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Von Bismarck zu Hitler Kontinuität und Kontinuitätsbegehren in der deutschen Geschichte | APuZ 51/1998 | bpb.de

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APuZ 51/1998 Von Bismarck zu Hitler Kontinuität und Kontinuitätsbegehren in der deutschen Geschichte Überwindung des „deutschen Sonderweges“? Zur politischen Kultur der Deutschen seit dem Zweiten Weltkrieg Deutschland vor und seit der Wende. Von der Kenntnis zur Anerkennung der Verschiedenheiten

Von Bismarck zu Hitler Kontinuität und Kontinuitätsbegehren in der deutschen Geschichte

Dirk Blasius

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Zu den Verwüstungen, die der Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte angerichtet hat, zählt fraglos auch die Zerstörung einer vom Bürgertum und seinen Denk-und Wertkategorien geprägten politischen Kultur. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs -im Angesicht der „deutschen Katastrophe“ (Friedrich Meinecke) -fiel es freilich schwer, von einer Mithaftung der ideellen und moralischen Substanz des deutschen Bürgertums für das, was zwischen 1933 und 1945 geschehen war, abzusehen. Es wurde nach Traditionen gefahndet, die Hitler den Weg zur Macht geebnet und das von ihm errichtete Regime getragen und im Inneren gefestigt hatten. Was Ian Kershaw in seiner kürzlich erschienenen Hitler-Biographie zum Fokus der Interpretation gemacht hat -die Korrespondenz zwischen dem Willen des Diktators und der Bereitschaft großer Teile der deutschen Gesellschaft, sich auf die NS-Diktatur einzulassen -, ist der Kern des deutschen Kontinuitätsproblems. In dieser Abhandlung, die nach den verbindenden Linien zwischen Bismarck und Hitler, zwischen zweitem und „Drittem Reich“ fragt, wird zunächst ein Blick auf die unterschiedlichen Ansätze der Kontinuitätshistorie geworfen. Diese hat viel zuwenig beachtet, wie die braunen Machthaber es verstanden, sich über Kontinuitätsinszenierungen in den Gang der deutschen Geschichte einzuschleichen. Über das Versprechen von Kontinuität mit den Traditionen und Werten der politischen Kultur des Kaiserreichs gelang es dem NS-Regime, die deutsche Gesellschaft und besonders die für seine Vorhaben so wichtigen alten Führungsgruppen in Militär, Bürokratie, Wirtschaft und Kultur zu gewinnen. Carl Schmitt hat in seinen historisch-politischen Schriften am suggestivsten die affektiven Kontinuitätsbedürfnisse des gebildeten Deutschland zu formulieren und zu zentrieren verstanden. Er ist eine exemplarische Figur für den Anteil, den ein fehlgeleitetes Kontinuitätsbewußtsein an der Ermöglichung und am Vollzug der NS-Herrschaft hatte.

I. 1945: Kontinuität im Schatten der Kriegsniederlage

Der Historiker lebt von der Kontinuität, von der Fortdauer der Strukturen unter der Oberfläche rasch aufeinanderfolgender Ereignisse, aber auch von der Verkettung dieser Ereignisse durch den Faktor . Persönlichkeit'in der Geschichte Bismarck war die stärkste kontinuitätsverbürgende Persönlichkeit der deutschen Geschichte; nach 1945 wurde er damit nicht zufällig zu einem „Problem“ An ihm entzündete sich „die Frage nach der Kontinuität in der deutschen Geschichte der letzten drei Menschenalter"; die Antworten, die auf diese Frage gegeben wurden, zeigen, wie schwer es vielen in der Stunde der „deutschen Katastrophe“ fiel, sich aus dem Bann der Kontinuität zu lösen. Die alten deutschnationalen Wertungen Bismarcks und des von ihm geprägten Zeitalters schimmerten auch da durch, wo zu einer kritischen Überprüfung des Weges aufgerufen wurde, der zu Hitler und seinem Reich geführt hatte. Das Thema . Bismarck und seine Zeit'war nach Kriegsende für diejenigen, die die Herrschaft des Nationalsozialismus mit getragen, mit ertragen oder -in die Emigration gezwungen -überlebt hatten, mit Emotionen verbunden, hinter denen sich Verlustängste verbargen; dieses Thema konnte zur damaligen Zeit nicht Gegenstand ruhiger Gelehrtenarbeit sein

Es stand nicht gut um die Kontinuität deutscher Geschichte im Jahre 1945. Dennoch schien die Vergangenheit eine Art Sichtschutz zu bieten, um dem Bild, das die Gegenwart bot, zu entfliehen. Die Abspaltung der Bismarckzeit von der Zeit des „Dritten Reichs“ ermöglichte es einer Historiker-generation, die noch im Kaiserreich ihre entscheidende Formung erfahren hatte, weiterhin an alten Kontinuitätsillusionen festzuhalten. Siegfried A. Kaehler (1885-1963), ein Göttinger Historiker mit großem Familien-und Bildungshintergrund, schrieb am 28. Februar 1945 an seine Schwester: „Es ist ein schlimmerer Zusammenbruch, als ich ihn seit Jahren kommen sah. 1918 ein Kinderspiel dagegen. Aber was zusammenbricht, ist nicht das Reich Bismarcks, sondern das Reich Hitlers, dessen 1000jähriger Bestand 1933 verkündet wurde.“ Nach der Kapitulation markierte Kaehler noch schärfer die Differenz zwischen nationaler und nationalsozialistischer Geschichte. „Sollte ich am Leben und Professor bleiben“, schrieb er am 15. Juni 1945, „so soll der Rest von Zeit und Kraft dazu dienen, das wahre deutsche Gesicht festzuhalten und herauszuarbeiten zu der NS-Fratze und der Verzerrung der fremden . Beschuldigungen.“ Historiker als die Hüter des wahren Gehalts deutscher Geschichte trauerten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs um das, was dieser Geschichte zwischen 1933 und 1945 angetan wurde; die Nähe ihrer Positionen zu denen der braunen Machthaber bedachten sie nicht.

Kaehler war keine Zunftgröße; er hatte nichts zu verbergen und brauchte nichts zu verdrängen. Er war ein deutscher . Normalhistoriker', aber als solcher Repräsentant einer Geisteshaltung, die es vermied, den Verlauf der deutschen Geschichte unter Einschluß der nationalsozialistischen Zeit kritisch zu durchdenken. Mit der zeittypischen Verkürzung der Kontinuitätsfrage konnten die Historiker nach 1945 ohne große Schuldgefühle weiterleben -auch die, die es in den Jahren des „Dritten Reichs“ an dem aus Einsicht gebotenen Abstand hatten fehlen lassen. Dennoch, die Vergangenheit war angreifbar geworden; auf ihr lag der lange Gegenwartser Schatten einer unseligen -fahrung. „Wie . harmlos'“, schrieb Kaehler im Mai 1945, „war im Vergleich mit diesem entsetzlichen Zusammenbruch das Unglück von 1918, an dem wir damals so schwer getragen haben und das wir für unüberbietbar hielten. Damals besaßen wir -nach menschlichen Maßstäben -noch eine unangreifbare Vergangenheit; jetzt sehen wir, daß der zum Amokläufer gewordene , Rattenfänger von Hameln mit unserer Zukunft uns auch unsere deutsche Geschichte gestohlen und den deutschen Namen zum , odium generis humanis’ gemacht hat. Durch die Anwendung asiatischer Methoden auf europäischem und deutschem Boden, einschließlich des bewußten Völkermordes der Kriegsführung seit August 1944. Wo anfangen, wo enden??“ Über das Ende brauchte im Mai 1945 nicht lange nachgedacht zu werden. Wo aber fing das an, was zu diesem Ende geführt hatte? 1945 war die Kontinuitätsfrage die bohrendste aller zeitgeschichtlichen Fragen. Antworten wurden gesucht und gegeben, bevor diese Frage dann in den fünfziger Jahren in die Sicherheit des Beschweigens abgeschoben wurde.

Einer der Historiker, die , 1933’ nicht aus der Kontinuität der deutschen Geschichte ausgliedern wollten, war Friedrich Meinecke (1862-1954). Seine „Betrachtungen und Erinnerungen“ zur „deutschen Katastrophe“, 1946 erschienen, stekken im Grunde gedanklich schon das Terrain ab, auf dem Jahrzehnte später der Streit um Kontinuität und Gegenkontinuität ausgetragen werden sollte Meinecke, noch zu Zeiten des Bismarck-reichs in die Rolle eines Nestors der deutschen Historikerschaft hineingewachsen, setzte sich in seiner Schrift zum Ziel, den „tieferen Ursachen“ der Ungeheuerlichkeiten des „Dritten Reichs“ nachzuspüren. Er ging weit zurück, um die „unglücklichen Wendungen“ der deutschen Geschichte zu enträtseln, und überprüfte auch die eigenen Empfindungen vor dem Hintergrund gemachter historischer Erfahrungen. „Wie fühlten wir uns“, schrieb er, „oft so frei und stolz gegenüber aller bisherigen deutschen Vergangenheit in diesem mächtig aufblühenden und jedem von uns einen Lebensraum bietenden Reiche von 1871! Aber der erschütternde Verlauf des ersten und noch mehr des zweiten Weltkriegs läßt die Frage nicht mehr verstummen, ob nicht Keime des späteren Unheils in ihm von vornherein wesenhaft steckten. Es ist die Frage, die ein mutiges und aufgeschlossenes Geschichtsdenken auch an jede große und als heilvoll geltende Erscheinung in der Geschichte, in der später eine Entartung eintritt, richten muß.“

Meinecke forderte den Historikern den Mut zur kritischen Selbstüberprüfung ab; nur wenige seiner Kollegen folgten ihm, weil er den Finger auf eine Wunde legte, die schmerzte. Es ging ihm nicht um die schuldhafte Verstrickung einzelner, auch nicht, wie etwa Gerhard Ritter (1888-1967), um System-fragen staatlicher Machtausübung. Ritter, so in einem Brief vom Juli 1946, hielt unbeirrt an seiner alten Unterscheidung „Macht ist nicht gleich , Gewalt'“ fest und wandte sich entschieden gegen die Gleichsetzung von preußisch-deutscher „Machtpolitik“ mit nationalsozialistischer „Gewaltpolitik“ Meinecke setzte in seiner Bilanz der vergangenen hundert Jahre tiefer an. Er griff, sicherlich bewußt und in aufrüttelnder Absicht, auf den Nazi-Wortschatz zurück, um den Blick auf unheilvolle Tendenzen der deutschen Geschichte zu lenken. Meinecke fragte bei seiner Umkreisung des „schwer lösbaren“ deutschen Rätsels nach dem „Entartungsprozeß im deutschen Bürgertum“; es ist die „Geschichte der Entartung deutschen Menschentums“, die er verstehen will

Der These vom Versagen des deutschen Bürgertums nicht erst bei der nationalsozialistischen Machtergreifung und Machtbefestigung versagten sich für eine allzulange Zeit Deutschlands bürgerliche Historiker. Ein Eingehen auf diese These hätte das Eingeständnis eigenen Versagens bedeutet. In einem Brief an einen Kollegen sprach Meinecke von „einer weit zurückreichenden saecularen Entartung des deutschen Bürgertums und des deutschen Nationalgedankens“ Hier lag für ihn der Kern der Kontinuitätsfrage. „Hitlers Unternehmen“, so deutete er dessen politische Wirkungen, „schien also mehr Kontinuität mit den Traditionen und Werten der bisherigen bürgerlichen Kultur zu versprechen als der radikale Neubau des Bolschewismus. Er bestach dadurch weite Kreise des Bürgertums.“

II. Kontinuitätshistorie

Die deutsche Geschichtswissenschaft begab sich 1945 nicht auf die Suche nach der vorhandenen, wenn auch von dem über achtzig Jahre alten Mein-ecke mehr angedeuteten als klar benannten Kontinuität. Erst die großen Darstellungen zur Geschichte des Deutschen Kaiserreichs und zur Rolle Bismarcks als einer strukturbegründenden Persönlichkeit nahmen nach Jahrzehnten des Umlaufens des Kontinuitätsproblems die in ihm steckende Frage als eine Sichtungsfrage vergangenen Geschehens wieder auf Welches waren die bestimmenden Elemente deutscher Geschichte im 19. Jahrhundert, und waren dies Elemente, die den Weg in den Nationalsozialismus vorbereitet und erleichtert haben? „Inwieweit läßt sich 1933“, fragte Thomas Nipperdey 1978, sich bewußt von der „kritischen Kontinuitätshistorie“ Hans-Ulrich Wehlers abgrenzend, „aus so etwas wie der Kontinuität der deutschen Geschichte erklären?“

Skepsis gegenüber der Gleichsetzung von Kontinuität und Kausalität ist sicherlich angebracht; deutsche Vergangenheit ist immer mehr gewesen als bloße Vorgeschichte der „deutschen Katastrophe“. Auch Wehler beschreibt sehr genau den Bildungsprozeß eines . bürgerlichen'Deutschland, der sich freilich im Rahmen einer politischen Ordnung vollzog, die vom , alten'Deutschland festgelegt und verteidigt wurde. Auch die sich nicht-kritisch gebende, mehr kultur-und altersgeschichtlich ausgerichtete Historie kann nicht umhin, die dominierenden Linien der deutschen Geschichte in den Blick zu nehmen; auch sie muß fragen, was als Anschlußstelle für den Nationalsozialismus dienen, woran er anknüpfen konnte. Meinecke verwies auf den Entartungsprozeß im deutschen Bürgertum, und hier lag in der Tat für die Nationalsozialisten ein bereitetes Feld.

Im Umkreis der politischen Kultur finden sich jene Kontinuitäten am stärksten ausgeprägt, die die Geschichte der NS-Zeit mit der der Bismarckzeit verbinden. Letztere war eine Zeit des Einschleifens von Antiliberalismus, Antiparlamentarismus und Demokratiefeindschaft. Das Kaiserreich wurde im Verlauf seiner Geschichte immer mehr zu einem Sperrbezirk für politische Reformen. Mit der Reformverweigerung hing eine verhängnisvolle Formveränderung des deutschen Nationalismus zusammen. Er löste sich von seinen liberalen, kosmopolitischen und gegen die staatliche Autorität gerichteten Ursprüngen und ging mit dieser einen Pakt zur Feier nationaler Größe und Einzigartigkeit ein. Ein „zugespitzt radikalisierter Nationalismus“, den Bismarck zur Erreichung seiner politischen Ziele auszubeuten verstand, war auch der Nährboden für jene Schübe von Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich, auf die sich Politik und Propaganda des Nationalsozialismus später so häufig bezogen. Zum Bündel kollektiver Einstellungsmuster, die 1933 das totalitäre Zerstörungswerk der Demokratie so glatt ablaufen ließen, gehört auch der Militarismus. „Nirgendwo sonst in einer westlichen Gesellschaft“, schreibt Hans-Ulrich Wehler im dritten Band seiner , Deutschen Gesellschaftsgeschichte, „ist im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts der Militarismus in die Kollektiv-mentalität, in das Identitätsbewußtsein, in den Nationalismus so tief eingedrungen wie im kaiserlichen Deutschland.“ Alles zusammengenommen, läßt sich eine „ideologische Neuformation“ (Otto Pflanze) konstatieren -getragen und befördert durch die „Konversion der Gebildeten, der Elite der Universitäten und der akademischen Berufe“, die das Kaiserreich den nachfolgenden Geschichtsabschnitten als Hypothek hinterließ

III. 1933: Kontinuitätsinszenierungen

So entschlossen die nationalsozialistische Bewegung die Macht, die ihr 1933 zugespielt wurde, benutzte, um geschichtlich gewachsene Strukturen in Staat und Gesellschaft einzureißen -die „nationale Revolution“ stellte man mit Bedacht in den Fluß der nationalen Geschichte. Sich im Umsturz geschichtlich zu legitimieren war von eindeutigen Machtkalkülen geleitet. Man wollte die alten Eliten für den neuen Staat gewinnen, indem man über die Gewaltformen der betriebenen Politik den Mantel einer großen Geschichte warf. Der Nationalsozialismus täuschte politisches Handeln aus historischer Motivation vor und griff dabei auf das Staatswesen zurück, das in der deutschen Geschichte das höchste staatspolitische Prestige besaß: Preußen. Die preußische Geschichte wurde nach 1933 zur Manövriermasse der nationalsozialistischen Propagandapolitik Trotz des Mißbrauchs der preußischen Idee für die Zwecke der NS-ldeologie berührte diese Politik Zonen des Selbstverständnisses der Führungsschichten, die man zu gewinnen suchte. Für den Erfolg des Nationalsozialismus ist das Anstoßen emotionaler Prozesse mit Hilfe zurechtgeschnittener Geschichtsbilder von großer Bedeutung. Sie erhöhten den Verführungsdruck, der von dem neuen Regime ausging, und setzten gleichsam einen dialektischen Prozeß von Innen-und Außenanpassung in Gang. Kurz, das Buhlen um , das Preußische, um Geschichtliches überhaupt -so hat es Karl Dietrich Bracher formuliert -, war „ein Zentralelement der Machtergreifungs-und Machtbefestigungsperiode“

Zu Beginn seiner Gewaltherrschaft übte sich gerade Hitler in devoten Gesten vor Preußens großer Geschichte. Am 21. März 1933 wurde mit einem pompösen Staatsakt in der Potsdamer Garnisonkirche die erste Reichtstagssitzung des „Dritten Reichs“ eingeleitet. Dieser Tag sollte die Leistung Bismarcks in Erinnerung bringen, der am 21. März 1871 das erste Parlament des geeinten Reiches eröffnet hatte. Die Nationalsozialisten wußten sehr genau die Wirkung Bi März 1933 wurde mit einem pompösen Staatsakt in der Potsdamer Garnisonkirche die erste Reichtstagssitzung des „Dritten Reichs“ eingeleitet. Dieser Tag sollte die Leistung Bismarcks in Erinnerung bringen, der am 21. März 1871 das erste Parlament des geeinten Reiches eröffnet hatte. Die Nationalsozialisten wußten sehr genau die Wirkung Bismarcks einzuschätzen, der als „Mythos“ im Gedächtnis insbesondere der bürgerlichen Schichten weiterlebte 19. Mit seinem Namen verband sich die Erinnerung an eine der erfolgreichsten Wegstrecken preußisch-deutscher Geschichte. Am . Tag von Potsdam'verbeugte sich Hitler tief vor dem Reichspräsidenten von Hindenburg, der in der Phase der, braunen Revolution'wie eine Mumie aus fernen Zeiten wirkte.

Verbeugungen hatte Hitler 1939, auf dem Höhepunkt seiner Macht, nicht mehr nötig. An einem naßkalten Februartag nahm er auf dem Gelände der Hamburger Werft von Blohm und Voß die Fertigstellung eines über 40 000 Tonnen großen Schlachtschiffes ab. Eine Enkelin Bismarcks taufte dieses Schiff und sprach dabei die Worte: „Auf Befehl des Führers taufe ich dich auf den Namen . Bismarck'.“ Befehlshaberisch legte Hitler in einer langen Rede auch seinen Ort in der deutschen Geschichte fest 20. Goebbels applaudierte schon vorher. In sein Tagebuch trug er am 13. Februar 1939 ein: „Zum Führer . . . Später erzählt der Führer noch, daß er an seiner Rede zum Stapellauf der . Bismarck'arbeitet. Er will da mit (!) dem 2. Reich ein paar passende Worte sprechen. Und vor allem Bismarck dem feigen Kaiser Wilhelm II. gegenüber rehabilitieren. Wie muß Bismarck gelitten haben, von so einem Wicht unter so entehrenden Umständen entlassen worden zu sein. Das muß einmal offen gesagt werden, auch einer gewissen Reaktion gegenüber.“ 21

Hitler ging in seiner Rede weniger auf den noch lebenden „Wicht“ als Erzfeind des alten Bismarck als auf die Schar seiner politischen Feinde ein. Sich selbst sah er als Vollender eines Werkes, das Bismarck begonnen hatte: „Unter all den Männern“, führte Hitler aus, „die es beanspruchen können, ebenfalls Wegbereiter des neuen Reiches gewesen zu sein, ragt einer in gewaltiger Einsamkeit heraus: Bismarck.“ Hitler beschwor Bismarcks Ringen mit einer Welt von Feinden, besonders mit der Phalanx der inneren Reichsfeinde. Er erinnerte an Bismarcks Mißachtung von „Majoritätsbeschlüssen“, die von „Nullen“ gefaßt worden seien, und feierte überschwenglich den „Riesenkampf“ des „Reichsschmieds“, den vielleicht nur derjenige ermessen könne, „der selbst einer solchen Welt von Widerständen entgegenzutreten gezwungen war“.

Die Abstriche, die Hitler an Bismarck vornimmt, bezeichnen freilich den Wesensgehalt seiner eigenen Politik. Bismarck, so Hitler, habe „jenes weltanschaulich fundierte Instrument“ gefehlt, um seinen „Kampf bis zur letzten Konsequenz durchzuführen''. Dynastische Strukturen seien ebenso erhalten geblieben wie föderative und parlamentarische. Das alles sei aus dem „heutigen Groß-deutschland''verschwunden. „Die Vorsehung hat sich gerechter erwiesen, als es die Menschen waren. Fürsten und Dynastien, politisierende Zen-trumspriester und Sozialdemokraten, Liberalismus. ” Länderparlamente und Reichtstagsparteien sind nicht mehr. Sie alle, die das geschichtliche Ringen dieses Mannes einst so erschwerten, haben seinen Tod nur wenige Jahrzehnte überlebt. Der Nationalsozialismus aber hat in seiner Bewegung und in der deutschen Volksgemeinschaft die geistigen, weltanschaulichen und organisatorischen Elemente geschaffen, die geeignet sind, die Reichs-feinde von jetzt ab und für alle Zukunft zu vernichten.“ 1939 gab es im Staat Hitlers keine „Reichsfeinde“ mehr; Bismarck wurde zitiert, um Energien für den Kampf gegen äußere Feinde freizusetzen, für das Wagnis eines Weltanschauungskrieges. Der abgeschlossene Endkampf im Inneren sollte beispielgebend für die noch ausstehenden äußeren Kämpfe sein.

Während es sich der Nationalsozialismus auf dem Höhepunkt seiner Macht glaubte leisten zu können, die Diskontinuität zu früheren Epochen zu betonen, war er am Beginn seiner Herrschaft darauf bedacht, sich über publikumswirksame Inszenierungen in die Kontinuität der deutschen Geschichte einzuschleichen. Er brauchte Freunde bei der Durchsetzung seiner Weltanschauungspolitik. Ein Meister im Aufbau historischer Kulissen war Göring, von Hitler im April 1933 zum preußischen Ministerpräsidenten ernannt. Göring versuchte sich an der Revitalisierung preußischer Traditionen, um die alten, vornationalsozialistischen Eliten für den NS-Staat zu gewinnen. Am 8. Juli 1933 wurde ein Gesetz über die Bildung eines Preußischen Staatsrats beschlossen, der als Bindeglied zwischen dem alten und dem neuen Preußen fungieren sollte Die braunen Machthaber waren auf der Suche nach Mitträgern ihrer Macht in Wissenschaft, Wirtschaft, Kultur und Kirche. Der Staatsrat war als ein Beratungsgremium des preußischen Ministerpräsidenten gedacht. Seine Mitglieder führten die Amtsbezeichnung Preußischer Staatsrat.

Neben den preußischen Ministern und Staatssekretären saßen im Staatsrat die Spitzen der NS-Organisationen -die Gauleiter der NSDAP in Preußen. Röhm als Stabschef der SA, Ley als Führer der Deutschen Arbeitsfront, Himmler als Reichsführer der SS und Heydrich als Kopf der Geheimen Staatspolizei. Diesen Leuten von Einfluß stellte Göring Zelebritäten an die Seite: die Weltkriegshelden von Mackensen und von Trotha; den Ruhrindustriellen Fritz Thyssen, einen der gewichtigsten industriellen Fürsprecher Hitlers; den Staatsrechtler Carl Schmitt (1888-1985), der in den zwanziger Jahren Aufsehen erregt und wissenschaftliche Anerkennung gefunden hatte; den zum evangelischen Reichsbischof ernannten Wehrkreispfarrer Ludwig Müller; den Bischof von Osnabrück, Wilhelm Berning, der sich in den Augen Hitlers beim Aushandeln des Reichskonkordats mit dem Vatikan Verdienste erworben hatte, sowie Wilhelm Furtwängler, den Direktor der Berliner Staatsoper und Ersten Staatskapellmeister, der durch seine Bevorzugung der Klassiker die Dominanz alter deutscher Musik über die Werke der Zeitgenossen unterstrich

Der Staatsrat sollte nach dem Wunsch Görings das Aushängeschild des nationalsozialistisch gewordenen Preußen sein. Am 15. September 1933 wurde er in der Neuen Aula der Berliner Universität feierlich eröffnet Göring, auf die Sicherung seiner Macht im NS-Staat bedacht, kopierte Hitlers , Tag von Potsdam', jene preußische Weihestunde durch den Reichspräsidenten von Hindenburg; auch er bemühte die Geschichte, um den eigenen Führungsanspruch zu legitimieren. Der Staatsakt vom 15. September wurde als Medienereignis in Szene gesetzt -mit Fahnen, Aufmärschen, in-und ausländischen Ehrengästen sowie einer „staatspolitischen Rede“ Görings, über die „mehr als 100 Pressevertreter" zu berichten hatten.. Stolz erwähnte der „Völkische Beobachter“ die Namen aller 68 Staatsräte, die vereidigt wurden; unter ihnen, so die Formulierung des Kampfblatts der nationalsozialistischen Bewegung, „im geistlichen Kleid der Bischof von Osnabrück, Dr. Berning, und als Vertreter der Kunst Staatskapellmeister Furtwängler“ Vor Überreichung der Berufungsurkunden sprach Göring den Staatsräten die Eidesformel vor: „Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, daß ich mein Amt als preußischer Staatsrat nach bestem Wissen und Gewissen führen und mich in unwandelbarer Treue zu unserem Volke und seinem Führer Adolf Hitler, der geschichtlichen Größe Preußens bewußt, für den Neuaufbau des Reichs mit allen Kräften einsetzen werde.“ Der berichtende „Reichs-und Staatsanzeiger“, das Amtsblatt des „Dritten Reichs“, hielt fest: „Die Staatsräte erhoben die Hand zum Schwur und bekräftigten die Eidesformel mit den gemeinsam gesprochenen Worten: , Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe!“

Göring hatte in seiner Rede deutlich gemacht, was er von den Staatsräten erwartete: „Sie“, so beschwor er die „Bannerträger unserer Bewegung in Preußen“, „müssen eifern gegen den alten Parlamentarismus. Überall müssen sie arbeiten und Verständnis dafür erwecken, daß nur das Prinzip der Auslese, daß nur der Führergedanke ein Volk retten und führen kann.“ Preußens größte geschichtliche Stunde sah Göring in der Abwehrschlacht, die Bismarck in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts gegen den anstürmenden Parlamentarismus geschlagen hatte. „Durch die Berufung Bismarcks zur Staatsführung, durch seine staatsmännische Arbeit, ist die vom Parlament her drohende Gefahr für einen machtvollen Aufstieg des Reiches zunächst zwar beschworen worden, vor dem Genius des Altmeisters deutscher Staatskunst mußte sich alles beugen, was damals in Opposition stand. Aber wir wissen, daß es auch einem Bismarck nicht gelang, das Übel parlamentarischer und demokratischer Geisteseinstellung von der Wurzel her zu beseitigen.“ Dies getan zu haben sei das Verdienst des Nationalsozialismus; diese Tat sei eine Verbeugung vor der geschichtlichen Größe Preußens. Göring schloß mit dem Diktum: „Die Stunde, die wir jetzt erleben, ist die Todesstunde des Parlamentarismus in Preußen.“

Die Nationalsozialisten waren auf der Suche nach kopierfähigen Abschnitten der preußisch-deutschen Geschichte. Sie sahen sich -gerade in der Phase der Versäulung ihrer Macht -im Spiegel eines Bismarcks, der durch das Niederkämpfen seiner Feinde zum Heros der deutschen Geschichte wurde Das Bismarck-Bild, das Göring und Hitler zeichneten, ist jedoch nicht das ganze Bild dieser historischen Persönlichkeit. Unbestreitbar weist alles, was Bismarck bewirkte und schuf, Spuren des Kampfes auf. Doch die Kämpfe, die Bismarck austrug, waren nicht auf die Vernichtung des Gegners angelegt. Bismarcks Politik war fähig zum Friedensschluß, die des Nationalsozialismus nicht. Dessen Weltanschauung machte jeden Kampf zum Endkampf, jede Lösung sollte eine , Endlösung sein.

Gerade die Jahre des Preußischen Verfassungskonflikts, die die Nationalsozialisten zum Resonanzboden ihrer eigenen Politik stilisierten, zeigen einen bezeichnenden Unterschied zwischen dem tatsächlichen Geschehensablauf und seiner politisch motivierten Vergegenwärtigung. Im Herbst des Jahres 1862 gelangte Bismarck -von vielen beargwöhnt -in das Amt des Preußischen Ministerpräsidenten, um den schon anhängigen innenpolitischen Konflikt im Sinne der Krone zu lösen. Der König drang auf eine Heeresvermehrung und auf eine Verlängerung der Dienstzeit; das Parlament wollte, unter Berufung auf sein Budgetrecht, die dazu erforderlichen Mittel nicht bewilligen. Bismarck machte die Verfassungsfrage zu einer Machtfrage und ließ die Parlamentsopposition ins Leere laufen. Er exekutierte, während das Abgeordnetenhaus debattierte. Über Jahre wurde in Preußen ohne einen ordnungsgemäß verabschiedeten Haushalt regiert, wurde das Militär aufgestockt, ohne daß Verfassungsregeln beachtet wurden. Doch nach Königgrätz, nach dem großen Sieg Preußens über Österreich im Jahre 1866, erteilten die Abgeordneten Bismarck , Indemnität, billigte auch die Mehrheit der Liberalen im Parlament im nachhinein eine Handlungsweise, die sich über die Verfassung hinweggesetzt hatte. 1862 freilich trug Bismarck selbst dazu bei, seine Politik dem Verdacht einer Blut-und Eisenpolitik auszusetzen. Seinen ersten parlamentarischen Auftritt hatte er am Abend des 30. September 1862 in der Budgetkommission des Abgeordnetenhauses. Seine Rede weckte Emotionen, weil sie kühl das Recht der Macht unterstellte und darauf insistierte, daß die Krone im monarchischen Staat den Letztentscheid habe. „Die Krone“, so führte er aus, „habe noch andere Rechte, als die in der Verfassung ständen.“ „Die Interpretation, es sei verfassungswidrig, verweigerte Ausgaben zu machen, teile er nicht.“ Bismarck hielt der liberalen Parlamentsmehrheit vor: „Nicht auf Preußens Liberalismus sieht Deutschland, sondern auf seine Macht; Bayern, Württemberg, Baden mögen dem Liberalismus indulgieren, darum wird ihnen doch keiner Preußens Rolle anweisen; Preußen muß seine Kraft zusammenfassen und zusammenhalten auf den günstigen Augenblick, der schon einige Male verpaßt ist; Preußens Grenzen nach den Wiener Verträgen sind zu einem gesunden Staats-leben nicht günstig; nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden -das ist der große Fehler von 1848 und 1849 gewesen-, sondern durch Eisen und Blut. Die Nationalsozialisten beriefen sich auf die Konflikte, die Bismarck in den sechziger Jahren mit dem Liberalismus austrug. Sie zeigen die Kompromißlosigkeit des politisch Handelnden; ihr Ende zeigt freilich auch, daß Kompromißfähigkeit zu politischem Handeln gehört. Nach vier Jahren des Kampfes schloß Bismarck mit dem Parlament Frieden, akzeptierte er dessen durch die Verfassung verbürgte Rechte und setzte auf Kooperation bei den anstehenden großen Aufgaben. Das Werk Bismarcks ist ohne die Kampfbereitschaft dieses Politikers nicht denkbar; ohne den in die Tat umgesetzten Willen, Kämpfe zu beenden, wäre es kaum zustande gekommen.

Nachdem auf außenpolitischem Feld die Würfel gefallen waren, erklärte Bismarck Anfang September 1866 in der Debatte des preußischen Abgeordnetenhauses über die Indemnitätsvorlage, mit der das Parlament nachträglich das Handeln der Regierung billigen sollte: „Wir wünschen den Frieden, nicht weil wir kampfunfähig sind in diesem inneren Kampf . . . Wir wünschen den Frieden, weil unserer Meinung nach das Vaterland ihn im gegenwärtigen Augenblicke in höherem Grade bedarf als früher ... In diesem Augenblick sind aber die Aufgaben der auswärtigen Politik noch ungelöst, die glänzenden Erfolge der Armee haben nur unseren auf dem Spiele stehenden Einsatz gewissermaßen erhöht, wir haben mehr zu verlieren als vorher, aber gewonnen ist das Spiel noch nicht; je fester wir im Inneren zusammenhalten, desto sicherer sind wir, es zu gewinnen.“ Der Verfassungskonflikt wurde durch einen Kompromiß zwischen monarchischem Staat und bürgerlicher Gesellschaft gelöst; erst der über , Indemnität gefundene Ausgleich war das Startzeichen für den von Göring so bewunderten „machtvollen Aufstieg des Reiches“.

IV. Kontinuitätssuggestion und NS-Herrschaft

Es braucht nicht besonders betont zu werden, wie willkürlich der Nationalsozialismus Kontinuitäten für seine Zwecke konstruierte und kombinierte. Interessant für die Kontinuitätsfrage sind diejenigen Personen, die an Görings Todesfeier des Parlamentarismus teilnahmen. Wissenschaftler und Künstler, hohe Beamte, Militärs und Kirchenmänner beeideten ihren Einsatz für das zentrale Ziel des Nationalsozialismus: der Demokratie in Deutschland den Todesstoß zu versetzen. Wähnten sie sich bei ihrem Mitläufertum im Handlungsraum der Geschichte? Glaubten sie wirklich, in Hitler Bismarck den Zweiten vor sich zu haben? Um das Psychogramm dieser Führungsschichten zu erschließen, genügt es nicht, auf ihre Affinität zum Kaiserreich zu verweisen. Es war vielmehr ein tief sitzendes Unbehagen am geschichtlichen Weg des Deutschen Kaiserreichs, das die alten Eliten zu Claqueuren Hitlers machte. Diese Geisteshaltung, die in der Demokratie westlicher Prägung den Feind, das zersetzende Grundübel deutscher Kultur ausmachte, hat keiner schärfer, aber auch keiner suggestiver zu formulieren verstanden als der im Herbst 1933 zum preußischen Staatsrat berufene Rechtslehrer Carl Schmitt. Er sprach für das „gebildete Deutschland“, das -in Görings Staatsrat neben Himmler und Heydrich sitzend -mit dazu beitrug, die deutsche Geschichte an den Abgrund geraten zu lassen.

Eine Schlüsselschrift für den perzipierten Zusammenhang zwischen Kaiserreich und NS-Reich, zwischen Bismarck und Hitler ist die im Sommer 1934 erschienene Abhandlung Carl Schmitts über „Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches. Der Sieg des Bürgers über den Soldaten“ Schmitt war der Konstrukteur jener Kontinuitäten, mit denen der Nationalsozialismus das gebildete Bürgertum nach dem Scheitern der Weimarer Republik beeindrucken und für sich gewinnen konnte. Er war der historische Sprachlehrer der Nazis.

Carl Schmitt hat viel Ziselierarbeit am eigenen Werk geleistet. In ein Exemplar seiner Schrift von 1934, das sich in seinem Nachlaß befindet, schrieb er neben den Untertitel (Der Sieg des Bürgers über den Soldaten) die erläuternde Wendung „der Sieg der Ware über die Waffe -oder Bismarcks Erbe in der Reichsverfassung“ Sieht die kritische Kontinuitätshistorie zusammen mit Nipperdey in der Verfassungsrückständigkeit des von Bismarck geschaffenen Reichs den maßgebenden Erklärungsgrund für die Schwäche des deutschen Demokratiegedankens, die der Nationalsozialismus für sich ausnutzte, so erklärte Schmitt den Zusammenbruch des Kaiserreichs aus dessen Verfassungsfortschritt. Der Nationalsozialismus, so könnte man seine These zusammenfassen, sei nicht Konsequenz sondern Revision der deutschen Geschichte. Schmitt entwarf ein von den Nationalsozialisten übernommenes Deutungsmuster von Kontinuität, in dem sich die alten Eliten wiederfinden konnten. Die vorgegaukelte Kontinuität bewahrte sie davor, den Nationalsozialismus als Bruch der Geschichte zu empfinden. Sie sahen in ihm ein Regime, das da anknüpfte, wo die „Waffe“ noch etwas galt.

Carl Schmitts , Staatsgefüge ist am Ende des Machtergreifungsjahres konzipiert worden. Den Grundriß seiner Überlegungen trug er am 24. Januar 1934 in der Berliner Universität anläßlich des Geburtstages Friedrich des Großen (24. Januar 1712) vor. Der Titel dieses Vortrags lautete „Heerwesen und staatliche Gesamtstruktur“ Im März publizierte er den Aufsatz „Die Logik der geistigen Unterwerfung“, eine Vorstudie zu seiner Abhandlung über das Kaiserreich Auch Schmitt sieht in Übereinstimmung mit den zitierten Festreden der führenden Nationalsozialisten im preußischen Verfassungskonflikt der Jahre 1862-1866 „das Zentralereignis der innerdeutschen Geschichte des letzten Jahrhunderts“ Mit Bismarcks Bitte um Indemnität und ihrer Gewährung durch die Liberalen im preußischen Abgeordnetenhaus sei eine Entwicklung in Gang gekommen, die sich im Weimarer Staat und seiner demokratischen Verfassung „vollendet“ habe. An diesem Punkt der Geschichte habe der „preußische Soldatenstaat“ seine Identität aufgegeben und die Kraft verloren, sich seiner „innerpolitischen Feinde“ zu erwehren, den Bannerträgern der „Verfassungsideologie der westlichen Liberal-demokratie“ Paroli zu bieten Weimar gebe eine „posthume Antwort auf die Verfassungsprobleme des preußischen Konfliks von 1862-1866“; es zeige, wer diesen Konflikt für sich entschieden habe. „Die Logik der geistigen Unterwerfung vollendete sich in einer wehr-und widerstandslosen politischen Knechtschaft.“

Das Wort , Bürger 1, ergänzt durch , Ware‘, ist für Carl Schmitt eine Chiffre für den Abstieg der deutschen Nation; das Wort . Soldat 1 soll an verschüttete historische Alternativen erinnern. Indem Schmitt Hitler als „politischen Soldaten“ feiert, gliedert er ihn, gleichsam als deren Revisor, in die Kontinuität der deutschen Geschichte ein. Die Argumente Schmitts wurden von denen verstanden, die für Hitler wichtig waren. „Am 30. Januar 1933“, so Schmitt am Ende seiner Kaiserreich-Abhandlung, „hat dann der Generalfeldmarschall des deutschen Weltkriegsheeres einen deutschen Soldaten, aber eben einen politischen Soldaten, Adolf Hitler, zum deutschen Reichskanzler ernannt. . . Dadurch, daß einem solchen Führer die ganze staatliche Macht des deutschen Reiches in die Hand gegeben wurde, war demnach der erste Schritt auf einen neuen Verfassungsboden getan. Jetzt öffnete sich ein Weg, um klare innerpolitische Entscheidungen zu treffen, das deutsche Volk von der hundertjährigen Verwirrung des bürgerlichen Konstitutionalismus zu befreien und, statt normativer Verfassungsfassaden, das revolutionäre Werk einer deutschen Staatsordnung in Angriff zu nehmen.“

Person und Werk Carl Schmitts sind für die Kontinuitätsfrage, die Frage nach den Verbindungslinien zwischen Bismarck und Hitler, zwischen zweitem und „Drittem Reich“ von einem signifikanten Verweischarakter. Über Schmitt als historische Figur läßt sich die schon oft gestellte Kontinuitätsfrage weiter fassen. Es gab nicht nur eine Kontinuität der Strukturen, sondern auch eine des historischen Bewußtseins. Auf dieser Ebene waren die Weichen für einen „Irrweg“ der deutschen Geschichte schon früh gestellt

Nach der Niederlage seines „politischen Soldaten“ hat auch Carl Schmitt dies registriert. Im Mai 1948 hielt er in seinem Tagebuch fest: „Was ist seit 1918 in Deutschland geschehen? Aus dem Dunkel des sozialen und moralischen und intellektuellen Nichts.. . stieg ein bisher völlig leeres, unbekanntes Individuum auf und sog sich voll mit den Worten und Affekten des damaligen gebildeten Deutschland. (Begriffe wie Tat, Wille, Macht, Rasse und Genie) ... Es machte Ernst mit tierischem Ernst. Womit machte es Ernst? Mit den Affekten und Formeln, die sich ihm boten. Umgekehrt waren diese bisher ziemlich rein gedachten Affekte und Formeln überrascht und glücklich, ernst genommen zu werden.“ Präziser kann der Mechanismus, der zur Katastrophe in Deutschland führte, kaum beschrieben werden -von einem ihrer geistigen Vorbereiter und Begleiter.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Theodor Schieder, Strukturen und Persönlichkeiten der Geschichte in: ders., Wissenschaft. in Geschichte, als Eine Einführung. München 1965, S. 149-186, bes. S. 180 ff.

  2. Vgl. Lothar Gall (Hrsg.), Das Bismarck-Problem in der Geschichtsschreibung nach 1945, Köln-Berlin 1971, S. 9-24.

  3. Vgl. Johannes Kunisch (Hrsg.), Bismarck und seine Zeit, Berlin 1991.

  4. Walter Bußmann/Günther Grünthai (Hrsg.), Siegfried A. Kaehler. Briefe 1900-1963, Boppard 1993, S. 290 f.

  5. Ebd., S. 311 ff.

  6. Ebd.. S. 298 ff. (19. Mai 1945).

  7. Vgl. Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Wiesbaden 1946; vgl. auch Thomas Nipperdey, 1933 und die Kontinuität der deutschen Geschichte, in: Historische Zeitschrift, 227 (1978), S. 86-111.

  8. F. Meinecke (Anm. 7). S. 26.

  9. Vgl. Klaus Schwabe/Rolf Reichardt (Hrsg.), Gerhard Ritter. Ein politischer Historiker in seinen Briefen, Boppard 1984, S. 414 ff. (8. Juli 1946).

  10. F. Meinecke (Anm. 7), S. 41 u. 28.

  11. Ludwig Dehio/Peter Classen (Hrsg.), Friedrich Mein-ecke. Ausgewählter Briefwechsel, Stuttgart 1962, S. 247 f. (22. März 1946).

  12. F. Meinecke (Anm. 7), S. 108.

  13. Vgl. Lothar Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt am Main u. a. 1980; Otto Pflanze, Bismarck, 2 Bde., München 1997/1998; Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992; Wolfgang J. Mommsen, Das Ringen um den nationalen Staat. Die Gründung und der innere Ausbau des Deutschen Reiches unter Otto von Bismarck 1850 bis 1890, Berlin 1993; ders., Bürgerstolz und Weltmachtstreben. Deutschland unter Wilhelm II. 1890 bis 1918, Berlin 1995; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849-1914, München 1995; Volker Ullrich, Die nervöse Großmacht. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs 1871-1918, Frankfurt a. M. 1997; Thomas Kühne, Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918 und seine politische Kultur; Demokratisierung, Segmentierung, Militarisierung, in: Neue Politische Literatur, 43 (1998), S. 206-263.

  14. Th. Nipperdey (Anm. 7), S. 87 u. S. 105.

  15. H. -U. Wehler (Anm. 13), S. 1286.

  16. O. Pflanze (Anm. 13), Bd. 2: Der Reichskanzler, S. 682.

  17. Vgl. Hans-Ulrich Thamer, Geschichte und Propaganda. Kulturhistorische Ausstellungen in der NS-Zeit, in: Geschichte und Gesellschaft, 24 (1998), S. 349-381.

  18. Karl Dietrich Bracher, Das Ende Preußens, in: Preußen. Seine Wirkung auf die deutsche Geschichte, hrsg. von der Fritz Thysen Stiftung, Stuttgart 1985, S. 281 -307. hier S. 298.

  19. Elke Fröhlich (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil I, Bd. 3, München u. a. 1987, S. 574.

  20. Vgl. Gesetz über den Preußischen Staatsrat vom 8. Juli 1933, in: Preußische Gesetzsammlung 1933, S. 241-243.

  21. Vgl. Handbuch über den Preußischen Staat, 138 (1934), S. 40-42.

  22. Vgl. Der Staatsakt vom 15. September 1933, in: Reichs-und Staatsanzeiger Nr. 217 vom 16. September 1933, S. 2-4.

  23. Ein Wendepunkt im preußischen Staatsleben, in: Völkischer Beobachter, Norddeutsche Ausgabe vom 16. September 1933, S. 1 f.

  24. Reichs-und Staatsanzeiger (Anm. 24), S. 4.

  25. Parteinahe Historiker stützten diese Sicht Bismarcks ab, vgl. Otto Westphal, Feinde Bismarcks. Geistige Grundlagen der deutschen Opposition 1848-1918, München 1930; ders., Bismarck und Hitler, in: Vergangenheit und Gegenwart, 22 (1933), S. 469-481.

  26. Lothar Gall (Hrsg.), Bismarck. Die großen Reden, Berlin 1981, S. 58-64 (Rede vom 30. September 1862).

  27. Ebd., S. 63.

  28. Ebd., S. 77-80 (Rede vom 1. September 1866).

  29. Carl Schmitt, Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches. Der Sieg des Bürgers über den Soldaten, Hamburg 1934.

  30. Nachlaß Carl Schmitt, in: Nordrhein-Westfälisches Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, RW 265 -Karton 460.

  31. Carl Schmitt, Heerwesen und staatliche Gesamtstruktur, in: Hauptstaatsarchiv Düsseldorf (Anm. 32).

  32. Vgl.ders., Die Logik der geistigen Unterwerfung, in: Deutsches Volkstum, 1. Märzheft (1934), S. 177-182.

  33. Ders. (Anm. 31), S. 10.

  34. Ders. (Anm. 34), S. 179.

  35. Ebd., S. 181 f.

  36. C. Schmitt (Anm. 31), S. 49.

  37. Vgl. Friedrich Meinecke, Irrwege in unserer Geschichte?, in: ders.. Vom geschichtlichen Sinn und Sinn der Geschichte, Stuttgart 19513, S. 123-132.

  38. Carl Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947-1951, Berlin 1991, S. 149 (15. Mai 1948); zum verhängnisvollen Anteil der „Tradition des deutschen Bildungsbürgertums“ an den Erfolgen Hitlers und seiner Bewegung vgl. Hans Mommsen, Die deutschen Eliten und der Mythos des nationalen Aufbruchs von 1933, in: Merkur, 38 (1984). S. 97-102.

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Dirk Blasius, Dr. phil., geb. 1941; von 1968 bis 1974 wissenschaftlicher Assistent für Neuere Geschichte an der Universität Düsseldorf; seit 1974 Professor für Sozial-, Wirtschafts-und Rechts-geschichte an der Universität Gesamthochschule Essen. Veröffentlichungen u. a.: Bürgerliche Gesellschaft und Kriminalität. Zur Sozialgeschichte Preußens im Vormärz, Göttingen 1976; (zus. mit Eckart Pankoke) Lorenz von Stein. Geschichts-und gesellschaftswissenschaftliche Perspektiven, Darmstadt 1977; (Hrsg.) Preußen in der deutschen Geschichte, Königstein/Taunus 1980; Friedrich Wilhelm IV. 1795-1861. Psychopathologie und Geschichte, Göttingen 1992; Einfache Seelenstörung 1. Geschichte der deutschen Psychiatrie 1800-1945, Frankfurt a. M. 1994.