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Flüchtlingsbewegungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Versuch einer historisch-systematischen Zusammenschau | APuZ 48/1983 | bpb.de

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APuZ 48/1983 Artikel 1 Weltweite Durchsetzung von Menschenrechten Probleme und Perspektiven der Arbeit von amnesty international Die Menschenrechte in den Ost-West-Beziehungen und die Bürgerrechtsbewegungen in Osteuropa Entwicklungspolitik und Menschenrechte Flüchtlingsbewegungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Versuch einer historisch-systematischen Zusammenschau

Flüchtlingsbewegungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Versuch einer historisch-systematischen Zusammenschau

Peter J. Opitz

/ 33 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Flüchtlinge gibt es, solange es Menschen gibt — doch es blieb unserem Jahrhundert Vorbehalten, sich den zweifelhaften Ruf eines . Jahrhunderts der Flüchtlinge" zu erwerben. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf das Flüchtlingsproblem, wie es sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weltweit darstellt. Dabei soll vor allem gezeigt werden, daß es sich bei den Flüchtlingsbewegungen nicht um zufällige, voneinander isolierte Einzelerscheinungen handelt, sondern daß diese in historisch tiefwurzelnden Zusammenhängen und Entwicklungsprozessen stehen, die die einzelnen Ereignisse miteinander verbinden. Neben den vielfältigen Beziehungen, in denen sich auch hier der Ost-West-und der Nord-Süd-Konflikt überlagern und verstärken, werden im einzelnen die wichtigsten Ursachen herausgearbeitet, die den Flüchtlingsbewegungen in der Dritten Welt zugrundeliegen.

I. Einführung

\ Das Flüchtlingsproblem tritt uns in seiner äußeren Erscheinung zunächst — und zumeist — als ein moralisches Problem entgegen: Menschen sind auf der Flucht, Menschen, die das Wichtigste verloren haben: ihre Heimat und mit ihr häufig alle anderen Voraussetzungen zum Leben und Überleben — Wohnungen, Arbeitsplätze, Grund und Boden, Gräber, Vergangenheit...

Eine intensivere Beschäftigung zeigt, daß sich hinter dieser äußeren Erscheinung ein überaus komplexes Phänomen verbirgt und daß die spontane materielle Hilfe — so notwendig sie ist — zu kurz angesetzt ist: daß sie nur die sichtbaren Symptome heilt, und nicht einmal diese, daß wirkliche Hilfe umfassender sein muß, daß sie nicht bei den Flüchtlingen anset-zen muß, sondern bei den Ursachen, die Flüchtlingsbewegungen zugrunde liegen und immer wieder von neuem auslösen. Die Kenntnis der Ursachen von Flucht und Vertreibung macht die historischen Dimensionen sichtbar, in denen das Flüchtlingsproblem angesiedelt ist, sie markiert darüber hinaus einige der Punkte, an denen — will man sich nicht nur aufs Kurieren der Symptome beschränken — Präventivmaßnahmen zur Vermeidung von Vertreibungen ansetzen könnten. Möglicherweise wird diese Kenntnis allerdings auch einige der Grenzen zeigen, die der Hilfsbereitschaft des einzelnen, der Staaten, ja sogar der Staatengemeinschaft angesichts der Komplexität der Sachlage gesetzt sind.

II. Zahlen und Brennpunkte

Viele Zahlen werden gehandelt, aber keine dürfte zuverlässig sein. Das liegt nicht zuletzt daran, daß das Phänomen schwer greifbar ist und daß es keine Institution gibt, die alle Flüchtlinge registriert (auch nicht das Amt des Hohen Flüchtlingskommissars in Genf), dagegen viele Regierungen, die genau das verhindern wollen. Vor allem aber gibt es keine Übereinstimmung, wer bzw. was überhaupt ein Flüchtling ist. Eine Orientierungshilfe bietet die international anerkannte Definition, die sich in der Genfer Konvention, der Magna Charta des Internationalen Flüchtlingsrechts, von 1951 findet. Gemäß Art. A, 2 dieses Abkommens gilt der Begriff des »Flüchtlings" für jede Person, die „infolge von Ereignissen, die vor dem 1. Januar 1951 eingetreten sind, und aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will... 1). Diese Bestimmungen sind allerdings so sehr auf die europäische Situation nach dem Zweiten Weltkrieg abgestellt, daß sie den Bedingungen unserer Zeit nur noch teilweise gerecht werden. Trotz einer gewissen Aktualisierung im Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1967 sind seit langem Bestrebungen im Gange, sie durch eine zeitgemäßere Definition zu ersetzen. Legt man dennoch die bestehende Definition als Maßstab an, so mag die Zahl von 10, 3 Millionen, die offiziell vom UNHCR genannt wird, zutreffen Millionen, die offiziell vom UNHCR genannt wird, zutreffen 2). Orientiert man sich dagegen nicht exakt an den in ihr enthaltenen juristischen Bestimmungen, sondern berücksichtigt auch jene Menschen, die — wie Hunderttausende in El Salvador, Afghanistan, im Libanon, Kampuchea oder zahlreichen anderen Ländern der Welt — zwar die Landesgrenzen nicht überschritten haben, aber entwurzelt im eigenen'Lande umherirren, so liegen die Zahlen erheblich höher. Und sie steigen noch weiter, wenn man auch jene Menschen in die Zählung einbezieht, die zwar nicht „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestehenden sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung" ihre Heimat verlassen haben, sondern einfach, weil dort die Lebensbedingungen so unerträglich geworden sind, daß sie die freiwillige Flucht dem Bleiben vorziehen — eine Situation, die für zahlreiche vietnamesische boat-people ebenso gilt wie für Hunderttausende von Haitianern und Millionen von Mexikanern, die aus wirtschaftlichen Gründen die Grenzen ihres Landes überschritten haben. Daß diese Kategorie der „Wirtschaftsflüchtlinge''nicht Eingang ins internationale Recht gefunden hat und wohl auch nie finden wird, hat gute Gründe. Dennoch sind diese nicht gut genug, um jenen Menschen — aus moralischer Sicht — den Status eines „Flüchtlings" zu verweigern.

Noch schwieriger ist die Einstufung von zwei weiteren Gruppen, die in jüngster Zeit im Zusammenhang mit Massenvertreibungen in die Schlagzeilen der Weltpresse gerieten: Das sind zum einen die weit über eine Million Ghanesen, die von der nigerianischen Regierung angesichts wachsender Wirtschaftsschwierigkeiten des Landes verwiesen wurden 3); selbst wenn die nigerianische Behauptung zutreffen würde, daß es sich bei ihnen um illegale Einwanderer handelt, so hatten sich doch viele von ihnen schon seit längerer Zeit in Nigeria angesiedelt und neue Existenzen aufgebaut. Insofern war es kaum ein Zufall, wenn über ihr Schicksal zumeist unter der Sparte „Flüchtlingsbewegung" geschrie-ben wurde und internationale Flüchtlingsorganisationen zur Linderung ihrer Not ein-sprangen. Um illegale Einwanderer handelt es sich auch bei den Bengalen im nordindischen Bundesstaat Assam, gegen die sich anläßlich kontroverser Wahlen Anfang 1983 nationalistische Gruppen der hinduistischen Bevölkerungsmehrheit wandten. Die Situation war in Assam insofern komplizierter als in Nigeria, als die seit 1951 aus Bangladesh eingesickerten Bengalen — vermutlich mehrere Millionen — wahlberechtigt sind und zudem die Unterstützung der Bundesregierung in New Delhi genießen. Die Lage dieser von den assamesischen Nationalisten mit Deportation bedrohten Menschen wird noch dadurch erschwert, daß die Regierung in Dacca mit der Behauptung, es habe seit dem Dezember 1971 keine Flucht aus Bangladesh mehr gegeben, den Bengalis in Assam die Rückwanderung verweigert

Diese wenigen Beispiele mögen zeigen, wie kompliziert die Flüchtlingsszene unserer Zeit ist. Sie lassen die Probleme ahnen, mit denen sich das Völkerrecht heute auseinanderzusetzen hat. Bezieht man all diese Fälle, von denen hier nur einige Beispiele herausgegriffen wurden, ein, so liegt die Zahl der Flüchtlinge weltweit sicherlich über 15 Millionen.

Wo aber liegen — sieht man einmal von den erwähnten kontroversen Fällen ab — derzeit die Brennpunkte des Flüchtlingsgeschehens? Nur einige von ihnen seien kurz genannt:

Afrika: Hier findet sich — wie ein Ministerrat der OAU auf einer Sonderkonferenz am 7. /8. Juli 1982 in Addis Abbeba selbst zugab — die Hälfte aller Flüchtlinge in der Welt Doch auch hier gibt es — gemessen an den Aufnahmeländern — Schwerpunkte: So halten sich im Sudan derzeit 640 000 Flüchtlinge auf, davon in den östlichen Landesteilen 460 000 aus Äthiopien, also gerade aus dem Land, in dem jene Konferenz stattfand; weitere 175 000 kommen aus Uganda und weitere 5 000 aus Zaire

Andere wichtige Aufnahmeländer sind derzeit Somalia: (hier leben 700 000 Somali, Oro-mos, Eritreer Zaire: (320 000, davon 215 000 aus Angola, 75 000 aus Uganda) und Ruanda (35 000 bis 40 000 aus Uganda).

Naher Osten: Zu den Schwerpunkten im Nahen Osten zählen noch immer die Palästinenserlager, in denen nach Angaben der United Nations Relief Agency (UNWRA) zu Beginn der achtziger Jahre 1, Millionen Palästinenser leben 8). Die Zahl der während der Bürgerkriege heimatlos gewordenen Libanesen ist weitgehend unbekannt, zumal viele von ihnen in andere Landesteile geflüchtet sind.

Der zahlenmäßig noch immer größte Schwerpunkt befindet sich in den an Afghanistan angrenzenden Ländern. Während über die Zahl der Flüchtlinge, die sich in den Iran gerettet haben, keine genauen Zahlen vorliegen, befinden sich in Pakistan nach Schätzung der Regierung derzeit 2, 7 Millionen Afghanen, die vor den sowjetischen Truppen geflohen sind. Von ihnen wurden 2, 2 Millionen im Nordwesten Pakistans untergebracht, die anderen 500 000 Menschen haben sich vornehmlich in den Wüstengebieten von Belutschistan niedergelassen

Südost-und Ostasien: Hier sind dagegen die Flüchtlingsströme rückläufig. Waren es 1979 noch insgesamt 205 000 Flüchtlinge, die Vietnam verließen, so hatte sich diese Zahl 1981 auf 62 000 reduziert, während sie 1982 noch weiter abnahm Einer der Günde für das Abschwellen des Flüchtlingsstromes war, daß die vietnamesische Regierung auf Initiative der UNO einem offiziellen Ausreiseprogramm zugestimmt hat, in dessen Rahmen monatlich ca. 1 000 Vietnamesen das Land verlassen dürfen Insgesamt befinden sich nach Schätzungen vom Mai 1983 192 718 Flüchtlinge aus Indochina in Südost-und Ostasien, 44 593 davon boat-people aus Vietnam, während die anderen aus Kambodscha und Laos stammen

Mittelamerika: Unklar sind die Zahlen in Mittelamerika. Nach den jüngsten Schätzungen des Amtes des Hohen Flüchtlingskommissars (UNHCR) gibt es hier und in Mexiko 326 000 Flüchtlinge nach anderen Schätzungen übersteigt die Zahl der Flüchtlinge aus Salvador, Nicaragua, Guatemala und anderen Staaten inzwischen bei weitem die halbe Million. Nicht mitgezählt sind dabei jene Menschen, die sich innerhalb der betreffenden Länder auf der Flucht befinden. So befanden sich, nach Schätzungen der Bischofskonferenz in Guatemala vom April 1982, eine Million Einwohner des Landes, zumeist indianische Campesinos, innerhalb des Landes auf der Flucht, während sich 70 000 bis 100 000 Indianer über die Grenze ins südliche Mexiko abgesetzt hatten

Schon dieser knappe Überblick läßt eine Grundstruktur erkennen: Das Flüchtlingsproblem konzentriert sich derzeit vornehmlich auf die Länder der Dritten Welt; in ihr liegen nicht nur die wichtigsten Flucht-, sondern auch die Aufnahmeländer. Die folgende systematisierte Analyse der Ursachen, die sich nicht auf die Gegenwart beschränkt, sondern 1945 ansetzt, wird jedoch zeigen, daß die Ursachen dafür nicht allein in den diversen Problemen der Dritten Welt selbst liegen, sondern in einem erheblichen Maße auf Entwicklungen im internationalen System zurückgehen, die bis in die Anfänge unseres Jahrhunderts zurückreichen.

III. Historische Horizonte

Im ausgehenden 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert hatten die europäischen Nationalstaaten noch einmal unter Aufbietung al-ler Kräfte ihre bestehenden Kolonialreiche weiter ausgedehnt. In dieser Zeit erwarben sie, wie Fieldhouse errechnete, „größere Gebiete als in den vorangehenden fünfundsiebzig Jahren" allein in der ersten Hälfte dieses „Zeitalters des Imperialismus", wie es bald* nach dem gleichnamigen Werk von Friedjunk genannt wurde, wuchs der Flächenanteil der europäischen Kolonialmächte und der USA in Afrika von 10, 8% auf 90, 4%, in Asien von 51, 5% auf 56, 6% und in Polynesien von 56, 8% auf 98, 9%

Doch der Höhepunkt der europäischen Macht währte nur kurz; die Rivalität der Mächte war zu groß. Die Spannungen entluden sich im Ersten Weltkrieg, mit dem der Niedergang der seit Jahrhunderten von den europäischen Nationalstaaten geprägten Weltordnung einsetzte. Es waren vor allem zwei Prozesse, in denen sich dieser Niedergang spiegelte und die insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg an Dynamik gewannen:

1. Der Zerfall der europäischen Kolonialreiche und die Wiederentstehung der alten vor-kolonialen Staaten in Asien, Afrika und im Nahen Osten bzw. die Entstehung neuer Staaten in jenen Gebieten der Welt, in denen es vor der Ankunft der Europäer nur Stammesgesellschaften oder aber multinationale Reiche gegeben hatte.

2. Der Aufstieg zweier neuer, miteinander rivalisierender Mächte — man nennt sie derzeit „Supermächte“ —, die sich um die Etablierung und Konsolidierung neuer globaler Machtgebilde bemühten: die USA und die UdSSR.

Im Umfeld dieser beiden Prozesse, die seit längerer Zeit parallel verlaufen und sich auf höchst komplexe Weise überlagern und beeinflussen, vollzog sich ein großer Teil der seit Ende des Zweiten Weltkrieges aufgetretenen Flüchtlingsbewegungen.

Der Ost-West-Konflikt Bei den beiden Machtblöcken, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit Moskau und Washington als Zentren herausbildeten, handelt es sich bei NATO und Warschauer Pakt in juristischem Sinne um Verteidigungsbündnisse. Eine etwas genauere Untersuchung zeigt allerdings, daß es sich dabei nicht allein um Verteidigung im konventionellen, d. h. im militärischen Sinne handelt, sondern auch, ja vor allem, um die Verteidigung der ihnen zugrundeliegenden weltanschaulichen Systeme. Beide Blöcke stehen einander nicht nur mit dem Anspruch gegenüber, in ihren Systemen die richtige Form menschlicher Existenzgestaltung zu verkörpern, sondern leiten von diesem Anspruch auch die Aufgabe ab, die richtige gesellschaftliche Ordnung global durchzusetzen. Dieser Anspruch wird von den sozialistischen Staaten in ihrem Bekenntnis zur „Weltrevolution" energischer und offener vorgetragen als von der westlichen Staatengemeinschaft. Doch auch die westliche Politik ist mit ihrem Eintreten für Menschenrechte, parlamentarische Demokratie und eine ireie Weltwirtschaftsordnung auf eine weltweite Etablierung ihrer grundlegenden Ordnungsprinzipien ausgerichtet.

Die Entwicklung thermo-nuklearer Waffen in Ost und West im Verlaufe der fünfziger Jahre blieb auf den Konflikt nicht ohne Auswirkungen: Beiden Seiten wurde zunehmend bewußt, daß eine direkte militärische Auseinandersetzung selbstmörderische Konsequenzen haben würde. Diese Einsicht beendete den Konflikt zwar nicht, veränderte aber die Formen seiner Austragung. Während der Krieg als ein Mittel der Politik in den Hintergrund trat und sich die Rüstungsanstrengungen vor allem auf seine Verhinderung und die Erhaltung jenes „Gleichgewichts des Schreckens“

konzentrierten, das ihn noch am ehesten zu verhindern versprach, verlagerte sich die Rivalität auf zwei andere Bereiche: — auf die Zersetzung der feindlichen Bündnisse von innen heraus und — auf die Einbeziehung jener Staaten in die jeweiligen Bündnisse, die ihnen noch nicht angehörten. Bei diesen handelte es sich vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, um jene Staaten, die mit der Auflösung der europäischen Kolonialreiche ihre politische Unabhängigkeit erlangten.

Daß die Entkolonialisierung nicht unwesentlich durch jene Rivalität beeinflußt und beschleunigt wurde, liegt auf der Hand. Während sich Moskau und die anderen sozialistischen Staaten durch Waffenhilfe und diplomatische Unterstützung den noch um ihre Unabhängigkeit kämpfenden Eliten als „natürliche Verbündete" anzudienen suchten, übten die USA mit Blick auf diese Gefahr, Druck auf ihre europäischen Partner aus, ihre längst überfällig gewordenen Kolonialreiche zügig zu liquidieren, solange eine Radikalisierung noch nicht eingetreten und die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zu den neuen Staaten noch möglich war. Bevor jedoch etwas näher auf diese Entwicklung in der Dritten Welt eingegangen wird, vor allem auf die Flüchtlingsprobleme, die sich in diesem Zusammenhang ergaben, sei ein Blick auf die Strategien in Ost und West geworfen, die zur Zersetzung der beiden Blöcke entworfen wurden. Auch hierbei werden natürlich nur jene Aspekte berührt, die von Bedeutung für ein besseres Verständnis des Flüchtlingsproblems zu sein scheinen.

Die Chancen zur inneren Auflösung sind in beiden Systemen höchst unterschiedlich. Im Westen sind sie nur minimal, da die meisten Regierungen und die überwiegende Mehrzahl der Bevölkerung der einzelnen Staaten sowohl dem westlichen Bündnis wie auch ihren gesellschaftlichen Grundordnungen positiv gegenüberstehen. Gefährdungen drohen lediglich von zwei Gruppierungen, die beide jedoch — wie die Wahlergebnisse zeigen — derzeit keine größere Anziehungskraft auf die Masse der Bevölkerung ausüben: zum einen von den kommunistischen, insbesondere den eurokommunistischen Parteien, besonders in Italien und Frankreich, und zum anderen von den radikalen sozialistischen Partei-flügeln — etwa in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland.

Innerhalb des östlichen, von Moskau kontrollierten Bündnissystems ist die Gefahr der inneren Auflösung dagegen ungleich größer. Das liegt vor allem daran, daß das Bündnis einen ausgeprägten Zwangscharakter besitzt — und zwar im doppelten Sinne: zum einen im Hinblick auf die einzelnen Mitgliedsstaaten, in denen — vielleicht lediglich mit Ausnahme der DDR — auch die jeweiligen kommunistischen Regierungen an mehr Unabhängigkeit von Moskau interessiert sind; zum anderen und vor allem aber im Hinblick auf große Teile der Bevölkerung, die weder mit der sowjetischen Hegemonie noch mit dem kommunistischen System selbst einverstanden sind. Die permanente mehr oder minder latente Oppositionshaltung größerer Teile der Bevölkerung bringt nun die um ihre Stellung besorgten Regierungen in stärkere Abhängigkeit zur Schutzmacht Moskau und zwingt sie zur Absicherung ihres Herrschaftsanspruches zu Repressionsmaßnahmen, die nicht nur gegen Regimefeinde im besonderen, sondern gegen die Bevölkerung im allgemeinen gerichtet sind.

Daß sich Teile der Bevölkerung dieser Repression bei sich bietender Gelegenheit durch Flucht in Länder zu entziehen suchen, deren Gesellschaftsverfassung ihnen größere Freiheits-und Entfaltungsspielräume verspricht, zeigen Flüchtlingsbewegungen aus fast allen osteuropäischen Staaten, vor allem aus der DDR, Ungarn, der CSSR und Polen. Verstärkt wird dieser Trend noch durch zum Teil desolate wirtschaftliche Verhältnisse in jenen Staaten. Dabei lassen sich zwei Typen von Flüchtlingen unterscheiden:

— Illegale Flüchtlinge, d. h. solche, die gegen den Willen ihrer Regierung das Land verlassen. Den überwiegenden Anteil bilden dabei mit 3 217 586 (in den Jahren zwischen 1949 und 1981) die DDR-Flüchtlinge sie werden ergänzt durch 750 000 Tschechen und 175 000 Ungarn und seit den letzten Jahren einer ständig steigenden Zahl von Polen.

— Legale Flüchtlinge, d. h. solche, die entweder mit Duldung ihrer Regierung im Rahmen der Familienzusammenführung und als Aussiedler das Land verlassen, oder sogar auf aktive Veranlassung (Dissidenten). Die Anzahl dieser Aussiedler betrug zwischen 1950 und 1982 1 186 307

Es ist eine Folge jenes doppelten Zwangscharakters, daß es keine Flüchtlinge innerhalb der verschiedenen Staaten des östlichen Systems gibt, sondern daß alle den kommunistischen Bereich in seiner Gesamtheit verlassen. Dies gilt nicht nur für den Bereich des War-schauer Pakts, sondern auch für andere sozialistische Staaten. Ausnahmen bilden — außer einigen Chile-Flüchtlingen — lediglich Flüchtlinge, die das kommunistische Kambodscha in Richtung Vietnam bzw. von Vietnam in Richtung der VR China verließen; allerdings handelt es sich dabei um Sonderfälle ethnischer Minoritäten, die zudem kaum eine andere Wahl hatten.

Angesichts dieser unterschiedlichen inneren Struktur der beiden Bündnissysteme war es vor allem der Westen, der die inneren Widersprüche des östlichen Systems ausnutzen konnte. Zwar versuchte auch Moskau Mitte der fünfziger Jahre im Rahmen der Politik der „friedlichen Koexistenz", den Bewegungsspielraum der kommunistischen Parteien in den Ländern des Westens auszuweiten, indem die bis dahin geltende Doktrin der gewaltsamen Revolution aufgegeben und statt dessen die friedliche Machtergreifung auf parlamentarischem Wege propagiert wurde. Doch trug dies — wie die Entwicklung gezeigt hat — nicht wesentlich zur Anziehungskraft der kommunistischen Parteien bei. In keinem Land Westeuropas gelang es ihnen, die Regierungsmehrheit zu gewinnen; lediglich in Frankreich vermochten sie in der Koalition mit den Sozialisten einige Minister ins Kabinett zu entsenden.

Erheblich erfolgreicher konnte dagegen der Westen operieren. Elemente zur inneren Zersetzung des östlichen Bündnissystems enthielt dabei insbesondere die Entspannungspolitik, die Ende der sechziger Jahre in ihre entscheidende Phase trat. Daß jene Elemente dabei nicht im Zentrum der Entspannungspolitik standen, tut dabei wenig zur Sache, und daß sie sich vor allem aus der von Moskau favorisierten KSZE ergaben, verleiht dem Ganzen noch eine pikante Note.

Destabilisierende Wirkungen gingen von der Entspannungspolitik in zwei Richtungen aus: Zum einen auf die Regierungen der osteuropäischen Staaten, deren politischer und wirtschaftlicher Spielraum gegenüber Moskau durch die Ostverträge und stärkere wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Westen ausgeweitet werden sollte. Zum anderen in Richtung auf die Bevölkerung, und zwar sowohl in den Staaten Osteuropas wie auch in der Sowjetunion selbst. Auch ihre Freiheitsräume, so hoffte man im Westen, würden im Zuge ost-westlicher Entspannung wachsen und damit die Befähigung zur inneren Opposition zunehmen. Daß diese Opposition aber nicht nur system-immanent blieb, sondern sich auch auf das sozialistische Gesellschaftsund Bündnissystem selbst ausdehnen würde, dafür garantierten die verstärkten zwischenmenschlichen und geistigen Kontakte, die insbesondere im Rahmen der KSZE-Vereinbarungen wirksam werden sollten. War eine Politik der Liberalisierung erst einmal angelaufen, so mußte sie auf jeden Fall zur Destabilisierung des gegnerischen Bündnisses beitragen: entweder, indem sie die Konfliktfähigkeit der Bevölkerung steigerte, oder aber die betreffende Regierung aus Angst vor dieser Entwicklung freiwillig oder auf Druck Moskaus den Liberalisierungsprozeß wieder abbrach, indem sie die Widersprüche zwischen der Bevölkerung und der Regierung weiter antagonisierte.

Obwohl die Regierungen des Warschauer Pakts in Erwartung dieser Folgen die Liberalisierung entweder gar nicht oder nur sehr restriktiv betrieben, konnten sie die erwähnten Folgen nicht ganz verhindern. In fast allen Ländern kam es zur Bildung von Gruppen, die für Reformen des sozialistischen Systems eintraten bzw. das System selbst in Frage stellten. Während in den meisten der Ostblockstaaten diese Gruppen jedoch zahlenmäßig so schwach blieben, daß sie rechtzeitig unterdrückt und zerschlagen werden konnten, schwoll in Polen unter der Leitung der Gewerkschaft Solidarnoc die Protestbewegung so stark an, daß nur ein Staatsstreich der polnischen Armee und die Verhängung des Ausnahmezustands den Einmarsch von Truppen des Warschauer Pakts nach dem Muster der CSSR-Invasion von 1968 verhindern konnte. Daß sich die Flüchtlingszahlen dabei in Grenzen hielten — jedenfalls im Vergleich zu den Ereignissen in der DDR, Ungarn und der CSSR —, lag nicht zuletzt daran, daß die geographische Lage Polens die Fluchtmöglichkeiten außerordentlich erschwerte.

Das Spektrum der Flüchtlingsströme, die auf das Konto des Ost-West-Konfliktes gehen, wird noch größer, wenn man den Konflikt nicht eng als Konfrontation zweier Macht-blöcke mit unterschiedlicher ideologischer Prägung, sondern ihn lediglich als eine bestimmte Form und besondere Phase in dem erheblich längeren Prozeß ansieht, der durch den Aufstieg und die Ausbreitung sozialistischer bzw. kommunistischer Ideologien eingeleitet wurde.

Als erste große Flüchtlingsbewegung, die dann einbezogen werden muß, ist der Exodus vom chinesischen Festland nach Taiwan und in die USA zu vermerken, der 1949 nach dem Sieg der chinesischen Kommunisten einsetzte. Allein nach Taiwan flüchteten damals mehrere Millionen, und seitdem ist der Strom von Chinesen, die sich über Hongkong und Macao absetzten, nicht abgerissen. Verläßliche Zahlen sind nicht zu erhalten — doch dürfte die Millionengrenze inzwischen weit überschritten sein. In diesen Zusammenhang gehören auch die weit über 100 000 Tibeter, die nach dem Einmarsch chinesischer Truppen zwischen 1957 und 1960 ihr Land verließen.

Erheblich höher ist die Zahl der Menschen, die sich nach dem Sieg der kommunistischen Bewegungen aus den drei indochinesischen Staaten absetzten. Nachdem schon 1954 nach der Teilung Vietnams ein Massenexodus einsetzte, in dessen Verlauf ca. 900 000 Vietnamesen (780 000 Katholiken und 120 000 Bud-B dhisten) die Flucht nach Süden antraten, schwollen die Flüchtlingsströme im Laufe der Ereignisse des Jahres 1975 erneut an. So verließen allein vor dem Abzug der amerikanischen Truppen aus Südvietnam 135 000 Menschen das Land; ähnlich war die Reaktion auf die bevorstehende Machtübernahme der Kommunisten in Laos und Kambodscha. Dasselbe gilt für Kuba und eine Reihe anderer Länder der Dritten Welt, in denen kommunistische Bewegungen an die Macht kamen.

Einer anderen Kategorie gehören dagegen jene Flüchtlinge an, deren Flucht durch das unmittelbare militärische Eingreifen von Truppen einer der beiden Führungsmächte in Ost und West ausgelöst wurde. Dies trifft in begrenztem Sinne auf die drei indochinesischen Staaten zu, in denen es vor 1975 als Folge des Einsatzes amerikanischer Truppen und Luftverbände zu Fluchtbewegungen — vor allem innerhalb dieser Länder — kam. Das gilt in besonderem Falle aber für Afghanistan, wo seit dem Einfall sowjetischer Truppen im Dezember 1979 über drei Millionen Menschen das Land verlassen haben. In dieselbe Kategorie gehören auch solche Fälle, in denen militärische Verbände anderer kommunistischer Staaten in die innerstaatlichen Konflikte von Ländern der Dritten Welt eingriffen. Gemeint sind hier insbesondere die Aktionen kubanischer Truppen in Angola und Äthiopien. Allerdings ist hierbei zu berücksichtigen, daß die KonfliktUrsachen selbst nichts oder nur wenig mit dem Ost-West-Konflikt zu tun hatten.

Ewas komplizierter liegt der Fall bei einer dritten Kategorie, wo zwar kein unmittelbares militärisches Engagement von außen vorliegt, wo aber die jeweiligen Staaten beträchtliche materielle und moralische Hilfe im Kampf gegen ihre Gegner erhielten und erhalten. Dies betrifft derzeit vor allem Mittelamerika. Dort versuchen Kuba und die Sowjetunion das soziale Konfliktpotential durch materielle und moralische Unterstützung der Guerilla-Bewegungen für ihre Zwecke auszunutzen, während die USA, um die Entstehung weiterer mit Kuba und Moskau zusammenarbeitender Staaten in der Region zu verhindern, der Repression konservativer Regime entweder tatenlos zusehen oder diese sogar durch wirtschaftliche und militärische Hilfe unterstützen.

Gerade hier wird allerdings deutlich, daß der Ost-West-Konflikt für die Flüchtlingsbewegungen dieser Region keine zureichende Erklärung ist, da er nicht das soziale Konfliktpotential schuf, sondern lediglich an der Schaffung von Bedingungen mitwirkte, die seine Entzündung begünstigten. Mitverantwortlich für die Entstehung des Konfliktpotentials sind die USA, weil sie — nach dem Zusammenbruch der europäischen Kolonialreiche in Südamerika und der Erklärung dieser Region zu ihrer Einflußzone — nicht die Entstehung demokratischer Gesellschaften förderten, sondern im Interesse günstiger Wirtschaftsbedingungen für die amerikanischen Konzerne in der Regel konservativen Diktaturen den Vorrang gaben.

Flüchtlinge in der Dritten Welt Der Zerfall der europäischen Kolonialreiche ist ein Prozeß, der sich über mehrere Jahrzehnte hinzog und erst 1976 mit dem Ende des portugiesischen Kolonialreiches in Afrika zu seinem Abschluß kam. Auch jetzt bleiben zwar noch eine Vielzahl von Territorien — de jure oder de facto — unter kolonialer Verwaltung, doch handelt es sich dabei lediglich um koloniale Restbestände, deren Beseitigung in absehbarer Zeit abgeschlossen sein dürfte. Die Hauptphase des Entkolonisierungsprozesses ist vorbei.

Während in der Hochzeit der Kolonialreiche Flüchtlingsbewegungen größeren Ausmaßes relativ selten waren — statt dessen gab es Deportationen, Umsiedlungen und Migrationen —, begann das Flüchtlingsproblem im Laufe der anti-kolonialen Kämpfe zunehmend in den Vordergrund zu treten. Seinen eigentlichen Höhepunkt sollte es allerdings erst nach dem Ende der Entkolonialisierung erreichen, als das Konfliktpotential sichtbar wurde, das in zahlreichen der neuen Staaten lagerte. Es ergab sich aus dem gefährlichen Völkergemisch vieler dieser Staaten, insbesondere in Afrika, wo viele der kolonialen Grenzen ohne Rücksicht auf ethnische und religiöse Strukturen festgelegt worden waren.

Solange die militärische Präsenz der Kolonialarmeen den Bestand der Grenzen garantiert und die Ruhe im Inneren gewährleistet hatte, war eine Austragung der schwelenden Konflikte zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen nicht möglich gewesen; das änderte sich jedoch mit ihrem Abzug. Nun kamen die bestehenden Rivalitäten und Animositäten, deren Austragung von den Kolonial-mächten entweder gewaltsam unterdrückt oder aber sogar zur Stabilisierung ihrer eigenen Position ausgenutzt — und damit letzt-39 lieh noch weiter verschärft — worden waren, offen zum Ausdruck. Bald schon setzten Stammesfehden, Bürgerkriege und Militärrevolten ein, die die innere Ordnung zerstörten;

sie wurden ergänzt durch Annektionen, Sezessionen, durch Grenzauseinandersetzungen und regionale Machtkämpfe. Von den fast 150 Kriegen, die zwischen 1945 und 1982 in der Welt ausbrachen, fand die weitaus überwiegende Mehrzahl in der Dritten Welt statt: entweder zwischen den Staaten oder als Bürgerkriege — in vielen Fällen mit direkter, noch häufiger aber unter indirekter Beteiligung äußerer Mächte An dieser Tendenz dürfte sich auch in nächster Zukunft wenig ändern. Im Gegenteil: Mit der Verschärfung des Ost-West-Konfliktes und der Zunahme regionaler Rivalitäten in Asien, Afrika und Lateinamerika könnte sich der Trend sogar noch weiter verschärfen.

Es lag vielleicht in der Natur der Ereignisse und an der menschlichen Neugier an Spektakulärem, daß es vor allem die kriegerischen Ereignisse selbst waren, auf die sich die internationale Aufmerksamkeit richtete, während deren Opfer weitgehend unbeachtet blieben. Dieses Schicksal teilten auch viele Flüchtlingsbewegungen, die von den Wirren der anti-und post-kolonialen Kämpfe in allen Teilen der Welt ausgelöst worden waren. So verlief auch das 1959 von den Vereinten Nationen ausgerufene „Weltflüchtlingsjahr" weitgehend unter Ausschluß der Weltöffentlichkeit. Dies begann sich erst während der zweiten Hälfte der siebziger Jahre zu ändern, als sich unter dem Eindruck einer dramatischen Zunahme des Flüchtlingselends, insbesondere in Afrika, die betreffenden Länder, aber auch die internationale Gemeinschaft zu Gegenmaßnahmen veranlaßt sahen. Diese fanden u. a. in einer Reihe regionaler und internationaler Konferenzen über spezifische Flüchtlingsprobleme ihren Ausdruck: in einer Indochina-Konferenz 1979 in Genf sowie in zwei Afrika-Konferenzen, von denen die erste 1979 in Arusha stattfand, gefolgt zwei Jahre später von der ICARA I (International Conference on Assistance to Refugees in Africa) in Genf. Eine zweite ICARA-Konferenz ist für den Juli 1984 geplant. Als Anzeichen des neuen internationalen Problembewußtseins auf diesem Gebiet sind auch die Verleihung des Friedensnobelpreises im Jahre 1981 an das Amt des Hohen Flüchtlingskommissars sowie eine Reihe von Initiativen im Rahmen der Vereinten Nationen zu sehen, insbesondere die von der Bundesrepublik Deutschland eingebrachte Resolution zur „Internationalen Zusammenarbeit zur Vermeidung neuer Flüchtlingsströme“. Diese ist in unserem Zusammenhang insofern von Bedeutung, als es in ihr nicht um einen nur karitativ-humanitären Flüchtlingsschutz geht, sondern um die Entwicklung einer präventiven Konzeption, die es ermöglichen soll, Flüchtlingsströme in Zukunft schon vor ihrer Entstehung zu verhindern. Es sind also die politischen Ursachen, an denen angesetzt wird

Untersucht man im Rückblick auf die Ereignisse in den Ländern der Dritten Welt die Ursachen, die seit 1945 zu Flüchtlingsbewegungen führten, so lassen sich im wesentlichen neun Ursachenkomplexe erkennen. Auf sie soll im folgenden kurz eingegangen werden, wobei angesichts der Vielzahl der Länder und der sie bestimmenden Konflikte natürlich kein umfassender Überblick möglich ist, sondern jeweils nur einige Beispiele zur Illustration der verschiedenen Konflikttypen angeführt werden können 1. Eine der zeitlich frühen Situationen, die Flüchtlinge „erzeugten”, entstand durch den Widerstand der einheimischen Bevölkerungen gegen Kolonialregime. Es waren zahlreiche Führer dieser Gruppen, aber auch mit ihnen sympathisierende Teile der Bevölkerung, die unter dem Druck der Kolonialbehörden in die Emigration gingen. Die Kette prominenter Führer der Dritten Welt, die diesen Weg wählten, reicht von Ho Tschi-minh bis Sam Nuyoma. Mochte es sich dabei in den Anfängen des Widerstandes nur um relativ kleine Gruppen handeln, so konnte doch die Zahl der Menschen, die sich drohender Internierung, Verfolgung oder Ermordung durch Flucht entzogen, bis über eine Million anstei-gen. So sollen in Angola während der Kämpfe zwischen den portugiesischen Truppen und den drei wichtigsten Befreiungsbewegungen des Landes ca. 600 000 Einwohner allein nach Zaire geflüchtet sein — das war ein Zehntel der gesamten Bevölkerung. In Rhodesien zogen sich auf dem Höhepunkt der Kämpfe fast eine Viertelmillion Menschen vor den Sicherheitsstreitkräften über die Grenze nach Mosambique, Sambia und Botswana zurück. Und aus Namibia waren gegen Ende des Jahres 1980 über 50 000 Menschen über die Grenzen — zumeist nach Angola — geflüchtet. 2. Während diese Flüchtlinge nach Erlangung der Unabhängigkeit und dem Rückzug der Kolonialmacht wieder in ihre Heimat zurückkehrten, schlug den Angehörigen einer anderen Gruppe zu diesem Zeitpunkt häufig die Stunde des endgültigen Abschieds. Gemeint sind die weißen Siedler, von denen viele seit Generationen in den Kolonialgebieten eine neue Heimat gefunden hatten. Das galt für die Holländer in Indonesien und die Franzosen in Indochina und Nordafrika ebenso wie für die Portugiesen in den afrikanischen Territorien. Daß es sich auch hier nicht um kleine Gruppen handelte, die problemlos in die Mutterländer integriert werden konnten, sondern um größere Bewegungen, die Flucht und Vertreibung in eine prekäre menschliche und wirtschaftliche Situation brachten, zeigten die französischen pieds noirs und die portugiesischen retornados. Die Zahl der letzteren belief sich auf ungefähr 800 000, von denen 500 000 aus Angola und 300 000 aus Mosambique flüchteten, viele unter Zurücklassung ihrer ganzen Habe.

Glücklicher war das Los der weißen Siedler in Rhodesien. Zwar zogen es auch hier viele angesichts der wachsenden Ungewißheit über ihre Zukunft vor, das Land zu verlassen, solange dies noch unter geordneten Umständen möglich war, doch verhinderten schließlich das Lancaster-House-Abkommen vom Dezember 1979 sowie die Politik des ersten Premiers von Simbabwe, Robert Mugabe, eine Massenabwanderung der weißen Siedler. Ob eine ähnliche Lösung auch die Zukunft der Weißen in Namibia — und in der Südafrikanischen Republik — sichern kann, wird von der weiteren Entwicklung im südlichen Afrika abhängen.

3. Von ähnlich einschneidender Bedeutung wie für die weißen Siedler war das Ende der weißen Herrschaft auch für das Schicksal der Minoritäten, die während der Kolonialzeit teils freiwillig, teils auf Veranlassung der Kolonialregime in die Kolonien gekommen waren, sich dort angesiedelt hatten, oft von den Kolonialbehörden protegiert und privilegiert worden waren und deshalb nur selten aktiv an den Unabhängigkeitskämpfen auf Seiten der einheimischen Bevölkerung teilgenommen hatten. Das Schicksal der Asiaten in Uganda, von denen über 40 000 durch Idi Amin aus dem Lande vertrieben wurden, aber auch das der vietnamesischen Chinesen, der hoa kieu, von denen Hunderttausende aus Furcht vor Repressionen der vietnamesischen Regierung seit Mitte 1978 ihre Wahlheimat verließen, ist durch eine umfangreiche Berichterstattung in aller Welt bekannt geworden.

Doch auch dies sind nur einige Beispiele von vielen, und auch hier könnte die Zukunft noch weitere Massenvertreibungen bringen. So ist nicht nur die Situation der drei Millionen Auslandchinesen in Indonesien ungewiß, sondern auch diejenige der Inder in Malaysia. Dasselbe gilt für die ethnischen Minoritäten in der Republik Südafrika, die ihre Zusammenarbeit mit den Weißen vielleicht einmal mit ihrer Vertreibung bezahlen müssen. 4. Zu Flüchtlingsströmen größeren Ausmaßes kam es auch bei der Gründung von Staaten anläßlich des Rückzuges der Kolonialmächte; die Neugliederungsprozesse sind auch hier bis heute noch nicht abgeschlossen. Herausragendes Beispiel ist die Entwicklung auf dem indischen Subkontinent. Schon die Aufteilung in die Indische Union und Pakistan hatte im Herbst 1947 Bevölkerungsbewegungen gewaltigen Ausmaßes ausgelöst, die bis Anfang der fünfziger Jahre anhielten. In diesem Zeitraum waren 8, 5 Millionen Hindus und Sikhs in den indischen Teilstaat und 6, 8 Millionen Moslems in die beiden weit auseinanderliegenden Gebiete Pakistans aufgebrochen.

Zu Beginn der siebziger Jahre begann der staatliche Fragmentarisierungsprozeß aufs Neue — zuerst im pakistanischen Teilstaat. Nach zwei Jahrzehnten hatten sich zwischen dem östlichen und dem westlichen Landesteil aufgrund der rassischen, sprachlichen und kulturellen Verschiedenheiten sowie der Benachteiligung des Ostens so starke Spannungen gebildet, daß auch die religiösen Bindungen die staatliche Einheit nicht länger aufrechterhalten konnten. Nachdem die pakistanische Militärregierung die Forderung der siegreich aus den Wahlen hervorgegangenen Avami-Liga in Ostpakistan nach mehr Auto-41 nomie zurückwies und die Lage durch den Einsatz von Truppen wieder zu stabilisieren suchte, kam es zu Kämpfen, die nach der Intervention Indiens auf Seiten der ostpakistanischen Bengalen zur Gründung des Staates Bangladesh führten.

Obwohl die indische Regierung in dieser Situation auch die Chance nutzte, ihren langjährigen Gegner Pakistan entscheidend zu schwächen, war eines der Motive, das ihre Interventionsentscheidung nach außen hin legitimierte, die Flucht von fast 10 Millionen Menschen nach Indien, die zu einer starken wirtschaftlichen Belastung zu werden drohten. Viele von ihnen konnten nach Abschluß der Kriegshandlungen im Rahmen einer groß angelegten Aktion des UNHCR in ihre Heimat repatriiert werden, andere blieben in Indien, z. B. in Assam, wo sie, wie oben erwähnt, zu einer erheblichen innenpolitischen Belastung wurden und starke Impulse auf die separatistische Bewegung in diesem Staat ausübten. Würden sich die assamesischen Nationalisten mit ihrer Forderung nach Ausweisung dieser 3, 5 Millionen Bengalen sowie weiterer 200 000 Nepalesen durchsetzen, so wäre der Subkontinent erneut von einer Fluchtwelle riesigen Ausmaßes bedroht.

In dieselbe Kategorie fällt ein anderer Konflikt im Nahen Osten, der ebenfalls in die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg zurückgeht und inzwischen wiederholt zu militärischen Eruptionen führte: die Rede ist von der am 29. November 1947 beschlossenen Teilung Palästinas und der Ausrufung eines israelischen Staates am 14. Mai 1948. Auch hier kam es zu umfassenden Fluchtbewegungen: Eine halbe Million Juden strömte aus den arabischen Staaten in den neugegründeten Staat Israel und Hunderttausende arabischer Palästinenser verließen ihre alten Wohngebiete, in Israel, um in den angrenzenden arabischen Staaten auf die Zerstörung Israels und die Möglichkeit zur Rückkehr in ihre Heimat zu warten. Sie warten bis heute. Inzwischen aber hat sich die Zahl der im Ausland befindlichen Palästinenser nach UNRWA-Statistiken aus dem Jahre 1980 auf über 1, 8 Millionen erhöht. Widerstand gegen die unfreiwillige Eingliederung in andere Staaten charakterisiert auch eine Anzahl weiterer Beispiele. Zu ihnen gehört insbesondere Eritrea, dessen Bevölkerung sich seit Beginn der sechziger Jahre gegen den gewaltsamen Anschluß an Äthiopien wehrt; von hier waren 1980 fast 350 000 von ca. 3 Millionen Einwohnern in den benachbarten Sudan geflüchtet. Zu ihnen gehört ebenso der Kampf der Bewohner der ehemaligen spanischen Sahara gegen die drohende Angliederung an Marokko. Während der Kampf dieser beiden Gebiete um Selbstbestimmung noch unentschieden ist, scheiterten andere Versuche — etwa derjenige der Ibos in Biafra. Der Grund dafür ist nicht zuletzt in der Angst vieler Staaten der Dritten Welt zu suchen, durch eine allzu ermutigende Haltung gegenüber separatistischen Neigungen die Einheit des eigenen Staates zu gefährden und eine Kette von territorialen Auseinandersetzungen heraufzubeschwören, die — im Falle Afrikas — zu einer Balkanisierung des Kontinents führen könnten. Aus diesem Grund erhob auch die OAU die Unverletztlichkeit der kolonialen Grenzen zu einem ihrer wichtigsten Prinzipien. 5. Dieses Prinzip findet — zumindest in Afrika — auch bei einem anderen Typus von Auseinandersetzungen Anwendung, der immer wieder zu Flüchtlingsbewegungen geführt hat: beim Konflikt zwischen den neuen Staaten um ihre Grenzen. Das aktuellste Beispiel dafür ist der Ogaden-Konflikt zwischen Äthiopien und Somalia am Horn von Afrika.

Auch hier spielten Entscheidungen aus der Kolonialzeit eine erhebliche Rolle; dennoch schufen sie nur einen Teil des Konfliktstoffes. Als 1960 durch den Zusammenschluß von Italienisch-und Britisch-Somalia die Republik Somalia gegründet wurde, blieb ein nicht unerheblicher Teil der somali-sprechenden Bevölkerung außerhalb des neuen Staatsgebietes. Der größte Teil — ungefähr eine Million — lebte in der Ogaden-Region, die Äthiopien erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts erobert hatte; weitere 200 000 im „Northern Frontier District" von Kenia sowie 60 000 in der am 27. Juli 1977 von Frankreich in die Unabhängigkeit entlassenen Republik Djibouti. Von Anfang an hatte Somalia erklärt, daß es sich mit der Situation nicht abfinden, sondern unter Bezug auf das Selbstbestimmungsrecht die Eingliederung der somalischen Bevölkerungsteile im Ogaden betreiben würde. Da die somalische Regierung mit ihrer Forderung aus den genannten Gründen aber nicht auf die Unterstützung der OAU hoffen konnte und auch die betroffenen Nachbarstaaten nicht bereit waren, freiwillig die betreffenden Landesteile abzutreten, blieben der Regierung in Mogadischu nur der Verzicht oder die gewaltsame Eroberung. Sie versuchte letztere mit Hilfe sowjetischer Waffenlieferungen. Vielleicht wäre sie damit schließlich gegen das durch verlustreiche Kämpfe in Eritrea geschwächte Regime in Addis Abeba erfolgreich geblieben, hätte die Sowjetunion nicht 1976 Partei für das seit 1974 in Äthiopien an der Macht befindliche sozialistische Regime ergriffen, von dem sie sich größere strategische Vorteile in der Region erhoffte. Der Einsatz kubanischer Truppen und die massive Waffenhilfe Moskaus an Äthiopien brachten die Westsomalische Befreiungsfront um den Sieg, der schon in Sichtweite gewesen war.

Mit der Rückeroberung des Ogaden durch äthiopische Truppen, die auch die Zivilbevölkerung von ihren Vergeltungsschlägen nicht ausnahmen, setzte ein Exodus nach Somalia ein, der bis zum Frühjahr 1981 auf 1, 5 Millionen Menschen angeschwollen war. Doch auch dies war nur ein Bruchteil der Flüchtlinge, die seit Mitte der siebziger Jahre Äthiopien verlassen hatten. Schätzungen zufolge waren es sechs Millionen Menschen, die auf dem Höhepunkt der internen Machtkämpfe und der militärischen Aktionen der Zentralregierung gegen die separatistischen Bewegungen der Eritreer, Somalis, Oromos und Tigres im Lande ihre Wohnsitze oder das Land ganz verlassen hatten. 6. Gewaltsame militärische Aktionen gegen Minoritäten, die zwar nicht ihre Zugehörigkeit zu dem betreffenden Staat oder gar die Existenz dieses Staates selbst in Frage stellen, sondern die lediglich auf der Wahrung ihrer religiösen, ethnischen oder kulturellen Eigenart sowie auf einem bestimmten Maß an Autonomie bestehen, gehören ebenfalls zu den häufigen Ursachen von Flucht und Vertreibung. Ein tyisches Beispiel sind die Repressalien, die im Frühjahr 1978 zur Flucht von 200 000 Mitgliedern der muslimischen Minderheit in Arakhan im westlichen Burma nach Bangladesh führten. Bei dieser Minderheit handelt es sich um Angehörige des Roh-ingva-Volkes, die vor einigen Generationen aus Ost-Bengalen nach Burma eingewandert waren und sich inzwischen als Burmesen betrachteten. Zu den Ursachen ihrer Vertreibung zählte sowohl die allgemeine innenpolitische Unruhe, die nach der Beendigung der Militärherrschaft in Burma im Jahre 1974 eingetreten war, wie auch der Versuch der Behörden, den Handel in burmesischer Hand zu konzentrieren. Auf Vermittlung des UNHCR durfte jedoch die Mehrzahl dieser Flüchtlinge im Laufe des Jahres 1979 wieder nach Burma zurückkehren.

Auf das Schicksal der chinesischen Minorität in Vietnam wurde schon hingewiesen; insgesamt 466 000 von ihnen verließen seit Mitte 1975 Vietnam zumeist auf Booten. Auch eines der Motive für die Vertreibung durch die vietnamesische Regierung — Vergeltung für die Zusammenarbeit vieler Chinesen mit den Franzosen und Amerikanern — ist schon genannt worden. Doch reicht dies zur vollen Erklärung der Aktion nicht aus. Denn der Kollaborationsvorwurf mochte für mehr oder weniger Chinesen im ehemaligen Südvietnam gelten, nicht jedoch für jene Chinesen, die in Nordvietnam lebten. Doch auch sie trafen, wie die Flucht von 263 000 Menschen in die VR China belegt, die Repressalien. Die tieferen Ursachen liegen daher wohl eher in der außenpolitischen Wende Hanois, das sich nach der Annäherung an Moskau auf einen längerfristigen Konflikt mit China einzustellen begann und mit der Vertreibung der chinesischen Minderheit ein potentielles Sicherheitsrisiko ausschalten wollte.

Nicht viel besser als den hoa kien erging es den chinesischen und vietnamesischen Minderheiten in Kampuchea, die von den Roten Khmer vertrieben oder vernichtet wurden. Dasselbe Schicksal erlitten jene laotischen Bergstämme — vor allem die Meos —, die auf Seiten der USA gegen die laotischen Kommunisten gekämpft hatten und von denen mehrere Hunderttausend sich vor den Vergeltungsmaßnahmen der Sieger nach Thailand und in die VR China retteten.

7. Widerstand gegen die Monopolisierung politischer Macht und die ungerechte Verteilung des wirtschaftlichen Reichtums gibt es in vielen Staaten der Dritten Welt. Dieser Widerstand mag anfangs schwach und durch Aktionen von Armee, Miliz und Polizei leicht einzudämmen sein. Er kann sich jedoch auch zu einem offenen Bürgerkrieg entwickeln und von den ländlichen Gebieten, in denen Guerilla-Bewegungen häufig zuerst entstehen, auf die Städte übergreifen. In dieser Situation von Gewalt und Gegengewalt neigen Teile der Bevölkerung dazu, sich in ruhigeren Teilen des Landes oder jenseits der Grenzen in Sicherheit zu bringen. Solche Aufenthalte mögen häufig nur von kurzer Dauer sein, sie können sich gelegentlich jedoch auch über Jahre hinziehen.

Eine solche Entwicklung ist seit Beginn der achziger Jahre in verschiedenen Staaten Mittelamerikas entstanden; im Libanon, auf den Philippinen, vor allem aber in zahlreichen Staaten Afrikas, in denen noch immer tribali43 stische Loyalitäten überwiegen, sind ähnliche Entwicklungen eingetreten. So sehen viele afrikanische Politiker ihren eigenen Stamm noch immer als die wichtigste Machtbasis an, die sie durch materielle Zuwendungen und die Besetzung einflußreicher Posten mit Stammesangehörigen — etwa in der Armee — zu erhalten und auszubauen suchen. Da dies jedoch aufgrund der knappen Ressourcen in der Regel auf Kosten anderer Stämme geht, sind gewaltsame Konflikte vorprogrammiert. Nicht zuletzt auf diese tribalistische Tradition dürfte es zurückzuführen sein, daß Afrika besonders hohe Flüchtlingszahlen aufweist.

8. Obwohl Fluchtbewegungen als Folge offenen Terrors in Diktaturen relativ selten sind, können auch sie einer eigenen Kategorie zugeordnet werden. Gewaltherrscher wie Macias Nguema von Equatorial Afrika, Idi Amin von Uganda, Bokassa von Zentralafrika, Pol Pot von Kampuchea, Francois Duvalier von Haiti haben Hunderttausende von Menschen aus ihren Ländern vertrieben. Daß im Rahmen der Vereinten Nationen nur selten Menschenrechtsverletzungen dieser Art beim Namen genannt und in keinem Fall ernsthafte Gegenmaßnahmen ergriffen wurden, zählt zweifellos zu den Negativposten der Völkergemeinschaft. Relativ fließend verläuft die Grenze zwischen den hier erwähnten Diktatoren und zahlreichen Militärdiktaturen, deren Namen nur wenige kennen, deren Politik jedoch ebenfalls in vielen Fällen zum Massenexodus führt. So hielten sich nach amtlichen Angaben 1976 mehr als eine Million Flüchtlinge allein in Argentinien, dem bis dahin beliebtesten Exil des südamerikanischen Kontinents, auf: darunter 450 000 Paraguayer, 200 000 Bolivianer, 200 000 Uruguayer, 150 000 Chilenen und 50 000 Brasilianer — Folge einer Kette von Militärputschen, die sich in den genannten Ländern ereignet hatten. 9. Daß Menschen, die aufgrund desolater wirtschaftlicher Lebensbedingungen ihre Heimat verlassen, nach internationalen Rechtsnormen nicht als „Flüchtlinge" gelten, ist schon gesagt worden. Dennoch übertrifft die Zahl der Menschen, die unter die Kategorie der „Wirtschaftsflüchtlinge" fallen, vermutlich die aller anderen; sie wächst zudem ständig weiter. Zu dieser Gruppe gehören die Wanderarbeiter, die aus den Staaten des südlichen Afrika in die Südafrikanische Union ziehen, die Inder und Pakistani, die in den Ölstaaten des Nahen Ostens, die Mexikaner und Haitianer, die in den USA und die Nordafrikaner, Jugoslawen und Türken, die in Westeuropa nach Arbeit suchen. Zu ihnen zählen auch die vielen Millionen, die in den Ländern der Dritten Welt ihre ländlichen Heimatgebiete verlassen und auf der Suche nach Arbeit und Einkommen in die Städte ziehen.

Diese Systematisierung will keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, sondern lediglich auf einige der zentralen Situationen und Ursachen abheben, die Flüchtlingsbewegungen auslösen. Darüber hinaus darf nicht übersehen werden, was jede einzelne Fallstudie belegt: in jedem Fall wirken neben der Hauptursache eine Vielzahl anderer Faktoren mit.

IV. Ausblick

Die vorliegende Darstellung des Flüchtlingsproblems verfolgt mehrere Ziele, die abschließend noch einmal zusammengefaßt werden sollen:

1. Sie soll auf ein Problem unserer Zeit aufmerksam machen, das Millionen von Menschen überall in der Welt betrifft, das jedoch bei einer breiteren Öffentlichkeit in der Regel nur dann Beachtung findet, wenn es aufgrund spektakulärer Vertreibungen oder Asylverfahren für kurze Zeit in die Schlagzeilen gerät. Daß Flucht und Vertreibung zentrale Themen der jüngsten deutschen und europäischen Geschichte sind, konnte nur am Rande gezeigt werden. 2. Sie soll zeigen, daß es sich bei den weltweiten Flüchtlingsbewegungen nur auf den ersten Blick um zufällige, voneinander isolierte Einzelerscheinungen handelt, sondern daß diese in historisch tief wurzelnden Zusammenhängen und Entwicklungsprozessen stehen, die die einzelnen Ereignisse miteinander verbinden. Vor allem aber, daß auch hier der Nord-Süd und der Ost-West-Konflikt sich in vielfältiger Weise überlagern und gegenseitig verstärken.

3. Sie soll damit auch auf die Verantwortung hinweisen, in der wir nicht nur infolge der kolonialen Vergangenheit Europas, sondern auch aufgrund der globalen Verkettung der Konfliktformationen unserer Tage stehen. An dieser Verantwortung ändert auch die Tatsache wenig, daß viele der Ursachen von Flucht und Vertreibung bis tief in präkoloniale Zeiten zurückreichen bzw. auf das Konto von Entwicklungen gehen, die von den betreffenden Ländern selbst zu verantworten sind. Angesichts einer ständig independenter werdenden Welt ist die Entwicklung nicht nur eines globalen Bewußtseins, sondern auch eines globalen Verantwortungsbewußtseins zu einer der drängendsten Aufgaben unserer Zeit geworden.

4. Sie soll schließlich deutlich machen, daß gerade aufgrund der Vielschichtigkeit der Problematik Maßnahmen sich nicht auf den Bereich der humanitären Hilfe beschränken dürfen, sondern — so notwendig diese auch ist — breiter angelegt sein müssen. Daß sie also auch die politischen und wirtschaftlichen Dimensionen einbeziehen müssen, vor allem aber, daß sie auch präventiv ausgerichtet sein müssen. In diesem Sinne bewegt sich die deutsche Initiative zur präventiven Behandlung grenzüberschreitender Flüchtlingsbewegungen — zu welchen Ergebnissen sie auch immer führen mag — grundsätzlich in richtiger Richtung. Allerdings sind die Vereinten Nationen nur eine Ebene, die sich zur Entwicklung flüchtlingsrelevanter Strategien und Mechanismen anbietet. Mindestens ebenso wichtig ist es, diesen Aspekt auch in den regionalen Organisationen in aller Welt stärker zu betonen, da ihnen dieselbe Bedeutung für die friedliche Lösung von Konflikten zukommt wie der Weltorganisation. Wie groß ihre Möglichkeiten — aber auch ihre Schwierigkeiten — sind, zeigen die Erfahrungen der Organisation für afrikanische Einheit, die als erste hier sinnvolle Initiativen ergriffen hat

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zum Flüchtlingsbegriff und zum rechtlichen Status des Flüchtlings s. A Grahl-Madsen, The Status of Refugees, in: International Law, Vol. I (1966), Vol. II (1972), Leyden; O. Kimminich, Der internationale Rechtsstatus der Flüchtlinge, Köln-Berlin-Bonn-München 1962; M. Schätzel/Th. Veiter (Hrsg.), Handbuch des internationalen Flüchtlings-rechts, Wien-Stuttgart 1960; Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (Hrsg.), Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, Genf 1979.

  2. SZ vom 1. 3. 1983.

  3. C. D. Maaß schätzt die Zahl der illegal in Assam lebenden Einwanderer auf 2 Mill. S. dazu ihren sehr informativen Artikel „Die 1983er Wahl in Assam — Kulmination eines jahrzehntelangen Konflikts", in: Asien (erscheint demnächst).

  4. Refugees, (1982) 9, S. 3.

  5. UNHCR Fact Sheet, (1983) 7.

  6. UNHCR Information, (1983) 5.

  7. Report of the Commissioner-General of the United Nations Relief and Works Agency for Palestine-Refugees in the Near East, New York 1980, S. 64.

  8. SZ vom 5. 11. 1982.

  9. SZ vom 26. 10. 1982.

  10. Im Rahmen des Orderly Departure Programme for Vietnamese emigrants and Kampuchean refugees verließen mit Zustimmung der vietnamesischen Behörden seit Juni 1979 33 926 Menschen Vietnam; vgl. Refugees, (1983) 20.

  11. UNHCR Information, (1983) 7.

  12. UNHCR Fact Sheet, (1983) 8.

  13. S. dazu den Bericht der Untersuchung, die „American Watch“ im März 1983 durchführte, in: The New York Review of Books, June 2, 1983, S. 13- 16.

  14. D. K. Fieldhouse, Die Kolonialreiche seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt 1965, S. 175.

  15. A Supan, Die territoriale Entwicklung der europäischen Kolonien, Gotha 1906, S. 254.

  16. Bundesausgleichsamt (BAA) und Bayerisches Staatsministerium und Sozialordnung.

  17. Umfassendes Zahlenmaterial findet sich in: Congressional Research Service, Library of Con-gress. World Refugee Crisis: The International Community's Response. U. S. Senate, Judiciary Comm, 96th Congress, Ist Sess., August 1979.

  18. I. Kende, Kriege nach 1945. Eine empirische Untersuchung, in: Militärpolitik Dokumentation, 6 (1982) 27, Frankfurt a. M. 1982.

  19. S. Böhm, Grenzüberschreitende Flüchtlingsströme. Präventive Behandlung im Rahmen der Vereinten Nationen, in: Vereinte Nationen, (1982) 2, S. 48— 54, s. auch S. 72— 73; dazu auch Vereinte Nationen, (1983) 3, S. 91.

  20. Aus Raumgründen kann hier nicht im einzelnen auf die entsprechenden Fallstudien hingewiesen werden. Eine umfassende aktuelle Bibliographie, die Einblick in die Fülle der Regionalstudien gibt, findet sich in: Transnational Perspectives, Human Rights, War and Mass Exodus. A Special Study, 1982, S. 47— 54. Vgl. dazu auch P. J. Opitz, Menschen auf der Flucht, in: ders. (Hrsg.), Weltprobleme, München 1982 (= Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 188), S. 341 ff.

Weitere Inhalte

Peter J. Opitz, Dr. phil., geb. 1937; Professor für Politische Wissenschaft am Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft der LM Universität München. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg.) Chinas große Wandlung. Revolutionäre Bewegungen im 19. und 20. Jahrhundert, München 1972; Chinas Außenpolitik. Ideologische Grundlagen — Strategische Konzepte, Zürich 1978; (Ed.) The Philosophy of Order, Stuttgart 1981; (Hrsg.) Weltprobleme, München 1982.