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Loveparade: Die Verhandlung Als wären wir dabei gewesen Filmen, was man nicht sehen kann Ein möglichst vollständiges Bild vom Verfahren liefern "Ein komplexes Sammelsurium an Kausalitäten" Kurze Geschichte großer Musikfestivals Die Geschichte von Techno und der Loveparade Redaktion

Filmen, was man nicht sehen kann

Christian Meyer-Pröpstl

/ 6 Minuten zu lesen

Wie Filmschaffende Verborgenes, Verstecktes, Verbotenes und Vergangenes visualisieren.

Der leere Verhandlungssaal des Landgerichts Duisburg für den Loveparade-Prozess, Außenstelle Congress Centrum Düsseldorf. Aufnahmen während der Verhandlung waren nicht erlaubt. (© Docdays Productions)

Filme sind ein hochgradig visuelles Medium. Das erscheint zunächst wie eine Binsenweisheit. Es lohnt aber dennoch ein genauer Blick auf diese Grundprämisse des Filmemachens. Denn anders als in der ebenfalls visuellen Malerei steht der Film als fotografische Technik in einer viel größeren Abhängigkeit von dem, was ist. Im Spielfilm wird dieses ‚was ist‘ aufwendig mit Kulissen, Kostümen und natürlich Darsteller*innen hergestellt beziehungsweise inszeniert. Aber auch der Dokumentarfilm als vermeintliches Abbild der Welt, wie sie ist, inszeniert. Alleine durch die Wahl des Themas, der Zeit und des Ortes, an dem gefilmt wird, der Perspektive, also der Kameraeinstellung und nicht zuletzt der Auswahl der Protagonist*innen wird die Welt in einer Weise vermittelt, die nur scheinbar und nur sehr bedingt objektiv ist. Das gilt sogar für die scheinbar objektive fotografische Technik, dessen Anspruch im Begriff des Kamera-Objektivs zum Ausdruck kommt. Aber die Welt ist nicht schwarzweiß, und ein überbelichteter Film oder ein durch Colourgrading farblich gestaltetes Bild (früher hat schon die Wahl des Herstellers des Celluloids einen Unterschied gemacht) vermittelt auch einen sehr subjektiven Eindruck, vom vier- oder rechteckigen Bildausschnitt, den das menschliche Auge nicht kennt, gar nicht zu reden. Und dennoch geben Filme ähnlich wie die Fotografie rein technisch gesehen einen dem menschlichen Blick sehr ähnlichen Einblick in die Welt. Dokumentarfilme erforschen auf dieser Ebene die Welt, zeigen selten Gesehenes und mitunter auch nie zuvor Gesehenes. Mithilfe von Archivaufnahmen kann auch ein detaillierter Blick auf lange Vergangenes gelingen, während ein Blick in die Zukunft naturgemäß nur hypothetisch sein kann.

Mit Film durch Raum und Zeit

Der Dokumentarfilm, der im Gegensatz zum Spielfilm aber nicht eine Wirklichkeit erschaffen will, sondern unsere Wirklichkeit möglichst objektiv abbilden will, stößt viel schneller an die Grenzen seiner Möglichkeiten. Der Umgang des Dokumentarfilms mit diesen Grenzen ist einer der spannendsten Aspekte des Mediums. Wenn man von der Vergangenheit erzählen möchte, muss man in den Archiven nach altem Filmmaterial suchen. Oder man sucht Zeitzeugen, die noch leben und von dieser Zeit erzählen können. Oder man sucht nach Experten, die aufgrund ihrer Forschung von dieser Zeit erzählen können. Man kann auch Bilder der Gegenwart verwenden, um auf der visuellen Ebene einen Kontrast zur Vergangenheit aufzubauen. So wie man mit diesen Hilfsmitteln auf der Zeitachse wandeln kann, kann man mit einem Projekt auch selber eine Zeitachse herstellen, indem man eine filmische Langzeitbeobachtung realisiert. Ein Beispiel für eine solche Langzeitbeobachtung ist die „Wittstock“-Reihe des Regisseurs Volker Koepp, der 1975 erstmals in den gleichnamigen, damals noch in der DDR gelegenen Ort reiste, um dessen Bewohner*innen zu beobachten, und bis zum Jahr 1997 insgesamt sieben Filme über die Kleinstadtbewohner*innen und ihre Arbeit im Wandel der Zeit realisierte. Neben der Zeit ist der Ort ein zweiter bedeutender Faktor einer dokumentarischen Erzählung, die Filmemacher*innen vor Probleme stellen kann, wenn es keine Bilder gibt und man auch kaum Bilder herstellen kann. Die Gründe für solch eine Problematik können sehr vielfältig sein. So können geografische Gegebenheiten einen Filmdreh stark erschweren oder verunmöglichen: hoch auf dem Berg, tief im Meer, bei Eiseskälte oder glühender Hitze – das sind alles Rahmenbedingungen, denen sich ein Spielfilm-Projekt im Studio oder mit anderen Tricks häufig entziehen kann, der Dokumentarfilm hingegen nicht.

Ich zeige was, was Du nicht siehst

Filmaufnahmen zu "Lektionen der Finsternis" (1992) von Werner Herzog (© STUDIOCANAL GmbH 2022 )

Ein Filmemacher wie Werner Herzog ist sowohl in seinen Spiel- als auch in seinen Dokumentarfilmen gerade von den Herausforderungen extremer Orte geprägt und dreht an aktiven Vulkanen („La Soufrière – Warten auf eine unausweichliche Katastrophe“, 1977), in Katastrophengebieten in der Wüste („Lektionen in Finsternis“, 1992), im Regenwald („Julianes Sturz in den Dschungel“, 1998) oder in Kriegsgebieten („Ballade vom kleinen Soldaten“, 1984) und in Diktaturen („Echos aus einem düsteren Reich“, 1990). Das Filmen im Krieg und in Diktaturen ist nicht nur technisch kompliziert, sondern stellt für die Filmemacher*innen auch immer eine große Gefahr dar. Seit Handy-Kameras eine Bildqualität ähnlich dem Kinofilm ermöglichen, sind auch hier die Freiräume größer geworden, denn man kann filmen, ohne dabei entdeckt zu werden. So hat die junge Journalistin Waad al-Kateab für „Für Sama“ (2019) ihr Leben und ihre Arbeit in Aleppo in Syrien während der Proteste gegen Assad und des Bürgerkriegs über Jahre selber gefilmt und die Bilder heimlich an den britischen Regisseur Edward Watts außer Landes geschmuggelt, bis sie auch selber fliehen konnte. In „Saudi Runaway“ ist es die junge Mura, die kurz vor der Zwangshochzeit steht und ihr Leben in Saudi-Arabien inklusive ihrer Flucht aus dem Land per Handy filmt. Die Bilder hat sie über das Internet an die deutsche Regisseurin Susanna Regina Meures, die sie online kennengelernt hatte, verschickt.

Still aus dem Film "Camp 14" (© Engstfeld Film GmbH)

Werner Herzog, Waad al-Kateab und Mura gehen bis an die Grenzen des Machbaren. Es gibt aber auch Orte oder Situationen, die beziehungsweise an denen man absolut nicht filmen kann. Marc Wiese hat im Jahr 2014 mit „Camp 14 – Total Control Zone“ einen Film über Shin Dong-hyuk gedreht, den einzigen in einem nordkoreanischen Konzentrationslager geborenen Häftling, dem die Flucht gelang. Wiese filmt seinen Protagonisten im Exil in Süd-Korea, während er von seinem Leben in dem unzugänglichen Lager erzählt. Wiese findet auch zwei Wärter eines anderen Lagers, die nicht nur von ihren Erlebnissen erzählen, sondern als Wärter im Gegensatz zu einem Opfer sogar Filmmaterial beisteuern. Zu den grauenvollen Szenen aus dem Lagerleben, von denen Dong-hyuk berichtet – Hunger, Zwangsarbeit, Folter, Hinrichtungen und nicht zuletzt der Flucht – gibt es keine Bilder. Wiese entscheidet sich wie viele Dokumentarfilmer*innen in den letzten Jahren, diese ‚visuellen Lücken‘ mit gezeichneten Animationssequenzen zu füllen.

Der unsichtbare Gerichtssaal

Die Zeichnung hat auch eine lange Tradition, fehlende fotografische Bilder von Gerichtsprozessen zu ersetzen. Die Geschichte der Gerichtszeichnung geht weit in das 19. Jahrhundert zurück, als mit dem Aufkommen der Boulevard-Zeitung das Interesse an Gerichtsprozessen in der breiten Bevölkerung stieg. Während in Ländern wie den USA oder Israel die Berichterstattung per Fotografie, Film oder auch Tonaufnahmen zulässig ist (vgl. 1961 der Prozess gegen den ehemaligen deutschen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann in Israel und dessen filmische Dokumentation, die nicht nur in zahlreiche spätere Dokumentarfilme eingeflossen ist, sondern seinerzeit auch in Israel live im Fernsehen gesendet wurde) sind in Deutschland durch den Paragraph 169 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) Bild- und Tonaufnahmen während einer Gerichtsverhandlung trotz der Rundfunkfreiheit und der Informationsfreiheit auf Grund des Persönlichkeitsrechts und des Grundsatzes eines fairen Verfahrens unzulässig. Dieses Verbot gilt als so genanntes Jedermann-Recht auch für die deutsche Berichterstattung von Prozessen aus anderen Ländern, wo die Nutzung des Materials rechtmäßig ist. Mit einer Einschränkung: Seit dem NSU-Prozess (2013 - 2018) sind in Fällen mit herausragender zeitgeschichtlicher Bedeutung Tonaufnahmen erlaubt, wenn sie wissenschaftlichen und historischen Zwecken dienen.

Als der Regisseur Dominik Wessely und die Produzentin Anja Boehmert zusammen mit der Redakteurin Jutta Krug das Filmprojekt „Loveparade – Der Prozess“ angehen, ist klar, dass sie vom Hauptthema ihres Filmes, dem Prozess, keine Bilder und auch keine Tonaufnahmen verwenden können. Zu sehen sind aus dem Gerichtssaal daher nur Bilder kurz vor Beginn oder kurz nach Ende eines Verhandlungstags. Zusätzlich untermalen Bilder vom leeren Saal – aufwändig aufgenommen an einem verhandlungsfreien Tag, die O-Töne der Interviewpartner*innen. Naheliegend ist, sich den Protagonist*innen des Prozesses auch jenseits des Gerichtssaals zu nähern. So spürt der Film den individuellen Geschichten der Hinterbliebenen nach. Interviewt werden aber auch die am Prozess beteiligten Anwälte, Richter oder auch die Bericht erstattende Presse. Die Bilder des Unglücks hingegen, die nicht nur in Realzeit live bei der Berichterstattung zur Loveparade um die Welt gingen sondern immer noch im Internet zur Genüge zu finden sind, wollten die Filmemacher*innen nicht noch einmal bemühen. Bilder vom Unglück sind zwar im Film zu sehen, aber nur an den Stellen, an denen sie auch im Prozess zum Einsatz kommen. Stattdessen beginnt der Film schon mit der ersten Einstellung, die thematische Verschiebung des Films vom Unglück hin zum Jahre später gestarteten Prozess zu visualisieren, auch wenn er auf der Tonebene eine Klammer zur Vergangenheit setzt: In der ersten Einstellung fährt die Kamera langsam durch den leeren Tunnel der filmischen Gegenwart zur Zeit des Prozessbeginns im Jahr 2017, während auf der Tonspur erst eine zeitgenössische Nachrichtenmeldung über das Unglück bei der Loveparade und dann den Ermittlungsbeginn der Staatsanwalt zu hören sind. Schließlich wird Technomusik eingeblendet, die sich mit den realen Geräuschen der Szenerie vermischt. Die Kamerafahrt endet an der Unglücksstelle, die inzwischen zum Denkmal für die Toten geworden ist.

Fussnoten

Weitere Inhalte

lebt und arbeitet als freier Journalist in Köln und publiziert vor allem zu popkulturellen Themen (Schwerpunkt Film, aber auch Musik- und Comic-Themen) in diversen Magazinen (u.a. Filmdienst, Zeit-Online, choices, Strapazin). Daneben Moderation von Publikumsgesprächen und Erwachsenenbildung (Friedrich-Ebert-Stiftung).