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Frühe Neuzeit | Jüdisches Leben in Deutschland vor 1945 | bpb.de

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Frühe Neuzeit

Miriam Rürup

/ 2 Minuten zu lesen

Auflagen beschränken die Ansiedlung und die Tätigkeitsfelder für Juden, ihre Duldung ist oft abhängig vom Grad ihrer Nützlichkeit. Jüdische Aufklärer wirken auf Anerkennung und Rechtssicherheit hin.

Die Zentren jüdischer Gelehrsamkeit hatten sich nach Osten verlagert, Prag wurde nun zum bedeutendsten Ort der jüdischen Gemeinschaft im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Auch die Reformation im 16. Jahrhundert brachte keinen grundsätzlichen Wandel: Juden war die Niederlassung nur noch in wenigen Reichsstädten gestattet, auf die Erlaubnis zur Niederlassung folgte häufig erneut eine Vertreibung.

Am 22. August 1614 wird die Judengasse in Frankfurt am Main geplündert und am darauffolgenden Tag werden alle Juden aus der Stadt vertrieben. Ausgangspunkt des Pogroms war der Unmut der Zünfte über die Misswirtschaft des Stadtrates, der sich an der jüdischen Bevölkerung entlud; Kupferstich von Matthäus Merian 1619. (© picture-alliance, akg-images)

Diese Situation änderte sich erst wieder in der Mitte des 17. Jahrhunderts nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618–1648). Die vor den Pestpogromen vergleichsweise urbane jüdische Minderheit war nun eine überwiegend ländlich geprägte Gemeinschaft. Eine neue Situation entstand zudem dadurch, dass nun auch Sefarden im deutschen Raum lebten. Diese "Conversos" waren in Spanien und Portugal zur Konversion, das heißt zum Übertritt zum Christentum, gezwungen worden und nach 1492 von der iberischen Halbinsel geflohen. Nun ließen sie sich in Amsterdam und ab 1600 auch in Hamburg nieder, wo sie häufig zum Judentum zurückkehrten. In Hamburg erhielten sie als Kaufleute und wegen ihrer guten Handelsbeziehungen ein begrenztes Niederlassungsrecht – Judenordnungen regelten den Aufenthalt von Juden und Jüdinnen in den vielen deutschen Territorien entsprechend unterschiedlich.

QuellentextWeltkulturerbe – die SchUM-Städte am Rhein

[…] Am dichtesten erhalten sind mittelalterlich jüdische Zeugnisse in Speyer, Mainz und Worms. Die drei Rheinstädte bilden die sogenannten SchUM-Stätten, was sich aus den Anfangsbuchstaben der mittelalterlichen hebräischen Städtenamen Schpira, Warmaisa (wie ein U gesprochen) und Magenza zusammensetzt. Staatliche Stellen und die Jüdische Gemeinde von Mainz haben seit 2004 an dem Antrag für die Aufnahme als Weltkulturerbe gearbeitet, ihn 2020 eingereicht […]. Seit der Spätantike gibt es hier jüdisches Leben – für Mainz sind urkundliche Nennungen aus dem zehnten Jahrhundert erste Zeugnisse, und hier wurde wohl schon um 900 eine Synagoge gebaut. Im Mittelalter wären die Städte ohne jüdisches Leben nur halb so lebendig, gelehrt, international vernetzt – und wohlhabend – gewesen.

Der Friedhof "Heiliger Sand" in Worms ist der älteste jüdische Friedhof Europas. Er weist rund 2000 Gräber auf. Seit 2021 gehört er als Teil der SchUM-Stätten zum UNESCO-Weltkulturerbe. (© picture-alliance/dpa, Frank Rumpenhorst)

Die drei jüdischen Gemeinden an der Handelsader Rhein waren Zentren religiösen und kulturellen jüdischen Lebens nördlich der Alpen ("Aschkenas"). Um 1220 gründeten sie durch die gemeinsame Verabschiedung von Gemeindesatzungen, die Historikern bis heute als "Satzungen der Gemeinden von SchUM" (Takkanot Kehillot SchUM) bekannt sind und die jüdische Kultur, Religion und Rechtsprechung in der Diaspora prägten, einen Verbund. Aus all diesen drei Bereichen haben sich in den drei SchUM-Stätten herausragende bauliche Zeugnisse vor allem des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts erhalten: die jeweiligen Synagogen und Friedhöfe für die Religion, die "Frauenschuln" als Beträume für Frauen, die im dreizehnten Jahrhundert erstmals in den SchUM-Gemeinden fassbar sind, und die "Mikwaot" für die Ritualbadkultur sowie die "Jeschiwot" als Lehr- und Lernhäuser. Die SchUM-Stätten waren aber auch integraler Bestandteil aller drei mehrheitlich christlichen Stadtgesellschaften, trotz vieler Rückschläge, die es etwa durch verheerende Pogrome und damit einhergehende Vertreibungen wiederholt gab.

Ein erstaunliches Dokument hat sich vom Speyerer Bischof und Stadtherrn Huzmann aus dem Jahr 1084 erhalten: "Im Namen der heiligen und unteilbaren Dreifaltigkeit. Ich, Rüdiger, mit Beinamen Huzmann, Bischof von Speyer, glaubte in meinem Bestreben, aus dem Dorf Speyer eine Weltstadt zu machen, die Ehre unseres Ortes durch Ansiedlung von Juden noch mehr zu heben." Diese zugegeben selten weitreichende Integration hatte im mittelalterlichen Speyer konkrete Auswirkungen: Die Juden hatten Handelsfreiheit sowie das Recht, Grundbesitz zu erwerben und einen eigenen Friedhof anzulegen. Der planmäßig konzipierte Komplex um die Speyerer Synagoge wurde zusammen mit der Stadterweiterung um 1080/90 ausgeführt, und an der monumentalen, elf Meter tief in den sandigen Untergrund geschachteten Mikwe waren wohl Mitglieder der Dombauhütte beteiligt. […]

Kunsthistorisch interessant ist, dass alle in den SchUM-Synagogenanlagen eingesetzten salischen und staufischen Stilformen später im Historismus des neunzehnten und noch des frühen zwanzigsten Jahrhunderts zum verbindlichen Baustil für alle weiteren Synagogen wurden. […]

In Worms, dessen Synagogenbezirk vor 1034 errichtet wurde, steht auch das Raschi-Haus, benannt nach dem 1040 im französischen Troyes geborenen Rabbi Schlomo ben Jizchak, der als bedeutender Gelehrter der SchUM gilt. […] Ebenso befindet sich in Worms die erste bekannte jüdische Frauenschule Europas aus dem dreizehnten Jahrhundert. In Speyer sind von der ebenfalls romanischen Frauenschule noch ein doppelbögiges Biforiums-Fenster und ein Hörfenster zu sehen.

In der Kurzform des Antrags heißt es: "Die SchUM-Stätten Speyer, Worms und Mainz bilden ein unvergleichliches Spektrum jüdischer Gemeindezentren und Friedhöfe aus dem 10. bis 13. Jahrhundert, die die kulturellen Leistungen europäischer Jüdinnen und Juden in der Formationsphase des aschkenasischen Judentums bezeugen." Dem ist nichts hinzuzufügen. Außer [dass dem Antrag 2021 stattgegeben wurde – Anm.d.Red.] […].

Stefan Trinks, "Späte Anerkennung", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. Juli 2021
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Gemeinsam war allen Angehörigen der jüdischen Gemeinschaft die Einschränkung der Freizügigkeit, sowie der streng reglementierte und ausgewählte Zugang zu Berufen – so waren Juden nicht für Zunftberufe zugelassen, konnten also nicht Handwerker werden. Als "Schutzjuden" der jeweiligen Landesherren waren sie an deren Wohlwollen gebunden und konnten sich somit nie vollends sicher fühlen, da dieser Schutz letztlich an ihre Nützlichkeit gekoppelt war. Ihr Aufenthalt war also noch lange kein Grundrecht, sondern ein Privileg, das verdient werden musste.

Diese Verknüpfung war es auch, mit der die deutsch-jüdische Minderheit in die Moderne eintrat. Im Zuge der Aufklärung im 18. Jahrhundert verfasste der preußische Beamte Christian Wilhelm Dohm 1781 die Schrift "Über die bürgerliche Verbesserung der Juden". Die Diskussion über die Stellung der Juden in der christlichen und sich zunehmend als deutsch verstehenden Gesellschaft beschäftigte auch die jüdischen Aufklärer, die Maskilim (von hebr.: Haskala, Aufklärung). Zu ihnen gehörte als bedeutendster Vertreter Moses Mendelssohn (1729–1786), der in seinen Forderungen an die jüdische Minderheit teilweise sogar über Dohm hinausging, gegenüber der Mehrheitsgesellschaft wiederum darauf drang, dass Juden als gleichberechtigte Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft unter Wahrung ihrer jüdischen Zugehörigkeit anerkannt werden. (siehe auch S. 4).

QuellentextMoses Mendelssohn – Plädoyer für jüdische Gleichberechtigung, 1782

Dank sei es der allgütigen Vorsehung, daß sie mich am Ende meiner Tage noch diesen glücklichen Zeitpunkt hat erleben lassen, in welchem die Rechte der Menschheit in ihrem wahren Umfange beherziget zu werden anfangen. Wenn bisher von Duldung und Vertragsamkeit unter den Menschen gesprochen ward; so war es immer die schwächere, bedrückte Partei, die sich unter dem Schutze der Vernunft und der Menschlichkeit zu retten suchte. […] Ist es Zweck der Vorsehung, daß der Bruder den Bruder lieben soll, so ist es offenbar die Pflicht des Stärkern, den ersten Antrag zu tun, die Arme auszustrecken, und […] zu rufen: Laß uns Freunde sein! – – Was aber auch über Toleranz bisher geschrieben und gestritten ward, ging bloß auf die drei im R R. [Heiliges Römisches Reich deutscher Nation; als gleichberechtige Konfessionen wurden Katholiken, Lutheraner und Calvinisten durch den Westfälischen Frieden von 1648 anerkannt – Anm. d. Red.] begünstigten Religionsparteien, und höchstens auf einige Nebenzweige derselben. An Heiden [keiner monotheistischen Religion angehörig – Anm. d. Red.], Juden, Mahometaner [veraltete Form von Muslim/Muslima – Anm. d. Red.] und Anhänger der natürlichen Religion [Naturalisten; Religionen, deren Glauben an zentrale religiöse Wahrheiten geknüpft ist, die in der Natur der menschlichen Vernunft gründen und nicht in der Offenbarung – Anm. d. Red.] ward entweder gar nicht oder höchstens nur in der Absicht gedacht, um die Gründe für die Toleranz problematischer zu machen. Nach euern Grundsätzen, sprachen die Widersacher derselben, müßten wir auch Juden und Naturalisten nicht nur hegen und dulden; sondern auch an allen Rechten und Pflichten der Menschheit Teil nehmen lassen […]

Unterdessen mache ich mir das Vergnügen mit Herrn [Christian Wilhelm] Dohm über die Gründe nachzudenken, die der Menschenfreund hat, die bürgerliche Aufnahme meiner Mitbrüder zu begünstigen, über die mancherlei Schwierigkeiten, die sich dabei finden, und vielleicht zum Teil von Seiten der zu bildenden Nation selbst in den Weg gelegt werden dürften; und diese mit den Vorteilen zu vergleichen, die dem Staate zuwachsen werden, dem es zuerst gelingen wird, diese [oben genannten – Anm. d. Red.] […] zu seinen Bürgern zu machen, und eine Menge von Händen und Köpfen, die zu seinem Dienste geboren sind, auch zu seinem Dienste anzustrengen. – Als philosophischpolitischer Schriftsteller, dünkt mich, hat Herr Dohm die Materie fast erschöpft, und nur eine sehr geringe Nachlese zurück gelassen. Seine Absicht ist, weder für das Judentum, noch für die Juden eine Apologie [=Verteidigungsrede – Anm. d. Red.] zu schreiben. Er führet bloß die Sache der Menschheit, und verteidiget ihre Rechte. Ein Glück für uns, wenn diese Sache auch zugleich die unserige wird, wenn man auf die Rechte der Menschheit nicht dringen kann, ohne zugleich die unserigen zu reklamieren. […]

Merkwürdig ist es, zu sehen, wie das Vorurteil die Gestalten aller Jahrhunderte annimmt, uns zu unterdrücken, und unserer bürgerlichen Aufnahme Schwierigkeiten entgegen zu setzen. […] Man fährt fort, uns von allen Künsten, Wissenschaften und andern nützlichen Gewerben und Beschäftigungen der Menschen zu entfernen; versperret uns alle Wege zur nützlichen Verbesserung, und macht den Mangel an Kultur zum Grunde unserer fernern Unterdrückung. Man bindet uns die Hände, und macht uns zum Vorwurfe, daß wir sie nicht gebrauchen.

Mit Recht hat Dohm jene unmenschliche Anklagen der Juden, die die Merkmale der Zeiten und der Mönchszellen an sich tragen, in denen sie ausgeheckt worden, kaum einer flüchtigen Berührung gewürdiget. […] Er hat sich also bloß darauf eingeschränkt, diese der Kultur und verbesserungsreichen Zeiten angemessenere Beschuldigungen zu bestreiten, und dem philosophischen Vorurteile philosophische Gründlichkeit entgegen zu setzen. Indessen hat doch die Vernunft und der Forschungsgeist unseres Jahrhunderts noch bei weitem nicht alle Spuren der Barbarei in der Geschichte vertreten. Manche Legende der damaligen Zeit hat sich erhalten, weil noch niemanden eingefallen ist, sie in Zweifel zu ziehen. Manche sind mit so gewichtigen Autoritäten belegt, daß nicht jeder die Stirn hat, sie geradezu für Legende und Verleumdung zu halten. Andere haben sich den Folgen nach noch immer erhalten; obgleich sie selbst schon lange nicht mehr geglaubt werden. […]

"Soll Entscheidung von jüdischen oder christlichen Richtern geschehen?" Ich antworte, von obrigkeitlichen Richtern. Gleichviel, ob sie der jüdischen, oder einer andern Religion anhängen. Sobald die Glieder des Staats, welcher Meinung in Religionssachen sie auch zugetan sind, gleiche Rechte der Menschheit genießen; so kann auf diesen Unterschied nichts ankommen. Der Richter soll ein gewissenhafter Mann sein, und die Rechte verstehen, nach welchen er seinen Nebenmenschen Recht sprechen soll. […]

Mendelssohn, Moses [1782]: Vorrede zu Manasse ben Israels "Rettung der Juden", in: Moses Mendelssohn / Michael Albrecht (Hg.): Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum: mit dem Vorwort zu Manasse ben Israels Rettung der Juden und dem Entwurf zu Jerusalem, Philosophische Bibliothek, Bd. 565, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2005, S. 3 ff.; online unter Externer Link: https://meiner-elibrary.de/media/upload/leseprobe/9783787319923.pdf einsehrbar

QuellentextChaile Kaulla – Königlich Württembergische Hofbanquière

Chaile Raphael Kaulla kommt aus einer wohlhabenden jüdischen Familie, die ihr eine sorgfältige Erziehung bieten kann, zu der – ganz im Zeichen der Begeisterung der jüdischen Oberschicht für das Gedankengut der Aufklärung – auch der Unterricht in deutscher Sprache gehört.

1757 heiratet Chaile Kaulla Akiba Auerbach; da sich ihr Mann ausschließlich einem religiös akzentuierten Gelehrtendasein widmet, muß Chaile für den materiellen Unterhalt der Familie und die Erziehung der zahlreichen Kinder sorgen. Sie kann diese für das damalige jüdische Alltagsleben paradigmatische Rollenverteilung nutzen, um eine erfolgreiche Karriere im Wirtschaftsleben zu beginnen.

Chaile Kaulla ist in jeder Beziehung eine Ausnahmegestalt. Anders als die vielen jüdischen Frauen, die die Unternehmen interimistisch bis zur Geschäftsfähigkeit der Kinder tatkräftig führen und dann bescheiden in den Hintergrund treten, führt Chaile das Handelshaus Kaulla selbstbewußt von Anfang an als Chefin und vertritt es auch nach außen hin – gegenüber Landesfürsten, Beamten und Geschäftspartnern. Unterstützt wird sie von ihrem fähigen Bruder und Teilhaber der Firma, Jakob Raphael.

Die Basis des Geschäfts sind zunächst der Pferdehandel und Juwelenlieferungen, zeitweise auch der Salzhandel. Chaile Kaulla wird 1768 zur Hoffaktorin der Familie Fürstenberg in Donaueschingen ernannt. 1769 gelingt es ihr, freies Geleit für sich und ihre Waren zu erhalten.

Einen größeren Umfang gewinnen ihre Geschäfte, als sie Hoffaktorin für das Fürstentum Hohenzollern wird und die Firma ihren Sitz nach Hechingen verlegt. 1770 ernennt Herzog Karl Eugen von Württemberg Chaile zur Hoffaktorin; sie darf sich aber zunächst nicht in den Residenzen Stuttgart und Ludwigsburg niederlassen. 1777 wird ihr nach mannigfachen erfolglosen Bemühungen die Zollfreiheit für Lieferungen an den Hof – und damit eine deutliche Privilegierung gegenüber der Konkurrenz – zugestanden.

Schon frühzeitig betreiben die beiden Kaullas neben dem Waren- und Pferdehandel ein Bankgeschäft, doch kommen die ganz großen ökonomischen Erfolge erst mit den napoleonischen Kriegen, als die Kaullas als Heereslieferanten für die Armee des deutschen Kaisers und die Kreiskontingente auftreten, das Haus Hohenzollern-Hechingen bei der Aufbringung der französischen Kontribution unterstützen und als Vermittler in der Subsidienpolitik deutscher Fürsten fungieren.

1802 gründen die Geschwister auf Anregung Herzog Friedrichs von Württemberg ein eigenes Bankhaus, M. u. J. [Madame und Jakob] Kaulla; die Finanzgeschäfte werden also vom Warenhandel getrennt. Im gleichen Jahr beteiligt sich das Bankhaus Kaulla an der Gründung der Württembergischen Hofbank; die Kaullas halten die Hälfte des Gründungskapitals, der Herzog und spätere König bringt die andere Hälfte ein. Gegen die Etablierung dieser vom Landesherrn privilegierten Privatbank regt sich in der Kaufmannschaft erbitterter, aber erfolgloser Widerstand.

Nachkommen der Familie Kaulla sitzen in den Leitungsgremien der Bank, bis diese 1924 im Zuge des großen Privatbankensterbens in der Deutschen Bank aufgeht. Daß das Bankhaus überhaupt so lange überlebt hat, verdankt es seinen lukrativen Beziehungen zu den Rothschilds und einem vorsichtigen und konservativen Geschäftsgebaren.

Madame Kaulla ist also schließlich "Kgl. Württembergische Hofbanquière" geworden. Das Haus Habsburg verleiht ihr 1807 die große goldene Ehrenkette mit Medaille. 1806 erhalten fünf Mitglieder der Familie Kaulla mit allen Nachkommen die vollen Untertanenrechte in Württemberg.

Madame Kaulla, die die jüdischen Religionsgesetze stets streng beachtet, unterstützt großzügig karitative Einrichtungen: sie stiftet eine Talmudschule in Hechingen und initiiert die hochdotierte Kaullaische Familienstiftung. Die Inschrift ihres Grabsteines auf dem jüdischen Friedhof in Hechingen hält das Gedenken an die bedeutendste Hoffaktorin in Deutschland wach: "Hier ruht ein Weib, das groß in ihrem Volke, groß in ihrem Vaterlande gewesen."

Elfi Pracht, "Kaulla, Chaile (Karoline Raphael)", in: Jutta Dick / Marina Sassenberg (Hg.): Jüdische Frauen im 19. und 20. Jahrhundert, © 1993, Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg, S. 207 ff.

Prof. Dr. Miriam Rürup ist Historikerin und seit Dezember 2020 Direktorin des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien und Professorin an der Universität Potsdam.

Im Rahmen ihrer außeruniversitären Tätigkeiten ist sie Mitherausgeberin der Fachzeitschriften WerkstattGeschichte (seit 2002), Aschkenas (seit 2013) und des Leo Baeck Year Book (seit 2014) sowie der Online-Quellenedition "Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte". Außerdem ist sie als Fachredakteurin für Jüdische Geschichte beim Internetforum H-Soz-Kult tätig. Seit Januar 2020 ist sie Vorsitzende der Wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft des Leo-Baeck-Instituts in Deutschland.

Zu ihren Forschungsinteressen zählen die deutsch-jüdische Geschichte, Zeitgeschichte (insbesondere die Geschichte und Nachgeschichte des Nationalsozialismus) sowie Migrations- und Geschlechtergeschichte. Fussnoten