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Jahrestage 1998. Ein historischer Spaziergang auf der Achter-Bahn | APuZ 3-4/1998 | bpb.de

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APuZ 3-4/1998 Jahrestage 1998. Ein historischer Spaziergang auf der Achter-Bahn Das Parlament als Nation Die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 Die Paulskirche in der politischen Ideengeschichte Deutschlands Das Erbe der Paulskirche: Parteienstaat ohne Staatsräson? Artikel 1

Jahrestage 1998. Ein historischer Spaziergang auf der Achter-Bahn

Eberhard Jäckel

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die in diesem Jahr bevorstehenden Gedenkfeiern zur deutschen Revolution von 1848 vor 150 Jahren gehören auch in den Bereich der Vergangenheitspolitik. Öffentliches Gedenken dient oft der Legitimierung von Herrschaft. In freiheitlichen Staaten hat es aber auch die Funktion, das allgemeine Geschichtsbild kritisch zu überprüfen und mit dem in der Wissenschaft vorherrschenden Bild in eine größere Übereinstimmung zu bringen. Das Gedenkjahr 1998 gibt Anlaß, neben 1848 auch an andere bedeutende Jahre zu erinnern, die mit einer 8 enden: 1878, 1888, 1908, 1918, 1938, 1948 usw. Vielfach ergibt sich dabei eine Verbindung zur Revolution von 1848. Nach einem einleitenden Überblick werden zunächst die Ursachen und Anlässe dieser Revolution geschildert. Besondere Aufmerksamkeit gilt der Wahlrechtsfrage. Die bürgerliche Mehrheit in der Frankfurter Nationalversammlung beabsichtigte das typisch liberale ungleiche Wahlrecht. Nur die demokratische Minderheit forderte das gleiche Wahlrecht. Dieses wurde in einem Kompromiß durchgesetzt, scheiterte aber wie die Revolution. Verwirklicht wurde es merkwürdigerweise von Bismarck, der dafür ein Bündel von Motiven hatte. Das Sozialistengesetz von 1878, das Dreikaiserjahr 1888, die Parlamentarisierung 1918, der Anschluß Österreichs, die Münchner Konferenz sowie die Pogromnacht 1938, der Zusammentritt des Parlamentarischen Rates 1948 u. a. eröffnen manche Einsichten in den gewundenen Gang der deutschen Geschichte.

„Gedenktage kommen ungerufen“, sagte Bundespräsident Gustav W. Heinemann am 17. Januar 1971 in einer Rundfunk-und Fernsehansprache zum 100. Jahrestag der Gründung des Deutschen Reiches. „Sie stellen sich zumal dann ein, wenn sich die Zahl der Jahre nach einem Geschehnis rundet.“ In der Tat wissen Bundespräsidenten davon ein Lied zu singen. Unentwegt sind sie aufgerufen, zu den ungerufenen Gedenktagen Reden zu halten.

Doch nicht nur sie -die ganze Öffentlichkeit und alle Menschen begehen auf die eine oder andere Weise die Jahrestage. Alle feiern ihren Geburtstag und lassen sich besonders dann feiern, wenn es ein runder ist. Die Geburtstage prominenter Personen werden öffentlich begangen. Zu Kaisers Geburtstag gab es einstmals schulfrei. Sehr viele gedenken des Todestages ihrer Angehörigen, indem sie auf den Friedhof gehen oder sogar erinnernde Anzeigen in die Zeitung setzen. Handelt es sich um Berühmtheiten, nehmen auch die Medien Anteil und manchmal das ganze Volk, ja die Menschheit. Der Geburtstag von Jesus Christus ist einer der höchsten Feiertage der Christenheit, sein Todestag ist es noch mehr.

Was für Personen gilt, gilt auch für die Jahrestage von großen Ereignissen. In vielen Ländern sind solche Tage Nationalfeiertage, beispielsweise in Frankreich der 14. Juli im Gedenken an die Revolution von 1789, in den Vereinigten Staaten der 4. Juli zur Erinnerung an die Erklärung der Unabhängigkeit im Jahre 1776 und bei uns seit der Vereinigung von 1990 der 3. Oktober als „Tag der Deutschen Einheit“. Einige Tage sind so berühmt, daß sie etwa in Straßennamen oder im Sprachgebrauch ohne ihre Jahreszahl angeführt werden. Die „Straße des 17. Juni“ in Berlin, aber auch der 20. Juli kommen ohne Hinweise auf 1953 oder 1944 aus.

Bisweilen fallen mehrere wichtige Ereignisse im Lauf der Jahre auf den gleichen Tag. Sie geben dann zu vergleichender Erinnerung Anlaß. Der bekannteste dieser Gedenktage ist bei uns der 9. November. Man denkt an die Revolution von 1918, an Hitlers Putsch mit dem Marsch auf die Feldherrnhalle in München 1923, an den Pogrom gegen die Juden 1938, neuerdings an den Fall der Berliner Mauer 1989, und wer historische Kenntnisse hat, dem fällt auch noch ein, daß der 18. Brumaire des Jahres VIII, an dem Napoleon mit einem Staatsstreich die Macht übernahm, nach dem gregorianischen Kalender der 9. November 1799 war und daß am gleichen Tage im Jahre 1848 die Revolution in Preußen auch durch einen Staatsstreich niedergeworfen wurde. Astrologen haben sogar behauptet, die Sterne deuteten an diesem Tage auf Gewalt. Historiker werden das skeptisch beurteilen. Das Jahr hat nur 365 oder 366 Tage, und da sind gewisse Häufungen unausweichlich -allerdings erinnert der 9. November an besonders unterschiedliche Ereignisse.

Gedenktage können auch wieder untergehen wie zum Beispiel der 2. September, der Tag der Schlacht von Sedan im Jahre 1870, an den sich heute kaum noch jemand erinnert, obwohl er jahrzehntelang mit großer Begeisterung gefeiert wurde, oder der 20. April, der Geburtstag Hitlers, an den heute niemand mehr erinnert werden will. Es sind nicht nur die Umbrüche, die Gedenktage obsolet machen. Jede Generation schafft sich ihre eigenen Erinnerungstage, und die nächste schafft sie wieder ab oder vergißt sie.

Vergangenheitspolitik

Dabei ist natürlich oft Politik im Spiel. Die öffentliche Erinnerung ist auch ein Instrument zur Legitimierung von Herrschaft. Der 18. Januar diente dem kaiserlichen Deutschland als Reichsgründungstag, obwohl er es, genau genommen, nicht war (das Reich trat am 1. Januar 1871 ins Leben), aber er paßte gut zur Krönung des ersten preußischen Königs am 18. Januar 1701. Der 11. August diente der Weimarer Republik, ziemlich ungeliebt, als Verfassungstag, und bei uns ist es nun der schon genannte 3. Oktober. Auch Städte feiern gern die Jahrestage ihrer Gründung, obwohl es sich zumeist nur um die erste urkundliche Erwähnung handelt. Politisch noch besser verwendbar als Gedenktage sind ganze Erinnerungsjahre. Man kann sie zwölf Monate lang feiern, große Ausstellungen veranstalten. auch die Buchverlage nutzen die Konjunktur. Berühmt sind die Goethe-Jahre 1932 und 1949. In letzterem sprach Thomas Mann zuerst in Frankfurt am Main und dann in Weimar. 1955 wurde Schiller in ähnlicher Weise gefeiert. Frankreich feierte 1889 den 100. Jahrestag seiner Großen Revolution, als sich die Dritte Republik endlich stabilisiert hatte, 1939 in bedrückter Stimmung den 150. und 1989 unter Präsident Mitterrand den „Bicentenaire".

Bei uns hat nun das Gedenkjahr der Revolution von 1848 begonnen*. 1898, als sie sich zum 50. Male jährte, feierte der Staat nicht mit, und die Demokraten blieben mit ihren Gedenkveranstaltungen ziemlich unter sich. Beim 100. Jahrestag 1948 gab es zwar noch keinen deutschen Staat wieder, aber die Länder und Gemeinden erinnerten vielfach an die Geburtsstunde der deutschen Demokratie. Nun paßte sie wieder vorzüglich ins Bild, und man putzte sich damit

Öffentliche Geschichtsbilder

In freiheitlichen Staaten werden Gedenktage und Gedenkjahre zwar auch in politischen, staatserhaltenden Dienst genommen. Aber hier haben sie noch eine andere, wichtigere Funktion. Sie dienen dem öffentlich diskutierten Geschichtsbild. Jede Gesellschaft hat ein mehr oder weniger übereinstimmendes Bild von ihrer Vergangenheit. Die Menschen wissen ungefähr, wie sie sie zu beurteilen haben. Wilhelm II. ist heute eher negativ besetzt, Hitler sowieso, während Konrad Adenauer und Willy Brandt -obwohl zu Lebzeiten heftig umstritten -nun ziemlich übereinstimmend positiv bewertet werden.

Das öffentliche Geschichtsbild deckt sich nicht unbedingt mit dem in der Geschichtswissenschaft vorherrschenden Bild. Gedenktage und -jahre aber sind vorzüglich geeignet, diese beiden Bilder in eine etwas größere Übereinstimmung zu bringen. Während die Erkenntnisse der Historiker in der Regel nur einen verhältnismäßig kleinen Kreis von Menschen erreichen (und immer wieder durch Sensationshascher und Legendenmacher verdrängt werden), bietet öffentliches Gedenken unter der Bedingung der Meinungsfreiheit in pluralistisch verfaßten Gesellschaften eine gute Gelegenheit, das Geschichtsbild zu diskutieren und kritisch zu überprüfen.

Die Historiker erhalten auf einmal die Möglichkeit, ihre Erkenntnisse einer größeren Öffentlichkeit zu vermitteln. Man ruft sie auf, Ausstellungen zu gestalten, hört sie in allerlei Beiräten an, einige schreiben sogar die Reden der Politiker oder Aufsätze in Zeitungen, und auch ihre aus diesem Anlaß verfaßten Bücher erreichen mehr Leser als sonst. Kurz, die Historiker werden auf den Markt gelassen, auf den Markt der Meinungen -und wenn sie es geschickt anstellen, ist das allgemeine Geschichtsbild danach besser und genauer als vorher.

Das ist zumal dann der Fall, wenn mehrere runde Jahrestage zugleich anstehen und in Vergleich zu-oder Beziehung miteinander gesetzt werden können. Gelegenheiten dazu bieten sich eigentlich immer. Doch das Jahr 1998 verspricht in dieser Hinsicht eine besonders reiche Ernte. Da ist ja nicht nur die Revolution von 1848 vor 150 Jahren. Geht man um 100 Jahre zurück, gerät man in das Todesjahr Bismarcks, der wahrlich viel mit 1848 zu tun hatte. Man könnte sogar sagen, daß er damals (er war 33 Jahre alt) sein nachhaltigstes Bildungserlebnis hatte. Geht man um 50 Jahre zurück, stößt man unter anderem auf den Zusammentritt des Parlamentarischen Rates, der in vielem an das Verfassungswerk der Revolution von 1848 anknüpfte. Überall ergeben sich Verbindungen.

Ein Spaziergang durch die runden Gedenkjahre, die sich auf 1848 reimen, verspricht noch weitere lohnende Erinnerungen. 1878 wurde das Sozialistengesetz erlassen, das gewissermaßen eine erneute Verfolgung der Revolutionäre von 1848 einleitete. 1888 war das Dreikaiserjahr: Wilhelm I., der im März 1848 vor der Revolution ins Ausland geflohen war und 1849 die Badische Revolution niedergeworfen hatte, weswegen man ihn damals den Kartätschenprinzen nannte, starb. Friedrich III., die Hoffnung der Liberalen im Geist von 1848, folgte seinem Vater nach 99 Tagen in den Tod, und Wilhelm II. bestieg den Thron, den er 1918 wieder verlor; dieses Jahr der sogenannten Novemberrevolution bietet noch weitere Anknüpfungen an das Revolutionsjahr von 1848.

Auch 1938 eignet sich dafür. Der Anschluß Österreichs hatte wahrlich viel mit 1848 zu tun. als zwischen großdeutsch und kleindeutsch gestritten worden war. Hitler bekam viel Beifall, auch bei seinen Gegnern und den Skeptikern, weil er jenes Großdeutschland verwirklichte, das 1848 erstrebt worden und das 1918 am Einspruch der Siegermächte gescheitert war. Die nach 1938 übliche Bezeichnung „Großdeutsches Reich“ steht heute für den Größenwahn der Nazis und war doch ursprünglich der Terminologie von 1848 entlehnt.

Von 1948 war schon die Rede. 1958 war (wie 1948) eine Krise um Berlin, das schon nach 1848 deutsche Hauptstadt geworden wäre, wenn die Revolution ihr Ziel erreicht hätte. 1968 ist vielen als noch ein Revolutionsjahr, diesmal der Studenten, in Erinnerung. 1978 bietet weniger Anhaltspunkte, aber 1988 sind wir schon am Vorabend der friedlichen Revolution in der DDR, die 1989 jene Einheit wieder herbeiführte, die 1848 in freilich sehr anderen Grenzen ersehnt worden war. Die dritte Strophe des 1841 geschriebenen und 1848 vielgesungenen „Liedes der Deutschen“ von Heinrich Hoffmann von Fallersleben wurde die gesamtdeutsche Nationalhymne.

So bietet ein Spaziergang durch die mit 8 endenden Jahre also viele Aussichten auf die deutsche Geschichte. Er entspricht gewiß nicht der Art und Weise, in der die Historiker üblicherweise die Ereignisse auf eine Reihe bringen. Doch kann er sinnvoll und lehrreich sein, wenn man ihn nicht zu einer Achterbahn oder zu einem Panoptikum mehr oder weniger großer Zufälligkeiten macht, sondern die Jahre in einen Zusammenhang bringt. Das geht nur im zeitlichen Nacheinander, und deswegen soll unser Spaziergang, nachdem wir den Kurs einmal rasch durchmessen haben, noch einmal mit jenem Jahr 1848 begonnen werden.

Die Ursachen der Revolution von 1848

Wie kam es zum Ausbruch der Revolution? Alle Revolutionen haben langfristige Ursachen und kurzfristige Anlässe. Beides muß sich gleichzeitig, in einer Koinzidenz, auswirken. In der längeren Perspektive war da zum einen der Wunsch der Deutschen, endlich auch in einem Nationalstaat zu leben, wie ihn die meisten anderen Völker Europas seit langem hatten. Dort war -wie in Spanien oder Frankreich -die staatliche Einheit schon am Ausgang des Mittelalters und in der Frühen Neuzeit errungen worden, während Deutschland und Italien noch lange im Zustand kleinräumiger Herrschaften verharrten.

Zwar hatten die napoleonischen Reformen und besonders der Reichsdeputationshauptschluß von 1803 die Zahl der deutschen Reichsstände von 112 auf etwa vierzig verringert. Die Interessen der dadurch größer und um so selbstbewußter gewordenen Fürstenstaaten hatten aber verhindert, daß der in den Freiheitskriegen laut gewordene Wunsch nach einem Einheitsstaat erfüllt wurde. Der Wiener Kongreß schuf dann 1814 und 1815 als Nachfolgeorganisation des untergegangenen Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation den Deutschen Bund -einen Staatenbund statt eines Bundesstaates -mit 41 Mitgliedern. Er bestand aus dem Kaiserreich Österreich, fünf Königreichen (Preußen, Bayern, Sachsen, Hannover und Württemberg), einem Kurfürstentum (Hessen-Kassel), sieben Großherzogtümern, zehn Herzogtümern, zwölf Fürstentümern, einem Landgrafentum und vier Freien Städten (Hamburg, Bremen, Lübeck und Frankfurt am Main). Sie waren allesamt nahezu souveräne Staaten mit eigener Regierung und einer Hauptstadt. Das einzige Gesamtorgan des Deutschen Bundes -der Bundestag in Frankfurt -war (wie unser heutiger Bundesrat) eine Versammlung von Vertretern der Landesregierungen, damals unter dem Vorsitz Österreichs.

Gegen diese Zersplitterung wandte sich eine immer stärker werdende Einheitsbewegung. Hinter ihr stand vor allem die Bourgeoisie, die in Wirtschaft und Handel tätige Klasse. Das ist leicht erklärlich. Sie litt besonders unter den zahllosen Zoll-und anderen Grenzen, die das Gebiet des Deutschen Bundes durchschnitten. Die Volkswirtschaft erforderte einen Abbau dieser Schranken. Ein in Solingen produziertes Messer beispielsweise, das in Passau verkauft werden sollte, verteuerte sich auf dem Weg vom Hersteller zum Verbraucher bis an die Grenzen der Unrentabilität. Die Bourgeoisie verlangte daher einen gemeinsamen Markt. Dieser Begriff stammt zwar erst aus dem 20. Jahrhundert, aber er trifft auch den damaligen Sachverhalt genau. Eine expandierende Wirtschaft braucht zunehmend größere Märkte, und so wie aus diesem Grunde nach dem Zweiten Weltkrieg die Grenzen der westeuropäischen Nationalstaaten überwunden wurden, so rüttelte der ökonomische Zwang im frühen 19. Jahrhundert an denjenigen der deutschen Bundesstaaten.

Die Landesherren dagegen, die gesellschaftlich der Klasse des grundbesitzenden Adels angehörten, hatten an der Einheit nicht nur kein Interesse, sondern erblickten sogar eine Gefahr darin -und auch das ist leicht erklärlich. Denn die Einheit mußte ihre überlieferte Machtstellung auflösen oder zumindest verkleinern, nicht zuletzt deswegen, weil sie ihre Einnahmen vor allem aus den Zöllen schmälerte. In Frankreich hatte die Monarchie die Einheit des Staates gegen den Adel erkämpft und der Bourgeoisie als vollendete Tat-5 Sache hinterlassen. In Deutschland dagegen mußte die Bourgeoisie die Einheit gegen den Adel erstreiten.

Die Rolle der Massen

Das waren die langfristigen Ursachen. Sie führten jedoch noch nicht allein zum Ausbruch der Revolution. Dazu bedurfte es einer Krise, die vor allem die Massen betraf. Denn nur sie gehen für ihre Bedürfnisse auf die Straße. Die Krise kam in doppelter Gestalt: Sie begann -wie so oft -in der Landwirtschaft, genauer 1845 in Irland mit einer Kartoffelkrankheit, die sich epidemisch ausbreitete und vor allem deswegen katastrophale Folgen hatte, weil die Kartoffel inzwischen zum Grund-nahrungsmittel geworden war. 1846 kam eine außerordentliche Dürre hinzu, die die Getreideernte verminderte und vielerorts zum Zusammenbruch der Brotversorgung und zu Hungersnöten führte.

Da infolgedessen die Preise stiegen, ging der Konsum zurück. Zugleich ging damit auch die industrielle Produktion zurück, die in den letzten Jahren stark angestiegen war. Der Eisenbahnbau hatte zu einem Boom geführt. Allein in den vierziger Jahren hatte sich die Länge des Eisenbahnnetzes in Deutschland ungefähr verzehnfacht. Wer heute mit der Bahn fährt, sollte sich daran erinnern, daß alle unsere Hauptverbindungsstrecken zwischen 1840 und 1848 gebaut worden sind. Dieser Boom brach nun zusammen -sei es wegen einer Überhitzung der Konjunktur oder infolge der Agrarkrise, wahrscheinlich aus beiden Gründen zugleich. Die Preise stiegen, die Löhne sanken, viele Menschen wurden arbeitslos. In ihrer Not stürmten sie die Bäckerläden und zerschlugen auch gelegentlich Maschinen, die so viele Arbeitskräfte überflüssig machten. In Oberschlesien kam es 1847 zu einem Aufstand der Weber. Im Frühjahr 1848 kamen in vielen Gegenden Bauernrevolten hinzu. Vor diesem Hintergrund entstand die politische Bewegung -es war die geradezu klassische Ausgangssituation einer Revolution. Auch in Frankreich waren 1789 langfristige Ziele der Bourgeoisie und Massenelend nach einer Mißernte zusammengekommen -so nun auch in Deutschland. Die bürgerlichen Politiker benutzten die Demonstrationen der Massen zur Durchsetzung ihrer eigenen Ansprüche. Dabei waren die Motive ganz unterschiedlich.

Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür ist die Forderung nach Pressefreiheit, damals „Preßfreiheit“ genannt. Sie lag natürlich nur im Interesse der kleinen gebildeten Minderheit der Bourgeoisie. Für einen Analphabeten ist Pressefreiheit völlig bedeutungslos. Trotzdem griffen die Massen diese Forderung auf, mißverstanden sie aber gelegentlich als „Freßfreiheit“, also als Freiheit, genug zu essen zu haben, oder als Freiheit, nicht mehr zu Steuerzahlungen oder zum Militärdienst „gepreßt“ zu werden. Man nennt dies die Vehikeltheorie. Auf dem Vehikel der Nöte der Massen kamen die Forderungen der Bourgeoisie zum Durchbruch.

Sie waren 1841 in dem schon erwähnten Lied von Hoffmann von Fallersleben in klassischer Kürze auf einen Nenner gebracht worden: „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland“. Einigkeit hieß vereinigter Nationalstaat, Recht stand für Verfassung und eine Vereinheitlichung des besonders zersplitterten Handelsrechts, Freiheit bedeutete politische Selbst-oder Mitbestimmung (natürlich der Bourgeoisie!). Diese Forderungen widersprachen sich jedoch zum Teil oder erschwerten sich gegenseitig. Damit ist schon das ganze Dilemma der deutschen Revolution von 1848 und die Hauptursache ihres Scheiterns bezeichnet.

Der Kampf um die Einheit

Das schwerste Hindernis war der Partikularismus. Wo nämlich sollte die Revolution ansetzen? Es gab ja keine Hauptstadt. Alle französischen Revolutionen sind in Paris ausgetragen und gewonnen worden. Wer Paris hatte, hatte Frankreich. Eine deutsche Revolution aber mußte 38 einzelne Regierungen stürzen, und zwar möglichst gleichzeitig. Die Badische Revolution des Jahres 1849 lieferte den klarsten Beweis für dieses Problem: Obwohl sie den gesamten Staats-und Verwaltungsapparat einschließlich der Armee in ihre Gewalt gebracht hatte, scheiterte sie an der bewaffneten preußischen Intervention. Es genügte nicht, Karlsruhe zu haben, während in Berlin die Konterrevolution herrschte.

In diesem Konflikt zwischen den bürgerlich-unitarischen Interessen auf der einen und den fürstlich-partikularen auf der anderen Seite konnte der Staat möglicherweise überleben, ja seine Macht sogar erweitern, wenn es ihm gelang, sich an die Spitze der bürgerlichen Nationalbewegung zu setzen. Nach der Natur der Dinge konnte dies nur der größte Staat sein, und das war nach Österreich, das wegen seiner Vielvölkerstruktur für diese Rolle gänzlich ungeeignet war, Preußen.

Das ist, auf die kürzeste Formel gebracht, die Ursache der Reichseinigung durch Preußen, die 1871 ihren Abschluß fand. Bismarck hatte 1848 viel gelernt: Wenn man eine abermalige Revolution vermeiden wollte, mußte man den Wunsch nach nationaler Vereinigung befriedigen. Und wie sehr Bismarck die von ihm durch und durch ungeliebte Revolution in den Dienst seiner preußischen Großmachtpolitik stellte, sieht man daran, daß er das demokratische Wahlrecht der Frankfurter Nationalversammlung in der Paulskirche wörtlich in die Verfassung erst des Norddeutschen Bundes und dann des Deutschen Reiches hineinschreiben ließ.

Die Wahlrechtsfrage

Mit dem Wahlrecht sind wir einer der merkwürdigsten Verknüpfungen der deutschen Geschichte seit 1848 auf der Spur. Seine Bedeutung wird oft unterschätzt, es bestimmt aber das Ausmaß der Mitbestimmung des Volkes im Staat. Grundsätzlich gibt es zwei Formen: Entweder sind alle (Erwachsenen) wahlberechtigt oder nur einige. Selbst wenn alle wahlberechtigt sind (allgemeines Wahlrecht), müssen nicht alle Stimmen gleiches Gewicht haben (ungleiches Wahlrecht). Das war die Maxime der Besitzenden und Gebildeten seit der Französischen Revolution von 1789. Jene Bourgeoisie, die mit der Devise „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ angetreten war, war es gewesen, die das ungleiche Wahlrecht erfunden und in ihre Verfassung von 1791 geschrieben hatte. Gäbe man allen, und also auch den Besitzlosen und den Armen, je eine gleiche Stimme -das war die zugrundeliegende Überlegung -, dann würden sie, da sie in der Überzahl wären, auch im Parlament die Mehrheit und damit das Sagen haben, und dann könnten sie die Besitzenden enteignen oder die Steuern so senken, daß der Staat handlungsunfähig würde.

Es erschien der Bourgeoisie ganz selbstverständlich, daß nur die im Staat bestimmen durften, die ihn mit ihren Leistungen unterhielten. Das Wahlrecht mußte also so sein, daß ihre Vertreter stets die Mehrheit hatten. Daher sollten die Stimmen der Besitzenden ein größeres Gewicht erhalten als die der übrigen Wähler. Das konnte auf sehr verschiedene Weise gewährleistet werden. Es waren die Radikalen, die man bald auch die Demokraten oder die Linken nannte, die dieses ungleiche Wahlrecht der bürgerlichen Liberalen in Frage stellten. Sie forderten das gleiche Wahlrecht für alle: für jeden Mann (noch nicht für die Frauen) eine Stimme von gleichem Gewicht. Dieser ganz grundsätzliche Streit beherrschte das politische Leben seit 1789.

Der Frankfurter Wahlrechtskompromiß

Der Streit spielte auch in Deutschland in der Revolution von 1848 eine große Rolle. Die Bourgeoisie, die in der Paulskirche die Mehrheit hatte, wollte selbstverständlich ein ungleiches Wahlrecht. Nur die Linken -die Demokraten -forderten das gleiche Wahlrecht. Das galt weithin als umstürzlerischer Anschlag auf die staatliche Ordnung. Die verbreitete Redensart „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten“ war blutiger Ernst. Obwohl nun aber die Linken in der Paulskirche nur eine kleine Minderheit waren, kam es am Ende doch zum gleichen Wahlrecht. Das Reichswahlgesetz, das im Anschluß an die Reichsverfassung am 12. April 1849 beschlossen wurde, bestimmte in seinem § 1: „Wähler ist jeder unbescholtene Deutsche, welcher das fünfundzwanzigste Lebensjahr zurückgelegt hat.“

Das war das Ergebnis eines Kompromisses. Die bürgerliche Mehrheit war zerfallen. Während die sogenannten Großdeutschen auf einer Einbeziehung Österreichs bestanden, obwohl die Wiener Regierung den Beitritt verweigerte, wollten die anderen ein Kleindeutschland unter preußischer Führung. Sie wollten dem preußischen König die Kaiserkrone antragen, und sie erkauften sich die Zustimmung der Demokraten, die gar keine Monarchie, sondern eine Republik wollten, indem sie deren Forderung nach dem gleichen Wahlrecht unterstützten. Das nennt man den Frankfurter Wahlrechtskompromiß.

In der Wirklichkeit kam es dann zunächst weder zum gleichen Wahlrecht noch zum kleindeutschen Erbkaisertum. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. lehnte die Kaiserkrone ab. Die Reichsverfassung scheiterte -wie die ganze Revolution -und damit auch das Reichswahlgesetz. In Preußen wurde das sogenannte Dreiklassenwahlrecht eingeführt, das bis 1918 in Geltung blieb: Es war die geradezu klassische Form des ungleichen Wahlrechts. Die Wähler wurden nach Maßgabe der von ihnen zu entrichtenden direkten Staats-steuern in drei Klassen eingeteilt. Jede Klasse wählte ein Drittel der Wahlmänner, die dann ihrerseits die Abgeordneten wählten. Zahlte also ein reicher Mann in seinem Wahlkreis ein Drittel der Steuern, dann bestimmte er seinen Wahlmann allein und konnte sich seinen Abgeordneten beinahe aussuchen. Jedenfalls war so die Mehrheit der Bourgeoisie im preußischen Abgeordnetenhaus gesichert, obwohl sie in der Bevölkerung natürlich nur eine Minderheit war.

Bismarcks Wahlrechtspolitik

Im Zuge der ersten deutschen Vereinigung wurde dann aber das gleiche Wahlrecht für den Reichstag genau in der Formulierung der Paulskirche eingeführt. Das Wahlgesetz schon des Norddeutschen Bundes von 1867 und später des Reiches bestimmte: „Wähler ... ist jeder (Deutsche), welcher das fünfundzwanzigste Lebensjahr zurückgelegt hat.“

Das von den Fürsten gegründete Reich hatte demnach von Anfang an ein demokratisches Wahlrecht. Das ist überaus erstaunlich. Wie hatte es dazu kommen können? Bismarck war natürlich kein Demokrat, und doch war es kein anderer als er selbst, der dieses Wahlrecht 1866 in die Debatte geworfen und anschließend gegen mancherlei Widerstände durchgesetzt hatte. Er hatte dafür ein unentwirrbares Bündel von Motiven. Erstens führte er damals den sogenannten Verfassungskonflikt gegen die preußischen Liberalen, die die Protagonisten des Dreiklassenwahlrechts waren. Das gleiche Wahlrecht war eine Waffe gegen sie. Zweitens stand damals der Krieg mit Österreich und fast allen deutschen Bundesstaaten bevor, der 1866 ausgetragen wurde und entgegen vielen Erwartungen mit dem Sieg Preußens in der Schlacht von Königgrätz endete. Bismarck wollte sich für den befürchteten Notfall die Unterstützung der Volksmassen sichern. Er mag auch gedacht haben, daß die Bauern konservativer und königstreuer waren als die Liberalen. Möglicherweise hatte er auch noch andere Motive. Wenn der neue Staat nicht wieder auseinanderbrechen sollte, brauchte er als Gegengewicht gegen die partikularistischen Kräfte ein unitarisches Band, und das war die Beteiligung des Volkes mittels Wahlen. Vielleicht dachte Bismarck auch, man könne das gleiche Wahlrecht, wenn es sich nicht bewährte, wieder abschaffen.

Was immer auch seine Motive gewesen sein mögen, ganz gewiß wollte er nicht die parlamentarische Demokratie einführen. Aber gegen seinen Willen führte er das Land doch auf diesen Weg. Erste Auswirkungen sollten sich bald zeigen. Denn jedes Gesetz -und vor allem das wichtigste: der jährlich zu bestimmende Staatshaushalt -bedurfte nun der Zustimmung des Reichstags. Das hieß, daß die Regierung weithin von einer demokratisch gewählten Mehrheit abhängig war. Während das Kaiserreich nach außen als Obrigkeitsstaat erschien und sich auch so darstellte, war es in Wirklichkeit, jedenfalls ansatzweise, fast eine parlamentarische Demokratie.

Das Sozialistengesetz von 1878

Es war eine Folge dieser merkwürdigen Kontinuität von 1848, daß im Reichstag oppositionelle Parteien vertreten waren und zunehmend stärker wurden. Was die Herrschenden besonders beunruhigte, war das Wachstum der Sozialdemokratischen Partei. Während 1871 nur 3, 1 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sie entfallen waren, waren es 1877 schon fast dreimal so viele, nämlich 9, 1 Prozent. Bismarck sann auf gesetzliche Gegenmaßnahmen, erhielt aber im Reichstag keine Mehrheit dafür. Als dann 1878 zweimal kurz nacheinander ein Attentat auf Kaiser Wilhelm I. verübt wurde, nutzte Bismarck dies -übrigens ohne jeden Grund -als Vorwand, löste den Reichstag auf und fand nach den Neuwahlen die erforderliche Mehrheit für das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“.

Die Partei wurde zwar nicht völlig verboten. Sie konnte weiter an den Wahlen teilnehmen und erzielte dabei sogar große Erfolge. Aber sie wurde in den folgenden zwölf Jahren bis 1890, als das Sozialistengesetz außer Kraft trat, massiv behindert und unterdrückt. Merkwürdigerweise dauerte übrigens auch die zweite Verfolgung der SPD von 1933 bis 1945, während der sie nun allerdings vollständig verboten war, zwölf Jahre.

1888 und 1898

1888 ging als das Dreikaiserjahr in die Geschichte ein. Auf Wilhelm I. folgten, wie schon erwähnt, binnen dreier Monate erst sein Sohn Friedrich und dann sein Enkel Wilhelm. Obwohl Friedrich der erste Deutsche Kaiser dieses Namens war, wurde er nicht Friedrich I. genannt. Auch Überlegungen, die Zählung des Alten Reiches fortzusetzen, nach der er Friedrich IV. geworden wäre, wurden nicht verwirklicht. Man übernahm vielmehr die Zählung der preußischen Könige und nannte den neuen Kaiser Friedrich III. Bei seinem Sohn ergaben sich solche Probleme nicht; er war unstreitig Wilhelm II.

Es ist viel darüber geschrieben worden, was die „übersprungene Generation“ für die deutsche Geschichte bedeutete und ob Friedrich III. nicht stärker an die liberalen Traditionen von 1848 angeknüpft hätte. Aber man darf wohl die Bedeutung dieser persönlichen Faktoren nicht überschätzen. Die Kaiser waren in diesem konstitutionellen Staat keine absoluten Monarchen mehr, und auch Wilhelm II. war weit mehr ein Ausdruck seiner Epoche, als daß er sie prägend bestimmt hätte. 1898 starb Bismarck. Doch war seine lange Regierungszeit (seit 1862 als preußischer Ministerpräsident, seit 1867 als Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes -der erste deutsche Bundeskanzler war nicht Adenauer, sondern Bismarck! -und seit 1871 als Reichskanzler) schon 1890 mit seiner Entlassung zu Ende gegangen, und insofern gehört 1898 nicht zu den Schlüsseljahren, auch wenn in diesem Jahr viel von Bismarck die Rede sein wird, zumal an seinem Todestag, dem 30. Juli.

Das 20. Jahrhundert

1908 war das Jahr einer berühmten Affäre, der sogenannten Daily-Telegraph-Affäre. Sie entstand daraus, daß Wilhelm II. dieser englischen Zeitung ein Interview gegeben hatte. Es lohnt nicht, auf dessen Inhalt einzugehen. Es war so exaltiert und töricht wie der Kaiser selbst. Wichtiger waren die Begleitumstände und die beinahe eingetretenen Folgen. Wilhelm wurde von allen Parteien heftig kritisiert. Das war nicht der Ton, den man in einem Obrigkeitsstaat erwartet. In den heutigen Demokratien werden die Staatsoberhäupter schonender behandelt.

Die Bedeutung der Affäre und des Jahres 1908 liegt eher darin, daß damals fast die parlamentarische Regierungsform eingeführt worden wäre. Die oppositionellen Parteien hatten inzwischen die Mehrheit im Reichstag gewonnen, und es schien nicht mehr viel zu fehlen, daß sie auch die Regierung übernahmen. Auf die Dauer würden die Herrschenden nicht gegen die Mehrheit regieren können. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, war die Parlamentarisierung nur noch eine Frage der Zeit. 1918 war nun gewiß ein Schlüsseljahr: Deutschland verlor den Krieg; der Kaiser dankte ab und ging ins Exil. Auch alle anderen Bundesfürsten verloren ihre Throne; Deutschland wurde eine Republik. Das einschneidendste Ereignis aber war schon vor dem Waffenstillstand eingetreten. Mit einer Verfassungsänderung war am 28. Oktober 1918 endlich die parlamentarische Demokratie eingeführt worden. Es wird oft übersehen, daß dies kein Ergebnis der Revolution und keine Errungenschaft der Weimarer Republik war. Deutschland war einige Tage lang eine parlamentarische Monarchie und wurde erst danach eine Republik.

Auch in der alten Wahlrechtsproblematik erfolgte 1918 eine wichtige Wende. Erstmals erhielten nun auch die Frauen das Wahlrecht, und unter den vielen Gedenktagen in diesem Jahr sollte man den 80. Jahrestag dieser Reform nicht vergessen.

Schon zwei Jahre später verloren die demokratischen Parteien, die die Republik gegründet hatten und trugen, ihre Mehrheit, und 1928 wurde -was man damals natürlich noch nicht wissen konnte -die letzte parlamentarische Regierung der Weimarer Republik gebildet. Für lange Zeit zum letzten Mal wurde ein Sozialdemokrat, Hermann Müller, deutscher Regierungschef. Der nächste war erst 1969 Willy Brandt.

Das Jahr 1938 wurde von geradezu weltgeschichtlicher Bedeutung. Hitler war nun seit fünf Jahren an der Macht. Die Demokratie und der Rechtsstaat waren restlos beseitigt. Das Jahr begann mit einem Skandal wie 1908. Der Hitler treu ergebene Reichskriegsminister Werner von Blomberg war eine Ehe eingegangen, die nach den altmodischen Regeln der Armee nicht standesgemäß war, und trat zurück. Während Hitler zunächst sehr verunsichert war, nutzte er dann die entstandene Lage geschickt aus und übernahm selbst den Oberbefehl über die Wehrmacht.

Wenige Wochen später gelang ihm sein bis dahin größter Triumph, der Anschluß Österreichs im März. Bald danach beschloß er, seine alten Kriegs-pläne in die Tat umzusetzen und zunächst die Tschechoslowakei anzugreifen. Daran wurde er im September auf der Münchner Konferenz gehindert. Allgemein gilt dies noch immer als ein Erfolg Hitlers bzw. als eine Niederlage der Westmächte. In Wahrheit war es genau umgekehrt. Es gelang dem britischen Premierminister Neville Chamberlain, den von Hitler erstrebten Kriegsbeginn zu verhindern und, wenn der Krieg nicht vermieden werden konnte, auf einen für die damals noch nicht kriegsbereiten Westmächte günstigeren Zeitpunkt zu verschieben. Das war sein Ziel gewesen, und er erreichte es.

Hitler wollte Krieg, um seine beiden Ziele in die Tat umzusetzen: den Gewinn von Lebensraum im Osten und das, was er die Entfernung der Juden nannte. Nun mußte er warten. Die „Endlösung der Judenfrage“ begann mit dem Überfall auf die Sowjetunion im Jahre 1941. Doch der staatliche Pogrom in der Nacht vom 9. November 1938 war ein weiterer Schritt auf dem Wege von der Entrechtung zur Vernichtung der Juden in Deutschland und in Europa.

Das Jahr 1948 kann als das Geburtsjahr der Bundesrepublik gelten, obwohl sie formal erst 1949 gegründet wurde. Aber die wesentlichen Entscheidungen fielen 1948. Da war zunächst die Währungsreform in den westlichen Besatzungszonen am 20. Juni, die den Grundstein für den wirtschaftlichen Aufschwung Westdeutschlands legte und auf die die Sowjets mit der Blockade Berlins antworteten. Zugleich verfestigte sich die Teilung des Landes. Wenn man den Beginn dieser Teilung auf ein Jahr datieren will, obwohl sich der Vorgang natürlich über einen längeren Zeitraum erstreckte, wird man am ehesten 1948 nennen müssen.

Am 1. September 1948 trat in Bonn der Parlamentarische Rat zusammen, um das Grundgesetz zu entwerfen. Es stützte sich in mancher Hinsicht auf die Paulskirchen-Verfassung und übernahm einige Bestimmungen sogar wörtlich aus ihr, so daß hier wieder eine Verbindung zur Revolution von 1848 festzustellen ist.

Das Jahr 1958 rückte erneut Berlin in den Mittelpunkt der Weltpolitik. Im November forderte der sowjetische Ministerpräsident Nikita Chruschtschow die Westmächte auf, ihre Truppen binnen sechs Monaten aus der Stadt abzuziehen, anderenfalls die Sowjetunion ihre Rechte in Berlin auf die DDR übertragen werde. Der Versuch endete -wie die Blockade zehn Jahre zuvor -mit einer sowjetischen Niederlage. Die Westmächte blieben in West-Berlin, und dieses blieb ein Dorn im Fleische der DDR.

Das Jahr 1968 ist als dasjenige der Studentenrevolution in die Geschichte eingegangen. Der Krieg in Vietnam stand auf seinem Höhepunkt und löste sowohl in den LISA wie in Frankreich und Westdeutschland Demonstrationen aus. Zu einer wirklichen Revolution wie 1848 kam es jedoch nicht. Die DDR erhielt in jenem Jahr eine neue Verfassung und definierte sich nun als „sozialistischer Staat deutscher Nation“. In der westdeutschen Geschichte erscheint das Jahr 1968 im Rückblick vor allem als Übergang von der alten Bundesrepublik Adenauers in eine neue, die im Jahr darauf mit der sozialliberalen Koalition und der Regierungsübernahme durch Willy Brandt ihren Ausdruck fand.

Schlußbetrachtungen

Wir wollen den Spaziergang durch die Achter-Jahre in der deutschen Geschichte hier abbrechen, zumal 1978 und 1988 nicht in dem gleichen Sinne in die Geschichte eingegangen sind, daß einem sofort ein herausragendes Ereignis einfiele wie bei so vielen anderen Jahren seit 1848. Wenn man eine Lehre ziehen will, dann hat der Spaziergang, auch wenn er natürlich sehr vieles überspringen mußte, eines erwiesen: Es gibt so zahlreiche Verknüpfungen, daß man die 150 Jahre seit 1848 nicht einfach außer acht lassen kann.

Dennoch werden die meisten Gedenkreden und -feiern voraussichtlich so gehalten sein. Sie werden an die Revolution von 1848 erinnern und einen Bezug zur Gegenwart herstellen, indem sie darauf verweisen, daß die Ideale der damaligen Revolutionäre nun auch unsere geworden und weithin verwirklicht worden seien. Dabei dürfte übersehen werden, daß es in der Hauptsache eine bürgerliche Revolution war, die vor allem im Wahlrecht, aber auch in manchem anderen keineswegs zum Ziel hatte, die demokratischen Grundsätze durchzusetzen, die uns heutzutage selbstverständlich erscheinen. Nur bei genauerer Betrachtung wird deutlich, wie gewunden die Wege der deutschen Geschichte in der Revolution von 1848 gewesen sind und wieviel gewundener noch diejenigen waren, die von ihr ausgingen.

Geschichte ist das Bild, das wir uns von der Vergangenheit machen. Es ist die Aufgabe der Historiker, dafür zu sorgen, daß dieses Bild der Wirklichkeit möglichst genau entspricht. Dabei haben sie vor allem Legenden zu widerlegen. Es ist wahr, daß Gedenkfeiern dafür nicht unbedingt geeignet sind. Dennoch bietet das vor uns liegende lange Gedenkjahr, wenn es in einem kritischen und aufklärerischen Sinne genutzt wird, die Chance, daß das allgemeine Geschichtsbild der jeweils besonderen und verwickelten Wirklichkeit näherkommt.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Eberhard Jäckel, Dr. phil., geb. 1929; emeritierter Professor für Neuere Geschichte an der Universität Stuttgart. Veröffentlichungen u. a.: Hitlers Weltanschauung, Neuausgabe Stuttgart 1981; Hitlers Herrschaft, Stuttgart 1986; Umgang mit Vergangenheit, Stuttgart 1989; Das deutsche Jahrhundert, Stuttgart 1996.