenstandsbereichen zusammen: Zum einen erfordern die Inhalte der Bildungsarbeit oft jenen Sachverstand, der nur durch eine wissenschaftliche Ausbildung erworben werden kann. Das wird bei juristischen Problemen ebenso deutlich wie bei Fragen wirtschaftlicher Zusammenhänge oder moderner Technologien.

Zum anderen ist die Aufgabe des Lehrens — die Vermittlungsproblematik allgemein — so vielschichtig, daß der Verzicht auf wissenschaftlich ermittelte und entwickelte Methoden die Arbeiterbildung vor große Probleme stellen würde. Hier soll keineswegs einer — problematischen — Pädagogisierung der Arbeiterbildung das Wort geredet werden, aber dennoch hat die Erfahrung gezeigt, daß der Erfolg von Bildungsarbeit von der Qualität der Methoden ganz entscheidend abhängt. Das gilt insbesondere für jene Bereiche der Arbeiterbildung, die nicht nur dabei verharren wollen, Handlungsrezepte zu „lehren", sondern mit dem Anspruch auftreten, ein kritisches Bewußtsein von der sozialen, wirtschaftlichen Wirklichkeit zu vermitteln. Dort, wo Theorie als Teil der Praxis begriffen wird, stellen sich der Bildungsarbeit große Probleme. Ohne die solidarische Kooperation mit Wissenschaftlern sind sie nur schwer lösbar.

Genau an diesem Punkt ergab sich auch nach 1945 eine der fruchtbarsten Kooperationsprozesse zwischen Gewerkschaftern und Wissenschaftlern. Eine der wichtigsten Konzeptionen der Arbeiterbildung entstand aus der Kooperation zwischen Wissenschaftlern und Gewerkschaftern im Rahmen der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit. Als Oskar Negt gegen Ende der sechziger Jahre seine Konzeption der Arbeiterbildung unter dem Titel „Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen“ vorlegte, handelte es sich um das Ergebnis der Mitarbeit eines Wissenschaftlers in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit der IG Metall. hingewiesen

Diese Konzeption war für die gewerkschaftliche Bildungsarbeit und darüber hinaus auch für die Erwachsenenbildung schlechthin von außergewöhnlicher Bedeutung. Der Versuch, sie umzusetzen, war für weite Bereiche der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit lange Zeit bestimmend gewesen. Viele der danach entwickelten Ansätze wurden in der Auseinandersetzung mit dieser Konzeption gewonnen.

Die Ausgangsfrage bei diesen Projekten war meist die Frage, wie jene erfahrbaren Konflikte der Teilnehmer inhaltlich weiterentwikkelt und auf ihre gesellschaftlichen Bedingungen hin untersucht werden müssen, damit diese als Strukturkonflikte der bestehenden Gesellschaft erkannt werden und somit Lernen erst ermöglicht wird. Lernprozesse an und mit den Alltagserfahrungen der Teilnehmer — diese spezifische Form der Teilnehmerorientierung ist, wenn man so will, ein arbeitnehmerorientiertes Element dieser Konzeption von Arbeiterbildung.

Da es bei der Umsetzung dieser Konzeption in der Praxis der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit Schwierigkeiten gegeben hatte, sahen sich die Gewerkschaften veranlaßt, neue Konzepte zu entwickeln. Dabei haben sie Vorgehensweisen entwickelt, die später in die Konzeption der arbeitnehmerorientierten Wissenschaft eingeflossen sind. Das trifft beispielsweise für das Modellseminarprojekt der IG Metall zu, das von 1973 bis 1978 am Bildungszentrum der IG Metall in Sprockhövel realisiert wurde. Dabei ging es um die Erarbeitung eines Curriculums für die Qualifikation von Betriebsratsmitgliedern nach § 37 Abs. 7 Betriebsverfassungsgesetz. Ausgehend von den Erfahrungen mit dem „Erfahrungsansatz", wie jene Variante der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit genannt wurde, die sich an der Negtschen Konzeption des „Exemplarischen Lernens" zu orientieren versuchte, sollten Grundzüge einer neuen Konzeption erarbeitet werden, die den erweiterten Ansprüchen der* Teilnehmer an die Vermittlung von Handlungswissen gerecht werden konnte.

Die Projektgruppe, die damit beauftragt wurde, setzte sich aus Wissenschaftlern und Mitarbeitern der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit zusammen. Die Aufgaben der wissenschaftlichen Begleituntersuchung bestanden zum einen in der Ermittlung von Voraussetzungen und Bedingungen der Weiterbildung von betrieblichen Interessenvertretern; zum anderen bestanden sie in der lerntheoretischen Fundierung des Seminarmodells und in einem Beitrag zur lernpsychologischen Strukturierung der Lerngegenstände.

Die Forschungsmethoden entsprachen den Prinzipien der intervenierenden Aktionsforschung, d. h. Forschungsaufgaben wurden in Kooperation mit den pädagogischen Mitarbeitern festgelegt, die einzelnen Schritte des Forschungsprozesses wurden gemeinsam erörtert und die Umsetzung der Ergebnisse war Gegenstand kooperativer Diskussionen. „Dieser Prozeß“, so heißt es im Abschlußbericht der sozialwissenschaftlichen Begleituntersuchung, „warf bei der kontinuierlichen und lang genug andauernden Kooperation mit der Referenten-gruppe keine unüberwindbaren Probleme auf. Es fand ein wechselseitiger Lernprozeß zwischen Referenten und Wissenschaftlern statt.“ \ Die in diesem Projekt praktizierte Arbeitnehmerorientierung beschränkte sich allerdings nicht nur auf eine Orientierung an den Interessen der Gewerkschaft als Träger der Bildungsveranstaltungen, sie schließt vielmehr die Teilnehmer selbst mit ein. Deren Bildungserwartungen wurden in umfangreichen Diskussionen ermittelt und zum bestimmenden Konstruktionsprinzip des Curriculums. Die Abstimmung der Seminarthemen mit den Teilnehmern und die Ermittlung und Einfügung ihrer Seminarerwartungen ist Bestandteil des Seminarmodells. Die solchermaßen in praxisnaher Kooperation mit Wissenschaftlern entwickelten Lehr-und Lernprinzipien haben nach Abschluß dieses Projektes, das aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft gefördert wurde, Eingang in verschiedene andere Seminarmodelle gefunden. Auch dieser Transfer von Erkenntnissen in andere Seminare, insbesondere in solche, die auf örtlicher Ebene von nebenberuflichen Referenten durchgeführt werden, vollzog sich kooperativ unter Einbeziehung derer, die jene Seminare durchführen müssen.

Das „Sprockhövler Modellseminar" gilt weithin als beispielhaft für ein gelungenes Kooperationsprojekt zwischen Gewerkschaft und Wissenschaft. Die Ergebnisse dieses kooperativen Projekts haben auf vielfältige Weise ihre Umsetzung in der Praxis der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit gefunden. Dort, aber auch in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit, haben sie Diskussionen angeregt, die teilweise immer noch mit großer Heftigkeit geführt werden. Der Deutungsmusteransatz und das Prinzip des Anschlußlernens als Ergebnisse dieses Projekts haben ihre Anwendung gefunden, haben aber auch Kritik provoziert. Vor allem die curriculare Strenge, mit der dieser neue Ansatz in differenziert ausformulierten Leitfäden für den Seminarverlauf seinen Ausdruck fand, provozierte den Vorwurf, gewerkschaftliche Bildungsarbeit verliere damit ihre Teilnehmerorientierung und erstarre in traditionellen Vorgehensweisen. Es zeigte sich aber ebenso, daß in der Umsetzung und kritischen Reflexion dieser Ergebnisse die gewerkschaftliche Bildungsarbeit neue Vorgehensweisen hervorbringt. Insofern läßt sich sagen, daß dieses Projekt erfolgreich war, denn es hat weit in die gewerkschaftliche Organisation hineingewirkt und dort deutlich gemacht, daß Wissenschaft und Arbeitnehmer mit ihren Gewerkschaften traditionell gewachsene Distanzen zu überbrücken vermögen und gut miteinander arbeiten können.

Ein entsprechender Problemdruck einerseits, aber auch die positiven Erfahrungen der IG Metall aus diesem Projekt haben den Boden für ein Kooperationsvorhaben im Bereich der Arbeiterbildung bereitet, das nicht mehr auf Projektebene angesiedelt ist und auch nicht mehr zeitlich begrenzt ist. Aus dem Kooperationsvertrag zwischen der IG Metall und der Ruhr-Universität Bochum ist ein Forschungsinstitut hervorgegangen, das sich mit Fragen der Arbeiterbildung befaßt.

Das Forschungsinstitut für Arbeiterbildung e. V. (FAB) in Recklinghausen ist eine Neugründung besonderer Art, weil damit die Kooperation zwischen Gewerkschaft und Wissenschaft eine neue Qualität angenommen hat. Aber das besondere besteht nicht nur darin, daß eine Industriegewerkschaft und eine Hochschule sich entschlossen haben, gemeinsam ein Forschungsinstitut zu gründen und zu betreiben. Außergewöhnlich daran ist auch die aktive Unterstützung dieser Kooperationseinrichtung durch den Staat, in diesem Fall durch die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen, die den Hauptanteil der finanziellen Förderung übernommen hat. Hier zeigt sich, daß der Kooperation von Hochschule und Gewerkschaft auf staatlicher Seite ebenso große Priorität eingeräumt wird wie den Problemen der Arbeiterbildung. Es sollte nicht verschwiegen werden, daß diese Priorität von einer breiten politischen Mehrheit getragen wird, denn der Landtag in Düsseldorf hat die Institutsgründung einstimmig befürwortet.

Den Auftrag des neu gegründeten Forschungsinstituts umriß der ehemalige nordrhein-westfälische Wissenschaftsminister in seiner Rede auf der Gründungsversammlung im April 1980 dahingehend, daß das Institut „auf Arbeiterbildung und nicht einfach auf Arbeitnehmerbildung" ausgerichtet sei. Damit ist gemeint, das Institut soll bewußt an Tradition und Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung anknüpfen. Der Begriff der Arbeiterbildung dürfe dabei nicht zu eng gefaßt werden:

Er solle zum einen nicht nur auf die Arbeiter selbst eingegrenzt werden, sondern auch ihre Familienangehörigen einbeziehen, zum anderen müsse unter Bildung auch Sprechfähigkeit und Kultur verstanden werden. Ausdrücklich hob der Minister die Notwendigkeit eines handlungs-und umsetzungsbezogenen Forschungsansatzes hervor. Die Wirklichkeit der arbeitenden Menschen solle „in den Blick der Wissenschaft" genommen werden. Dieses Verhältnis von „Wissenschaft und Wirklichkeit" sei in besonderer Weise auf Kooperation verwiesen — mit den wissenschaftlichen Einrichtungen im Ruhrgebiet ebenso wie mit den Organisationen der Arbeiterbewegung, in erster Linie also mit den Gewerkschaften. Dieser Anspruch hat auch bei der Zusammensetzung des Trägervereins den Ausschlag gegeben: Neben IG Metall, Ruhruniversität und Land Nordrhein-Westfalen gehören ihm der DGB-Landesbezirk NRW, die Hans-Böckler-Stiftung, Arbeit und Leben NRW sowie die Stadt Recklinghausen als Mitglieder an, die mit zum Teil beträchtlichen. Mitteln den Haushalt des Instituts finanzieren.

Der Kooperationsgedanke, der in der Gründungsversammlung formuliert wurde, ist in der Satzung des FAB noch einmal aufgegriffen worden: Dort ist festgelegt, daß die Ruhr-Universität und die IG Metall den geschäftsführenden Vorstand des Trägervereins bilden. Dasselbe gilt für die Institutsleitung: Auch hier arbeiten ein Gewerkschaftler und ein Vertreter der Ruhr-Universität kollegial zusammen. Fragt man nach den konkreten Aufgaben des Instituts, das im April 1981 seine Tätigkeit aufgenommen hat, so können die Mitarbeiter zum einen auf die Traditionsbindung verweisen, die der Gründungsauftrag ausdrücklich hervorhebt; andererseits ergeben sich die Aufgaben aus den Lebens-und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer und ihrer Familien.

Arbeiterbildung, die sich der Tradition der deutschen Arbeiterbewegung verpflichtet weiß, zugleich aber auch die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse sowie die objektive und subjektive Lage der Arbeiter zu berücksichtigen sucht, wird in der Befähigung zu individuellem und kollektivem Handeln auf der Basis selbständiger Auseinandersetzung mit politischer, sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Wirklichkeit ihr zentrales Ziel sehen. Dies schließt die Entfaltung eines kritischen Bewußtseins der kollektiven Lage abhängig Beschäftigter ein. Angesichts der ökonomisch-technologischen Wandlungsprozesse und wachsender Entfremdung in vielen Lebensbereichen hat Arbeiterbildung die Funktion zu verhindern — und dies ist das zentrale Anliegen der Arbeiterbewegung immer gewesen —, daß Arbeitnehmer zu Objekten der gesellschaftlichen Prozesse herabsinken, von angeblichen Sachzwängen ökonomisch-technologischer Prozesse überwältigt und politisch entmündigt werden. Arbeiterbildung soll nicht nur die gesellschaftlichen Strukturen und Veränderungen bewußt machen, sondern diese auch als gestaltbar erweisen und die Fähigkeit entwickeln, auf diese einzuwirken, damit sie den Interessen der abhängig Beschäftigten entsprechen, um damit demokratischer Selbstbestimmung den Weg zu bereiten. Angesichts der gegenwärtigen ökonomischen Krise, die von vielen Arbeitern und ihren Familien als drastische Verschlechterung ihrer Lebens-und Arbeitsbedingungen erfahren wird, wächst die Bedeutung der Arbeiterbildung, weil sie nicht nur zur subjektiven und objektiven Bewältigung dieser Situation beitragen kann, sondern auch das Gegenmachtpotential der Arbeiter und ihrer Familien in den Gewerkschaften und in anderen solidarischen Organisationsformen zu stärken vermag. Die Gewerkschaften sind heute zwar der wichtigste Träger von Arbeiterbildung. Geht man allerdings 'davon aus, daß die Gewerk-B sChaften in Deutschland stets mehr als nur ein Interessenverband zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen waren, dann erweitern sich die traditonellen Schutz-und Gegenmachtbemühungen zu einem Aufgabenkomplex, der grundsätzlich alle Fragen einer menschenwürdigen Existenz in der gegenwärtigen Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung berührt.

Diese Entwicklung stellt die gewerkschaftliche Bildungsarbeit vor neue Aufgaben, denn die Beschränkung auf betriebliche Probleme erscheint fragwürdig und die Öffnung für neue Erfahrungsbereiche, die außerhalb der Betriebe angesiedelt sind (in der Familie oder im Wohnbereich z. B.), wird immer dringender notwendig. Dabei wird sie kaum auf wissenschaftlich vermittelte Vorgehensweisen verzichten können.

Schon jetzt gibt es eine Reihe verschiedener Trägereinrichtungen, die teils überregional, teils auf Stadtteilebene den Arbeitern und ihren Familien, vor allem auch Jugendlichen, Arbeitslosen und Frauen, Bildungsangebote machen. In jüngster Zeit hat besonders die Arbeiterjugend autonome Organisationsformen hervorgebracht, die zwar keine systematische Bildungsarbeit vorsehen, deren Bedeutung als Ort nichtinstitutionellen und selbstorganisierten Lernens dennoch nicht gering geschätzt werden darf.

Betrachtet man das Bild, das die Arbeiterbildung insgesamt bietet, so erscheint es in mehrfacher Beziehung unbefriedigend. Die Defizite sind offensichtlich:

— Geringe Kommunikation der Träger verhindert den Transfer wichtiger Erfahrungen; — enge Zielgruppenorientierung führt dazu, daß große Teile der Arbeiterschaft von Maßnahmen der Arbeiterbildung nicht erreicht werden;

— große gesellschaftliche Probleme wie die Beherrschbarkeit neuer Technologien, das Verhältnis von Wachstum und Ökologie, die Abwendung weiter Teile der Arbeiterjugend von allgemeinverbindlichen Normen (um nur einige zu nennen) sind von der Arbeiterbildung nur unzureichend aufgegriffen worden; — zwar hat die Arbeiterbildung, vor allem die gewerkschaftliche, eine Reihe bedeutender Ansätze und Konzeptionen hervorgebracht, aber ihre Umsetzung leidet unter dem Mangel aktualisierter Vorgehensweisen, deren Entwicklung ohne wissenschaftlich vermittelte Kommunikation offenbar sehr schwer ist;

— trotz intensiver Methodendiskussion sind zahlreiche Fragen nach wie vor ungeklärt: die nach den Entstehungsbedingungen von Motivationen, die Relevanz von Deutungsmustern, die Leistungsfähigkeit von offenen und geschlossenen Vorgehensweisen, das Verhältnis von Alltagslernen und Schulungslernen, die subjektive und lebensgeschichtliche Bedeutung von Lerngegenständen für die Teilnehmer u. a. m.

Die Liste der Defizite und Probleme läßt sich unschwer verlängern und differenzieren. Wissenschaftliche Forschung zur Arbeiterbildung findet hier umfangreiche Arbeitsfelder vor.

Das Forschungsinstitut für Arbeiterbildung wird sich insbesondere vier großen Arbeitsfeldern zuwenden: 1. Theorie und Geschichte der Arbeiterbildung:Wissenschaftliche Bemühung um Arbeiterbildung hat die Entwicklung der Theorie und Praxis der Arbeiterbildung im Zusammenhang der Gesellschaftsgeschichte mit dem Ziel zu rekonstruieren, gegenwärtige Theorie und Praxis der Arbeiterbildung der Reflexion zu unterziehen und weiterzuentwickeln. Die Geschichte bietet ein Reservoir für Konzepte und Strategien der Arbeiterbildung, auch wenn diese sich nicht einfach auf die Gegenwart übertragen lassen. Die Aufarbeitung der Geschichte der Arbeiterbildung kann die heutige Diskussion anregen und eine Präzisierung der gegenwärtigen Probleme und Lösungsmodelle erleichtern. 2. Erforschung der Bildungssituation von Arbeitern:Bildungsmotivation und Bildungsverhalten bei Arbeitern werden ganz entscheidend von Bedingungsfaktoren wie klassenspezifischer Sozialisation, Schulerfahrungen, Wohn-und Arbeitsverhältnisse, Freizeitgewohnheiten und Sprachproblemen bestimmt Gelernt wird nicht nur in institutionalisierten Lernsituationen, sondern auch im Alltag, am Arbeitsplatz, im Verein und in der Familie. Über die Entstehung, Ausprägung und Wirkungsweise dieser Faktoren und deren Konsequenzen für die Gestaltung von Lernprozessen ist bisher wenig bekannt.

Das Forschungsinstitut sieht in der wissenschaftlichen Bearbeitung dieser Probleme eine zentrale Aufgabe. Ein umfangreiches Projekt zur Bildungsmotivation von Industriearbeitern und eines zur Bildungswirkung von Arbeitervereinen sind dazu vorgesehen. Im Rahmen dieses Arbeitsfeldes wird es aber auch darum gehen, die positiven Momente von Arbeiterkultur, wo sie noch oder wieder vorhanden sind, zu erfassen und für die Arbei35 terbildung, aber auch darüber hinaus für das gesamte Bildungssystem zu nutzen. 3. Entwicklung und Erprobung von Modellen: Besonders in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit sind eine Fülle verschiedener Seminarmodelle erarbeitet worden. Gerade die Kontroverse über Sinn und Nutzen von Leitfäden zeigt, daß beim gegenwärtigen Forschungsstand kaum empirisch fundierte Aussagen über die angemessene Gestaltung von Lernprozessen der Arbeiterbildung möglich sind. Aber selbst da, wo die Verwendung von straffen Leitfäden sich als lernhemmend erweist, wird man kaum auf Modelle verzichten können. Über Lernprozesse mit verschiedenen Zielgruppen und unter spezifischen Bedingungen mögen Erfahrungen vorliegen, die weiterzugeben sind, ohne daß gleich eine Einengung der Lernvorgänge durch strikte Vorgaben daraus entstehen muß. Insbesondere die Frage, wie Vorgehensweisen nicht institutioneilen und selbstorganisierten Lernens aussehen könnten, ist bisher nur ansatzweise beantwortet worden. Ec kann kein Zweifel bestehen, daß es in der Arbeiterbildung in großem Maße an geeigneten Arbeitsmaterialien und didaktischen Arbeiten fehlt. Das gilt vor allem für zwei Bereiche der Arbeiterbildung, die am Forschungsinstitut Schwerpunkte der Arbeit sind: die stadtteilnahe Arbeiterbildung und die Qualifizierung von haupt-und nebenberuflichen Mitarbeitern der Arbeiterbildung.

In den Zusammenhang dieses Arbeitsfeldes gehört auch die „Laiengeschichtsforschung'', also jener Ansatz, der die historischen Entwicklungen mit Hilfe der Betroffenen aus ihren Erinnerungen und Erfahrungen zu rekonstruieren auch als methodischen Ansatz der Arbeiterbildung zu einem Schwerpunkt der Institutsarbeit zu machen. 4. Dokumentation: Die mangelnde Transparenz der Praxis von Arbeiterbildung und die unübersichtliche wissenschaftliche Diskussion über diesen Bildungsbereich weist der Dokumentation von Arbeiterbildung eine bedeutende Aufgabe zu. Das breite Spektrum von Theorieansätzen, die verstreut vorhandenen Bildungskonzepte und Modelle, die Verschiedenartigkeit der Inhalte und Organisationsformen und -Strukturen, die Pluralität der Träger und die Heterogenität der Zielgruppen von Arbeiterbildung erschweren einen Über-blick über den gegenwärtigen Stand der Theorie und Praxis sowie über Entwicklungstendenzen und Forschungslücken. Die Dokumentation dieses Ist-Standes stellt daher eine wesentliche Voraussetzung für die Forschung zur Arbeiterbildung dar. Dabei muß eine Dokumentation, die sich einem arbeitnehmerorientierten Wissenschaftsverständnis verpflichtet weiß, in den Kriterien zur Beschaffung, Sammlung und Aufbereitung der Informationen nicht nur den Bedürfnissen wissenschaftlicher Forschung, sondern auch den Anforderungen der Praxis Rechnung tragen.

Was den Forschungsbegriff und die am FAB zu entwickelnden Methoden betrifft, so macht der Gründungsauftrag deutlich, daß Forschung im Rahmen des Instituts den Kriterien arbeitnehmerorientierter Wissenschaft zu entsprechen hat. Das bedeutet: Interessenbezug, kooperative Vorgehensweisen und Praxisbezug sind unverzichtbare Orientierungspunkte wissenschaftlicher Arbeit am FAB. Allerdings zeigt sich in einer Veröffentlichung des Forschungsinstituts deutlich, daß hier Arbeitnehmerorientierung sich nicht nur auf die Gewerkschaften beschränkt, sondern die Arbeitnehmer unmittelbar einschließt: „In der Forschungsarbeit über Arbeiterbildung kommt der Interessenbezug insbesondere dadurch zum Ausdruck, daß die Prioritätensetzung in der Auswahl von Forschungsfeldern unter Berücksichtigung der Forschungslage nach den — freilich stets zu interpretierenden — Interessen der Arbeitnehmer und ihrer Organisationen erfolgt.“ Die kooperative Methode wird verstanden als Beteiligung von Arbeitnehmern „auf allen Stufen des Forschungsprozesses.''„Allerdings ist es wichtig, daß wissenschaftliche Forschung und Praxis, deren Differenz unaufhebbar ist, sich ihrer spezifischen Fähigkeiten und Grenzen bewußt bleiben.“ Was den Praxisbezug betrifft, so wird die Umsetzung der Forschungsergebnisse „als Teil des Forschungsprozesses begriffen". Es wird zugleich auf die Notwendigkeit theoretischer Reflexion verwiesen: . Auch praxisorientierte Forschung muß in wissenschaftlicher wie in gesellschaftspolitischer Hinsicht in historisch-theoretische Zusammenhänge eingeordnet werden, will sie nicht in perspektivlosem Pragmatismus versinken.“

IV. Ausblick

Wenn hier das Forschungsinstitut für Arbeiterbildung in Recklinghausen größeren Raum in der Darstellung eingenommen hat, so soll nicht der Blick auf diejenigen Einrichtungen versperrt werden, die schon seit längerer Zeit wissenschaftliche Forschung betreiben, die arbeitnehmerorientiert in weitestem Sinne ist Es ist vor allem an die Kooperation Arbeiter-kammer — Universität Bremen, und hier besonders an die „Zentralstelle für die Durchführung des Kooperationsvertrages" zu denken, die im Laufe der letzten Jahre eine Reihe Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer und zu Fragen der Arbeiterbildung vorgelegt hat Aber auch die Zusammenarbeit von Gewerkschaften und Universitäten in Oldenburg, Marburg und Saarbrücken hat zu Ergebnissen geführt, deren Arbeitnehmerorientierung außer Zweifel steht Und schließlich ist auf das „Wirtschafts-und Sozialwissenschaftliche Institut des DGB" zu verweisen, dessen einzige Aufgabe die Forschung für die Gewerkschaften im Interesse der Arbeitnehmer ist Wenn man alle Einrichtungen und Projekte der Kooperation zwischen Gewerkschaften und Hochschule zusammenfaßt, dann ergibt sich eine beträchtliche Anzahl 27). Dennoch darf nicht übersehen werden, daß es sich hier um Anfänge handelt, die immer noch singulär sind — verglichen etwa mit den etablierten Formen der Zusammenarbeit der Dennoch darf nicht übersehen werden, daß es sich hier um Anfänge handelt, die immer noch singulär sind — verglichen etwa mit den etablierten Formen der Zusammenarbeit der Hochschulen mit der Industrie. Die natur-und ingenieurwissenschaftlichen Fachbereiche sind exemplarisch für diese Richtung der Kooperation.

Es ist übrigens erstaunlich, daß diese Art der Zusammenarbeit längst allseits akzeptiert wird, während sich die Kooperation der Gewerkschaften mit den Hochschulen immer noch vielen Anfeindungen und Verdächtigungen ausgesetzt sieht. Inwieweit die in diesen Kooperationsbeziehungen angewandten Forschungsmethoden auch innerhalb der Hochschule Zustimmung finden, steht dahin.

Um so wichtiger ist es, eine Institutsneugründung zur Kenntnis zu nehmen, die entgegen der üblichen Gewohnheiten von einem gesellschaftlichen Konsens getragen wird. Ob er auch hält, wenn die ersten Ergebnisse vorliegen, wird abzuwarten sein. Denn mit Hans Preiss, dem für Bildungsfragen zuständigen Mitglied des IG Metall-Vorstands, ist immer wieder darauf hinzuweisen, „daß das Verhältnis von Theorie und Praxis nicht so einfach zu gestalten sein wird, daß die Universität ausschließlich für die Theorie und die (Gewerkschaft) ausschließlich für die Praxis kompetent ist. Ein solches Verständnis würde unserer Zusammenarbeit einen falschen Akzent geben.

Denn: Die wissenschaftlich fundierte Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung war und ist eine unverzichtbare Waffe des wirtschaftlichen und politischen Kampfes. Diese Waffe ist in vielen Generationen geschmiedet worden.

Die Wissenschaft kann sich das praktische und theoretische Erbe der Arbeiterbewegung nicht aus toten Büchern aneignen. Dazu braucht es der lebendigen Aussprache." 28)

Fussnoten

Fußnoten

  1. Heinz Oskar Vetter, Was erwarten die Gewerkschaften von den Hochschulen?, in: Hans-Dieter Bamberg u. a. (Hrsg.), Hochschulen und Gewerkschaften, Köln 1979.

  2. Wilhelm Liebknecht, Wissen ist Macht — Macht ist Wissen und andere bildungspolitischen Äußerungen, Berlin 1968, S. 83.

  3. Hans-Dieter Bamberg, Hans Jürgen Kröger, Reinhard Kuhlmann, Soziale Verantwortung und Freiheit: Wissenschaft in der Zusammenarbeit von Gewerkschaften und Hochschulen. Soziale, ökonomische und politische Bedingungen einer Kooperation von Gewerkschaften und Hochschulen, in: Hans-Dieter Bamberg u. a. (Hrsg.), a. a. O„ S. 17.

  4. DGB-Bundesvorstand (Hrsg.), Die Gewerkschaftsbewegung in der britischen Besatzungszone, Geschäftsbericht des DGB (brit. Besatzungszone) 1947— 1949, Düsseldorf o. J., S. 398.

  5. DGB-Bundesvorstand (Hrsg.), Protokoll des 3. Ordentlichen Bundeskongresses in Frankfurt a. M. vom 4. — 9. Okt. 1954, Düsseldorf o. J., S. 703.

  6. Hans-Dieter Bamberg u. a. (Hrsg.), a. a. O., S. 23 f.

  7. Vereinbarung über Zusammenarbeit § 2.

  8. Vgl. hierzu den Schlußbericht dieses Projektes: Siegfried Katterle, Karl Krahn (Hrsg.), Wissenschaft und Arbeitnehmerinteressen, Köln 1980.

  9. A. a. O„ S. 15.

  10. Aa. O„ S. 16f.

  11. Aa. O., S. 17.

  12. Gerhard Bosch, Zur Konzeption arbeitnehmer-orientierter Wissenschaft, in: Siegfried Katterle, Karl Krahn, a. a. O., S. 105.

  13. Aa. O„ S. 107.

  14. Aa. O„ S. 112f.

  15. A. a. O., S. 129.

  16. Reinhold Hedtke, Zur Konzeption arbeitnehmerorientierter Wissenschaft, in: Leviathan, 3 bis 4/81, S. 575 f.

  17. A a. O„ S. 577.

  18. Bodo Zeuner, Kooperation von Wissenschaft und Arbeitnehmern auf unterster Ebene, in: Mitbestimmungsgespräch 10/1981, S. 341.

  19. Aa. O., S. 341.

  20. A. a. O., S. 342.

  21. Gerhard Bosch, Bruno Zwingemann, Kooperation zwischen Wissenschaftlern und Arbeitnehmern, in: Die Mitbestimmung, 28. Jg., 2/1982, S. 73.

  22. Hildegard Feidel-Mertz, Zur Ideologie der Arbeiterbildung, Frankfurt am Main 1972, S. 19.

  23. A. a. O„ S. 70.

  24. Oskar Negt, Marxismus und Arbeiterbildung — Kritische Anmerkungen zu meinen Kritikern, in: A Brock u. a. (Hrsg.), Arbeiterbildung, Reinbek 1978, S. 48 f.

  25. Gisela Dybowski, Wilke Thomssen, Praxis und Weiterbildung, Bremen 1982, S. 9.

  26. Aspekte der Forschungsarbeit, in: Forschungsinstitut für Arbeiterbildung e. V. (Hrsg.), Beiträge, Informationen, Kommentare, Jg. 1, 2/82, S. 13 f.

  27. Vgl. hierzu die Darstellungen in Hans-Dieter Bamberg, Hans Jürgen Kröger, Reinhard Kuhlmann (Hrsg.), Hochschulen und Gewerkschaften, Köln 1979.

Weitere Inhalte

Kurt Johannson, Dipl. -Soz., geb. 1936 in Danzig, nach dem Studium der Soziologie und Psychologie in Berlin wissenschaftlicher Assistent, 1968 bis 1981 Mitarbeiter in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit beim Vorstand der IG Metall; Direktor des Forschungsinstituts für Arbeiterbildung in Recklinghausen. Veröffentlichungen u. a.: Anpassung als Prinzip, Frankfurt/Köln 1975; Der Betriebsrat. Erläuterungen zur Betriebsratsarbeit, Köln 1977.