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Kommentar: Verträgt sich politisches Engagement und Wissenschaft? Zur öffentlichen Position des Fachs Osteuropäische Geschichte | Russland-Analysen | bpb.de

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Kommentar: Verträgt sich politisches Engagement und Wissenschaft? Zur öffentlichen Position des Fachs Osteuropäische Geschichte Russland-Analyse Nr. 438

Corinna Kuhr-Korolev

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Die Osteuropäische Geschichte ist gefragt wie nie, denn Putin betreibt Geschichtsklitterung, die korrigiert werden muss. Doch welche Formate können Historiker:innen nutzen, um die Öffentlichkeit aufzuklären?

Putin sieht sich in der Tradition russischer Zaren. Das Reiterdenkmal des Bildhauers Étienne-Maurice Falconet für den russischen Zaren Peter den Großen auf dem Senatsplatz in St. Petersburg. (© picture-alliance/dpa, Friedemann Kohler)

Der Blick zurück in die Vergangenheit verspricht Orientierung gerade in Zeiten, in denen die Zukunft besonders im Dunkeln liegt. Wenn noch dazu auf der Region, in der die Katastrophe stattfindet, ein Schatten der Unkenntnis liegt, sind Leute gefragt, die Erklärungen liefern können. Entsprechend spürten Osteuropahistoriker:innen nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine deutlich, dass ihr Wissen plötzlich in den Medien sehr viel stärker gefragt war als zuvor. Die Nachfrage stieß auf große Resonanz im Fach, weil die von Putin betriebene Geschichtsklitterung eine eindeutige Reaktion und Richtigstellung verlangte. Schon seit den frühen 2000er Jahren veröffentlichten Kolleg:innen zahlreiche Studien zum russischen "Kampf um historisches Hoheitsgebiet", zu den eskalierenden memory wars im Osten Europas und dem Missbrauch historischer Argumentationen für propagandistische Zwecke. Der Vorstand des Verbandes der Osteuropahistoriker:innen bezog mit einem offenen Brief Stellung, als die russische Botschaft zum 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs einen Artikel Putins zur Deutung dieses Ereignisses per E-Mail an alle Institute für Osteuropäische Geschichte versandte (Externer Link: https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/geschichtspolitik_entspannungspolitik). Seit der Annexion der Krim war zudem spürbar, dass ein Teil der deutschen Öffentlichkeit russische Argumentationsmuster übernahm. Es herrschte weitgehende Einigkeit im Fach darüber, dass es in unserer Verantwortung lag, uns öffentlich klar zu positionieren, die Strategien russischer Propaganda aufzudecken und historisch unhaltbare Thesen zu widerlegen.

Vor diesem Hintergrund bewirkte der russische Angriff keine gewandelte Position im Fach, sondern die Bestätigung, dass Wissenschaft sich in gesellschaftliche Debatten einmischen und Expertise bereitstellen muss. Konkret bedeutete dies nach dem 24. Februar 2022, dass Kolleg:innen zunächst die historischen Aussagen, die Putin in seiner Kriegserklärung verlesen hatte, analysierten und entkräfteten. In den folgenden Monaten nutzten sie die unterschiedlichsten medialen Formate und gesellschaftliche Foren, um grundlegendes Wissen zur Geschichte und Gegenwart Russlands und der Ukraine zu vermitteln. Neben Interviews mit der Presse führten sie Gespräche in Schulen, nahmen an Gesprächen mit Bürger:innen teil und kooperierten mit Informationsportalen wie dekoder oder zeitgeschichte | online. Schwer zu beurteilen ist allerdings, wie groß der Einfluss auf politische Entscheidungsträger:innen und auf die Öffentlichkeit ist. Als eine Stimme in einem Chor mit Kolleg:innen aus anderen Wissenschaftsdisziplinen, Aktivist:innen von NGOs und Journalist:innen scheint die Osteuropäische Geschichte ein gewisses Gewicht zu haben.

Der Schock, den der russische Angriff hervorrief, führte zunächst zu einer Orientierungslosigkeit in breiten Kreisen der deutschen Bevölkerung. Verschiedene Positionen fanden Gehör. Mittlerweile lässt sich beobachten, dass Polarisierungen, die schon vorher bestanden hatten, sich wieder etablieren und dass es schwieriger wird, mit sachlichen Argumenten gegen eine Verharmlosung russischer Aggression oder einer Opferumkehr anzukommen. Sich als Historiker:in und Friedensforscher:in deklarierende Dilettant:innen, die mit Ängsten und Antiamerikanismus Geschäfte machen, gelingt es, eine große Zuhörer- oder Leserschaft zu gewinnen. Der Querdenkerdiskurs der Coronazeit findet hier eine Fortsetzung und neue Stoßrichtung. Angesichts des aggressiven und gelegentlich mit juristischen Mitteln geführten Kampfs um die öffentliche Meinung mag der Rückzug in den wissenschaftlichen Elfenbeinturm reizvoll sein, aber es ist nicht der Weg, den kritische Wissenschaft beschreiten sollte. Nicht jede und jeder muss ständig auf Twitter, Facebook oder anderen Kanälen präsent sein. Denjenigen, die sich weniger exponieren möchten, stehen verschiedene andere Möglichkeiten zur Verfügung, Position zu beziehen.

Wie jedoch verträgt sich gesellschaftspolitisches Engagement, das Partei ergreift, mit der Forderung, Wissenschaft müsse ausgewogen Ereignisse analysieren und bewerten? Welche Regeln sollten beachtet werden, damit das Ansehen von Wissenschaft nicht leidet, damit gesichertes Wissen nicht im Strom beliebig formulierter Ansichten versinkt und seinen Wert verliert? Alle Vertreter:innen der Wissenschaft, die sich öffentlich lautstark äußern, sollten sich immer auch ihrer Verantwortung dem Fach gegenüber bewusst sein. Dies erfordert, sich über die eigene Intention und Expertise im Klaren zu sein. Im Idealfall würden sich Kolleg:innen nur zu Themen äußern, zu denen sie selbst auch geforscht haben oder mit denen sie sehr gut vertraut sind. Angesichts des Mangels an Osteuropaexpertise lässt sich solch einer Prämisse nicht folgen. Umso notwendiger ist es, offenzulegen, wo der Boden gesicherten Wissens verlassen und das der persönlichen Meinung betreten wird. Mediale Präsenz ist verführerisch. Die Aufmerksamkeit, die ein schnell geschriebener Artikel in den deutschen Leitmedien hervorruft, ist weitaus größer als ein sorgfältig recherchierter Fachaufsatz. Wer einmal auf den Radar der Medien gekommen ist, bekommt ständig neue Anfragen und erliegt leicht der Gefahr, sich selbst Expert:innenstatus für die verschiedensten Themen zuzuschreiben. Hier ist Selbstkritik angesagt. Statt zu allem selbst etwas sagen oder schreiben zu wollen, sollte man überlegen, ob ukrainische oder russische Kolleg:innen aus ihrer Perspektive heraus dazu eher einen interessanten Beitrag leisten können. Ebenso muss dem wissenschaftlichen Nachwuchs, der empirische Forschung betreibt und neues Wissen schafft, aktiv ein Zugang zu den Medien und damit der Weg in die Öffentlichkeit geebnet werden.

Die Osteuropäische Geschichte "profitiert" tragischerweise vom Krieg in der Ukraine, weil er eine breitere Aufmerksamkeit für Themen schafft, mit denen sich das Fach beschäftigt. Die Chancen, die dies bietet, sind bisher nicht ausreichend genutzt worden. Der Großteil der Beiträge in den Medien stellt eine Reaktion auf aktuelle Ereignisse dar und kommt auf Initiative von Journalist:innen zustande. Viel mehr als bisher könnte das Fach selbst aktiv Themen einbringen, den medialen Raum mitgestalten und damit insgesamt den Blick der deutschen Öffentlichkeit auf Osteuropa weiten und verändern. Darüber hinaus sollten aktuelle Fachdebatten, wie die um die geforderte Dekolonisierung der Osteuropaforschung, nach außen getragen werden, um entsprechende öffentliche Diskussionen anzustoßen. Vielleicht gelänge es dann endlich, die Russlandzentriertheit der deutschen Politik und Gesellschaft aufzubrechen.

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Dr. Corinna Kuhr-Korolev ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschungen in Potsdam. Derzeit erforscht sie im Rahmen des ERC-Projekts "Perestroika from Below" den Wandel des (post-)sowjetischen Museumswesens. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Jugend- und Bildungspolitik der Sowjetunion, NS-Kunstraub in Osteuropa, Besatzungsgeschichte sowie die gesellschaftlichen Umbrüche in Russland seit der Perestroika.