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Die neuen Bundesländer als Sonderfall der Transformation in den Ländern Ostmitteleuropas | APuZ 40/1996 | bpb.de

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APuZ 40/1996 Die internationale Regelung der Wiedervereinigung Von einer „No-win" -Situation zum raschen Erfolg Die deutsche Einigung oder das Ausbleiben des Wunders. Sechs Jahre danach: eine Zwischenbilanz Industrielle Beziehungen in Ostdeutschland: Zwischen Transformation und Standortdebatte Kritische Zwischenbilanz der Vereinigungspolitik. Eine unerledigte Aufgabe der Politikwissenschaft Die neuen Bundesländer als Sonderfall der Transformation in den Ländern Ostmitteleuropas

Die neuen Bundesländer als Sonderfall der Transformation in den Ländern Ostmitteleuropas

Helmut Wiesenthal

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Dank des kompletten Institutionentransfers und umfangreicher Finanzhilfen im Zuge der staatlichen Vereinigung gilt die DDR als Sonderfall in den Transformationsprozessen Ostmitteleuropas. Folglich werden der Form und den Konditionen der deutschen Einheit auch die Schwierigkeiten und Kosten des Übergangs angelastet. Im Unterschied zu einer solchen Binnenansicht der DDR-Transformation werden in diesem Beitrag punktuelle Vergleiche mit der Situation in anderen Reformländern Ostmitteleuropas angestellt. Dabei zeigt sich, daß die These einer überdurchschnittlichen Schädigung der DDR-Wirtschaft durch die übergangslose Wirtschafts-und Währungsunion sowie die Privatisierungspraxis der Treuhandanstalt unzutreffend ist. Seit 1993 ist der Produktionsrückstand gegenüber 1990 geringer als in Tschechien, der Slowakei und Slowenien. Auch die Treuhandpolitik seit 1992 schneidet vergleichsweise günstig ab, wenn das komplexe Zielsystem der Privatisierung beachtet wird. Risiken und „Kosten“ der Wirtschaftstransformation sind auch anderenorts höher als erwartet ausgefallen. Ähnliches gilt für die Konstitution neuer Akteure der demokratischen Politik. Dem Repräsentationsdefizit ostdeutscher Interessen in den importierten Institutionen stehen in Polen, Ungarn oder Tschechien keinerlei Vorteile einer „autonomen“ Akteurbildung gegenüber; vielmehr unterliegt die Repräsentation sozialer Ansprüche dort deutlich größeren Problemen. Deshalb bedarf es einer anderen als ökonomischen Erklärung für die in den neuen Ländern beobachtete Unzufriedenheit. Sie ist im Verlust an biographischer und sozialer Sicherheit sowie in verletzten Selbstwertgefühlen als Folge der überwiegend paternalistischen Steuerung des Wandels zu finden.

I. Einleitung

Die Transformation Ostdeutschlands hat durch die Vereinigung mit einer konsolidierten Demokratie und einer weltmarktoffenen Ökonomie von Anfang an den Charakter eines unvergleichlichen Sonderfalls. Was in Ostdeutschland geschieht oder unterbleibt, erscheint weniger als Moment der postsozialistischen Transformation, wie sie mehrere Staaten in Ost-und Ostmitteleuropa absolvieren, denn als Folge und Problem westdeutscher Politik. Die „Probleme der Einheit“ gehen aber nicht in den verschiedenen Aspekten der Vereinigung auf. Sie liegen zu einem beträchtlichen Teil in den schwierigen Aufgaben, dem Zeitbedarf und den Risiken der grundlegenden gesellschaftlichen Umgestaltung, die in ehemals sozialistischen Ländern stattfindet.

Während die Anstrengungen um die Verwirklichung der deutschen Einheit einem eindeutigen Ziel, nämlich der Angleichung der institutionellen Ordnung und der konkreten Lebensverhältnisse, unterliegen und demgemäß an fortdauernden Unterschieden gemessen werden, läßt sich die Transformationsaufgabe keineswegs analog dem Wiederaufbau Westdeutschlands nach 1945 bewältigen. Sinnfällige Vergleiche sind nur mit anderen ehemals sozialistischen Gesellschaften möglich, die den Prozeß des Wandels unter ähnlichen Ausgangsbedingungen in Angriff nahmen. Erst vor dem Hintergrund der vergleichbaren Transformationsaufgaben und -probleme Polens, Tschechiens oder Ungarns werden die Koordinaten des Ausnahmefalls DDR erkennbar.

Wenn im folgenden eine vergleichende Perspektive gewählt wird, so geschieht das in der Absicht, allzu einfache Deutungen zu vermeiden, die vorrangig auf die umfangreichen West-Ost-Transfers (von Institutionen, Geld und Personal) oder die Aspekte der „Transformation von außen“ Bezug nehmen. Statt dessen werden die besonderen Merkmale der ostdeutschen Transformation einmal nicht anhand des Vergleichsmaßstabes Westdeutschland ausgelotet, sondern als Abweichungen von anderenorts verfolgten Transformationsprojekten. Zunächst geht es um Eigenheiten der Wirtschaftstransformation und des politisch-institutionellen Wandels. Sodann wird ein Blick auf die Ursachen des „Unzufriedenheitssyndroms“ geworfen.

II. Das Muster der Wirtschaftstransformation

Nicht wenigen Beobachtern erscheinen die neuen Bundesländer (im folgenden NBL) als ein Parade-beispiel der sogenannten Schocktherapie worunter eine von sozialen Rücksichten entlastete „Radikalkur“ verstanden wird, wie sie 1990 in Polen, 1991 in der CSFR und 1992 in Rußland erprobt wurde, aber stets vor Erreichen des ursprünglichen Ziels abgebrochen werden mußte. Lediglich im Falle der durch externe, das heißt westdeutsche Akteure betriebenen Transformation der DDR scheint das radikale Rezeptbuch bis zum bitteren Ende befolgt worden zu sein. Scheinbar folgerichtig werden dem „Hauruck“ -Verfahren der Wirtschafts-und Währungsunion sowie der Privatisierungspolitik der Treuhandanstalt überdurchschnittlich hohe soziale Kosten zugeschrieben. 1. Die Wirtschafts-und Währungsunion -

eine Schocktherapie?

Ein Vergleich der Wirtschafts-und Währungsunion mit den Maßnahmen, die etwa beim Start der polnischen Wirtschaftsreform ergriffen und als Kernbestandteile einer Schocktherapie empfohlen wurden fördert beträchtliche Unterschiede zutage. Gemeinsamkeiten beschränken sich auf die Herstellung einer rechtsstaatlichen und marktgerechten Ordnung sowie auf die Liberalisierung wirtschaftlicher Tätigkeiten, das heißt die Freigabe der Preise und des (Außen-) Handels sowie den Abbau staatlicher Subventionen. Im Zuge der Wirtschaftsunion vom 1. Juli 1990 wurde jedoch keine der volkswirtschaftlichen Stabilisierungsmaßnahmen ergriffen, welche die Schocktherapie vorsieht: Die DDR-Währung wurde nicht etwa wie die Währungen anderer Länder abgewertet, sondern erfuhr mit den Umtauschrelationen 1 : 2 bzw. 1 : 1 eine Aufwertung um fast 400 Prozent. Statt einer Dämpfung der Lohn-und Einkommensentwicklung war die paritätische Umstellung von Löhnen und Sozialeinkommen vorgesehen sowie deren schrittweise Anhebung auf das westdeutsche Niveau. Ebenfalls einen „Rezeptverstoß“ stellt die Ausweitung der staatlichen Kreditaufnahme dar, die jedoch weniger gravierend wirkt, weil die DDR unter das Dach des vielfach größeren Staats-budgets der Bundesrepublik gelangt war.

Die Konditionen der Wirtschaftstransformation widerlegen die Annahme, die DDR-Wirtschaft habe eine Schocktherapie erfahren. Zwar bewirkte das Paket der Liberalisierungsmaßnahmen (Preisfreigabe, Marktöffnung und Subventionsabbau) einen beispiellosen „Öffnungsschock“ der die abrupte Entwertung vorhandener Produktionskapazitäten bedeutete und externen Anbietern eine privilegierte Position verschaffte. Aber die währungs-und einkommenspolitischen Maßnahmen liefen den Empfehlungen der Schocktherapie diametral zuwider. Das Konglomerat marktorientierter, interventionistischer und redistributiver Maßnahmen unterliegt keinem ökonomischen Konzept, sondern es ist das Ergebnis politischer Entscheidungen unter Zeitknappheit, Informationsmangel und den Bedingungen des Wettbewerbs um Wählerstimmen. Dank der dabei an die DDR-Bevölkerung ausgereichten Gratifikationen -vor allem die Aufwertung der Sparguthaben und die paritätische Einkommensumstellung -trat schon kurzfristig eine signifikante Verbesserung der Einkommens-und Vermögenssituation privater Haushalte ein Die Kehrseite ist die Verschlechterung der Existenz-und Entwicklungsbedingungen einheimischer Unternehmen in einem Maße, für das sich weder in anderen Transformationsstaaten noch in der Geschichte des westeuropäischen Kapitalismus ein Pendant finden läßt.

Die gleichzeitige Realisierung aller entscheidenden Maßnahmen erweckt den Eindruck, die DDR-Wirtschaft sei das Opfer einer besonders strengen Schocktherapie, quasi einer „Therapie auf dem elektrischen Stuhl“ geworden. Dabei kamen tatsächlich mehrere auf „Heilung“ zielende, also im Wortsinne therapeutische Maßnahmen gar nicht zur Anwendung. Die übergangslose Wirtschaftsintegration war nicht ökonomisch, sondern politisch motiviert. Die dafür gegebenen Erklärungen beziehen sich entweder auf die günstige außenpolitische Verhandlungssituation, das heißt das „window of opportunity“, das durch die Einigungsbereitschaft der Regierung der UdSSR geöffnet worden war oder sie rekurrieren auf ein Interesse der westdeutschen politischen Elite, das bundesdeutsche Institutionensystem gegen „einheitsbedingte“ Veränderungsimpulse abzuschirmen. Die Alternative einer schrittweisen und wechselseitige „Lernprozesse“ wie politische Präferenzänderungen befördernden Zusammenführung hätte gewiß deutlichere Spuren im deutschen Institutionensystem hinterlassen

Beim Rückblick auf die Entscheidungslage des Jahres 1990 treten die damals behaupteten „Handlungszwänge“ -unter anderem die „Gefahr“ einer Desintegration der (DDR-) Wirtschaft, die Kosten einer anhaltenden Ost-West-Migration und die Schwierigkeiten der Aufrechterhaltung eines separaten Wirtschaftsraums -gegenüber den Kalkülen der Bewahrung institutioneller Kontinuität und der Wahrnehmung wahltaktischer Chancen zurück Die Befürworter der übergangslosen Einheit konnten auf die große Zustimmung der DDR-Bevölkerung bauen, die unzweideutig den Wunsch nach Integration in das westdeutsche Währungsgebiet äußerte. Dem kam die Verfügbarkeit eines Verfahrens für die verbindliche Programmierung des schwierigen Projekts entgegen, das andere Länder entbehrten und das institutionelle Risiken und Unwägbarkeiten zu begrenzen erlaubte: Die Möglichkeit, ein Maximum an Entscheidungsmaterie in Verhandlungen zwischen DDR und Bundesrepublik, das heißt im Medium der Außenpolitik, abzuarbeiten, schützte vor den Risiken eines innenpolitischen Dauerthemas „DDR-Integration“ und gewährleistete institutioneile Kontinuität. 2. Die Privatisierungspolitik der Treuhandanstalt Die beschleunigte Privatisierung der DDR-Wirtschaft war eine Konsequenz des gewählten Transformationskonzepts. Es unterlag der Prämisse, daß der Staat auf jeden Fall den Lebensunterhalt der Bevölkerung zu sichern habe und es angesichts der Größenordnung der Aufgabe weder finanz-noch strukturpolitisch sinnvoll sei, dafür den Umweg einer „flächendeckenden“ Subventionierung der bestehenden Unternehmen zu wählen. Tatsächlich schneidet die Privatisierungspraxis der Treuhand-anstalt nicht unvorteilhaft ab, wenn man sie mit den in anderen Reformstaaten verfügbaren Optionen vergleicht. Das gilt jedenfalls für die Zeit ab Frühjahr 1992, in der das zunächst vorrangig verfolgte Privatisierungsziel durch gleichrangige Struktur-und beschäftigungspolitische Ziele ergänzt worden war

Die Privatisierung des Wirtschaftspotentials dient mehreren Zielen: Zum einen sollen Unternehmen mit einem kostenverantwortlichen Management entstehen, die sich zu gewichtigen Arbeitskraftnachfragern und Steuerzahlern entwickeln. Zum zweiten sind Regierungen an hohen Verkaufserlösen interessiert, mit denen sie das Staatsbudget aufzubessern hoffen. Gleichzeitig streben sie, drittens, die Begrenzung des Personalabbaus an, der im Zuge der Kommerzialisierung und Modernisierung der Unternehmen notwendig wird. Und viertens soll das Privatisierungsverfahren die Akzeptanz der Bevölkerung finden, damit die ohnehin gefährdete Sozialintegration nicht zusätzlich auf die Probe gestellt wird. Unglücklicherweise wird keines der üblichen Privatisierungsverfahren allen diesen Zielen gerecht. Auktionen verhelfen zwar dem Staat zu maximalen Verkaufserlösen, aber lassen den Erwerbern freie Hand, das Betriebsvermögen zu liquidieren statt es zu modernisieren. Die breite Streuung von (u. U. kostenlosen) Anteilscheinen, sogenannten Vouchers, läßt zwar Teile der Bevölkerung zu formellen Eigentümern werden und mag mit Struktur-und beschäftigungspolitischen Zielen vereinbar sein, gewährleistet aber weder die Einsetzung eines kostenverantwortlichen Managements noch die Reduzierung des Bedarfs an Subventionen. Allein detailliert ausgehandelte Verträge bieten die Möglichkeit, in jedem einzelnen Verkaufsfall eine optimale Balance aller vier Ziele zu suchen.

Es ist dieses letztgenannte Verfahren, das die Treuhandanstalt seit 1992 bevorzugt anwendete, um neben der Fortführung der verkauften Unternehmen auch erfolgversprechende Modernisierungs-und Investitionsvorhaben sowie eine positive Beschäftigungsentwicklung zu fördern. Aus Struktur-und beschäftigungspolitischen Gründen wurden in Einzelfällen sogar Verträge mit einem „negativen“ Verkaufspreis abgeschlossen. Andererseits sind individuelle Verträge das am wenigsten transparente, also am schwierigsten zu beaufsichtigende Verfahren. Seine Handhabung durch die Treuhandanstalt war anfällig für Mißbrauch und Korruption, wenngleich in geringerem Umfang als im Falle der berüchtigten „spontanen“ und „Nomenklatura“ -Privatisierungen in Polen und Ungarn Es gelang immerhin, Investoren auf unstrittige Gemeinwohlziele zu verpflichten, ohne dabei den Weg zu einer modernen und effizienten Produktionsstruktur zu versperren. Angesichts der gegebenen Vergleichsmöglichkeiten kann der Politik der deutschen Privatisierungsagentur schwerlich die Verantwortung für den Wirtschaftskollaps zugeschrieben werden. Allerdings vermochte das (ab 1992) relativ sozialverträgliche Verfahren nicht, die destruktiven Wirkungen des Öffnungsschocks zu kompensieren. 3. Ein Ausnahmefall der Wirtschaftstransformation? Als Folge von Öffnungsschock und Wettbewerbs-nachteilen war im Jahre 1992 die industrielle Produktion der neuen Bundesländer auf 70 Prozent des Wertes von 1990 geschrumpft. Die Zahl der Beschäftigten in der verarbeitenden Industrie war von einstmals 2, 6 Millionen bis Ende des Jahres 1993 auf nur noch 658 000 gefallen Unter, dem Eindruck dieser Entwicklung entstand das Bild von einer -als Folge von Wirtschaftsunion und Treuhandpolitik -in besonderem Maße geschwächten Wirtschaft. Dieser Eindruck täuscht. Ein Vergleich mit den mittelosteuropäischen Ländern zeigt überraschend wenig Varianz bei der Entwicklung der Industrieproduktion nach dem Systemwechsel. Setzt man den Output des verarbeitenden Gewerbes (einschließlich Bergbau und Energieerzeugung) im Jahre 1990 gleich 100, so fand in den NBL (1992: 67, 6 Prozent) zwar ein ähnlich gravierender Rückgang wie in Tschechien (1992: 65, 2 Prozent) statt, aber die 1993 einsetzende Erholung führte die NBL wieder ins Mittel-feld der Vergleichsländer Im Jahre 1995 erreichte Tschechien 74 Prozent, die Slowakei 79, 7 Prozent, Slowenien 80, 3 Prozent, die NBL 86, 9 Prozent und Ungarn 88, 1 Prozent der industriellen Produktionsleistung von 1990 Allerorten waren die volkswirtschaftlichen Verluste höher ausgefallen, als man anfangs erwartet hatte. Es überrascht, wie wenig sich unterschiedliche Transformationspfade auf das Schicksal der „sozialistischen“ Industrie nach 1990 auswirken.

Erweitert man den Vergleich auf die Entwicklung von Arbeitslosigkeit und Inflation, so wird die Sondersituation der NBL-Wirtschaft deutlich. Mit der hohen Arbeitslosenquote (1995: 9 Prozent; Polen: ebenfalls 14, 9 Prozent; Slowakei 13, 8 Prozent; Slowenien 13, 5 Prozent; Ungarn 10, 4 Prozent; Tschechien 3 Prozent) korrespondiert die bei weitem niedrigste Inflationsrate (1995: 2, 1 Prozent; demgegenüber: Ungarn 28, 3 Prozent; Polen 28, 1 Prozent; Slowenien 13, 5 Prozent; Slowakei 9, 9 Prozent; Tschechien 9, 1 Prozent). Offensichtlich spiegeln diese Daten nicht den „Öffnungsschock“ wider, sondern die Unterordnung der Transformationswirtschaft unter ein externes Zielsystem: die finanzwirtschaftlichen Prioritäten der Bundesregierung und die Vorbereitung auf eine europäische Währungsunion auf der Basis der Maastricht-Kriterien. Im Vergleich mit anderen Ländern fällt auf, daß einzelne Partien der Transformation der DDR-Wirtschaft unterschiedliche Vorzeichen tragen: Erstens: Die mit umfangreichen Finanztransfers „gesponserte“ Wirtschaftsunion hat der Bevölkerung nicht nur die anderenorts erlittenen Realeinkommensverluste erspart, sondern spürbare Einkommens-und Kaufkraftgewinne gebracht. Zweitens: Aufgrund seiner detaillierten Startprogrammierung erweist sich das ostdeutsche Transformationsprojekt in hohem Maße vom unzulänglichen Informationsstand des Jahres 1990 geprägt und an irreversible politische Grundsatzentscheidungen gebunden. Nirgendwo sonst bestehen so wenig Möglichkeiten der Rückkoppelung von Transformationserfahrungen an die aktuelle Transformationspolitik. Drittens: Gleichwohl scheint die NBL-Wirtschaft nicht stärker als andere Transformationswirtschaften von Kontraktionswirkungen betroffen. Viertens: Handikaps bestehen dagegen im komparativen Standortnachteil der Hochlohnpolitik und in dem Verzicht auf eine der Transformations problematik angepaßte Finanz-und Währungspolitik.

III. Ein Repräsentationsdefizit der politischen Institutionen?

Die Entscheidungen von 1990 haben eine Vielzahl von sektoralen Transformationsprozessen eingeleitet: in Industrie und Landwirtschaft, in Recht und Verwaltung, Bildung und Wissenschaft sowie im System der sozialen Sicherungen 14. Sie waren durch institutionelle Muster Westdeutschlands konditioniert und wurden von westdeutschen Akteuren dirigiert. Für das Gesamtprojekt des nach Kontinuitätsinteressen entworfenen, durch Institutionentransfer bewirkten, mit großzügigen Finanzhilfen gesponserten und mit westdeutscher Expertise betriebenen Systemwechsels wurde das Wort von der „exogenen Transformation“ geprägt womit die Außensteuerung des Wandels gemeint ist.

Mit einem Verweis auf die diversen „Transfers“ ist die politische Dimension jedoch nicht ausgelotet. Nicht nur ist die weitgehende „Außensteuerung“ des Wandels zu registrieren, dessen hervorstechendes Merkmal der Import von Entscheidungskriterien, nicht der von Personen ist, sondern es ist auch das außerordentliche Wandlungstempo zu berücksichtigen, das „internen“ Akteuren wenig Zeit für nachholende Prozesse des Organisierens und Lernens ließ. In diesem Zusammenhang muß man sich ferner des geringen Praxisbezugs und der konzeptionellen Schwäche der endogenen Reformkräfte erinnern, auf deren Ursachen wir noch zu sprechen kommen.

Solche Beobachtungen konvergieren im Befund einer Akteur-bzw. „Vertretungslücke“ der ostdeutschen Transformation. Sie markieren ein Repräsentationsdefizit ostdeutscher Interessen und begründen den Verdacht, daß viele der transformationswirksamen Entscheidungen westdeutsche Interessenten privilegieren. Ein vergleichender Blick auf die Assoziations-und Repräsentationsverhältnisse in den NBL auf der einen Seite und in ostmitteleuropäischen Staaten auf der anderen liefert dagegen ein eher zwiespältiges Ergebnis.

Unbestritten ist, daß der umfangreiche Transfer von Leihpersonal an die Spitze von Administrationen, Parteien und Verbänden mehr als nur den zügigen Import westdeutschen Expertenwissens gewährleistete. Es war auch ein Siegeszug kontextfremder und teilweise historisch obsoleter Politikerfahrungen, Problemdeutungen und Interessenprofile -eine Feststellung, die keineswegs durch die Beobachtung widerlegt wird, daß sich viele Beteiligte um selbstlose Hilfe und Erfahrungsvermittlung bemühten. Zum Spektrum der Stile und Motive zählten professionelle Solidarität ebenso wie paternalistische Bevormundung und egoistische Interessenverfolgung. Aber schon aufgrund der höheren Komplexität des demokratischen Rechtsstaats mit seinen ausdifferenzierten Rechts-und Verwaltungsnormen machten viele Ostdeutsche, nachdem sie sich gerade als „Herren“ ihrer Geschichte fühlen gelernt hatten, deprimierende Abhängigkeits-und Unterlegenheitserfahrungen. Die Kontakte der DDR-Bevölkerung zu den Instanzen des SED-Staats waren nicht durchweg von Repressionserfahrung und Ohnmachtsgefühlen bestimmt. Was man u. U. vom Politbüro und der Staatssicherheit zu befürchten hatte, prägte nicht oder nur ausnahmsweise den „lokalen“ Handlungsraum in (vor allem kleineren) Gemeinden und am Arbeitsplatz Hier gab es Netze unvermittelter persönlicher Beziehungen, ein zwar autoritäres, aber wenig formalisiertes Verwaltungshandeln sowie das „Ausmauscheln“ pragmatischer Problemlösungen jenseits parteipolitischer Vorgaben und rechtsstaatlicher Normen. Deswegen konnte die ungebetene Einführung strikter Verfahrensnormen in Gestalt öffentlichen und bürgerlichen Rechts Unsicherheit und Entfremdung stiften. Einer im Jahre 1995 durchgeführten Befragung zufolge sehen zwar 45, 3 Prozent der Befragten überwiegend „Gewinne“ an persönlicher Freiheit durch die deutsche Einheit (während nur 6, 6 Prozent überwiegend „Verluste“ beklagen), aber in bezug auf den „Umgang mit Behörden“ beklagen 33, 8 Prozent überwiegend „Verluste“, „Gewinne“ sehen nur 7, 7 Prozent Der Import des westdeutschen Institutionen-systems und die dadurch verursachten Entfremdungserscheinungen sind der Preis einer „gesponserten“ Transformation, die der Bevölkerung den in anderen Reformländern notwendigen harten Wirtschaftskurs ersparte. War die Vereinnahmung der neuen Handlungsfelder durch externe korporative Akteure ein zwangsläufiges Korrelat des Transfers von Institutionen, die mit den Spielregeln auch die Spieler definieren, so war sie auch der Pfad, auf dem westdeutsche Standards „importiert“ und in den Rang offiziöser Transformationsziele erhoben wurden. Das ist recht gut an der in ihren Wirkungen so problematischen Hochlohnpolitik ablesbar Zugleich war damit das Schicksal der meisten „einheimischen“ Akteure vorbestimmt. Indem westdeutsche Gewerkschaften, Arbeitgeber-, Wirtschafts-, Professions-und Wohlfahrtsverbände ihrem institutionellen Auftrag und ihren Selbsterhaltungsinteressen im erweiterten Handlungsraum nachgingen, behielten alte und neugegründete Verbände lediglich die Möglichkeit, sich unter das Dach eines westdeutschen Spitzenverbandes zu begeben

Versuche, der Handikap-Erfahrung organisatorischen Ausdruck zu geben, schlugen fehl. Die „Komitees für Gerechtigkeit“, die „Initiative ostdeutscher Betriebsräte“ und die „Konferenz ostdeutscher Verbände“ fanden keinen Zugang zu relevanten Entscheidungsgremien. Sie gerieten zu Unterstützungsvereinen der PDS oder schrumpften auf Sektenformat. Wie in den anderen Reformländern ist die Bereitschaft der Ostdeutschen zum Engagement in Parteien und Verbänden sehr gering und seit 1991 rückläufig

Dem Repräsentationsdefizit lassen sich nicht ohne weiteres materiale Wirkungen zuschreiben. Wo eine Diskriminierung sozialer Gruppen vorzuliegen scheint, läßt sie sich kaum mit dem einheitsbedingten Repräsentationsdefizit erklären. So gehen die Normen, nach denen Personen im öffentlichen Dienst eine außerordentliche Kündigung erhielten, oder die grundgesetzlich fragwürdige Benachteiligung von (DDR-) Staatsdienern beim Rentenanspruch auf gemeinsame Beschlüsse der west-und ostdeutschen Partner des Einigungsvertrags zurück. In anderen Fällen, etwa bei der Benachteiligung von Frauen und Jugendlichen am schrumpfenden Arbeitsmarkt, macht sich ein asymmetrisches Verteilungsmuster sozialer Chancen bemerkbar, das den übertragenen Institutionen innewohnt und im erweiterten Anwendungsfeld in gleicher Weise wirkt wie im Herkunftskontext.

Mutmaßliche Belege von Nachteilen der asymmetrischen Repräsentation verblassen vollends, sobald man sie mit den in anderen Ländern entstandenen Repräsentationsverhältnissen kontrastiert Dort benötigten die Parteiensysteme wesentlich mehr Zeit, um eine der Transformationsproblemätik entsprechende Interessenstruktur abzubilden. Die ersten Jahre waren regelmäßig von der populistischen Wiederbelebung „kultureller“ Themen und einer religiös, nationalistisch oder ethnozentrisch geprägten Identitätssuche bestimmt. Die konkurrierenden Akteure wußten sich auf diese Weise Ersatz für fehlende sozialstrukturelle Differenzierungslinien zu verschaffen.

Im System der organisierten Arbeitsbeziehungen besitzt nach wie vor der Staat das Entscheidungsprimat, während die fragmentierten Verbände auf Gewerkschafts-und Arbeitgeberseite nur geringe Repräsentativität und noch kaum Verpflichtungsfähigkeit entwickeln konnten. Überhaupt ist die Ebene der intermediären Institutionen vergleichsweise unterentwickelt, da es unter den Unsicherheits-und Streßbedingungen der Transformation um Engagementbereitschaft und Gemeinsinn der Bürger schlecht bestellt ist. Unter anderem aus diesem Grund zögern Regierungen und Parlamente, Interessenverbände als legitime Repräsentanten gesellschaftlicher Teilfunktionen und -interessen anzuerkennen und ihnen Gelegenheiten zur politischen Mitwirkung einzuräumen

Vor dem Hintergrund der ostmitteleuropäischen Erfahrungen offenbaren sich die Schwierigkeiten einer Akteurkonstitution „aus eigener Kraft“; die Vermutung „vertretungsbedingter“ materieller Nachteile findet keine Belege. Während die Transformationspolitik in Ungarn. Polen oder Tsche-chien nicht bloß unter knappen Ressourcen, sondern ebenso unter dem Etatismus, der Unerfahrenheit und den teilweise lähmenden Konkurrenz-strategien der neuen Eliten litt, war den importierten Institutionen der NBL „nur“ eine gewisse Kontextfremdheit und mangelnde Sensibilität der „Vertreter“ anzulasten. Der Kontextfremdheit der Importe, das heißt ihrer historischen und lokalen „Schlagseite“, darf keineswegs jeder Nachteil und jeder Indikator von Ineffizienz angelastet werden. Vielmehr verdienen einige Besonderheiten des DDR-Staates und der DDR-Gesellschaft Beachtung, die eher einer Rubrik „Spezielle Probleme der DDR-Transformation“ zuzuordnen sind. Das gilt z. B. für die Sicherheitsbedürfnisse einer Bevölkerung, die ein hohes Maß an sozialer Absicherung, Gleichheit und Betreuung gewöhnt war. Das ist Resultat der Politik der um ihre Legitimation besorgten SED-Führung, die sich im Wege sozialpolitischer Zugeständnisse -über jedes volkswirtschaftlich vertretbare Maß hinaus -sozialen Frieden und politische Duldung zu erkaufen versuchte

Einer Übertragung dieser Sicherheitsansprüche auf den neuen, gesamtdeutschen Sozialstaat kommen „Verwandtschaftslinien“ im Prinzipienkatalog des ostdeutschen und des westdeutschen Sozial-staats entgegen, welche sowohl die Identifizierung sozialer Bedarfslagen als auch die Rezeption sozialer Forderungen erleichtern. Damit korrespondiert die Wettbewerbslogik der Parteien und Verbände, die sich schwerlich Ignoranz gegenüber manifesten Mitgliederwünschen leisten können und deshalb durchaus als Transporteure ostdeutscher Interessen funktionieren (können). So ergibt sich trotz des „technischen“ Repräsentationsdefizits eine positive Bilanz. Ebensowenig läßt sich dem System der importierten Interessenrepräsentation ein Leistungsmangel bescheinigen, wenn man die Probleme „autonomer“ Akteure in anderen Ländern studiert.

IV. Das Unzufriedenheitssyndrom

Während des raschen Anstiegs der Arbeitslosigkeit in den Jahren 1991 und 1992 kam in Teilen der Bevölkerung ein Kolonialisierungsdiskurs auf, der schon bald den einheits-und reformfreundlichen Liberalisierungsdiskurs übertönte Unter dem Topos der Kolonialisierung versammeln sich Erfahrungen mit westdeutscher Bevormundung, unsensiblen oder selbstgerechten Funktionsträgern, die Unzufriedenheit aufgrund von Statuseinbußen und Einkommensungleichheit sowie die durch Arbeitslosigkeit und Restitutionsansprüche ausgelöste Verunsicherung. Alle mit der Transformation verbundenen Nachteile und Risiken werden als ein Syndrom wahrgenommen und einer gemeinsamen Ursache, nämlich Form und Konditionen der deutschen Einheit, angelastet. Der Kolonialisierungsdiskurs ratifiziert gewissermaßen die leichtfertigen Versprechungen mancher Politiker und unterstellt, der Systemwechsel der DDR-Gesellschaft hätte sich mit etwas gutem Willen tatsächlich als risikoloses „Upgrading“ einer Konsum-und Erlebnisgesellschaft gestalten lassen. Folgerichtig werden die externen Veranstalter für alle Unannehmlichkeiten des vergleichsweise komfortablen Übergangs verantwortlich gemacht. Regelmäßig wird auf das erwähnte Repräsentationsdefizit verwiesen und der Eindruck erweckt, eine wirksamere Präsenz ostdeutscher Akteure könne eine weitere Senkung der Transformationskosten bewirken. Im Jahre 1996 scheint zwar der Vorwurf der Kolonialisierung etwas an Überzeugungskraft verloren zu haben, doch bleibt das Ausmaß der im erwähnten Sinne „politischen“ Unzufriedenheit ebenso auffallend wie erklärungsbedürftig. Repräsentative Umfragen in ostmitteleuropäischen Ländern unter Einbeziehung der NBL, Bekundungen Ostdeutscher über einheitsbedingte Gewinne und Verluste sowie sensationell aufgemachte Umfrageergebnisse einer wachsenden „Systemunzufriedenheit“ konvergieren in dem Befund, daß sich das neue Institutionensystem nach 1994 geringerer Beliebtheit erfreut als im Jahre 1990 Die Datenlage ist eindeutig: Es wird mehr Unzufriedenheit mit den Institutionen der Demokratie als mit dem System der kapitalisti-sehen Marktwirtschaft artikuliert Ein weiteres Indiz sind die zunehmend günstigen Wahlergebnisse der PDS.der einzigen Partei mit einer exklusiv ostdeutschen Wählerschaft und einer -in großen Teilen der Mitgliedschaft -positiven Grundhaltung gegenüber dem früheren Gesellschaftssystem. Die Wahlergebnisse (NBL 1994: 19, 8 Prozent) beeindrucken auch dann noch, wenn man den Wählerstimmenanteil der postsozialistischen Regierungsparteien in Polen (1994: 20, 4 Prozent) und Ungarn (1994: 33 Prozent) zum Vergleich heranzieht und sich nicht auf die konservativ-kommunistischen Nachfolgeparteien in Tschechien (1996: 10, 3 Prozent), der Slowakei (1994: 10, 4 Prozent) und Slowenien (1992: 13, 6 Prozent) beschränkt

Angemessene Erklärungen können sich also nicht mit dem Verweis auf die ökonomischen Kosten der Einheit oder das Repräsentationsdefizit begnügen, sondern müssen plausibel machen, warum in den NBL einerseits mehr „politische“ als „ökonomische“ Unzufriedenheit und andererseits „mehr“ Unzufriedenheit als in vergleichbaren Transformationsgesellschaften artikuliert wird. Es sei vorausgeschickt, daß zur Zeit keine hinreichend komplexe und an international vergleichs-fähigen Daten getestete Erklärung vorliegt. Es lassen sich aber wichtige Erklärungsfaktoren benennen, über deren relative Erklärungskraft spekuliert werden darf.

Erstens: Als das neben der UdSSR institutionell „reinste“ Sozialismusprojekt verfügte die DDR über denkbar schlechte Voraussetzungen für eine realitätstüchtige Opposition und damit zur Emanzipation aus eigener Kraft. Nicht nur blieb die Reformbewegung einem romantischen und in vieler Hinsicht unterkomplexen Reformbegriff verhaftet, sondern es waren auch individualistische und liberal-emanzipatorische Orientierungen in der (einschließlich des Nationalsozialismus) 55 Jahre währenden Periode autoritärer Herrschaft abhanden gekommen. In keinem anderen Land bestanden so schwache Grundlagen für ein konzeptionell auf der Höhe der Zeit (Stichwort Globalökonomie) angesiedeltes Reformprojekt und das notwendige Mindestmaß an organisiertem zivilgesellschaftlichen Engagement (Stichwort Selbstorganisation). So hält beispielsweise die reformpolitische Debatte der Opposition, die bis zu ihrer Niederlage in der Volkskammerwahl vom März 1990 das Projekt eines demokratischen Sozialismus verfolgt hatte, keinem Vergleich mit der polnischen und der ungarischen Reformdiskussion der achtziger Jahre stand Der rasche Verfall der Bürgerbewegung ist der wohl prominenteste Beleg Das bedeutet: Die DDR-Bevölkerung hatte in das womöglich radikalste aller Transformationsprojekte eingewilligt, ohne sich die systematischen Mängel des „alten" Systems, die Grund-merkmale des „neuen“ Systems sowie die Risiken des Übergangs bewußt gemacht zu haben. Diese Ursache des „Einheitsfrustes“ hat die (zumindest in den achtziger Jahren eigenverantwortlich agierende) SED-Führung zu vertreten.

Zweitens: Angesichts der externen Hilfen bei der schwierigen Modernisierung des lange von seiner Umwelt abgeschirmten Landes ist die Funktion Westdeutschlands als Referenzmaßstab kaum anders denn als ein Privileg zu veranschlagen. Ebenso gewiß ist, daß die Garanten des Fahrstuhl-effekts nur sehr begrenzte Kenntnisse von ihren Möglichkeiten und den Risiken der schockartigen „Einverleibung“ der DDR besaßen. Wie wäre es sonst zu erklären, daß ihnen der Fehler unterlief, Startgratifikationen zu gewähren, ohne die dadurch ausgelöste und notwendig in Enttäuschung mündende Anspruchsentwicklung zu bedenken? Sahen die in anderen Ländern gewählten Strategien eine Ballung der größten Unannehmlichkeiten in der ersten Phase vor, als die Bevölkerung noch Realeinkommensverluste als Preis des Wandels akzeptierte, so nahmen die DDR-Bürger zunächst einen Korb unwiederholbarer politischer Wohltaten -vor allem die Währungsumstellung und die Einkommens-und Rcntenangleichung -entgegen. Die im weiteren Verlauf der Reise anfallenden „Kosten des Übergangs“ werden vom erhöhten Anspruchsniveau aus als besonders schmerzhaft und unfair wahrgenommen, selbst wenn sie sich „nur“ als relative Deprivation bzw. „Beraubung“ und gesteigerte Unsicherheit nieder-schlagen. Das in sozialintegrativer Hinsicht ungünstigste Transformationsprojekt -mit der Verteilungsprämisse „Erst die Vorteile, dann die Nachteile“ -müssen in erster Linie die Befürworter der erkauften Einheit verantworten.

Drittens: Einen gewissen (aber ungewiß großen) Anteil an der Unzufriedenheit hat der holistische Charakter der „Transformation durch Vereinigung“. Darunter ist die fast vollständige Ersetzung der vertrauten Spielregeln und Verhaltensnormen im Zuge des institutioneilen und ökonomischen Übergangs zu verstehen. Der komplette Umwelt-wandel forderte den Individuen einen Wandel ihrer Orientierungen und Handlungsweisen ab, der einem Wechsel der Persönlichkeit gleichkommt. Deshalb kann schon ein bescheidenes Niveau von Identitätsbewußtsein und „Charakterfestigkeit“ den Anschein von Konservatismus und Rückwärtsgewandtheit hervorrufen.

Der kollektive Widerspruch, der sich als „politische“ Unzufriedenheit ausdrückt, ist die Reaktion auf verletzte Selbstwertgefühle und das Ansinnen, die eigene Biographie als „falsches Leben am falschen Ort“ umzudeuten. Es ist unkorrekt, darin eine Renaissance der kommunistischen Weltanschauung zu sehen Nicht gänzlich deplaziert scheint dagegen die These einer schmerzvollen Verlusterfahrung in bezug auf das übersichtlichere autoritär-hierarchische System der sozialistischen Institutionen. Es darf nicht verwundern, daß Reste des sozialistischen Ideenguts ausgerechnet dort überleben, wo eine besonders illiberale Sozialismusvariante die öffentliche Reflexion über Schwächen und Alternativen wirksam zu unterbinden vermochte. Daneben ist das zeitweise Überleben von Werthaltungen zu registrieren, die dem egalitär-sozialistischen Sozialstaatscharakter der DDR verhaftet sind.

Unter diesem Blickwinkel repräsentiert die politische bzw. „Systemunzufriedenheit“ eine Diskrepanz der ost-und westdeutschen Wertmaßstäbe, die 1989/90 weder den Ost-noch den Westdeutschen bewußt war, sondern erst in der Suche nach Identität vermittelnden Distinktionen ans Tageslicht kommt Deutlich wird auch, daß transformationsbedingte Sicherheitseinbußen und Selbstwertverluste auf einer anderen Skala bewertet werden als die Gewinne an Konsumchancen und individueller Freiheit. Das Insistieren auf gleichen Lebensbedingungen drückt ein Verlangen nach Anerkennung, nicht nach Kompensation materieller Nachteile aus. Daß die materielle Dimension des Projektes durch die „moralischen“ Kosten seines gouvernementalen Zuschnitts aufgewertet wird, erschließt sich uns erst mit Verspätung.

V. Resümee

Die Besonderheiten der DDR-Transformation lassen sich in drei Feststellungen zusammenfassen: Erstens handelt es sich um das einzige Projekt der Abkehr vom Sozialismus, bei dem die institutioneilen Präferenzen der Bevölkerung und der Wunsch nach spürbaren Wohlstandsgewinnen Erfüllung fanden. Nicht zuletzt dank der Realisierung des mehrheitlichen Wunsches nach einem vollständigen Systemwechsel erscheinen die Ostdeutschen gegenüber anderen Transformationsgesellschaften als privilegiert. In diesem Sachverhalt liegt aber auch, zweitens, das besondere Risiko der ostdeutschen Transformation: Solange den in Ost und West weitgehend identischen Institutionen noch ungleiche Effekte zugeschrieben werden, entspricht dem hohen Niveau der systemischen Integration nur ein niedriger Grad der sozialen Integration. Unter diesen Bedingungen werden selbst gut funktionierende und vergleichsweise vorteilhaft wirkende gesellschaftliche Spielregeln zum Kristallisationspunkt von Unzufriedenheit und Distinktionsbedarf. Drittens scheinen mit dem linearen Institutionentransfer nicht nur unerfüllbare Erwartungen begründet, sondern auch Innovations-und Experimentierchancen verschenkt. Da die transferierten Arrangements überwiegend auf Problemlagen und Interessenkompromisse des ausgehenden 19. wie des frühen 20. Jahrhunderts zurückgehen, besteht wenig Aussicht, daß sie einer nachholenden Entwicklung Ostdeutschlands dienlich sind. Eher verhalf das seiner Form nach konservative Projekt zur anhaltenden Unterschätzung der Reformbedürftigkeit überlieferter Arrangements, die den aktuellen Bedingungen sozialer Integration und gesellschaftlicher Steuerung wenig angepaßt zu sein scheinen. Für eine Schlußbilanz der Einheit ist es also noch zu früh.

Fussnoten

Fußnoten

  1. So z. B. Phillip J. Bryson, The Economics of German Reunification: A Review of the Literature, in: Journal of Comparative Economics, 16 (1992) 1; Andreas Pickel, Jump-starting a Market Economy: A Critique of the Radical Strategy for Economic Reform in the Light of the East German Experiences, in: Studies in Comparative Communism, 25 (1992) 2.

  2. Vgl. Jeffrey D. Sachs, My Plan for Poland, in: International Economy, 3 (1989) Dec.; Stanley Fischer/Alan Gelb, The Process of Socialist Economic Transformation, in: Journal of Economic Perspectives, 5 (1991) 4; Dieter Lösch, Der Weg zur Marktwirtschaft. Eine anwendungsbezogene Theorie der Systemtransformation, in: Wirtschaftsdienst, 72 (1992) 12; Josef C. Brada, The Transformation from Communism to Capitalism: How far? How fast? in: Post-Soviet Affairs, 9 (1993) 1.

  3. Vgl. Michael Hüther, Integration der Transformation. Überlegungen zur Wirtschaftspolitik für das vereinigte Deutschland, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaft. 44 (1993) 1.

  4. Von 1990 bis 1995 stieg das um Kaufkraftunterschiede bereinigte (Pro-Kopf-) Haushaltseinkommen von 66 Prozent des westdeutschen Vergleichswertes auf rund 87 Prozent. Die durchschnittlich pro Kopf verfügbare Kaufkraft ist 1995 in den NBL exakt doppelt so hoch wie in der Tschechischen Republik, dem in Kaufkraftvergleichen führenden post-sozialistischen Land. Vgl. Die wirtschaftliche Lage in Deutschland, in: DIW Wochenbericht, 63 (1996) 18; Richard Rose/Christian Haerpfer, The Impact of a Ready-made State: Die privilegierte Position Ostdeutschlands in der postkommunistischen Transformation, in: Helmut Wiesenthal (Hrsg.), Einheit als Privileg, Frankfurt am Main -New York (i. E.).

  5. Vgl. P. J. Bryson (Anm. 1). S. 138.

  6. Vgl.den Beitrag von Ulrich Albrecht in diesem Heft.

  7. Vgl. Gerhard Lehmbruch, Die deutsche Vereinigung. Strukturen der Politikentwicklung und strategische Anpassungsprozesse, in: Beate Kohler-Koch (Hrsg.), Staat und Demokratie in Europa. Opladen 1992; Helmut Wiesenthal. Die Transformation Ostdeutschlands: Ein (nicht ausschließlich) privilegierter Sonderfall der Bewältigung von Transformationsproblemen, in: Hellmut Wollmann/Helmut Wiesenthal/Frank Bönker (Hrsg.), Transformation sozialistischer Gesellschaften: Am Ende des Anfangs, Opladen 1995.

  8. Maßgebliche Entscheidungsträger hatten die Folgen einer schockartigen Integration der DDR in die Weltwirtschaft vorhergesehen und sie im Rahmen ihrer Präferenzordnung für vertretbar erachtet. Vgl. Wolfgang Schäuble, Der Vertrag, Stuttgart 1991, S. 99 f.; Horst Teltschik, 329 Tage. Innen-ansichten der Einigung. Berlin 1991, S. 55, 125 ff., 204; Thilo Sarrazin, Die Entstehung und Umsetzung des Konzepts der deutschen Wirtschafts-und Währungsunion, in: Theo Waigel/Manfred Schell, Tage, die Deutschland und die Welt veränderten. München 1994. S. 219 ff.

  9. Vgl. Roland Czada, Die Treuhandanstalt im Umfeld von Politik und Verbänden, in: Wolfram Fischer/Herbert Hax/Hans Karl Schneider (Hrsg.), Treuhandanstalt. Das Unmögliche wagen, Berlin 1993; ders., Das scheue Reh und die Kröte. Investition und Beschäftigung im Kalkül der Treuhandanstalt. in: Hubert Heinelt/Gerhard Bosch/Bernd Reissert (Hrsg.), Arbeitsmarktpolitik nach der Vereinigung, Berlin 1994; Wolfgang Seibel, Strategische Fehler oder erfolgreiches Scheitern? Zur Entwicklungslogik der Treuhand-anstalt 1990-1993, in: Politische Vierteljahresschrift, 35 (1994) 1. Anmerkung der Redaktion: Eine Zwischenbilanz der Transformation des Wirtschaftsprozesses zieht Manfred Wegner in diesem Heft.

  10. Vgl. David Stark, Privatisierungsstrategien in der CSFR, Ostdeutschland, Polen und Ungarn. Ein Vergleich, in: Transit, (1992) 3.

  11. Vgl. Statistisches Bundesamt, Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in den neuen Bundesländern, Stuttgart 1993 ff.

  12. Vergleichsberechnungen des Autors anhand von OECD-Daten. Vgl. OECD. Short-Term Economic Indicators. Transition Economies, Paris 1994 ff.

  13. Eine Ausnahme bildet Polen, wo die Wirtschaftsreform ein Jahr früher begann und 1995 bereits 120 Prozent des (niedrigen) Vergleichswertes von 1990 erreicht waren.

  14. Vgl. Hellmut Wollmann, Regelung kommunaler Institutionen in Ostdeutschland zwischen „exogener Pfadabhängigkeit“ und endogenen Entscheidungsfaktoren, in: Berliner Journal für Soziologie, 5 (1995) 4; ders. /Frank Berg, Die ostdeutschen Kommunen: Organisation, Personal, Orientierungs-und Einstellungsmuster im Wandel, in: Hiltrud Naßmacher/Oskar Niedermayer/Hellmut Wollmann (Hrsg.), Politische Strukturen im Umbruch. Berlin 1994; Renate Mayntz, Deutsche Forschung im Einigungsprozeß. Die Transformation der Akademie der Wissenschaften der DDR 1989 bis 1992, Frankfurt am Main 1994; dies. (Hrsg.), Aufbruch und Reform von oben. Ostdeutsche Universitäten im Transformationsprozeß, Frankfurt am Main 1994; Helmut Wiesenthal (Hrsg.), Einheit als Interessenpolitik. Studien zur sektoralen Transformation Ostdeutschlands, Frankfurt am Main -New York 1995; vgl.ders. (Anm. 4).

  15. Vgl. G. Lehmbruch (Anm. 7).

  16. Heidrun Abromeit, Die „Vertretungslücke“. Probleme im neuen deutschen Bundesstaat, in: Gegenwartskunde, 42 (1993) 3.

  17. Der Begriff Assoziationsverhältnisse ist entlehnt bei Claus Offe, Bindung, Fessel, Bremse. Die Unübersichtlichkeit von Selbstbeschränkungsformeln, in: Axel Honneth/Thomas McCarthy/Claus Offe/Albrecht Wellmer (Hrsg.), Zwischenbetrachtungen im Prozeß der Aufklärung. Jürgen Habermas zum 60. Geburtstag, Frankfurt am Main 1989.

  18. Vgl. Helmuth Berking, Das Leben geht weiter. Politik und Alltag in einem ostdeutschen Dorf, in: Soziale Welt, 46 (1995) 3; ders. /Sighard Neckel, Die gestörte Gemeinschaft. Machtprozesse und Konfliktpotentiale in einer ostdeutschen Gemeinde, in: Stefan Hradil (Hrsg.), Zwischen Bewußtsein und Sein. Die Vermittlung , objektiver* Lebensbedingungen und . subjektiver* Lebensweisen, Opladen 1992.

  19. EMMAG, Empirisch-Methodische Arbeitsgruppe am Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum Berlin-Brandenburg e. V. (SFZ): Leben ’ 95. Leben in Ostdeutschland. Daten und Feldbericht, Berlin 1996, S. 89, 91.

  20. Vgl. Wilfried Ettl/Helmut Wiesenthal, Tarifautonomie in deindustrialisiertem Gelände: Analyse eines Institutionen-transfers im Prozeß der deutschen Einheit, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 46 (1994) 3.

  21. Vgl. Jan Wielgohs/Helmut Wiesenthal, Konkurrenz -Kooperation -Ignoranz: Interaktionsmuster west-und ostdeutscher Akteure beim Aufbau von Interessenverbänden, in: H. Wiesenthal (Anm. 14); Anmerkung der Redaktion: Siehe auch den Beitrag von Wolfgang Schroeder in diesem Heft.

  22. Vgl. Renate Hürtgen/Henry Kreikenbohm/Bärbel Möller/Peter Müller/Bernd Schaarschmidt/Petra Weigel, Sozialpolitische Interessenvermittlungsstrukturen im Transformationsprozeß in den regionalen Zentren Frankfurt (Oder) und Jena, in: H. Naßmacher/O. Niedermayer/H. Wollmann (Anm. 14).

  23. Vgl. die Beiträge Attila Agh/Gabriella Ilonszki (Hrsg.), Parliaments and Organized Interests. The Second Steps. Budapest 1996.

  24. Vgl. Helmut Wiesenthal, Organized Interests in Contemporary East Central Europe: Theoretical Perspectives and Tentative Hypotheses, in: A. Agh/G. Ilonszki (Anm 23).

  25. Michael Brie, Staatssozialistische Länder Europas im Vergleich: Alternative Herrschaftsstrategien und divergente Typen, in: H. Wiesenthal (Anm. 4).

  26. Zu den Argumenten beider Diskurstypen vgl. Michael Brie, Die Ostdeutschen auf dem Wege vom „armen Bruder“ zur organisierten Minderheit?, Arbeitspapiere AG TRAP 94/4, Max-Planck-Arbeitsgruppe Transformationsprozesse, Berlin 1994; Anmerkung der Redaktion: Zum Kolonialisierungsdiskurs siehe auch den Beitrag von Fritz Vilmar und Wolfgang Dümcke in diesem Heft.

  27. Vgl. Wolfgang Seifer, East Germany and Eastern Europe Compared, Studies in Public Policy No. 233. Centre for the Study of Public Policy. University of Strathclyde, Glasgow 1994; EMMAG (Anm. 19); Infratest Burke, „Deutschland in zehn Jahren“. Ausgewählte Ergebnisse einer Studie des Süddeutschen Verlages und der Infratest Burke Kommunikationsforschung GmbH, vorgestellt anläßlich der Pressekonferenz am 3. Januar 1996 in Bonn.

  28. Dazu ausführlicher Helmut Wiesenthal, Zum Wandel ökonomischer und politischer Orientierungen in akteurtheoretischer Perspektive, in: BISS Public, (1996) 19.

  29. Vgl. Attila Agh, The Emergence of the Multiparty System in East Central Europe. The Partial Consolidation of the New Political Structure, Arbeitspapiere AG TRAP 96/2. Max-Planck-Arbeitsgruppe Transformationsprozesse, Berlin 1996.

  30. Daß SED-Opposition und Bürgerbewegung v. a. weltanschaulichen Fragen verhaftet waren, ist am Katalog der diskutierten Themen abzulesen. Vgl. Rainer Land (Hrsg.), Das Umbaupapier, Berlin 1990; Jan Wielgohs/Marianne Schulz/Helmut Müller-Enbergs. Bündnis 90. Entstehung, Entwicklung, Perspektiven, Berlin 1992; Michael Brie/Dieter Klein (Hrsg.), Umbruch zur Moderne?, Hamburg 1991; sowie zum Vergleich Piotr Ploszajski (Hrsg.), Philosophy of Social Choice, Warsaw 1990, als Sammlung polnischer Beiträge zum Transformationsdiskurs.

  31. Vgl. J. Wielgohs/M. Schulz/H. Müller-Enbergs (Anm. 30).

  32. So Detlef Pollack, Zur Entstehung der mentalen Spaltung zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen. Dokumentation unter dem Titel . Alles wandelt sich, nur der Ossi bleibt stets der gleiche? 1 in: Frankfurter Rundschau vom 29. 6. 1996.

  33. So Claudia Ritter, Politische Identitäten in den neuen Bundesländern: Distinktionsbedarfe und kulturelle Differenzen nach der Vereinigung, in: H. Wiesenthal (Anm. 4).

Weitere Inhalte

Helmut Wiesenthal, Dr. rer. soc., geb. 1938; Studium der Soziologie, Volkswirtschaft und Politikwissenschaft in Münster und Bielefeld; seit 1994 Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Realism in Green Politics, Manchester 1993; (Hrsg.) Einheit als Interessenpolitik, Frankfurt am Main -New York 1995; (Mithrsg.) Transformation sozialistischer Gesellschaften: Am Ende des Anfangs, Leverkusen 1995; Konventionelles und unkonventionelles Organisationslernen, in: Zeitschrift für Soziologie, (1995) 2; East Germany as a Unique Case of Societal Transformation: Main Characteristics and Emergent Misconceptions, in: German Politics, (1995) 3.