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Informationen zur politischen Bildung Nr. 335/2023

Wandel medialer Techniken

Sonja Ganguin Johannes Gemkow Anna-Maria Kamin Uwe Sander

/ 5 Minuten zu lesen

Mediale Techniken haben sich über die Zeit kontinuierlich gewandelt, stets begleitet von kontroversen Debatten. Die Einführung neuer Medien verläuft meist über Ablehnung, Annäherung und Akzeptanz.

Bibliotheken waren in früheren Zeiten die Hüter von Wissen und der weltlichen Ordnung: die größte Klosterbibliothek der Welt ist seit 1776 im Benediktinerstift Admont in der österreichischen Steiermark zu finden. (© picture-alliance, imageBROKER | Edwin Stranner)

Zur Verdeutlichung, wie kontrovers Medien schon seit der Antike diskutiert wurden, kann auf einen bekannten, über zweitausend Jahre alten platonischen Dialog zwischen dem Philosophen Sokrates und einem seiner Freunde, Phaidros, hingewiesen werden. Es handelt sich um einen fiktiven Dialog, der von dem Sokratesschüler Platon verfasst wurde. Dieser lässt Sokrates und Phaidros wie in einem Theaterstück wie folgt agieren: Phaidros berichtet Sokrates euphorisch, dass es mit der damals neuen Alphabetschrift möglich sei, Reden anderer Philosophen aufzuschreiben und so beliebig lang zu bewahren. Sokrates zeigt sich aber wenig angetan von dieser „Erfindung“ und weist sie mit folgenden Worten zurück: „Denn bei den Lernenden wird diese Kunst in den Seelen Vergessen schaffen durch Vernachlässigung der Erinnerung.“ Im Übrigen gibt es wegen der Abneigung des Sokrates gegen die Schrift keinen einzigen Originaltext des Philosophen aus dem antiken Griechenland des 5. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung.

Der Wandel medialer Techniken (hier als Beispiel die Einführung der Schrift) provozierte und provoziert noch heute solche skeptischen Reaktionen; bis das Neue schließlich zur Selbstverständlichkeit wird und den Alltag der Menschen beeinflusst und sogar die Struktur der Gesellschaft bestimmt. Unsere heutige Welt etwa hat durch die Schrift und später den Buchdruck über Jahrhunderte eine markante „Textform“ erhalten.

Der kanadische Philosoph Marshall McLuhan (1911–1980) beschreibt das in dem 1962 erschienenen Buch The Gutenberg Galaxy eindringlich. Sinnlich erfahrbar ist diese textliche Formung der Welt, wenn man sich zum Beispiel in eine der alten (Kloster-)Bibliotheken begibt, etwa in die Stiftsbibliothek Admont. Diese größte Klosterbibliothek der Welt, die sich in einem Benediktinerstift in der Obersteiermark in Österreich befindet, wurde 1776 fertiggestellt und präsentiert das Wissen ihrer Zeit in der vorherrschenden weltlichen und geistigen Ordnung. Die Bücher wurden, wie in modernen Bibliotheken, durch Regale und Nischen in Wissensbereiche aufgeteilt – und damit wurde auch die damalige Welt in eine herrschende Ordnung eingeteilt.

Mittlerweile kommt die Gutenberg-Galaxis an ihr Ende. Nicht mehr gedruckte Texte, sondern digital erfasste Daten in digitalen (Online-)Datenspeichern (z. B. einer Cloud) halten Wissen und Daten fest, unsichtbar und virtuell, nicht mehr sinnlich erfahr- und fassbar wie Bücher in einer wohlgeordneten Bibliothek.

Medien und Medienformen

Der Umgang mit neuen Medientechniken war und ist häufig von einem dreiteiligen Prozess gekennzeichnet: einer anfänglichen Ablehnung (siehe Beispiel Sokrates) mit nachfolgender Annäherung und schließlich einer Akzeptanz der Technologie (z. B. Druckmedien).

Dies zeigte sich historisch nicht nur bei der eben genannten Schrift, die in Form des Buches bis zum Universalmedium aufstieg und in Form der Presse bei der Bildung einer politischen Öffentlichkeit mitwirkte. Auch die Verbreitung des kommerziellen Fernsehens in Deutschland in den 1980er-Jahren und nicht zuletzt digitale Medienformen sind wiederholt zunächst Ablehnungen ausgesetzt (gewesen).

Dabei wurde immer deutlich, dass Medien nicht rein technisch, sondern immer auch sozial zu verstehen sind. Der Medienbegriff ist in seinen Ursprüngen natürlich oft mit technischen Funktionen konnotiert: Ein Fernglas erweitert die Sehfähigkeit, ein Filmband speichert Informationen und ein Satellit überträgt sie. Schließlich erfüllen Medien wie Bücher, Filme, Fernsehen oder soziale Medien Funktionen der Kommunikation. All diese technischen Formen der medialen Kommunikation sind aber in ein soziales Umfeld eingebettet.

Filme werden von Organisationen mit bestimmten – meist ökonomischen oder politischen – Interessen gedreht. Sie sind in einen institutionellen Rahmen eingebunden, wie beispielsweise bestimmte Vorgaben zum Jugendmedienschutz, oder in kulturelle Praktiken eingewoben, wie die Darstellung von Geschlechtern. Schließlich werden die Filme von einem Publikum gesehen, das sie für sich interpretiert und dessen Akzeptanz gleichzeitig zu einem Qualitätsmerkmal für die produzierenden Organisationen wird.

An diesen vielseitigen, miteinander verwobenen Aspekten zeigt sich, dass Medienkompetenz nicht auf die rein technische Handhabung eines Mediums verkürzt werden kann. In der pädagogischen Auseinandersetzung mit Medien hat sich die hilfreiche Unterscheidung von Bildung mit, über und durch Medien etabliert. Bildung mit Medien zielt auf den individuellen und selbstbestimmten Gebrauch mit bestimmten Medientechniken, wie einer Fotokamera, oder Medienangeboten, wie einer Sitcom, ab. Hier geht es also auch um die technische Handhabung, aber ebenso um ästhetisches und genussvolles Medienhandeln.

Mit Bildung über Medien ist beispielsweise die kritische Auseinandersetzung mit Mediensystemen und medialen Inszenierungsweisen ebenso gemeint wie eine kompetente Informationssuche. Schließlich wird mit Bildung durch Medien ein didaktisches Potenzial verbunden, indem Medien Lernvorgänge ermöglichen und erleichtern.

Medienkonstruktivismus

All diese Aspekte der Medienkompetenz sind heutzutage so wichtig, da Medien alle Bereiche unseres Lebens durchdringen und insofern alle Menschen – nicht nur Kinder und Jugendliche – über eine umfängliche Medienkompetenz verfügen sollten. Der deutsche Soziologe Niklas Luhmann (1927–1998) urteilte schon vor über 25 Jahren: „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.“ Medien sind nicht nur ein (manchmal verzerrter) Spiegel der Realität, sondern sie wirken aktiv bei der Kon­struktion von Realität mit. Das zeigt sich nicht nur in journalistischen Selektionskriterien oder den politischen Ausrichtungen von Tageszeitungen, sondern mittlerweile auch in bestimmtem politischen Informationsumgebungen auf Online-Plattformen wie Internetforen oder sozialen Medien.

Mit der Digitalisierung begegnen wir – von der Informations­recherche Einzelner über die Organisation von Unternehmen bis hin zur Handhabung digitalisierter bürokratischer Strukturen – überall auf unterschiedlichen Ebenen Kommunikationsmedien. Ein Leben ohne schnelle Suchmaschinen, ohne Chatgruppen mit Familie und Freunden, ohne die Nutzung von Streamingangeboten von der Couch aus, ohne die Cloudnutzung mit den Kolleg:innen oder ohne eine schnelle Terminvereinbarung mit öffentlichen Ämtern ist nur noch schwer vorstellbar. Die Geschwindigkeit, mit der neue Kommunikationsformen unser Leben heute verändern, ist historisch beispiellos.

(© picture-alliance, dieKLEINERT.de/Schwarwel | Schwarwel /)

Fake News, Filterblase oder Hatespeech – Medienkompetenz wird häufig als Allheilmittel für zeitgenössische Kommunikationsphänomene verstanden. Jedoch sind es nicht nur die problematischen Bereiche, die einen kompetenten Umgang mit Medien einfordern. Der Soziologe Jürgen Habermas fragt sich in seinem 2022 erschienenen Essay: „Wie der Buchdruck alle zu potenziellen Lesern gemacht hatte, so macht die Digitalisierung heute alle zu potenziellen Autoren. Aber wie lange hat es gedauert, bis alle lesen gelernt hatten?“.

Eine finale Antwort darauf, „wie lange“ es dauern wird, den Umgang mit der digitalen Medienwelt hinlänglich zu „erler­nen“, kann die vorliegende Darstellung nicht geben. Vielmehr soll gezeigt werden, welche bedeutende Rolle dem Konzept der Medienkompetenz heute zuteil wird.

Prof.‘in Dr. Sonja Ganguin ist Professorin für Medienkompetenz- und Aneignungsforschung am Institut für Kommunikation- und Medienwissenschaft und Direktorin des Zentrums für Medienproduktion an der Universität Leipzig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Medienkompetenz, Medienkritik, digitale Spiele und digitales Lernen.
E-Mail-Adresse: E-Mail Link: sonja.ganguin@uni-leipzig.de

Dr. Johannes Gemkow ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ), Teilstandort Leipzig. Am FGZ forscht Johannes Gemkow über den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Zusammenhalt und (teil-)öffentlicher Kommunikation populistischer Gruppierungen und Jugendlicher auf sozialen Medien.
E-Mail-Adresse: E-Mail Link: johannes.gemkow@uni-leipzig.de

Prof.‘in Dr. Anna-Maria Kamin ist Professorin für Medienpädagogik im Kontext von schulischer Inklusion an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Inklusive Medienbildung, das Lehren und Lernen mit digitalen Medien, Medien in der Familie und die Gestaltungs- und Entwicklungsorientierte Bildungsforschung.
E-Mail-Adresse: E-Mail Link: anna-maria.kamin@uni-bielefeld.de

Prof. Dr. Uwe Sander ist Professor (i.R.) für Medienpädagogik an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld. Seine Forschungsschwerpunkte sind Mediennutzung und Medienforschung sowie Jugend und Jugendkultur.
E-Mail-Adresse: E-Mail Link: uwe.sander@uni-bielefeld.de