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Konflikte von morgen. Wahrnehmungen, Kategorien und Folgerungen | APuZ 52-53/1999 | bpb.de

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APuZ 52-53/1999 Den globalen Wandel durch globale Strukturpolitik gestalten Der harte Faktor der Weltveränderung: Die demographischen Entwicklungen bis zum Jahre 2050 Konflikte von morgen. Wahrnehmungen, Kategorien und Folgerungen Humanitäre Hilfe in globalen Konflikten

Konflikte von morgen. Wahrnehmungen, Kategorien und Folgerungen

Dieter Wellershoff

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der erste Abschnitt des Beitrags ist der Wahrnehmung von Risiken gewidmet. Es kommt darauf an.deutlich zwischen den Tatsachen und deren Bewertung zu unterscheiden, „selektive Perzeption“ zu vermeiden. Auch muß die Gesamtschau aller Politikfelder der Spezialbetrachtung vorgezogen werden. Prognosen auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik sind offenkundig schwierig. Deshalb versucht der Beitrag auch nicht Voraussagen zu treffen, sondern er gibt Hinweise zu einer umfassenden Betrachtung von Konfliktursachen. Im zweiten Teil wird ein Katalog von Konfliktursachen vorgestellt. Dabei wird festgestellt, daß fast immer mehrere Faktoren Zusammentreffen müssen, um Konflikte bis hin zum Krieg virulent werden zu lassen. Die Übersicht enthält Kategorien von Gründen, die zu Auseinandersetzungen führen können, wenn keine rechtzeitige Prävention erfolgt. Es geht um (1) die territoriale Ordnung und Grenzsicherungen. Fragen der Desintegration und Integration, der Sezession und der Bemühungen um Einflußzonen: (2) Menschen-und Minderheitenrechte. Freiheitsbewegungen. Selbstbestimmung der Völker und die Überwindung von Diktaturen; (3) unerträgliche soziale Bedingungen. Kampf um Ressourcen wie Nahrung. Wasser und Energie. Bevölkerungsexplosion und mangelhafte Bildung, den Nährboden für Demagogen und Fundamentalisten: (4) die internationale Kriminalität und Rechtsbruch. Terrorismus. Drogen-und Menschenhandel, internationale Wirtschaftsverbrechen und illegale Waffenproliferation; (5) Streitkräfte und Rüstung. Rüstungskontrolle. Begrenzung und demokratische Kontrolle. Aufgrund dieser zahlreichen potentiellen, mehr noch aber aktuellen Problemlagen sind verstärkt sowohl nationale wie internationale Synopsen und Synergien zur Konfliktanalyse. Konfliktprävention und Konfliktbewältigung zu fordern. Die mangelhafte Prognosefähigkeit verbietet eine Verengung auf bestimmte Szenarien. Die sicherheitspolitische Großwetterlage kann sich schneller ändern, als eine nur an tagespolitischen Erfordernissen ausgerichtete Politik und ihre Instrumente ihr angepaßt werden können. Deshalb bleiben die nüchterne Betrachtung der Konfliktpotentiale. Analyse-fähigkeit und vor allem Realitätssinn Kemforderungen der Sicherheitspolitik.

Auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik ist die Prognose ein besonders gewagtes Unterfangen. Dieses Politikfeld ist von existentieller Bedeutung, und es ist gerade zehn Jahre her, daß revolutionäre Entwicklungen eintraten, die so -und vor allem so schnell -niemand vorhergesagt hatte. Deshalb wird auch hier keine Prophetie betrieben, sondern der Versuch unternommen, die zu vermutenden Gefahren für den Frieden unter drei Aspekten zu betrachten. Unter Konflikt wird in diesem Beitrag die Austragung von Problemen mit Gewalt oder die Androhung von Gewalt verstanden. Dabei werden gleichermaßen zwischenstaatliche wie auch größere innerstaatliche Auseinandersetzungen mit Wirkung auf die Staatengemeinschaft oder die Nachbarn angesprochen. -Es ist wichtig, sich über die Aussagekraft der Wahrnehmung von Risiken und Herausforderungen im klaren zu sein. Übertriebene wie unterschätzte, unterlassene oder eingebildete Perzeption von Risiken kann zu eigenständigen Gefahren werden. Dabei wird auch ein Blick auf die Anfälligkeit der menschlichen Natur in ihrer Ambivalenz zwischen Friedenssehnsucht und Haßbereitschaft zu werfen sein. -Das Spektrum der Konfliktursachen soll möglichst umfassend skizziert werden. Ziel ist die Sicherung des Friedens und seiner Voraussetzungen. Der angestrebte Frieden ist vierfach konditioniert: durch Freiheit und Menschenrechte, Demokratie, eine rechtsstaatliche Ordnung sowie erträgliche soziale Bedingungen für die Menschen. -Letztlich wird der Versuch unternommen, einige Schlußfolgerungen für die Sicherheitspolitik zu ziehen. Dabei wird besonders deutlich zu machen sein, daß es praktisch keinen Konflikt gibt, der nur eine Ursache hat. Deshalb ist auf die Synopse aller Lagefaktoren und die nationale wie internationale Synergie der Felder der Sicherheitspolitik Wert zu legen

I. Die Wahrnehmung von Risiken

Von der Bedrohung zu den Risiken

Bis zum Ende der dualen Weltordnung des Ost-West-Gegensatzes war der Standardbegriff für Gefahren für die äußere Sicherheit „Bedrohung“. Heute spricht man von „Risiken und Herausforderungen“. Sachlich, geographisch und in bezug auf die Zeitachse hat sich der Blickwinkel erweitert. Die Notwendigkeit der Prävention bestimmt den Anspruch, der aus zwischenzeitlich gemachten Erfahrungen erwächst. Wenn jedoch nicht die nötigen Schlußfolgerungen für das präventive Handeln gezogen werden, wird es sich schnell wieder um die gewaltsame Austragung von Konflikten, also um die Abwehr konkreter Bedrohungen handeln.

Fähigkeiten und Absichten

An dieser Stelle ist eine wichtige Differenzierung einzuführen, die nicht nur für militärische Gefahrendarstellungen gelten sollte: Es ist zu unterscheiden zwischen Fähigkeiten und Absichten. Tatsachen und Zahlen sind mit großer Objektivität festzustellen. Beurteilungen und Bewertungen, denen wir diese Tatsachen unterziehen, folgen nach. Man darf sich nicht durch Vorurteile und Stereotype von der Wahrnehmung der realen Sachverhalte abhalten lassen. Die Geschichte und die politische Psychologie liefern viele Beispiele der Mißachtung dieser Regel mit all ihren gefährlichen Folgen durch Fehleinschätzung von Gefahren. Letzteres findet sowohl in der Übertreibung wie im Herunterspielen statt. Die doppelte Herausforderung besteht darin, die selektiven Wahr-nehmungen der Beteiligten in Politik und Öffentlichkeit genauso zu beachten wie den Erhalt der Glaubwürdigkeit in der Informationsübermittlung „Selektive Perzeption“ ist ein Grundübel nicht nur bei der Wahrnehmung internationaler Gefahrenherde, sie drückt sich generell in der übersteigerten Wahrnehmung des Erwarteten und Akzeptierten sowie in der Unterdrückung der Wahrnehmung des Unerwarteten und Unbequemen aus. Jeder, der an Realitäten erinnert, ist ein Störenfried in der Wunschwelt ohne Probleme. Die unbewußte oder bewußt erzeugte „selektive Perzeption“ wird so zu einer eigenständigen Gefahr. Die Verantwortung für falsche -gleichgültig ob überzogene oder verminderte -Wahrnehmung ist groß. Das gilt gleichermaßen für den journalistischen wie für den politischen Umgang mit Informationen. Fähigkeiten und Absichten sind natürlich nicht frei von gegenseitiger Beeinflussung. Übergroße Rüstung z. B. schüchtert den Nachbarn ein und bringt in demokratisch nicht ausbalancierten Gesellschaften gefährliche Versuchungen mit sich. Regierungen mit hegemonialen und aggressiven Absichten verschaffen sich die Instrumente für die Realisierung ihrer „Absichten“. Dies kann sich gefährlich -z. B. in einer „Rückstungsspirale“ -aufschaukeln.

Mehr Informationen als je zuvor, aber...?

Ein entscheidender technischer Fortschritt der letzten Jahre ist der Siegeszug der Informationstechnologie. Satellitenaufklärung und weltweite Kommunikation sorgen verzugslos und immer umfassender für unsere Informationen über entfernte Ereignisse. Oft ist eine zu große Menge an Informationen aber eher ein Problem als der Mangel an Nachrichten. Bei der öffentlichen Information durch die Medien beobachten wir manchmal zusätzlich eine verzerrende Konzentration auf sensationelle und schockierende Aktualitäten. Die scheinbare Omnipräsenz der Medien kann auch eine Vernachlässigung ganzer Regionen oder Themenbereiche verdecken. Informationen können ferner in den Dienst von Kampagnen gestellt werden und so die politische Tagesordnung bestimmen. Deshalb muß auch die Nutzung der veröffentlichten Informationen der sorgfältigen Analyse auf Nachricht und Meinung unterzogen werden, bevor man politische Schlußfolgerungen daraus zieht. Die Nutzung der internationalen Datennetze, wie z. B.des Internet, führt zu einer Revolution der Informationsversorgung der Politik wie auch von Millionen von Bürgern. Falsch-information, selektive Information und extremi-stischer Mißbrauch sind dabei nur schwer zu vermeiden. Es kann ein Eindruck von Kompetenz erzeugt werden, der nicht gerechtfertigt ist.

Die Nachrichtendienste haben den staatlichen Auftrag der Beschaffung, Korrelation und Feststellung von Informationen. Ihre gedankenlose Verteufelung zeugt von Kurzsichtigkeit. Es muß eine Forderung der Bürger sein, daß alles getan wird, um die eigene Führung vor der Entwicklung von Gefahren für die Sicherheit rechtzeitig zu warnen.

Die Trilogie der Elemente von Konflikten

In den meisten Konflikten der Geschichte und der Gegenwart hatten und haben wir es -unbeschadet der vielfältigen Konfliktgründe -mit der Kombination von drei Erscheinungen zu tun: -Es ging und geht um die menschliche Natur, um menschliches Fehlverhalten, von der leichten Fahrlässigkeit bis zum unentschuldbaren Kriegsverbrechen. Konflikt und Krieg können leider nicht ein für allemal abgeschafft werden.

Machthunger, Neid, Intoleranz, abenteuerlicher Leichtsinn und im wahrsten Sinne des Wortes lebensgefährliche Dummheit bleiben der Fluch der Menschheit. -Das zweite Element sind die sozialen Rahmenbedingungen von Konflikten Sie führen entweder zum realen Kampf ums Überleben oder bedeuten doch mindestens die Anfälligkeit von Völkern für Unfriedlichkeit, für hegemoniale Bestrebungen oder für Blitzableiterabenteuer.

Soziales Elend, vor allem auch fehlende Bildung, dienen als Nährboden für religiösen oder anderen Fundamentalismus, für unversöhnlichen Haß und Erziehung zum Feindbild. -Wenn die Bedingungen einer unfriedlichen Führung und der Verführbarkeit des Volkes gegeben sind, entsteht der Wunsch nach einer Rüstung, die über das objektive Bedürfnis zur eigenen Verteidigung hinausgeht. Mit der Verfügbarkeit von Waffen und anderen Machtmitteln können dann aus den beiden anderen Voraussetzungen internationale Krisen und Kriege folgen. Der Besitz von Waffen sollte daher national wie international an ein kontrolliertes Regime von demokratischer Verantwortung und vereinbarter Begrenzung gebunden sein. An dieser unheiligen Trilogie aus Machtgier und Dummheit, schlechten sozialen Rahmenbedingungen sowie der Verfügbarkeit von Rüstung zu Angriffshandlungen wird sich wohl auch in Zukunft grundsätzlich wenig ändern.

II. Der Katalog möglicher Konfliktursachen

Das Spektrum der Gründe und Anlässe zu Konflikten ist weit. Der folgende Ansatz ist eine von mehreren Möglichkeiten der Kategorisierung. Die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Problembereichen müssen dabei bewußt bleiben. Praktisch ist keiner der möglichen Konfliktgründe monokausal. Konflikt heißt in vielen Fällen auch nicht unmittelbar militärische Gewaltanwendung. Viele Mißstände und unfriedliche Verhaltensweisen können jedoch -vor allem, wenn mehrere von ihnen sich gegenseitig verstärkend gleichzeitig eintreten -zur Gefahr für den Frieden werden.

Territoriale Probleme

Die klassischen Kriegsgründe sind zunächst die territorialen Auseinandersetzungen. Sie haben die Menschheitsgeschichte seit jeher geprägt. Solange es Nationalstaaten gibt, wird es Grenzen und Konflikte darum geben. Expansionismus, Hegemonie-bestrebungen, Imperialismus und Autonomiestreben spielten und spielen eine zusätzliche Rolle. Die Bedeutung von Abgrenzungen auf See verdient besondere Erwähnung. Für manche Nationen hat ihre geographische Lage geschichtlich schicksalhafte Bedeutung gehabt. Stichworte sind hier Zentralmacht, Seemacht, Landmacht, Insellage, Pufferstaat sowie die Lage im Grenzbereich von Kulturen und Zivilisationen. Die Bedeutung der Geographie für die Politik ist Thema der Geopolitik

Weltweit bestehen immer noch jahrhundertealte ethnische und kulturelle Konflikte, die in teils irrationaler Weise ohne Anzeichen von Versöhnung bis in unsere Zeit wirken. Die geopolitische Lage gibt jedoch keine besonderen Rechte in bezug auf die Grenzen zu Lande und auf See. Das Völkerrecht ist hier ganz klar: Grenzen dürfen nur friedlich und im beiderseitigen Einvernehmen geändert werden. Überall, wo Grenzen gerade Linien auf der Karte sind, liegt allerdings die Vermutung nahe, daß die Willkür irgendeines Kolonialherrn diese Linien in der Vergangenheit gezogen hat. Auch Annexionen und staatliche Neuordnung durch den jeweiligen Sieger nach Kriegen haben uns ein Konflikterbe hinterlassen. Oft gab es dabei umfassende Vertreibungen und Umsiedlungen, oder es entstanden neue Minderheiten. Besonders problematische Beispiele hierzu liefern die Neuordnung des Territoriums von Österreich-Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg in den sogenannten „Pariser Vorortverträgen“ und die Neuziehung der deutschen Grenzen nach dem Zweiten Weltkrieg.

In aller Regel läßt sich der in diesen Maßnahmen enthaltene Konfliktstoff dadurch entschärfen, daß die neuen Grenzen völkerrechtlich verbindlich anerkannt und die Rechte so entstandener Minderheiten besonders sorgfältig beachtet werden. Die Geschichte und die vorhersehbare Zukunft Deutschlands in der Europäischen Union liefern hier das positive Beispiel, der Balkan um das frühere Jugoslawien das negative. Zerfallene, früher durch Diktaturen zusammengehaltene Bundestaaten wie Jugoslawien und die Sowjetunion hinterlassen oft ihren Nachfolgestaaten und der Staatengemeinschaft insgesamt eine Vielzahl von Folgeproblemen. So scheint es mehr oder weniger Zufall zu sein, ob eine Republik oder Teilrepublik der früheren Sowjetunion selbständig, teilautonom oder zu einer offenen Wunde im Inneren wurde: Moldawien wurde ein autonomer Staat, Tatarstan bekam eine weitgehende Teilautonomie innerhalb der Föderation, Tschetschenien und Dagestan kämpfen einen blutigen Krieg um ihre Selbständigkeit mit ungewissem Ergebnis.

Manches Grenz-oder Abgrenzungsproblem ergab und ergibt sich aus dem Ringen um sicherheitspolitisch wichtige Positionen. Ein klassisches Motiv von Expansionismus und Kolonialismus -die Sicherung des Zugangs zum Meer als Grundlage für Seeherrschaft -scheint im Zeitalter von Flugzeug und Interkontinentalraketen in den Flintergrund getreten zu sein. Angesichts der gestiegenen Abhängigkeit vom Seetransport und auch eingedenk der maritimen Aufrüstung in Teilen der Welt könnte dies allerdings nur eine vorübergehende Wahrnehmungsschwäche sein. Der Kampf um Meerengen, Seewege und Schiffahrtskanäle sowie um strategische Stützpunkte und Inseln bietet vor allem historisch, aber durchaus auch aktuell ein ganzes Bündel an Beispielen. Hier können nur einige Beispiele solcher Schlüsselpositionen angeführt werden: Bosporus und Dardanellen, die See-und Luftraumgrenzen in der Ägäis, Panama-und Suezkanal, die Straße von Malakka, die Straße von Hormuz, Diego Garcia, die Falklandinseln und viele andere mehr. Die Theorie von der strategisch gebotenen Präsenz an der jeweiligen „Gegenkü­ ste“, die auf Alfred Thayer Mahan zurückgeht ist nach wie vor hochaktuell. Das Interesse der USA an Bündnissen und Freunden in Europa und Asien zeigt dies deutlich. Im Zusammenhang mit der Aufnahme neuer ostmitteleuropäischer Mitglieder in der NATO war auch wieder die Rede von Rußlands Wunsch nach einem Sicherheitspuffer. Die russische Militärdoktrin führte den Begriff des „Nahen Auslands“ ein, in dem man vorgeblich besondere Rechte habe. Beide Forderungen sind völkerrechtlich nicht mit dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller Staaten vereinbar; sie stellen einen Rückfall in das Denken des 19. Jahrhunderts dar.

An bestimmten Territorien und maritimen Zonen gibt es ein vorwiegend wirtschaftliches Interesse. Dabei geht es um Öl, Gas, Wasser oder Erze. Auch die Eiweißversorgung der stetig wachsenden Weltbevölkerung macht den Fischreichtum bestimmter Zonen zum umstrittenen Gut. Die Sonderrechte in der Anschlußzone und in Ausschließlichen Wirtschaftszonen auf See führen zu Disputen über die Ziehung von Basislinien und Seeabgrenzungen Auch der Transport wichtiger Güter über See oder über Land gehört zu den konfliktträchtigen strategischen Interessen bestimmter Staaten. Die Wege, die das Öl und Erdgas aus dem Kaukasus und Zentralasien zum Weltmarkt finden oder finden sollen, rücken diesen Raum in das Blickfeld nicht nur der direkt beteiligten, sondern auch benachbarter Staaten.

Besonders kritisch erscheint in Zukunft die Auseinandersetzung um die Inseln im Südchinesischen Meer (Paracel-, Spratly-und andere Inselgruppen) nicht nur wegen der in der dortigen maritimen Wirtschaftszone festgestellten oder vermuteten Rohstoffe, sondern auch als Überwachungsstationen und Stützpunkte. Ansprüche werden erhoben von China, Vietnam, Malaysia, den Philippinen und Indonesien.

Das immer wieder zu konstatierende Wiederaufleben des Denkens vergangener Epochen zeigt sich auch darin, daß Träume von der Wiederherstellung früherer Großreiche noch nicht ausgeträumt sind . Die massive Agitation Rußlands gegen die Aufnahme souveräner Staaten als neue Mitglieder in die westlich orientierten Bündnisse zeugt davon. Dabei wurde die Freiheit, Bündnissen anzugehören oder diese zu verlassen, schon 1975 in der Hel­ sinki-Schlußakte auch von der Sowjetunion unterschrieben. Sonderrechte für Großmächte sind insofern im Völkerrecht nicht vorgesehen (Art. 2 UN-Charta „Souveräne Gleichheit der Staaten.“).

Menschenrechte und Minderheiten

Die Konflikte, die sich im Bereich von Menschenrechten und Selbstbestimmung ergeben, haben ihre Wurzeln vor allem in der Nichtbeachtung des Völkerrechts. Spätestens seit dem Völkermord durch NS-Deutschland stellt sich die Frage nach der sogenannten „Humanitären Intervention“. In diesem Fall wurde der Staatengemeinschaft die Antwort durch die grenzüberschreitende Aggression des Deutschen Reiches erleichtert. Das Problem besteht jedoch nach wie vor; das jüngste Beispiel ist der Kosovo. Ist die internationale Gemeinschaft berechtigt oder gar verpflichtet, in bestimmten Fällen -z. B. schlimmster Menschenrechtsverletzungen, von Völkermord oder humanitärer Katastrophen -in die sogenannten inneren Angelegenheiten eines Staates einzugreifen? Das Streben nach Verwirklichung von Menschenrechten durch unterdrückte Völker oder Ethnien geht nicht immer so friedlich ab wie beim Zusammenbruch der meisten kommunistischen Diktaturen in Europa. Leider ist es oft auch Ursache von Bürgerkriegen. Die Menschenrechtskommission, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, die Hochkommissare für Menschenrechte und der Hohe Kommissar der OSZE für nationale Minderheiten sind Einrichtungen der letzten Jahrzehnte, durch die deutlich wird, daß die Verletzungen von Menschen-und Minderheitenrechten von der Staatengemeinschaft nicht mehr nur als innerstaatliches Reservat angesehen werden. Unterschiedliche Vorstellungen von Menschenrechten sind besonders hervorgetreten im Vergleich zur Volksrepublik China und zum Islam. Bisher ist es den Vereinten Nationen bei ihren Menschenrechtskonferenzen gelungen, die universale Anerkennung der Menschenrechte weitgehend zu sichern. Die Kerndifferenzen zwischen den Kulturkreisen liegen im jeweiligen Toleranz-gebot, im Verhältnis des Individuums zur Gemeinschaft und in der Rolle der Frau. Die meisten Religionen dieser Welt sind prinzipiell friedlich. Rein religiös motivierte Kriege waren in der Geschichte eher selten. Es gibt jedoch überall den intoleranten Fundamentalismus. Auseinandersetzungen wie der „Clash of Civilizations“, den Samuel Huntington als Gefahr beschrieben hat sind kein unabweisliches Schicksal, aber eine ernst zu nehmende Warnung. Ethnische und/oder religiöse Auseinandersetzungen werden oft nationalistisch mißbraucht, um vom eigenen innerstaatlichen Versagen abzulenken. Rassismus und Übersteigerung des Stellenwerts der eigenen Zivilisation enthalten den Keim der Gewalt.

Die Demokratie ist weltweit als die -unter den gegebenen Bedingungen -optimale Staatsform anerkannt. Die Wirklichkeit dieser Welt ist jedoch vielerorts ganz anders. In allen Kontinenten finden wir nach wie vor Diktaturen von Individuen oder von Systemen. Nicht kontrollierte Macht neigt zum Mißbrauch und zum Ausufern. „Failing States“, d. h. Staaten, die durch Zusammenbruch der innerstaatlichen Strukturen eigentlich keine mehr sind, werden zur Gefahr für ihre eigenen Bevölkerungen wie für ihre Nachbarn, wenn zum humanitären Chaos die fehlende Ordnungsfunktion hinzukommt. Nicht wenige Staaten Schwarzafrikas sind hier zu nennen. Auch Rußland ist ein Beispiel für die Bedeutung der Herrschaft des Rechtes für die Entwicklung, und zwar politisch, gesellschaftlich wie wirtschaftlich. Das Hauptproblem scheint stets das Fehlen einer funktionierenden Rechtspflege und Verwaltung zu sein. Der Staat verarmt, weil die Steuern nicht eingetrieben werden. So wird das Feld der mafiosen Kriminalität überlassen. Die internationale Migration ist stetig gestiegen. Die Gründe dafür sind vielfältig, sie liegen auch im Bereich der Menschen-und Minderheitenrechte. Besondere Gefahr bedeuten Massenflüchtlingsbewegungen nach humanitären oder ökologischen Katastrophen. Die Wanderung in Richtung größeren Wohlstandes und das Verlassen von Regionen ausgebeuteter und zerstörter Natur treffen oft zusammen. Ethnische Vertreibungen kommen hinzu. Offene Grenzen und Schutz der eigenen Volkswirtschaft sowie des eigenen Sozialsystems vor Überlastung sind zwei Ziele, die nur schwer miteinander vereinbar sind. Anfang 1998 war die Hohe Kommissarin für Flüchtlinge für derzeit ca. 22, 4 Millionen Menschen auf der Flucht zuständig.

Wirtschaftliche und soziale Probleme

Große Teile der Produktion werden heute aus Gründen der Marktnähe, der billigeren Lohnkosten und der Diversifizierung aus den Industrieländern ins Ausland verlagert. Weltweite Transport-wege verbinden Länder und Regionen. Sie bleiben Achillesfersen der internationalen Beziehungen unter dem Aspekt möglicher Krisenanfälligkeit. Die internationalen Finanzmärkte arbeiten rund um die Uhr. Ihre Umsätze sind astronomisch -man spricht von Tagesumsätzen bis zu 1, 5 Billionen US-Dollar. Die Liberalisierung des Welthandels und verstärkte internationale wirtschaftliche Verflechtungen haben sowohl positive als auch risikoverstärkende Effekte: Die Anfälligkeit z. B. gegenüber Störungen von Verkehrsverbindungen und Währungsrelationen ist verstärkt. Synergiewirkungen durch größere Märkte und mehr Wettbewerb kommen allen Teilnehmern zugute. Allerdings ist der Versuchung, tarifäre durch nicht-tarifäre Handels-hemmnisse zu ersetzen, zu widerstehen. Die Staatengemeinschaft bekommt durch die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds einen konstruktiven Einfluß auf die wirtschaftliche Entwicklung der Empfängerländer internationaler Hilfe. Höhere internationale Verschuldung bedeutet unter Umständen aber auch höhere Abhängigkeit. Intensive Handelsbeziehungen sind als Verknüpfungen des wirtschaftlichen Wohlergehens vertrauensbildende Maßnahmen; sie fördern menschliche Bindungen und Kenntnisse übereinander. Sie sind jedoch nicht konfliktfrei, vor allem weil zu oft das protektionistische Verhalten der Starken zunächst zu obsiegen scheint.

In den letzten Jahren gab es -absolut gesehen -weltweit eine leicht wachsende Nahrungsmittel-produktion, mit Ausnahme von Subsahara-Afrika. Seit 1995 wird aufgrund des Bevölkerungswachstums erneut eine abnehmende Pro-Kopf-Erzeugung registriert. Das Problem ist nicht in erster Linie der Mangel, denn es gibt Regionen großer Überproduktion. Verteilungs-und Transportprobleme, die allgemeinen wirtschaftlichen Bedingungen und Infrastrukturmängel jedoch führen dazu, daß noch immer ca. 780 Millionen Menschen chronisch unterernährt sind. Wir beobachten einen Wettlauf zwischen Bevölkerungsentwicklung und Nahrungsmittelproduktion. In entwickelten Ländern steigt die Nahrungsmittelproduktion etwa doppelt so schnell wie die Bevölkerung. In Entwicklungsländern dagegen beträgt die Steigerungsrate nur zwei Drittel des Bevölkerungswachstums. Auch die Vorräte an Trinkwasser und Wasser für die Landwirtschaft in bestimmten Regionen erweisen sich mehr und mehr als begrenzt. Die Trinkwasserversorgung besonders der ständig größer werdenden Metropolen der Dritten Welt ist heute schon kritisch. Grenzübergreifende Gewässer bedeuten Macht für den Staat am Oberstrom. Beispiele sind die Türkei, Israel oder der Sudan. Eine der klassischen Konfliktursachen, das Erdöl, ist durch Diversifizierung und neue Exploration weitgehend entschärft. Es geht heute weitgehend um die Fragen der Preisgestaltung und die Strek-kenführung der Pipelines. Die Förderung wie Lieferung von Erdgas und Erdöl ist in Zentralasien/Kaukasus eine der Streitfragen, die sich dort mit anderen Interessen der Türkei. Rußlands, der Ukraine, der Kaukasus-Staaten, des Iran und des Westens verbinden. Diversifikation der Bezugsquellen und Rohstoffmaßnahmen bedeuten auch geringere Einkünfte und weniger Macht für die rohstoffreichen Länder. Die Bemühungen um weniger Verbrauch, die Erschließung neuer Energieformen und das Recycling begrenzter und wertvoller Rohstoffe reduzieren ebenfalls die Abhängigkeiten. Der Meeresbodenbergbau über die Erdöl-und Erdgasförderung hinaus (Mangan-Knollen oder andere Erze) wird z. Z. noch nicht gebraucht, weil er sehr teuer ist und terrestrische Lager mengenmäßig hinreichend wirtschaftlich und zugänglich sind.

Eines der gravierendsten Probleme, das zumal in der Dritten Welt nicht nur eine Besserung der sozialen Verhältnisse verhindert, sondern auch den Nährboden für nationale und internationale Krisen liefert, ist die Bevölkerungsexplosion. Hohe Geburtenzahl, sinkende Kindersterblichkeit und steigende Lebenserwartung sind gleichermaßen mitverantwortlich. Die Rolle der Frau und der großen Familie im Sozialsystem sind dabei von besonderer Bedeutung. Religiös-kulturelle Normen gegen die Geburtenkontrolle und für den Kinderreichtum erschweren die Eindämmung der Bevölkerungsexplosion. Landflucht und Verelendung in den rasch wachsenden Millionenstädten sind unruheträchtige Folgeerscheinungen. Die aktuelle Bevölkerungsprognose der UNO geht von einer Steigerung von z. Z.sechs Milliarden auf 8, 9 Milliarden in 50 Jahren aus. Folgen sind Hunger, Umweltschäden, soziale Unruhen und Migration. Wir beobachten auch eine bevölkerungsmäßige Kontinentalverschiebung: Im reichen Norden sinkende Bevölkerung, im armen Süden immer noch steigende. Armut und Umweltzerstörung, schlechte Regierung und die Landflucht in weiten Regionen lassen auch Seuchen wieder zu internationalen Problemen werden. Der Analphabetismus ist noch lange nicht überwunden. Mangelnde Bildung bedeutet verstärkte Anfälligkeit für Demagogie und Verführbarkeit durch Medien. Abhilfe kann nur durch nachhaltige, geduldige Bemühungen geschaffen werden.

Die Umweltzerstörung kennt keine nationalen Grenzen. Dabei geht es meistens um internationale Auswirkungen nationalen Fehlverhaltens -ob es Gefahren für das globale Klima oder die Versteppung weiter Gebiete z. B. in Zentralasien oder Afrika betrifft. Es handelt sich zumeist um weitreichende Herausforderungen, die der einzelne Natio­ nalstaat nicht mehr bewältigen kann. Auch hier gilt -wie bei der Landesverteidigung -der Vorrang der strategischen Investition vor der taktischen Einsparung. Schon heute sind Millionen Menschen auf der Flucht, weil ihre natürlichen Lebensbedingungen zerstört sind: z. B. durch die Auslaugungseffekte der künstlichen Bewässerung (Baumwolle in Zentralasien und am Nil), durch Verbrauch natürlicher Ressourcen (Holz in der Sahelzone). durch Verkarstung nach forstlichem Raubbau oder die durch Nuklearversuche hinterlassenen Wüsten (Zentral-asien). Umweltzerstörung hat fast immer innerstaatliche Ursachen, ist aber nur durch harmonisierte internationale Maßnahmen zu bekämpfen. Gleichzeitig werden auch moderne Industriegesellschaften immer anfälliger gegen Unfälle in chemischen Industrien. Atomanlagen oder die Unterbrechungen der Strom-und Wasserversorgung.

Das internationale organisierte Verbrechen

Jeder Bruch des Rechtes -sei es durch Staaten, Gruppen oder Individuen -ist eine Konfliktursache und stellt die Staaten und die Staatengemeinschaft vor die Forderung, das Recht aufrechtzuerhalten. Die Grenzen zwischen staatlichem Völkerrechtsbruch und kriminellen Handlungen sind dabei fließend. Die unberechenbare Bedrohung durch terroristische Banden, Exilanten von Bürgerkriegsparteien, gewalttätige Sekten oder Einzeltäter erfährt immer häufiger Hilfe durch fremde Staaten. Dennoch muß zwischen privater Kriminalität und staatlichem oder staatlich gefördertem Rechtsbruch unterschieden werden. Staats-terrorismus kann aktiv veranlaßt oder geduldet werden. Terroristische Aktionen sind schwer vor-herzusagen, kaum mit dauerhaftem Erfolg präventiv zu entschärfen und nur mangelhaft abzuwehren. Dabei wird uns bewußt, wie psychologisch empfindlich und technisch sensitiv unsere Gesellschaft gegen den Terrorismus ist. Das jüngste Beispiel liefern die terroristischen Angriffe auf große Wohnkomplexe in Rußland durch offenkundig kaukasische Fundamentalisten. Es gibt auch immer noch Bereiche der ungeminderten rechtswidrigen Verbreitung von Waffen. Handfeuerwaffen, strahlende und hochgiftige Materialien und Sprengmittel sind in der privaten wie der staatlichen Rechtsverletzung zu finden. Bandenkriminalität hat zunehmend internationale Dimensionen. Ursachen wie Zielsetzungen der internationalen Kriminalität können dabei sehr verschieden sein. Russische Mafia, chinesische Triaden und das Medellin-Kartell sind Stichworte für das globalisierte Verbrechen. Der Handel mit Drogen, Waffen, gestohlenen Autos, ja auch mit Menschen in Form von Prostitution und Schleppertätigkeit blüht besonders in Bereichen großen Wohlstands­ gefälles. Schutzgelderpressung und Korruption kennen keine Grenzen. Der Drogenhandel setzt nach Schätzungen des Bundeskriminalamtes jährlich weitweit ca. 800 Mrd. DM um; dieses Geld stammt überwiegend aus kriminellen Aktivitäten und wird zumeist ebenso kriminell weiterverwendet. Geldwäsche und Finanzmanipulationen vereinen internationale Verbrecher und Gentlemen-Ganoven. Der Menschenschmuggel durch Schlepperbanden bedient sich unglaublich grausamer Methoden. Die Piraterie ist wieder da; besonders in der Straße von Malakka und vor der westafrika-nischen Küste werden selbst große Schiffe von Schnellbooten aus überfallen und ausgeraubt.

Streitkräfte und Rüstungskontrolle

Obgleich Streitkräfte eher Konfliktinstrumente und weniger Konfliktursache sind, soll hier kurz auf ihre Rolle eingegangen werden. Der Umschlag vom Instrument der Sicherheit zum Risiko für die Sicherheit ist schwer zu definieren. Die Staaten haben nach Artikel 51 UN-Charta das Recht, sich und ihre Bündispartner zu verteidigen. Von ihnen wird auch die Beteiligung an der Durchsetzung von Mandaten des Weltsicherheitsrates erwartet. Wieviel Verteidigung aber ist genug? Die Waffenproliferation bei den Massenvernichtungswaffen und deren Trägerraketen, bei den leichten Waffen und Sprengmitteln sowie im maritimen Bereich ist besorgniserregend. Die Maschinenpistole, die Machete und leichte Sprengmittel (u. a. Minen) haben in den letzten Jahrzehnten mehr Menschen getötet als Panzer und Artillerie, Bomber und Kriegsschiffe, geschweige denn Nuklearwaffen.

III. Folgerungen für die Sicherheitspolitik

Zusammenfassend werden die wichtigsten Folgerungen für die Wahrnehmungen und Einstellungen zur Welt von morgen, für die strategischen und strukturellen Grundentscheidungen sowie für die sicherheitspolitischen Herausforderungen skizziert.

Wahrnehmungen und Einstellungen

Zum realistischen Umgang mit den Gefahren für die Sicherheit von morgen ist als erstes eine Schärfung der Sinne und eine Weitung des Horizontes zu empfehlen. Die Menschen sitzen immer wieder falschen Alternativen auf. Vereinfachungen und Vorurteile reichen als Erklärungsmuster nicht aus. Die Analyse der Gefahren für die internationale Sicherheit verlangt nach größter Nüchternheit und UnVoreingenommenheit. Lagefeststellung und Lagebewertung sollten sorgfältig voneinander getrennt werden. Fakten sind so vollständig, wahrheitsgetreu und aktuell wie möglich zusammenzutragen, zu korrelieren und festzustellen, bevor man Urteile fällt oder Konsequenzen zieht. Das Schlagwort „Globalisierung“ ist in aller Munde. Es handelt sich dabei jedoch nicht nur um eine wirtschaftliche Erscheinung. Auch Kommunikation und Information, Umweltgefährdung, Ernährungsversorgung, Energiesicherung, Migrationsgefahren, Waffenproliferation, Drogenhandel und die allgemeine Kriminalität entwickeln sich zunehmend weltweit. Wir beobachten eine mehrfach widersprüchliche Lageentwicklung: vielfache Tendenzen zur Globalisierung vieler Felder internationalen Handelns und gleichzeitig eine Revitalisierung partikularer und isolationistischer Denkweisen. Bei den Deutschen rangiert das Interesse an Außenpolitik in demoskopischen Analysen unter „ferner liefen“. Wir reden zwar gerne von der „Einen Welt“ oder dem „Global Village“. Die gestiegene internationale Abhängigkeit und Einbindung, die vielfältigen Interdependenzen des Handelns und Unterlassens sind jedoch nur unzureichend bewußt. Die Analyse und Bewertung von Risiken und Herausforderungen für die Sicherheit muß einen entsprechend weiträumigen Blick nehmen. Solidarisches Handeln muß dem folgen. Die vielschichtige Welt von morgen braucht ein Minimum an verbindlichen Rahmenbedingungen. Nur zwei Beispiele aus Völkerrecht und Ökonomie seien hier genannt: -Die universalen Menschenrechte sind der Staatengemeinschaft anvertraut. Bei massiven Verletzungen muß das Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Nationalstaaten eingeschränkt werden. Die Charta der Vereinten Nationen enthält wichtige Rechte, aber sie erlegt den Staaten auch Pflichten auf. -Durchgehende Reglementierung und zentrale Kommandowirtschaft haben gerade erst ihre mangelnde Eignung nachgewiesen. Sie haben sich im Vergleich zum Wirken der Märkte eindeutig als unterlegen gezeigt. Der Wildwuchs der realen Globalisierung birgt aber auch die Gefahr in sich, die soziale und ökologische Gemeinwohlorientierung außer acht zu lassen.

Kernforderungen an Strategie und Strukturen

Wie die Erkenntnis von der Unzulänglichkeit und Tücke vieler monokausaler (Schein-?) Alternativen gehört auch die Reduzierung der Gefahren auf ein Szenario oder wenige Szenarien zu den Risiken unserer Tage. Die Vielfalt der Szenarien und das „Taktik-Strategie-Dilemma“ sollte auch einer größeren Öffentlichkeit bewußt werden. Die Konflikte auf dem Balkan haben viele Lehren für die Sicherheitspolitik von morgen zu bieten. Diese sind jedoch nur ein Ausschnitt aus dem Spektrum. Es wäre z. B. angesichts der möglichen Entwicklung internationaler Gefahren unverantwortlich, die militärische Strategie und daraus sich ergebenden Streitkräftestrukturen einseitig nur auf den Aufgabenschwerpunkt von Friedensinterventionen wie in Bosnien und im Kosovo umzustellen. Die Welt ist in Bewegung, alle Risikobetrachtungen gelten als vorläufig; sie beziehen sich zumeist auf Erfahrungen der Vergangenheit und Gegenwart. Sie können sich ändern, ja sie werden sich ändern. Die Wahrscheinlichkeit der Veränderung, der dynamische Charakter der Verhältnisse gehört zur Lagebeurteilung. So sind z. B. Krisenbewältigung und Wiederaufbau nach überstandener Krise durch Soforthilfe, Hilfe zur Selbsthilfe und nachhaltige Entwicklung im Verhältnis zu anderen Krisenherden dieser Welt nicht die einzigen Alternativen, sondern es sind durchaus auch andere, problematischere Entwicklungen vorstellbar. Jedoch ist grundsätzlich die frühe Therapie nach sorgfältiger Diagnose nicht nur im medizinischen Bereich der Notoperation vorzuziehen.

Die weiter zunehmende Vielfalt und Variationsbreite der Herausforderungen und Risiken für unsere Sicherheit ist, wie dargestellt, ein wichtiges Argument für ein neues Verständnis von Sicherheitspolitik, für einen erweiterten Sicherheitsbegriff. Die Bedeutung von Synopse und Synergie wird dabei deutlich. Unsicherheit und mangelhafte Prognosefähigkeit machen „Blue Prints“ der Zukunft der internationalen Gemeinschaft unmöglich, sie verlangen vielmehr nach Pragmatismus. Pragmatismus und Dynamik steigern jedoch zugleich auch die Bedeutung der Orientierung an Werten und grundsätzlichen Interessen. In Deutschland -dem Land der hervorragenden Spezialisten -ist die Gefahr groß, die notwendig gewordene Gesamtschau im Sinne des „Erweiterten Sicherheitsgefühls“ aus dem Auge zu verlieren, sich im Zuständigkeitsdenken oder in Details von Haushaltskapiteln zu verrennen. Zu diesem Zweck sind synergiefördernde Institutionen und Strukturen zu stärken. Die Instrumente der Sicherheitspolitik müssen dem entsprechen. Ein leistungsfähiger Auslandsnachrichtendienst muß im Interesse des Staates und seiner Bündnisse, d. h. im NATO-und im EU-Verbund, das ganze Spektrum möglicher Gefahren im Blick behalten. Unsere Fähigkeit zur internationalen, multinationalen und supranationalen Zusammenarbeit ist nicht nur im Rahmen einer hervorragenden Diplomatie, sondern in allen Bereichen der Sicherheitspolitik zu fordern. Unsere Streitkräfte müssen sich auf ein vergrößertes, nicht verengtes Aufgabenspektrum einstellen. Flexibilität und Mobilität müssen ständig erhöht werden. Verantwortliche Sicherheitspolitik und Zukunftsplanung darf angesichts des herkömmlichen Nahbereichsdenkens aus den gegenwärtigen Einsatzaufgaben heraus die Notwendigkeiten anderer Risikokategorien nicht aus dem Auge verlieren. Luftverteidigung -vor allem gegen Flugkörper -, maritime Aufgaben und auch die Aufwuchsfähigkeit von Reserven könnten früher gefragt sein, als es heutige Szenarien vermuten lassen.

Herausforderungen an Politik und Gesellschaft

Alle Politikbereiche haben auch mit Sicherheitspolitik zu tun; keiner kann sich hier seiner politischen Mitverantwortung entziehen. Das sollte sich auch in den Strukturen von Regierung und Parlament niederschlagen. Der Bundessicherheitsrat sollte eine größere Rolle spielen. Ressortminister und Fachausschüsse des Parlaments müssen institutioneil mehr als bisher zur Zusammenschau und zum Zusammenwirken im Sinne ihrer Mitverantwortung für die Sicherheit veranlaßt werden. Dies muß natürlich auch Folgerungen für die Fortbildung von Führungskräften aller Bereiche haben. Die Bundesakademie für Sicherheitspolitik ist auszubauen und nach Berlin zu verlegen. Es dürfte unzweifelhaft sein, daß die Herausforderungen von morgen weiträumig, ja in vielen Bereichen global sind. Vielfach scheinen jedoch die Bürger und ihre Staaten von der komplexen Problematik überfordert zu sein. Demokratie braucht prinzipiell das Verständnis der Bürger. Sie müssen nicht alle Details erfassen können, die Politik muß sich jedoch erkennbar um Transparenz und Mitwirkung bemühen. Intensive politische Bildung und eine größere Klarheit der politischen und institutionellen Strukturen muß gegen das nachlassende Interesse der Bürger an der Außen-und Sicherheitspolitik wirken. Das Bewußtsein der Fragwürdigkeit aller Prognosen muß wiederum die Propheten und Fachleute bescheiden machen. Es besteht die Gefahr, daß die Sicherheitspolitik als Sache weniger Spezialisten in den Hintergrund gedrängt wird. Sie geht aber alle an. Das westliche Bündnis und die Integration Europas bleiben Kernaufgabe unserer Sicherheit. Das aber bedeutet, daß die politische Klasse und alle Bürger auch in Zeiten, in denen das eigene Territorium und Überleben nicht unmittelbar bedroht zu sein scheinen, keinem Trugschluß erliegen und der Sicherheitspolitik nachhaltig, d. h. nicht nach konjunkturell schwankender Tagespolitik, hinreichende Aufmerksamkeit und Priorität widmen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zur Vertiefung der hier angesprochenen Fragen sei zunächst auf folgende periodisch erscheinende Literatur hingewiesen: International Institute for Strategie Studies (IISS) mit den Publikationen: Military Balance; Militärischer Kräftevergleich, erscheint jährlich im Oktober; Oxford University Press (ISSN 0459-7222); Strategie Survey; Sicherheitspolitische Analyse, erscheint jährlich im April; Oxford University Press (ISSN 0459-7230); Strategie Comments; ca. 50 Kurzanalysen im Jahr zu aktuellen sicherheitspolitischen Fragen; IISS (ISSN 1356 -7888); Survival: Vierteljahreszeitschrift zur Sicherheitspolitik; Oxford University Press (ISSN 0039 -6338); Adelphi Papers; Einzelanalysen zu sicherheitspolitischen Themen; erscheint monatlich; Oxford University Press (ISSN 0567-923X). Ein besonders ergiebiger Zugang zur Sicherheitspolitik im Internet ist das International Security Network der ETH Zürich -http: //Externer Link: http://www.isn. ethz. ch. Insgesamt zum Thema vgl. Dieter Wellershoff, Mit Sicherheit. Neue Sicherheitspolitik zwischen gestern und morgen. Bonn 1999.

  2. Vgl. Ulrich Sarcinelli (Hrsg.). Politikvermittlung und Demokratie in der Mediengesellschaft, Wiesbaden 1998.

  3. Vgl. Peter J. Opitz (Hrsg.). Weltprobleme. Globale Herausforderungen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, (Bundeszentrale für politische Bildung), Bonn 19954; Ingomar Hauchler/Dirk Messner/Franz Nuschelet'(Hrsg.), Globale Trends 1998. Fakten, Analysen, Prognosen, Frankfurt am Main 1997.

  4. Vgl. Heinz Brill, Geopolitik heute. Deutschlands Chance?, Frankfurt am Main -Berlin 1994.

  5. Vgl. Alfred Thayer Mahan, The Influence of Sea Power upon History, Washington 1870, Neudruck New York 1987.

  6. Diese Fragen sind im Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen von 1982 geregelt; vgl. Völkerrechtliche Verträge, hrsg. von Albrecht Randzeishofer, Berlin 1995.

  7. Einen Katalog aller Menschenrechtsinstrumente enthält die Internet-Seite der Hochkommissarin für Menschrechte: http: //Externer Link: http://www.unhchr. ch; vgl. ferner: Menschenrechte, ihr internationaler Schutz, Textausgabe mit Einführung von Bruno Stimma und Ulrich Fastenrath, München 1998; Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 19993.

  8. Vgl, Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München -Wien 1996.

  9. Vgl. http: //Externer Link: http://www.undp.org/popin.

  10. Vgl. hierzu D. Wellershoff (Anm. 1), S. 136 ff.

Weitere Inhalte

Dieter Wellershoff, geb. 1933, Admiral a. D.; Kommandeur der Führungsakademie der Bundeswehr, Inspekteur der Marine, Generalinspekteur der Bundeswehr (1986-1991); danach Gründungspräsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Bonn, und Lehrbeauftragter an der Ruhr-Universität Bochum. -Veröffentlichung u. a.: (Hrsg.) Freiheit -Was ist das?, Herford 1984; (Hrsg.) Frieden ohne Macht? Sicherheitspolitik und Streitkräfte im Wandel, Bonn 1991; Führen. Wollen -Können -Verantworten, Bonn 1997; Mit Sicherheit. Neue Sicherheitspolitik zwischen gestern und morgen, Bonn 1999.