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"Ein komplexes Sammelsurium an Kausalitäten" | Loveparade: Die Verhandlung | bpb.de

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"Ein komplexes Sammelsurium an Kausalitäten" Fragen zum Loveparade-Prozess an Rechtsanwalt Jürgen Schillig

Christian Meyer-Pröpstl

/ 11 Minuten zu lesen

Vertreter der Staatsanwaltschaft am 4. Mai 2020 im Congress Center Düsseldorf. An diesem Tag hat das Landgericht Duisburg den Prozess um das Unglück bei der Loveparade 2010 nach 184 Sitzungstagen eingestellt. (© picture-alliance/dpa)

Herr Schillig, der „Loveparade“-Prozess und vor allem sein für viele Beteiligte – von den Opfern bis zu den Hinterbliebenen – unbefriedigender Ausgang wirft einige Fragen auf. Da es am Ende zu keinem Schuldspruch kam, zu allererst vielleicht die Frage, warum nicht einmal der Veranstalter der Loveparade, also der Geschäftsführer Rainer Schaller oder seine Firma McFit beziehungsweise die veranstaltende Tochterfirma Lopavent belangt werden konnten?

Jürgen Schillig: Wir reden hier über einen Strafprozess. Das deutsche Strafrecht ist ein Täterstrafrecht, und da können im Gegensatz zum zivilen Strafrecht nach der momentanen Rechtslage nur natürliche Personen, keine Firmen belangt werden. Wenn Sie einen zivilrechtlichen Anspruch haben, dann können Sie grundsätzlich neben den einzelnen Personen auch eine Firma verklagen. Das ist im Strafrecht anders, wo in der Regel nicht der einzelne Bürger, sondern der Staat anklagt, weil jemand einen strafrechtlich relevanten Fehler gemacht hat beziehungsweise gegen die Rechtsordnung verstoßen hat, obwohl die Möglichkeit bestand, sich anders zu verhalten, und deshalb die Konsequenzen tragen muss.

Und warum kann man als Person nicht den Geschäftsführer einer Firma belangen?

Der Geschäftsführer einer Firma ist strafrechtlich persönlich verantwortlich, wenn er strafrechtlich relevanten Pflichten, die sein Amt mit sich bringt, vernachlässigt, so zum Beispiel steuer- und sozialrechtliche Verpflichtungen. Verantwortlich und haftbar ist er aber nur, wenn das entsprechende Gesetzbuch, so z.B. des Steuer- oder Sozialrechts das so vorgibt. Ihm wird dann vorgeworfen, seinen Betrieb nicht ordnungsgemäß organisiert oder überwacht zu haben, und er haftet dann persönlich für diese Handlungen oder diese Unterlassungen, auch wenn er diese selber höchstpersönlich gar nicht begangen hat. Aber von diesen strafrechtlich relevanten Schutznormen ist nicht die Rede. Es gibt zwar immer mal wieder Diskussionen und Bestrebungen, ein Unternehmensstrafrecht einzuführen, wie es das im angelsächsischen Recht für andere, besondere Tatbestände gibt, damit man strafrechtlich auch nicht eine natürliche Person, sondern das Unternehmen belangen kann. Aber – um das mal zu veranschaulichen – eine strafrechtliche Strafe ist ja zum Beispiel eine Freiheitsstrafe. Aber wie wollen sie z.B. eine GmbH ins Gefängnis bringen? Man kann natürlich Geldstrafen verhängen, aber eine Freiheitsstrafe ist nicht möglich. Das einzelne Opfer einer Tat hat allerdings im Rahmen des Zivilstrafrechts die Möglichkeit, gegen eine Firma vorzugehen, auch parallel zu einem Strafprozess. Und dies dann sowohl gegen einzelne Personen, als auch gegen das Unternehmen als solches.

Der Loveparade-Prozess stand von Anbeginn an unter keinem guten Stern. Fast wäre er überhaupt nicht zustande gekommen, weil das erste in Auftrag gegebene Gutachten eklatante Mängel aufwies. Sind bei der Beauftragung des ersten Gutachtens vermeidbare Fehler gemacht worden? Gibt es da kein Briefing?

Jürgen Schillig ist Fachanwalt für Strafrecht in Köln (Foto: privat)

Die Ermittlungen in einem Strafprozess werden von der Staatsanwaltschaft durchgeführt. Die bedient sich dafür der Polizei und bei Bedarf auch externer Kräfte wie Gutachtern. Auch im Fall des Loveparade-Prozess‘ wäre die Staatsanwaltschaft alleine überfordert gewesen. Hier kamen mehrere tausend Beteiligte und sicher auch tausende Faktoren zusammen. Da eine genaue Ursache oder eine Pflichtverletzung herauszuarbeiten ist sehr schwer. Für Detailbereiche suchte man sich dann einen Gutachter. Im Gegensatz zu einem Verkehrsunfall mit KFZ-Sachverständigen, die man überall findet, haben wir es bei dem Loveparade-Unglück mit einem Sachverhalt zu tun, den es so in Deutschland noch nie gegeben hat, zumindest nicht in dem Umfang. Es gibt natürlich auch Experten für Panikforschung, Verkehrsforschung oder Menschenmassen, dafür gibt es aber weder Zulassung noch ein Diplom. Der Brite Keith Still, der das erste Gutachten verfasst hat, hat wahrscheinlich auf seinem Gebiet einen guten, internationalen Ruf. Die Fragen an so einen Gutachter sollten dann genau gestellt sein und er sollte nur diese Fragen beantworten. Wie er das macht, ist dem Gutachter überlassen. Das birgt natürlich gewisse Gefahren, so zum Beispiel, dass seine Schlussfolgerungen methodisch oder formell angreifbar sind. Es gibt aber nirgendwo eine Vorschrift, dass ein Gutachten so oder so aussehen muss. Man darf dem Gutachter ja auch nicht – wie in einem Briefing – alles vorgeben, das Gutachten soll ja unvoreingenommen sein. Trotz aller Vorsicht ist ein solches Gutachten am Ende aber immer angreifbar. Das fängt schon bei der Qualifikation des Gutachters an oder damit, dass die Fragen, die dir beantwortet, von der Verteidigung oder anderen Verfahrensbeteiligten als unpassend oder nicht zweckmäßig, oder voreingenommen gewertet werden können. Das Risiko, dass eine Partei ein Gutachten nicht akzeptiert ist immer gegeben.

Es ging gleich nach Eröffnung des Prozesses mit Verzögerungen weiter: Die Vertreter der Angeklagten hielten die eingesetzte Kammer nicht für zuständig, sondern eine andere Strafkammer des Landgerichts Duisburg – nämlich jene, die bei der ursprünglichen Anklage-Erhebung 2014 verantwortlich war. Ist die Beschwerde nachvollziehbar, oder ein taktisches Manöver, um Zeit zu gewinnen. Wenn letzteres der Fall ist – ist ein Gericht gegen derartige Strategien machtlos?

Es gibt das Recht auf seinen gesetzlichen Richter, d. h., dass jeder seinen gesetzlich bestimmten Richter hat, damit die Zuständigkeit nicht wie in einer Diktatur der Willkür unterliegt. Schon im Vorfeld eines Prozesses muss zu jedem Zeitpunkt vorher klar sein, welchen Richter man bekommt um zu vermeiden, dass man im Einzelfall einen Richter bekommt, der möglicherweise ein eigenes Interesse daran hat, den Prozess zu führen. Deswegen haben die Gerichte sogenannte Geschäftsverteilungspläne, so dass man nicht immer vor denselben Richter landet. Das funktioniert zum Beispiel nach Buchstaben, die Zuständigkeit wechselt jedes Jahr. Andere Möglichkeiten sind, dass die Verfahren entsprechend ihrem zeitlichen Eingang verteilt werden. Bezüglich der zuständigen Kammer und ihrer Besetzung gibt es außerdem komplexe Regelungen. Es ist eine Verpflichtung der Verteidigung, diese Zuständigkeit zu überprüfen. Da gibt es mitunter tatsächlich Fehler in der Besetzung der Richter oder schaffen, aber auch mal Konstellationen, die sich so oder so auslegen lassen. Das anzuzweifeln ist dann in der Tat häufig ein taktisches Manöver der Verteidigung welches aber legitim ist, und welches ein guter Anwalt auch beherrschen sollte im Interesse seiner Partei. Wenn die Verteidigung die Zuständigkeit im Vorfeld gerügt hat, und sich dies später tatsächlich als berechtigt herausstellt, dann ist dieser Fehler am Ende aber auch ein Revisionsgrund.

Zu den Angeklagten: Wieso können in einem solchen Verfahren Verantwortliche an oberster Stelle wie der ehemalige Oberbürgermeister von Duisburg, Adolf Sauerland, und der McFit-Geschäftsführer Rainer Schaller nicht angeklagt werden, weil sie nur Aufgaben delegiert haben und somit nicht mehr in direkter Verantwortung stehen, während auf einer Etage darunter in der Hierarchie jemand wie Jürgen Dressler, damaliger Dezernent für Bauen und Stadtentwicklung der Stadt Duisburg, sich zu seiner eigenen Überraschung auf der Anklagebank wiederfindet?

Da ist tatsächlich die entscheidende Frage: Was ist hier vorwerfbar? Vorsätzliche Körperverletzung nicht, weil die Angeklagten ja niemanden direkt verletzt haben. Aber auch eine fahrlässige Körperverletzung, weswegen die Anklage ja dann nach meiner Kenntnis erlassen worden ist, ist hier fraglich. Die Angeklagten haben etwas gemacht oder unterlassen, was dann irgendwie dazu geführt hat, dass Leute gestorben sind, mal ganz einfach ausgedrückt. Da gibt es aber eine lange Kausalitätskette: Eine 18-Jährige wird erdrückt und erstickt, weil viele Leute auf zu engem Raum waren. Warum waren so viele Leute dort auf engem Raum? Wegen einer Fehleinschätzung. Warum gab es diese Fehleinschätzung? Wer hat diese Fehleinschätzung gemacht? Hätte er es besser wissen können? Welche Informationsquellen standen ihm zum Zeitpunkt seiner Fehleinschätzung zur Verfügung? Und so weiter ... Man kann da auf 50 verschiedene Ursachen kommen, die sich teilweise überholen, zusammenkommen oder ausschließen – das ist ein komplexes Sammelsurium an Kausalitäten. Hier muss eine Tat oder ein Unterlassen kritisch auf seine Folgen untersucht werden. Da genau eine einzige Handlung eines Angeklagten herauszunehmen und zu sagen: „Du hast das gemacht oder unterlassen, und genau deswegen ist dies passiert, und dieses Handeln oder Unterlassen ist dir direkt vorzuwerfen, weil du damit eine genau eng begrenzte Pflicht verletzt hast “ – das ist unglaublich schwer!

Als Laie könnte man da schnell denken: ‚Die da oben‘ kommen wieder ungeschoren davon und ‚die Kleinen‘ kommen dran, weil sie die konkrete Handlung ausgeführt haben ...

Genau! ‚Die da oben‘ kann man nur dann dran kriegen, wenn sie gewusst haben, dass in ihrem Haus etwas schief läuft, und sie nichts dagegen getan haben. Dass sie das selber gewusst haben kann man aber meist nur sehr schwer beweisen noch schwieriger wird es, wenn sich Personen so treffen und so untereinander kommunizieren, dass nichts schriftliches mehr übrig bleibt, also weder Protokolle, noch E-Mails, noch SMS oder dergleichen. Sei alles noch mündlich erfolgt. Wie wollen sie dann beweisen, wer zu welchem Zeitpunkt wann von etwas gewusst hat und wann nicht, wenn nicht einer der Beteiligten sein Wissen offenbart? Da wird nichts mehr über Email gemacht, im Gegenteil: da werden mitunter dann sogar Mails verschickt, die genau das Gegenteil der mündlichen Abmachung behaupten ...

Auch der ehemalige Dezernent für Recht, Sicherheit und Ordnung Wolfang Rabe, der von Sauerland als Projektleiter und somit als Verbindungspunkt zwischen dem Veranstalter McFit (bzw. der Tochterfirma Lovapent) und der Stadt Duisburg fungierte, ist nicht als Angeklagter, sondern nur als Zeuge geladen. Staatsanwalt Uwe Mühlhoff sagt dazu: „Aus meiner Sicht hat sicherlich Herr Rabe eine erhebliche moralische Mitverantwortung für das Unglück. Ganz klar! Aber strafrechtlich sehe ich das bis heute nicht“. Wie würden Sie einem Laien eine solche Abgrenzung zwischen moralischer und strafrechtlicher Verantwortung erläutern?

Dem Herrn Rabe wurde vorgeworfen, dass er das „durchgeboxt“ hat. Er hat wohl gesagt, man solle zusehen, dass die Loveparade 2010 nach Duisburg kommt. Wie bereits gesagt: Man kann jemanden nur drankriegen, wenn er wusste, dass etwas daran rechtswidrig ist, oder dies zwangsläufig zu einem Unglück führen muss. Das zu beweisen ist aber so gut wie unmöglich. So etwas ist für die Angehörigen und die Geschädigten mitunter sehr schwer zu ertragen, aber man kann nicht alles so bestrafen oder kompensieren, dass hinterher jeder zufrieden ist.

Aber wieso kann das Gericht sieben der Angeklagten (sechs städtischen Mitarbeitern und einem Mitarbeiter des Veranstalters) anbieten, das Gerichtsverfahren einzustellen, weil ihre Schuld, wenn man sie denn feststellen würde, wohl nur sehr gering beurteilt würde. Muss eine Verhandlung nicht im Sinne der Opfer bzw. der Ankläger bis zu einem richterlichen Beschluss zu Ende geführt werden?

Es gibt den Externer Link: Paragraphen 153 Strafprozessordnung – Absehen von der Verfolgung bei Geringfügigkeit – bzw. Externer Link: 153a – Absehen von der Verfolgung unter Auflagen und Weisungen. Das besagt, dass das Gericht, wenn die Schuld als gering anzusehen ist, mit Zustimmung des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen Zahlung eines Bußgelds einstellen kann. Dabei geht es im wesentlichen um die Frage, wie hoch die Schuld des Angeklagten einzuordnen ist und nicht unbedingt, wie hoch der Schaden ist. Man kann ja zum Beispiel durch eine winzige Fahrlässigkeit einen riesigen Schaden verursachen, Da wäre die Rechtsgutsverletzung immens, die Schuld jedoch gering. Oder eben auch umgekehrt. Weil die Justiz häufig überlastet ist, haben sich die Paragraphen 153 und 153a inzwischen zum Allheilmittel entwickelt, wenn man merkt, das Verfahren ufert aus und man weiß nicht genau, ob der Aufwand überhaupt noch in einem vernünftigen Verhältnis dazu steht, was am Ende dabei rauskommen würde.

Ein Mitarbeiter von Lopavent bzw. sein Verteidiger lehnte im Januar 2019 das Angebot der Einstellung sowohl gegen als auch ohne Geldzahlung ab. Hintergrund: bei Verfahrenseinstellung wegen Verjährung müsste die Staatskasse alle Kosten tragen, während bei einer Einstellung gegen Auflagen nach besagtem Paragraph 153a ein Angeklagter seine eigenen Kosten selber zu zahlen hat und evtl. auch die Kosten der Nebenklage. Das wäre bei einem solch großen Prozess ein sehr hoher Betrag. Die Chance, dass sich in diesem Prozess ein Angeklagter darauf einlässt, war also eher gering. Ist in diesem Fall ein solches Angebot nicht überflüssig, bzw. auch wieder eine im Angesicht der drohenden Verjährung fahrlässige Verzögerung?

Bei der Einstellung nach Paragraf 153 StPO werden in der Regel die Kosten des Verfahrens wie auch die Kosten des eigenen Verteidigers des Angeklagten der Staatskasse auferlegt. Bei einer Einstellung nach § 153a StPO ist dies in der Regel nicht möglich. Es stimmt, dass man davon ausgehen kann, dass die Kosten in diesem Verfahren mindestens im sechsstelligen Bereich gewesen wären. Zu berücksichtigen ist dabei allerdings, dass nicht sämtliche Anwaltskosten berechnet werden, sondern nur die gesetzlichen Mindestkosten. Nur diese würden zum Beispiel auch im Falle eines Freispruchs von der Staatskasse ersetzt werden. Bei derartigen Verfahren wird aber kein Anwalt zu diesen gesetzlichen Mindestgebühren arbeiten. Das ist betriebswirtschaftlich für ein Anwalt gar nicht möglich. Ein Anwalt wird also mit seinem Mandanten eine Sondervereinbarung geschlossen haben. Es ist allerdings durchaus vorstellbar, dass sich eine Firma wie Lopavent dann hinter ihren Mitarbeiter stellen und die Kosten übernehmen würde. Dass könnte für die Firma immer noch besser sein als das Risiko einzugehen, dass am Ende vielleicht doch noch ein Schuldspruch für den Mitarbeiter bei raus kommt und dieser Schuldspruch dann zum Anlasse genommen wird auch noch zivilrechtlich gegen die Firma vorzugehen. Um das zu vermeiden könnte eine Firma also durchaus bereit sein, sich an den Kosten zu beteiligen.

Im Film „Loveparade – Der Prozess“ wird auch eine ganz fundamentale Kritik am Strafrechtssystem in Deutschland geübt. Der Rechtsanwalt Prof. Dr. Julius Reiter sagt an einer Stelle: „Die Wahrheit ist, dass in Deutschland die Strafprozessordnung nicht in der Lage ist, Mammutprozesse zu führen“. Und auch Staatsanwalt Christian Seiffge stellt fest: „Für mehrere Täter und komplexe Sachverhalte ist „… der Tatvorwurf der fahrlässigen Tötung einfach nicht gemacht … Das ist das Spannungsverhältnis, in dem wir uns alle bewegt haben“. Sind hier tatsächlich die Grenzen des deutschen Rechtssystems erreicht? Und wenn ja, was müsste sich Ihrer Meinung nach ändern, um einer juristischen Fragestellung wie im Loveparade-Prozess gerecht werden zu können?

Es ist tatsächlich schwer, in Deutschland einen solchen Mammutprozess zu führen, über dem ständig die drohende Verjährung hängt, und der einen enormen Rattenschwanz an Kosten hinter sich her zieht. Wir haben das beim NSU-Prozess in München gesehen: So einen langen Prozess hatte es vorher noch nie gegeben, mit all den Prozessbevollmächtigten. Jeder Nebenkläger-Vertreter hatte einen eigenen Anwalt, der mit im Gerichtssaal saß und an jedem Prozesstag sein Geld bekommen hat, so dass die Prozesskosten immens explodiert sind. Die Anwälte haben sich beim NSU-Prozess regelrecht auf die Jagd nach potentiellen Nebenklägern gemacht. Diese Erfahrungen mit dem NSU-Prozess haben letztendlich dazu geführt, dass seitdem die Gerichte bestimmen können, dass Nebenklägervertreter, die gleiche Interessen haben, gemeinsam einen Anwalt bekommen, und nicht jeder einen eigenen.

Kommt das häufig vor, dass nach solch offensichtlichen Problemen die Regelungen verändert werden?

Auf jeden Fall! Wir haben ja die Gewaltenteilung, bei der die Rechtsprechung anhand der Gesetze Recht spricht. Die Gesetze werden wiederum vom Gesetzgeber gemacht, und der sitzt im Parlament. Dort werden die Gesetzte entsprechend einer sich permanent verändernden Welt angepasst. Die Gesetzgebung hängt aber immer hinter dem Zeitgeist und der gesellschaftlichen und technologischen Entwicklung hinterher – denken Sie nur an die schnellen Entwicklungen im Internet.

Was könnte man nun nach den Schwierigkeiten beim Loveparade-Prozess ändern?

Man könnte versuchen, wegzugehen vom konkreten Nachweis einer Pflichtverletzung durch eine bestimmte Handlung oder das Unterlassen einer Handlung hin zu einer Art globalen Haftung. Ähnlich wie der Geschäftsführer bei der GmbH für die Steuer haftet, haftet dann der Einzelne in einer Firma dafür, was in der Firma passiert. Das ist aber sehr kritisch zu sehen. Denn wo soll man die Grenze ziehen? Hafte ich dann für alles, was in der Firma passiert? Dann gründet ja niemand mehr eine Firma.

Fussnoten

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lebt und arbeitet als freier Journalist in Köln und publiziert vor allem zu popkulturellen Themen (Schwerpunkt Film, aber auch Musik- und Comic-Themen) in diversen Magazinen (u.a. Filmdienst, Zeit-Online, choices, Strapazin). Daneben Moderation von Publikumsgesprächen und Erwachsenenbildung (Friedrich-Ebert-Stiftung).