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Verbrechen und Strafrechtsystem | APuZ 33/1957 | bpb.de

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APuZ 33/1957 Artikel 1 Artikel 2 Artikel 3 Artikel 4 Artikel 5 Artikel 6 Artikel 7 Artikel 8 Artikel 9 Artikel 10 Verbrechen und Strafrechtsystem

Verbrechen und Strafrechtsystem

DAVID J. DALLIN

A. Das Verbrechen

§ 1. PROPAGANDASCHLAGWORTE UND THEORIE Die Kommunistische Theorie des Verbrechens ist in erster Linie in den Grundsätzen des historischen Materialismus begründet, der alle sozialen Phänomene auf wirtschaftliche Ursachen zurückführt (II § 11). Danach ist das Verbrechen das Ergebnis der ungeregelten, chaotischen Wirtschaft, wie sie im kapitalistischen System besteht. Im einzelnen ist es von der Klassengesellschaft, der fortschreitenden Verarmung der Massen und der Zunahme der Arbeitslosigkeit herzuleiten. „Unter den Lebensbedingungen der bürgerlichen Gesellschaft ist die Kriminalität eine Erscheinung, die nicht beseitigt werden kann. Der soziale Aufbau der kapitalistischen Länder erzeugt unausweichlich die Kriminalität. Die Atmosphäre einer allgemeinen Jagd nach Reichtum, die die bürgerliche Gesellschaft beherrscht, führt sowohl die Vertreter der besitzenden Klassen, als auch das ausgestoßene, besitzlose Volk auf den Weg des Verbrechens." (M. Kareva, „Ro I s o v e t s ko go prava v vospitanii kommunisticeskogo soznani j a“, Bolsewik, Februar 1947, Nr. 4, S. 54.)

Auch die „politischen Verbrechen" sollen das Ergebnis der kapitalistischen Ausbeutung sein. Durch die Begehung politischer Verbrechen „verteidigen" die ausgebeuteten Klassen „ihre Rechte und Interessen" (BSE 2. A., 33, S. 588). Unter der Herrschaft des kommunistischen Regimes gelten politische Verbrechen als „gegenrevolutionäre Tätigkeit der Feinde der Arbeiterklasse mit dem Ziel des Umsturzes, der Sabotage oder der Schwächung der äußeren Sicherheit des Staates und der grundlegenden wirtschaftlichen, politischen und nationalen Errungenschaften der sozialistischen Revolution" (a. a. O.).

Infolgedessen nimmt das Verbrechen in den kapitalistischen Ländern überhand, während es in den kommunistisch beherrschten Ländern in raschem Abnehmen begriffen ist. Wenn trotzdem noch Verbrechen vorkommen, so sind sie von Agenten und Spionen der kapitalistischen Außenwelt und von den überlebenden der kapitalistischen Mentalität angestiftet.

„Mit der Liquidierung der ausbeutenden Klassen und der Abschaffung von Armut und Arbeitslosigkeit sind die Grundlagen der Kriminalität in der Sowjetunion verschwunden. Verbrechen, die von Einzelnen begangen werden, sind der Ausdruck von Einflüssen der Restbestände des Kapitalismus im Denken des Volkes." (BSE 2. A., 34, S. 447).

§ 2. KRITIK Die Philosophie, die die Grundlage des kommunistischen Strafrechtssystems bildet, ist in jeder Hinsicht irreführend. Sie ist eine absurde Vereinfachung der Ursachen des Verbrechens und der menschlichen Psyche, die von Zeit zu Zeit für das Verbrechen anfällig ist. Ihre Ungereimtheit liegt vor allem in den folgenden Tatsachen: Viele Vergehen sind nicht durch wirtschaftliche Einflüsse motiviert, so z. B. Sittlichkeitsdelikte, Fahnenflucht, Trunkenheit, eine große Zahl von Morden, lockerer Lebenswandel usw.

Wenn es auch richtig ist, daß Eigentumsdelikte vor allem von Notleidendenbegangenwerden, so erklärt die kommunistische Theorie doch nicht, warum nur ein Prozent aller Arbeitslosen und Bedürftigen ein Vergehen des Diebstahles, des Überfalles oder des Raubes begeht, während die übrigen 99 Prozent, die in der gleichen Armseligkeit leben, das Gesetz nicht übertreten.

Abschaffung des Kapitalismus bedeutet nicht Abschaf fung der Armut. Bis jetzt ist die Armut in den Sowjet-Ländern nicht abgeschafft worden. Sie ist die Lebensbedingung von 90 Prozent der Bevölkerung.

D i e K r i m i n a 1 i t ä t ist auch weitgehend vom politischen System eines Landes abhängig. So bewirkt die Diktatur verschiedene Arten . politischer Verbrechen’. Die gewaltsamen und drastischen Umwälzungen der Lebensbedingungen (so z. B. die Liquidierung von Millionen von . Kulaken'in der Sowjetunion, siehe Kapital XI), sind weitere Quellen der Kriminalität.

Doch das stärkste Argument gegen die kommunistische Theorie des Verbrechens sind die Tatsachen über die Verbrechen in den kommunistischen Ländern.

§ 3. DIE KOMMUNISTISCHE WIRKLICHKEIT Diese Tatsachen lassen sich wie folgt zusammenfassen: (1) die Kriminalität ist in der Sowjet-Union nicht verschwunden, sondern hat eher zugenommen; (2) das jugendliche Verbrechertum hat bisher unerreichte Ausmaße angenommen; (3) sowjetische Theorie und INHALT A. Verbrechen § 1. Propagandaschlagworte und Theorie § 2. Kritik § 3. Die kommunistische Wirklichkeit a. Die Kriminalität im allgemeinen b. Jugendliches Verbrechertum .

c. Neue Verbrechen B. Das Strafrechtssystem. Allgemeines § 4. Gericht und Polizeigericht a. Der Gerichtshof b. Polizeigerichte § 5. Die gerichtlichen Verfahren a. Allgemeine Kennzeichen b. Politische Prozesse § 6. Die Härte der Bestrafung a. Die Länge der Haftstrafen b. Die Todesstrafe § 7. Gefängnisse und Zwangsarbeitslager: Die Theorie C. Die Praxis der Zwangsarbeit § 8. Übersicht § 9. Geschichte § 10. Einrichtung und Ausdehnung des Systems § 11. Arbeitsbedingungen § 12. Lebensbedingungen § 13. Wirtschaftliche Bedeutung § 14. Änderungen seit 1949 D. Anhang: Zeugnisse § 15. Untersuchungsmethoden § 16. Der Karzer § 17. Arbeitsbedingungen im Lager Praxis haben der traditionellen Liste der Verbrechen eine Reihe von neuen angefügt; (4) die Härte der Strafen für Verbrechen ist in den kommunistischen Ländern nicht gemildert, sondern eher noch verschärft worden.

a. Die Kriminalität im allgemeinen Seit der sowjetischen Revolution ist die Kriminalität in der Sowjetunion nicht nur nicht verschwunden, sondern sie hat stark zugenommen. Während der sechs Jahre vor dem Ersten Weltkrieg (1908— 1913)

belief sich die durchschnittliche Zahl der Insassen russischer Gefängnisse auf etwa 175 000 (Vysinskij, Tiurma kapitalisticeskich stran, Moskva, Gosizdat 1937). Obwohl mittlerweile die Höchstgrenze der Strafzeit herabgesetzt worden war, hatte die Zahl der Gefängnisinsassen, die 1924 87 000 betrug, 1927 198 000 erreicht.

(1) Nach 1927 hielt das Anwachsen der Häftlingszahl an. Seit dem Ende der 20iger Jahre hat die Sowjet-Regierung keine Verbrechens-Statistiken veröffentlicht. Die Zahl der in Rußland während des letzten Vierteljahrhunderts begangenen Verbrechen ist ein wohlbehütetes Geheimnis geblieben.

Immerhin ist nicht geleugnet worden, daß das Verbrechen in den vier Jahrzehnten seit der sowjetischen Revolution in der UdSSR zugenommen hat. In einer Erörterung des Diebstahls schreibt die amtliche Sowjet-Enzyklopädie im Jahre 1951:

„Diebstahl ist ein. soziales Phänomen, das eine unwandelbare Begleiterscheinung des Kapitalismus ist. Die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschait ist mit einer erschreckenden Zunahme von Eigentumsdelikten verbunden....

Die in der Sowjetunion von einzelnen Bürgern in Verletzung der Grundsätze des sozialistischen Gesetzes und der Ordnung begangenen Diebstähle stellen ein Überbleibsel des Kapitalismus dar." (BSE 2. A. t 9, S. 103.)

über Bestechungsdelikte in Sowjetrußland haben alle sowjetischen Quellen Stillschweigen bewahrt und nur auf die Verbreitung dieser Straftat im Westen hingewiesen.

„Die Bestechung ist in den kapitalistischen Ländern weit verbreitet, besonders in den Vereinigten Staaten. ... Bestechung ist ein alltägliches Ereignis in den Regierungskreisen Frankreichs, Englands und anderer kapitalistischer Länder." (BSE 2. A., 7, S. 640.)

Und doch haben Veruntreuung, Nepotismus und eine große Zahl alter und neuer . Amtsverbrechen'in Rußland weit um sich gegriffen;

ihre Wurzel liegt im beispiellosen Anwachsen der Größe und Macht Bürokratie und in den jämmerlichen Lebensbedingungen der Mehrzahl der Staatsbeamten. Früher wurden diese Erscheinungen durch veröffentlichte Statistiken bekanntgemacht, aber heute schweigen alle Quellen zu diesem Thema:

„In der UdSSR iindet das Amtsverbrechen keinen Boden. Vorkommende Amtsvergehen sind das Ergebnis des Einflusses von Überbleibseln'des Kapitalismus im Denken einzelner Bürger.“ (BSE 2. A., 15, S. 23.)

Während die sowjetischen Behörden versichern, in der SowjetUnion seien die „Vorbedingungen für die Ausrottung des Verbrechens" geschaffen worden, behaupten sie nicht, daß die Kriminalität tatsächlich abgenommen habe, ausgenommen die folgenden besonderen Gruppen (die nur einen kleinen Teil der Gesamtverbrechen ausmachen): Falschspielerei, Kuppelei, Einbruch und Unterhaltung von Bordellen.

b. Jugendliches Verbrechertum Die Jugendkriminalität hat in der UdSSR noch nie dagewesene Ausmaße erreicht, besonders unter solchen Jugendlichen, die vor und nach dem Zweiten Weltkrieg heimatlos waren.

, B esprizornost'(Verwahrlosung) ist ein weiteres Thema, dem gegenüber die Sowjet-Presse zurückhaltend war; gelegentlich hat jede Berichterstattung darüber aufgehört.

„Die Verwahrlosung hat in der Sowjetunion im Jahre 1921 besonders geiährliche Formen angenommen. . . . Im Jahre 1922 stieg die Zahl der verlassenen und jeder Möglichkeit des Lebensunterhaltes beraubten Kinder aui ungelähr sieben Millionen. . . (BSE 1. A., 5, S. 786.)

Die Enzyklopädie, die den Umfang des Verwahrlostenproblems in den folgenden Jahren sehr viel geringfügiger darstellte, fügte hinzu, daß . gegenwärtig (1927) die Zahl der Verwahrlosten in der SowjetUnion 334 500 beträgt’. Ein neues Anwachsen der Zahl der Verwahrlosten erfolgte wenige Jahre später als Folge der Kollektivierung der Bauernhöfe und der großen Hungersnot der Jahre 1932 und 1933 und dann wiederum in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg.

Das Problem wurde so ernst, daß sich die Regierung im Jahre 1935 veranlaßt sah, Jugendliche nach dem gleichen Strafmaß wie volljährige Verbrecher zu bestrafen.

Unter dem Titel . Maßnahmen im Kampf gegen die Verbrechen Halbwüchsiger'kam am 7. IV. 1935 ein Gesetz mit folgendem Wortlaut heraus:

„Minderjährige vom 12. Lebensjahre an, die des Diebstahls, der Notzucht, der Körperverletzung, der Verstümmelung, des Mordes oder Mordversuches überführt werden, sind strafrechtlich zu verfolgen und mit allen Maßnahmen des Strafrechtes zu bestrafen.“ (Ugolovnyj Kodeks RSFSR, Gosizdat Moskva, 1952, S. 82.)

Dieses Gesetz bildete den Anfang einer ganzen Reihe von Verordnungen und Gesetzen in bezug auf Jugendliche. So veröffentlichte das Präsidium des Obersten Sowjet am 10. Dezember des gleichen Jahres einen Ukas’, der sich auf das Lockern von Schrauben an Eisenbahn-schienen bezieht. Am 28. Dezember 1940 erließ das gleiche Präsidium einen anderen Ukas, nach dem alle Studenten der sogenannten Handelsschulen für Verletzung der Disziplin bestraft werden; ein weiterer sehr bedeutsamer Ukas vom 31. Mai 1941 unterwarf alle Jugendlichen von 14 Jahren an aufwärts dem für Erwachsene gültigen Strafrecht (Ugolovnyj Kodeks RSFSR, Moskva, 1950, S. 164).

Zum jugendlichen Verbrechertum schreibt die Sowjet Enzyklopädie lediglich:

„In den kapitalistischen Ländern leben die Arbeiterkinder unter sehr harten materiellen Bedingungen. Verwahrlosung und Landstreichertum und der Tod von Kindern infolge Hunger und Krankheit sind Massenerscheinungen. Außerordentlich harte Lebensbedingungen, dauernde Unterernährung und zu schwere Arbeit in den kapitalistischen Unternehmen wirken sich sehr schädlich auf die körperliche Entwicklung der jungen Menschen aus und führen zu einem frühzeitigen Verbrauch ihres Organismus." (BSE 2. A., 26, S. 154.)

„In der Sowjetunion (hingegen) wurzelt die Jugendkriminalität hauptsächlich in den Überresten des kapitalistischen Denkens. Hier wird das jugendliche Verbrechertum auf grundsätzlich andere Weise als in den kapitalistischen Ländern bekämpft; wir haben alle politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für die völlige Ausrottung aller Verletzungen des Gesetzes, die der Jugendlichen eingeschlossen, geschaffen." (BSE 1. A., 37, S. 804.)

c. Neue Verbrechen Der uralten Liste derVerbrechen haben sowjetische Theorie und Praxis eine Reihe neuer Straftaten angefügt. Die „Spekulation", die zu einem der häufigsten und schwer bestraften Verbrechen wurde, umfaßt eine Vielzahl von Handelsgeschäften, angefangen von betrügerischem Kauf und Verkauf bis zur kleinsten Missetat eines armen Bürgers, der seine persönlichen Habseligkeiten auf dem „schwarzen Markt“

verkauft. Dieser schwarze Markt ist zu einem großen Schauplatz des Verbrechens geworden; die Schuldigen werden vor Gericht gestellt und zu Zwangsarbeit in Strafarbeitslagern verurteilt (Ugolovnyj Kodeks R S F S R , §§ 97, 98, 99, 107).

Der sowjetische Begriff der gegenrevolutionären Verbrechen ist gleichermaßen eine Neuerung; diese Vergehen können weder nach Art, noch nach ihrer Häufigkeit mit den „politischen" Verbrechen und Verbrechern der vorrevolutionären Ära verglichen werden.

Die Vielzahl politischer Vergehen ist im sowjetischen Strafgesetzbuch aufgeführt; die 14 Abschnitte des § 58 und dazu der § 59 zählen die meisten (aber nicht alle) , Verbrechen gegen den Staat'auf. Sie sind in drei Gruppen aufgeteilt! a) gegenrevolutionäre Verbrechen;

b) Verbrechen gegen das sozialistische Eigentum; c) die gefährlichsten Verbrechen gegen die Staatsform. Zusätzlich zu diesen Gruppen von Kriminellen betrachtet die Sowjet-Polizei noch andere Gruppen von , Sündern'als Verbrecher, so z. B. wohlhabende Bauern (Kulaken), Personen, die Gold horten, . Drückeberger'(von der Arbeit) und andere. In den meisten Fällen sind die Gesetzesübertreter dieser Kategorien von der GB abgeurteilt worden.

Das Verhalten der Sowjetregierung gegenüber den politischen Gefangenen ist äußerst feindselig. Vor der Revolution waren „politische" Gefangene besser gestellt als gemeine Verbrecher. Heute lebt der gemeine Verbrecher im sowjetischen Gefängnis oder Strafarbeitslager unter besseren Lebensbedingungen als die Insassen der politischen Abteilungen des Gefängnisses oder Arbeitslagers (E. Lipper, Eleven Years in Soviet Camps, Chicago, 1951, S. 148). Von der Umerziehung („Reform") erwartet man sich die Besserung des gemeinen Verbrechers; bei den „Gegenrevolutionären" wird die Reform als aussichtslos erachtet. Man betrachtet sie als eine verlorene Generation; der einzige Dienst, den sie der kommunistischen Gemeinschaft leisten können, besteht in ihrer Arbeitsleistung. „Wir sagen euch, den gewöhnlichen Verbrechern: Wir betrachten euch bewußt nicht als Feinde, weil sich unter euch keine Söhne von Landbesitzern und Fabrikherren befinden. Wir wissen, daß euch eure jämmerliche Vergangenheit und euer verbrecherisches Leben schwer mitgenommen haben. Wir verurteilen euch nicht einmal dafür, daß ihr einmal in eurem Leben gestohlen habt, denn wir wissen, daß ein Mensch manchmal zu stehlen beginnt, weil er nichts zu essen hat, weil er hungrig ist.“ (S. Firin, Itogi Belomorstroja, Moskva, 1934, S. 48).

Zur Härte der Bestrafung siehe unten (§ 6).

B. Das Strafrechtssystem. Allgemeines

§ 4. GERICHT UND POLIZEIGERICHT Es ist in gewisser Weise charakteristisch für die totalitären Systeme, daß in der Sowjetunion — im Gegensatz zu den Gebräuchen in den meisten nichtkommunistischen Ländern — der Rechtsspruch und das Urteil für gewisse Rechtszweige von zwei verschiedenen Gerichtshöfen ausgesprochen wird: vom regulären Gerichtshof und von der Polizei.

a. Der Gerichtshof Das hervorstechende Merkmal im sowjetischen Gerichtssystem ist die Ablehnung des Prinzips von der Unabsetzbarkeit der Richter, jenes Prinzips also, das die einzige wirkliche Garantie für die Unabhängigkeit der Richter von Regierung und Parteien ist (VIII § 17 b).

Die diktatorische Regierung verwirft ein unabhängiges System objektiver Justiz (VIII § 6). Gerichtshöfe und Richter haben wie andere Regierungsbehörden die Anweisungen des Regimes auszuführen. Mit Ausnahme der Richter des Obersten Gerichtshofes, die vom Obersten Sowjet „gewählt" werden, werden die Richter in der Sowjetunion in gleicher Weise von der Bevölkerung „gewählt", wie Gesetzesgeber und Abgeordnete (XIV § 2), d. h. sie werden von den örtlichen und zentralen Organen der kommunistischen Partei als Kandidaten aufgestellt und, da sie keine Gegenkandidaten haben, selbstverständlich auch „gewählt". Ihre Amtsdauer hängt von ihrer Unterordnung unter die Parteikomitees und unter die örtlichen Parteiführer ab. Jede noch so kleine Abweichung, jeder Ungehorsam (z. B. im Prozeß eines politischen Angeklagten) hat die sofortige Entlassung zur Folge. Als Garantie für die Unabhängigkeit des Gerichtshofes sichert die sowjetische Verfassung der Bevölkerung das Recht zu, einen Richter jederzeit abzusetzen.

„Die Absetzung der Richter oder die Amtsenthebung der Geschworenen kann nur auf Grund einer Zurückberufung durch die Wähler oder durch Gerichtsentscheid erfolgen." (BSE 1. A., 53, S. 176.)

„In der bürgerlichen Gesellschaft, die auf der Ausbeutung der arbeitenden Massen und auf dem Klassengegensatz aufbaut, ist kein Raum für ein Rechtssystem, das den Interessen des Volkes gerecht wird. .. .

(In der Sowjetunion) sichert das Gesetz die wahre Unabhängigkeit der Richter und der Volks-Geschworenen, indem sie jede Amtsenthebung unmöglich macht, die nicht auf Grund einer Zurückberufung durch die Wähler oder durch einen Gerichtsentscheid erfolgt.“

(K. Gorsenin, , S o v e c k i j s u d i j eg o /r o 1 v ukreplenii socjalisticeskoj zakannosti, Kommunist, 1955 Nr. 2.

S. 64.)

In Wirklichkeit ist das Recht, Richter und Geschworene abzuberuien, weit davon entfernt, ihre Unabhängigkeit zu sichern; sie bringt sie vielmehr in ein Abhängigkeitsverhältnis zur kommunistischen Partei, weil die . Abberufung'de facto nur dann erfolgt, wenn die kommunistische Partei die entsprechenden Maßnahmen einleitet. Es hat keine einzige Ausnahme von diesem Vorgehen gegeben.

(1) Gerichtliche Funktionen werden ausschließlich von Mitgliedern der kommunistischen Partei ausgeübt.

(2) Die Wahl des Gerichtspersonals ist völlig vom Parteiapparat abhängig. Anwärter für das Richteramt werden sorgfältig politisch überprüft und erhalten ihre Ernennung nur auf Grund von Empfehlungen durch verantwortliche Parteiorganisationen.

(3) Der Grundsatz der Richterwahl besteht nur in der Theorie. Ein Richter kann jederzeit abgesetzt werden. Er wird nicht als Jurist oder nach seiner beruflichen Tätigkeit, sondern nach der Unbeflecktheit seiner Parteiakten beurteilt. Ein vorbildlicher sowjetischer Richter ist Kommunist ohne eigene Meinung über politische Erlasse, der blind allen Direktiven der VKP folgt.

b. Polizeigerichte Die andere Sowjetbehörde, die das Recht zur Urteilsfällung und zur Bestrafung von Gesetzesübertretern hat, ist die Polizei (S b o r -nik zakonov i raspor j azenii, 1933, Nr. 19, Dekret vom 14. III. 1933).

In den beinahe vier Jahrzehnten ihres Bestehens ist der Name der sowjetischen Polizei häufig geändert worden Die chronologische Reihenfolge der Namensänderungen ist die folgende:

20. Dezember 1917: Tscheka — Allrussische außerordentliche Kommission zur Bekämpfung der Gegenrevolution und Sabotage 11. Februar 1922: G. P. U. — Politische Staatsverwaltung 15. November 1923: O G. P. U. — Vereinigte Politische Staatsverwaltung 10. Juli 1934: N. K. W. D. — Volkskommissariat für innere Angelegenheiten 3. Februar 1941: N. K. G. B. — Volkskommissariat für Staats-sicherheit März 1946: M. W. D. — Innenministerium und M. G. B. — Ministerium für Staatssicherheit 27. April 1954: M. W. D. und K. G. B. — Ausschuß für Staats-sicherheit Hier wird die Bezeichnung GB (Gossudarstwennaja B e z o -

pasnost'— Staatssicherheit) gebraucht. Eine Behörde, die der Öffentlichkeit nicht zugänglich ist, die sich nicht an die gewöhnlichen gesetzlichen Verfahren zu halten braucht und die selbst Urteile vollstrecken kann, die Todesstrafe inbegriffen, ist für eine diktatorische Regierung von größter Wichtigkeit. Die GB ist anerkanntermaßen das Instrument des kommunistischen Terrors, und ohne Terror kann eine Diktatur nicht bestehen.

„Für uns ist es wichtig zu wissen, daß die Tscheka-Agenturen die Diktatur des Proletariates unmittelbar in die Praxis umsetzen, und von diesem Standpunkt aus ist ihre Rolle von unschätzbarem Wert. Es gibt keinen anderen Weg zur endgültigen Befreiung der Massen, als die gewaltsame Unterdrückung der Ausbeuter. Dies geschieht durch die Tscheka, dies ist der Dienst, den die Tscheka dem Proletariat leistet.“

(V. I. Lenin, S o c i n e n i j a , 2. A., Bd. XXIII, S. 274.)

Lenin betrachtete die GB als einen unabdingbaren Bestandteil der kommunistischen Diktatur. Im Mai 1922 machte er in einem Brief an den Volkskommissar für Justiz Vorschläge für einen Abschnitt im neuen Strafgesetzbuch, der Fragen der Gerichtshöfe, des Terrors und der Diktaturgewalt behandeln sollte. Wir müssen, so schrieb er den Terror rechtfertigen und seine Notwendigkeit erklären:

„Die Gerichte sollen den Terror nicht abschaffen. Es wäre ein Betrug uns selbst und anderen gegenüber, wenn wir so etwas versprechen wollten. Wir müssen den Terror begründen und ihn grundsätzlich gesetzlich machen in aller Klarheit, ohne Falschheit und ohne Beschönigung. Je breiter dies formuliert wird, desto besser, denn nur der revolutionäre Rechtsbegriff und das revolutionäre Gewissen wird die Bedingungen für eine weitere und engere Anwendung dieser Grundsätze schaffen." (V. I. Lenin, . Brief an D. I. Kurskij vom 17. Mai 1922', S o c i n e n i j a , 4. A., Bd. XXXIII, S. 321.)

Nach Lenin ist die Diktatur ein politisches System, das , vom Gesetz und von Bestimmungen absolut unbehindert ist und unmittelbar auf Gewalt beruht'(Lenin, Zur Geschichte der Frage der Diktatur, AW 7, S. 252).

Die GB, die wichtigste Waffe in der sowjetischen Diktatur, muß freie Hand zur Verhaftung, Einkerkerung auf unbestimmte Zeit und . Liquidierung'jeder Person haben, die eines Verbrechens schuldig oder verdächtig ist oder sogar Unschuldiger (z. B. Geiseln), die in den Gang der Ereignisse verwickelt wurden. So können z. B. erwachsene Familienmitglieder eines ins Ausland geflohenen Deserteurs zu Gefängnisstrafen von fünf bis zehn Jahren verurteilt werden (Ugolovnyj Kodeks, SSR, § 58 1 c).

Die GB wurde unmittelbar nach der Machtergreifung durch die leninistische Partei im Jahre 1917 gegründet; ihre Bedeutung wuchs rasch und ihr Zuständigkeitsbereich wurde im Laufe der Jahre immer größer.

Von Anfang an unterhielt die Tscheka-GPU ihre eigenen Gefängnisse. Als im Jahre 1934 die GPU einer weiteren kleinen Reorganisation unterzogen und ein Teil der NKWD (Volkskommissariat für Inneres) wurde, wurden alle Gefängnisse unter ihre Kontrolle gestellt (Dekret vom 27. X. 1934). Zweimal — 1921/22 und 1934 — unternahm die sowjetische Regierung schwache Anstrengungen, den Terror der GB zu mäßigen. Aber die liberale Aera war jeweils von kurzer Dauer und wurde von neuen Verfolgungswellen abgelöst.

Unter der Vielzahl von Abteilungen und Organen der GB hat die Rechtsabteilung (seit 1934 heißt sie Spezialabteilung — Osoboje Sovescanije) eine besondere Bedeutung. Sie hat die Macht, ohne vorhergehendes Gerichtsverfahren Urteile auszusprechen und _ Personen zu deportieren.

§ 5. DAS STRAFVERFAHREN Es werden in der Sowjetunion viele Urteile ohne Gerichtsverfahren verhängt; werden sie in öffentlichen Prozessen verhängt, so gibt es grobe Verletzungen elementarer Rechtsgrundsätze. Besonders krasse Beispiele solcher Verletzungen bieten die zahlreichen politischen Prozesse. a. Außergerichtliche Verfahren Wird der Angeklagte durch die oben genannte „Sonderabteilung"

(OSSO) verurteilt, so ist er beim „Prozeß" abwesend und jeder gesetzlichen Möglichkeit der Verteidigung beraubt. Es gibt keine Möglichkeit, gegen ein solches Urteil Berufung einzulegen. In den meisten Fällen wird dem Angeklagten ein kurzgefaßter Beschluß ausgehändigt, der keinen Hinweis auf irgendeinen Paragraphen des Strafgeset-zes enthält, sondern einfach das Urteil bekanntgibt, durch das er zu Gefängnis oder Arbeitslager verurteilt wird Es gibt eine umfangreiche Literatur, in der solche Verurteilungen von Menschen beschrieben werden, die selbst Opfer dieser „Justiz" waren und andere Menschen begegnet sind, denen das gleiche widerfuhr. Aus diesem Zeugenmaterial wählen wir hier zwei Beispiele: „Das ganze Verfahren, durch das Gruppen oder Einzelpersonen als SOE (sozial gefährliches Element erklärt wurden, war willkürlich und eine Aufgabe des NKWD. Die meisten dieser Fälle wurden von der sogenannten OSSO, einer Sonderabtellunng des Zentral-NKWD in Moskau, verhandelt. Die Aufgabe dieser Abteilung besteht darin, , Urteile'einzig auf der Grundlage der Gefängnisakten zu formulieren, ohne die Anwesenheit des Angeklagten und ohne jede Möglichkeit der Verteidigung. Die Akten werden von den NKWD-Untersuchungsrichtern und -Staatsanwälten des ganzen Landes an diese Abteilung geschickt. Der Angeklagte weiß nicht einmal, wann sein Fall von der Abteilung behandelt wird." (J. Gliksman, Teil t he West, An Abridgement, S. 16.) „Ich kehrte zum Gefängnis zurück. Vier Monate später wurde ich vom Oberaufseher des Korridors zitiert, der mir vorlas, daß ich auf Grund der Anwendung einer besonderen Verordnung der OSSO/NKWD der UdSSR nach Artikel 54, 11 wegen Betätigung in der ukrainischen nationalistischen Untergrundbewegung zu 10 Jahren Gefängnis in den Straflagern des NKWD verurteilt war.“ (N. Prychodko, One of the Fifteen Million s, Boston 1952. S. 93.) (Für den Inhalt der Bekanntmachung s. Gliksman e b d. SS 119f. und Elinor Lipper, 11 YearsinSovietPrisonCamps, S. 68; vgl. auch Mora-Zwierniak SS. 301 f., Zeugnisse NN., 1539, 10. 752, 11. 213 und 12. 541.) b. Verletzungen der Rechtsgrundsätze bei gerichtlichen Verfahren Aber selbst wenn die Urteile in öffentlichen Prozessen verhängt werden, gibt es in kommunistischen Ländern grobe Verletzungen elementarer Rechtsgrundsätze. In vielen Fällen (meist politischer Natur) wurden die Angeklagten geschlagen, gefoltert und durch Entzug von Schlaf und mit anderen Mitteln zermürbt. Auch dies wird von zahlreichen Zeugen und Opfern dieser Verfahren bestätigt. „Eine der häufigsten und wichtigsten Methoden bestand in systematischen Schlafentzug durch ausgedehnte Verhöre, die oft Tage und Nächte lang fortgesetzt wurden und bei denen sich drei oder mehr Untersuchungsrichter gegenseitig ablösten und den Angeklagten frag-ten, wer ihn angeworben hätte und wen er seinerseits angeworben hätte ... Wir kennen einen Fall, bei dem das Verhör ohne irgendeine Unterbrechung elf Tage dauerte, während der letzten vier Tage wurde der Gefangene gezwungen zu stehen; in einem anderen Fall dauerte es achtundvierzig Tage mit gelegentlichen Unterbrechungen von zwei Stunden, in denen der Gefangene sich nicht hinlegen durfte, sondern nur in sitzender Stellung schlafen konnte.“ (F. Beck and W. Godin, Russian Purge and Extraction of Cons essi on , transl.from German by Eric Mosbacher and David Porter, New York 1951, S. 52.) Die Tatsache derartiger Mißstände in der Rechtspflege ist kürzlich von kommunistischen Führern in der Sowjetunion öffentlich anerkannt worden. „Von Stalin stammt der Begriff des . Volksfeindes'. Dieser Terminus machte es von vornherein überflüssig, einer Person oder Personengruppe, die sich mit ihm in Widerspruch befand, ideologische Irrtümer nachzuweisen. Dieser Terminus ermöglichte die Anwendung grausamster Unterdrückung, die Verletzung aller Normen der revolutionären Gesetzlichkeit zum Nachteil derer, die in irgendeinem Punkt nicht mit Stalin übereinstimmten, bei denen auch nur der geringste Verdacht feindlicher Absichten bestand und die nicht gut angeschrieben waren. ... In der Regel genügte als einziger Schuldbeweis, im Widerspruch zu allen Normen der Rechtswissenschaft, das . Geständnis' des Angeklagten selbst; wie sich später herausstellte, wurden die . Geständnisse'durch physischen Druck von den Angeklagten erpreßt.“ (Rede Chruevs über Stalin auf der Geheimsitzung des XX. Parteitages der KPdSU am 2 4. und 2 5. Februar 195 6, -engl. Text s. Boris Meißner, Das Ende des Stalin-Mythos, Frankfurt/M. 1956, S. 177 f.; deutsch. Text nach Chruschtschow gegen Stalin, Sonderdruckreihe der Hessischen Landeszentrale für Heimatdienst, Heft 5, S. 7 f.) „Dem NKWD wurde die niederträchtige Praxis gestattet, Listen von Personen zusammenzustellen, für deren Fälle das Oberste Militärgericht zuständig war und bei denen die Urteile im voraus feststanden. Jeshow pflegte diese Listen zur Bestätigung der vorgeschlagenen Strafen an Stalin persönlich zu senden. In den Jahren 1937 bis 1938 wurden 383 solcher Listen mit den Namen vieler Tausender von Partei-, Sowjet-, Komsomol-, Armee-und Wirtschaftsfunktionären Stalin zugesandt. Und diese Listen wurden von ihm gebilligt.“ (Meißner, ebd., S. 184; deutsch: Sonderdruckreihe ... S. 24.)

c. Politische Prozesse In allen kommunistisch beherrschten Ländern haben häufig öffentliche politische Prozesse stattgefunden, deren erster Zweck in der Beeinflussung der öffentlichen Meinung lag. Im Laufe dieser Prozesse haben die sorgfältig vorbereiteten Angeklagten ihre Verbrechen zerknirscht gestanden und oft um strenge Bestrafung gebeten. Es muß festgestellt werden, daß nur ein kleiner Teil der politischen Angeklagten in dieser Form abgeurteilt wird, während man den Rest ohne Prozeß oder in Geheimsitzungen des Gerichtshofes verurteilt. Die wichtigsten öffentlichen politischen Prozesse in der Sowjetunion waren die folgenden:

Juni-Juli 1922:

Der Prozeß gegen 22 Parteiführer der Sozialrevolutionäre. Die Anklage lautete auf bewaffneten Widerstand gegen die Sowjetmacht, Vorbereitung terroristischer Anschläge und verräterische Beziehungen zu den Feinden der Sowjetrepublik. Die Angeklagten wurden zum Tode verurteilt, aber die Todesstrafe wurde nicht vollstreckt.

April-Juni 1928:

Der Prozeß der Sachty-Ingenieure war der erste breit veröffentlichte Schauprozeß. Unter den Angeklagten befanden sich 50 russische und drei deutsche Ingenieure und Techniker. Zehn der Angeklagten gestanden Sabotageakte. Elf wurden zum Tode verurteilt, von denen bei fünf das Urteil vollstreckt wurde, während es bei den restlichen sechs ausgesetzt wurde. 38 Angeklagte erhielten verschieden hohe Gefängnisstrafen, la)

N o v e m b e r -D e z e m b e r 1 93 0:

Im Prozeß der Industrie-Partei (der Fall Ramzin) wurden von den acht Angeklagten fünf zum Tode verurteilt; das Urteil wurde aber in zehn Jahre Gefängnis umgewandelt.

März 1931:

Im Prozeß der 14 Mensevikiführer (Sozialdemokraten) lautete die Anklage auf gegenrevolutionäre Tätigkeit und Sabotage. Die Angeklagten erhielten verschieden hohe Gefängnisstrafen.

April 1 933:

Prozeß gegen sechs britische Ingenieure, die als Angestellte der Metropolitan Vickers Industrial Company in Rußland waren. Die Anklage lautete auf Sabotage und Spionage. Zwei der Angeklagten erhielten Gefängnisstrafen von zwei bis drei Jahren, drei wurden deportiert und einer wurde freigesprochen.

Januar 1935:

Erster Prozeß gegen eine Gruppe höchster Kommunistenführer, unter ihnen Grigori Zinovjev, Lev Kamenev, Grigori Evdokimov und 16 andere Angeklagte. Die Anklage lautete auf Organisation einer gegenrevolutionären Untergrundbewegung in Moskau und Leningrad.

Alle Angeklagten bekannten sich schuldig. Das Militärkollegium des Obersten Gerichtshofes erklärte im Urteil, daß den Angeklagten . terroristische Strömungen in der Leningrader Gruppe bekannt waren und daß sie diese selbst anschürten'. Vier der Angeklagten wurden zu Gefängnisstrafen von zehn Jahren verurteilt, fünf zu acht Jahren, sieben zu sechs Jahren und drei zu fünf Jahren.

August 1936:

Während der obige Prozeß geheim gehalten worden war, wurde ein neuer Prozeß in aller Öffentlichkeit in Moskau aufgezogen. Die Angeklagten waren Grigori Zinovjev, Lev Kamenev, Grigori Evdokimov und 13 andere. Die Anklage lautete auf Organisation eines terroristischen Zentrums, Vorbereitung der Ermordung von Sergei Kirov und eine Reihe anderer terroristischer Akte. Alle Angeklagten gestanden. Alle wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Januar 1937:

Der Prozeß gegen die . antisowjetische Trotzkisten-Zentrale'. Angeklagt waren Juri Piatakov, Karl Radek, Grigori Sokolnikov und 14 andere. Sie wurden des Hochverrates, der Spionage, der Aufwiegelung, der Sabotage und der Vorbereitung terroristischer Akte bezichtigt.

Alle Angeklagten waren geständig. 13 wurden zum Tode verurteilt, drei zu zehn Jahren Gefängnis und ein weiterer zu acht Jahren Gefängnis.

Juni 1937:

Der Fall von acht hohen Offizieren der Roten Armee — Marschall Tuchacevskij, die Generäle I. G. Jakir, I. P. Udorev und fünf andere.

Der Prozeß fand hinter geschlossenen Türen vor einem Sondersenat des Hohen Gerichtshofes statt. Die Anklage lautete auf Verrat, Sabotage in der Roten Armee und Spionage zugunsten einer ausländischen Macht. „Sie versuchten, eine Niederlage der Roten Armee im Falle eines militärischen Angriffes auf die Sowjet-Union vorzubereiten und der Wiederherstellung der Herrschaft der Großgrundbesitzer und Kapitalisten Vorschub zu leisten". Alle Angeklagten bekannten sich schuldig. Alle wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet. Die Richter in diesem Prozeß (Marschall V. K. Blücher, Ja. I. Alksnis und sechs andere) wurden in der Folgezeit alle bis auf zwei Ausnahmen (Marschall Semon Budennyj und General V. K. Sapasnikov) hingerichtet.

März 1938:

Prozeß gegen die Führer der Rechts-Opposition, offiziell „Block der Rechten und Trotzkisten" genannt. Die bedeutendsten unter den 21 Angeklagten waren Nikolai Bucharin, Aleksej Rykov, Nikolai Krestinskij und Genrich Jagoda. Den Angeklagten wurde Hochverrat, Spionage, Aufwiegelung, Sabotage und terroristische Akte vorgeworfen. Alle bekannten sich schuldig, und mit Ausnahme von drei Angeklagten wurden alle zum Tode verurteilt. Von den drei nicht zum Tode Verurteilten wurden zwei zu 25 Jahren und einer zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt.

Der Krieg wurde zum Anlaß einer Massen-, Liquidierung'von Gefangenen in jenen Gebieten im Westen und Süden des Landes, von denen man annahm, daß sie in die Hand des Feindes fallen würden.

Die aus Gefangenen bestehenden , Strafbataillone'an der Front waren die ersten die aufgerieben wurden. Nach Kriegsende suchte eine neue große Säuberung die ehemals deutsch besetzten Gebiete heim, um alle der . Kollaboration'verdächtigen Personen auszurotten. Neue Unterdrückungsmaßnahmen begannen im Jahre 1948 gegen die . Kosmopoliten', besonders gegen jüdische Intellektuelle, von denen eine große Anzahl verhaftet und hingerichtet wurde, als 1952 die Aktion gegen die jüdischen Ärzte begann (Ne w York Times, 7. III. 1956;

12. IV. 1956, Daily Werke r, New York, 11. IV. 1956). Das Mitglied des Politbüros Nikolai Voznesenski wurde 1950 hingerichtet;

eine Anzahl anderer Kommunistenführer kam zur gleichen Zeit um (New York Times, 23. III. 1953).

In der zweiten Hälfte des Jahres 1952 begann eine neue größere Säuberungswelle, die wohl die Ausmaße der vorhergehenden in den dreißiger Jahren erreicht hätte, wenn Stalin nicht im März 1953 gestorben wäre (New York Times, 16. III. 1956).

Die auf Stalin folgende Regierung praktizierte den Terror nicht im Ausmaß ihres Vorgängers, aber auch ihre erste Zeit war reich an Säuberungen, Prozessen und Hinrichtungen.

Dezember 1953:

Sechs GB-Führern, unter ihnen Lavrenti Beria, Vsevok Merkulov und Vladimir Dekanozov, wurde hinter verschlossenen Türen von einer Sonderkommission des Obersten Gerichtshofes der Prozeß gemacht. Sie wurden Verbrechen im Sinne verschiedener Abschnitte von § 58 bezichtigt und sämtlich zum Tode verurteilt (I s v e s t i j a, 25.

XII. 1953).

Juli 1954:

Der GB-Führer M. D. Riumin wurde vor das Militärkollegium des Obersten Gerichtshofes gestellt, zum Tode verurteilt und hingerichtet (Prawda, 2. VII. 1954).

Dezember 1954:

* Sechs GB-Führer, unter ihnen Viktor Abakumov und A. G. Leonov, erschienen in Leningrad vor dem Militärkollegium des Obersten Gerichtshofes der U. d. S. S. R. Vier von ihnen wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet; zwei erhielten Gefängnisstrafen (Prawda, 24. XII. 1954).

November 1955:

Gegen sechs GB-Führer und zwei Staatsanwälte der georgischen Sowjetrepublik wurde vor dem Militärkollegium des Obersten Gerichtshofes in Tiflis verhandelt. Unter ihnen befanden sich die ehemaligen Minister Nikolai Ruchhadze und Avkentsii Rapava. Sechs Angeklagte wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet, während zwei weitere mit Gefängnis bestraft wurden (amtliche Rundfunkmeldung, Tiflis, 21. XL 1955).

Gegen Tausende von Kolchosen-Vorsitzende und andere örtliche Führer wurde wegen „Untüchtigkeit" (was häufig mit Mangel an Linientreue gleichbedeutend ist) Säuberungsmaßnahmen durchgeführt; dabei kam es allerdings meistens nicht zu weiteren Repressalien (Prawda, 5. IV. 1955).

§ 6. DIE HÄRTE DER BESTRAFUNG Im Gegensatz zu den Versicherungen der kommunistischen Propaganda sind die vom Gesetz für die einzelnen Vergehen vorgesehenen Strafen in der Sowjetunion und in den anderen kommunistisch beherrschten Ländern viel härter als im Westen. Seit der Revolution wurde das Strafmaß nicht gemildert, sondern heraufgesetzt.

a. Die Länge der Haftstrafen Die gesetzlich zulässige Höchststrafe war in der Sowjetunion lange Zeit hindurch sehr niedrig; gleichzeitig bestand aber keine Begrenzung für die durch GB-Urteile verhängten Strafen. Im Laufe der Zeit wurde das Höchststrafmaß immer größer.

Zu Anfang verhängten die Sowjetgerichte Urteile, die milder als irgendwo anders waren. 1921 war die Höchststrafe 5, 1922 10 Jahre (Vsesojuznyj Institut Juridiceskich Nauk. Ministerstvo Justicii Sojuza SSR. Ugolovnoje Pravo.

Obscaja Cast'. Moskva 1948 — Dekret vom 25. III. 1921, S. 501).

Die Höchststrafe von 10 Jahren wurde im Jahre 1922 vom allrussischen das Exekutiv-Komitee vorgeschrieben und 1924 in Strafgesetzbuch ausgenommen.

Diese Höchststrafe von 10 Jahren, die über eine lange Zeit für gemeine Verbrechen in Kraft blieb, wurde in Wirklichkeit durch GB-Urteile ergänzt, die keiner Beschränkung unterlagen.

Von jeher hatte die GB die Befugnis, Urteile zu fällen, die Todesstrafe nicht auskommen, und Verurteilte hinzurichten. Ihre Rechte, Deportationen in Zwangsarbeitslager anzuordnen, waren praktisch unbegrenzt. Das Dekret vom 10. VII. 1934 beschränkte dieses Recht der GB auf Deportationen in Zwangsarbeitslager bis zu fünf Jahren.

Diese Grenze wurde jedoch nie eingehalten, und schon ein paar Monate später wurden nach der Ermordung von Stalins persönlichem Sekretär, Sergej Kirov, alle Beschränkungen praktisch aufgehoben (Vladimir Gsovsky, New Substantive Law, Soviet Union, vorläufige Ausgabe, Teil III, SS. 54— 60; ferner S e m e n o v , ebd., S. 38).

Bis zur Mitte der dreißiger Jahre war das sowjetische Strafrechts-System milde gegen gemeineVerbrecher und streng gegen politische. Die Reihen der letzteren wurden durch die Kolchosen-Bildungen der Jahre 1930— 1932 verstärkt. Im Jahre 1932 wurden der Liste strafbarer Handlungen die „Verbrechen gegen das sozialistische Eigentum" angefügt und für eine Reihe von ihnen die Todesstrafe angedroht (Dekret vom 7. VII 1932).

Im Jahre 1937 wurde das Höchststrafmaß von 10 auf 25 Jahre heraufgesetzt (Dekret vom 2. X. 1937). Die neue Höchststrafe, die während des Krieges in Kraft war, wurde auf eine große Zahl von . Verrätern'und anderen Delinquenten angewandt Die Nachkriegszeit brachte keine Verkürzung der Strafzeiten. Im Juni 1947 wurde das Strafmaß für das Verbrechen der . Plünderung von Staatseigentum’ bedeutend erhöht. Ein anderes Dekret vom gleichen Datum erhöhte die Gefängnisstrafen für Diebstahl von Privateigentum (Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjet vom VI. 1947 „über den erhöhten Schutz von Privatbesitz"). Einige Tage später wurden schwere Strafen für den „Verrat von Staatsgeheimnissen" beschlossen (Dekret des Obersten Sowjet vom 9. VI. 1947 mit dem Titel: „Verantwortlichmachung für den Verrat eines Staatsgeheimnisses und den Verlust von Dokumenten, die ein Staatsgeheimnis enthalten")

Im Jahre 1949 wurde die Höchststrafe für Vergewaltigung heraufgesetzt. (Dekret des Obersten Sowjet vom 4. Januar 1949.) Jede Verlängerung der Höchststrafe war ein Anzeichen für eine Zunahme der Kriminalität. Heute sind die sowjetischen Urteile für begangene Verbrechen wesentlich strenger als diejenigen der westlichen Länder (V.

Gsovsky, ebd., SS. 18— 24).

Bald nach Stalins Tod wurde ein Plan für eine Revision des Strafgesetzbuches angekündigt. Zur Zeit, in der dieser Bericht geschrieben wurde, ist diese Revision noch nicht abgeschlossen gewesen. Vermutlich werden ihre Hauptkennzeichen in einer Heraufsetzung der Strafen für schwere Verbrechen und einer Herabsetzung der Strafen für kleinere Vergehen bestehen.

Die sich in Vorbereitung befindenden Entwürfe für das Strafgesetzbuch und die Strafprozeßordnung sehen zum ersten eine Intensivierung des Kampfes gegen so gefährliche Verbrechen wie Hochverrat, Spionage, Aufwiegelung, Bandenwesen, Mord und Diebstahl vor; zum zweiten ist an eine Herabsetzung der Strafen oder ihren Ersatz durch administrative und soziale Maßnahmen dort gedacht, wo es sich um unbedeutende Vergehen in der Lebensführung, geringfügige Wirtschaftsvergehen oder Vertrauensbruch durch Beamte handelt (Kommunist, Januar 1955, Nr. 2, SS. 63, 64).

b. Die Todesstrafe Obwohl die Todesstrafe mehrmals abgeschafft wurde, hat sie das Sowjetsystem doch reichlich angewandt, sowohl im Justiz-, als auch im Polizeiverfahren. Die Gesamtzahl der in Sowjetrußland durch Erschießen oder Erhängen hingerichteten Personen ist Staatsgeheimnis; sie ist jedoch zweifellos sehr groß.

Noch am Tage des sowjetischen Umsturzes von 1917 — am 8. November — beschloß der gleiche Kongreß der Sowjets, der Lenins Regierung ernannte, die Abschaffung der Todesstrafe (die an den Fronten zur Bekämpfung der ständig zunehmenden Desertion eingeführt worden war). Obwohl dieser Beschluß des Kongresses bei der Armee Anklang fand und von Lenin selbst gutgeheißen wurde, widersprach er doch Lenins Auffassungen von der Revolution.

„Die Diktatur ist eine eiserne Macht, die mit revolutionärer Kühnheit und Schnelligkeit handelt, die erbarmungslos ist bei der Unterdrückung sowohl der Ausbeuter als auch der Rowdys.“ (Lenin, D i e nächsten Aufgaben der Sowjetmacht, AW 7, S. 345.)

Trotz des Dekrets vom 8. November folgte in den nächsten Jahren eine Welle von Hinrichtungen. Am 16. VI. 1918 beschloß das Volks-kommissariat für Justiz, daß die neuen Gerichtshöfe (die . Revolutions-Tribunale') in ihrer Wahl der Strafmaßnahmen für , Gegen-Revolutionäre'nicht beschränkt sein sollten (Entschließung des Volkskommissariats für Justiz der RSFSR vom 16. VI. 1918). Am 5. IX. 1918 befahl die Sowjetregierung die Erschießung der Angehörigen der weißen Garde und der Verschwörer 4).

Durch Gesetz vom 17. VI. 1920 wurde die Todesstrafe (mit Ausnahme der Frontgebiete) abgeschafft; jedoch wurde sie bereits vier Monate s k i j akt, Moskva, 1947, S. 7). Im Strafgesetzbuch von 1924, das für lange Zeit in Kraft blieb, wurde die Todesstrafe . vorläufig bis zur Im Strafgesetzbuch von 1924, das für lange Zeit in Kraft blieb, wurde die Todesstrafe . vorläufig bis zur Aufhebung durch das zentrale Exekutiv-Komitee" beibehalten (ebd., S. Am 7. VIII. 1932 wurde die Todesstrafe den Maßnahmen gegen den Diebstahl . sozialistischen Eigentums'beigefügt 5). Während des Krieges wurde das Erhängen, das als erniedrigende Hinrichtungsart betrachtet und vom Sowjetregime nicht angewandt worden war, wieder eingeführt.

Am 26. V. 1947 wurde die Todesstrafe wieder einmal abgeschafft aber am 11. I. 1950 für . Verräter, Spione, Aufrührer'und andere Gruppen politischer Verbrecher wiede eingeführt 6). Am 30. IV. 1954 wurde sie auf den Mord ausgedehnt 7).

§ 7. GEFÄNGNISSE UND ZWANGSARBEITSLAGER: DIE THEORIE Gefängnisse und Strafarbeitslager sind die beiden wichtigsten sowjetischen Strafeinrichtungen.

Theoretisch dienen die Sowjet-Gefängnisse hauptsächlich als Einrichtungen zur Verwahrung von Personen, die der Begehung eines Verbrechens verdächtig sind, von Angeklagten vor ihrem Prozeß und von Verurteilten mit kurzen Gefängnisstrafen; nach dieser Theorie demoralisieren lange Gefängnisstrafen den Häftling. Die sozialistische Gesellschaft, so behauptet die Theorie, schafft mit der Zeit die Gefängnisse ab.

Die zweite sowjetische Strafeinrichtung, das Strafarbeitslager, soll sowohl der Bestrafung als auch der Besserung des Verbrechers dienen.

„Die in der Sowjetunion angewandte Methode der Straiarbeitslager hat nichts mit den in den kapitalistischen Ländern geübten Geiängnismethoden zu tun, die aui der körperlichen und geistigen Verstümmelung der Klassenfeinde oder Bourgeoisie und auf ihrer Ausrottung durch eine terroristische Gefängnisordnung beruht ..."

„Das sowjetische System der Strafarbeit verzichtet nicht auf die Anwendung einer Strafe, die ein unabdingbarer Bestandteil der Erziehung des Gesetzesbrechers ist. Aber ... es gestattet nicht ihre Verschärfung durch Quälereien und Verletzung der Menschenwürde derjenigen, die ihrer Freiheit beraubt sind (§ 7 des Strafarbeitsgesetzes der RSFSR). Die Strafarbeitsmethode beruht aui einer glücklichen Kombination einer Arbeitsordnung mit kulturell-erzieherischer Tätigkeit.“

(BSE 2. A., 18, S. 602 f.).

Die kommunistische Theorie betont, daß das Hauptmittel zur Erziehung des Verbrechers die Arbeit ist; sie lehrt Ordnung, schafft gute Sozialgewohnheiten und erlaubt eine berufliche Ausbildung. „Die Haftordnung dient als Mittel zur Besserung und Umerziehung der Häftlinge; sie ist zu deren Angleichung an die Erfordernisse einer arbeitenden Gemeinschaft bestimmt, in die sie nach Verbüßung ihrer Strafe zurückkehren werden. Das wichtigste Mittel der Besserung und Umerziehung ist eine für die Gemeinschaft nützliche Arbeit" (BSE 2. A., 18, S. 603).

Nach der sowjetischen Gesetzgebung ist der Grundsatz der Arbeitsentlöhnung auch auf die Arbeit in einem Strafarbeitslager anzuwenden.

Der Häftling in einem Arbeitslager hat das Recht, wenigstens einen Teil seines Lohnes während der Verbüßung seiner Strafe zu verbrauchen. Die sanitären Vorschriften sind zu beachten; die Gefangenen sind menschlich zu behandeln; Schläge sind verboten; gesunde Kost muß in genügender Menge bereitgestellt werden; die Unterbringung muß den Grundsätzen der modernen Hygiene entsprechen;

Ärzte, Arzneien und Krankenhauseinrichtungen müssen zur Verfügung stehen.

Personen, die zu Strafen von mehr als drei Jahren verurteilt sind, müssen sie in Strafarbeitslagern verbüßen. Haftstrafen unter drei Jahren werden gewöhnlich in Strafarbeits-Kolonien verbüßt; diese Einrichtung ist gegenüber den Gefängnissen und Strafarbeitslagern von untergeordneter Bedeutung. Diese Kolonien, die den erstmals straffällig gewordenen, zu kurzen Strafen verurteilten Delinquenten vorbehalten sind, sind durch eine mildere Disziplin und verschiedene Privilegien ihrer Insassen gekennzeichnet. Eine andere Form milderer Bestrafung für kleinere Vergehen stellt die Verbannung ohne Einweisung in ein Strafarbeitslager dar. Die mildeste Form der Bestrafung ist die . Zwangsarbeit'im früheren Beruf des Angeklagten; sie besteht lediglich in einem Lohnabzug, gewöhnlich von 25 Prozent, für einen bestimmten Zeitraum (Statut für Strafarbeitslager vom 7. IV. 1930, Gesetze der UdSSR, 1930, S. 248).

In Übereinstimmung mit der kommunistischen Theorie und dem sowjetischen Gesetz unterliegen die Gefangenen verschieden harten Bestimmungen, je nachdem, zu welcher der drei folgenden Gruppen sie gehören:

Gruppe 1 umfaßt alle Fälle schwerster Verbrechen. Dazu gehören alle . Gegenrevolutionäre'(Personen, die politischer Vergehen bezichtigt sind) und alle arbeitsscheuen Elemente.

Gruppe 2 umfasst andere Kriminelle mit Strafen von mehr als fünf Jahren Dauer.

Gruppe 3 wird von nichtpolitischen Straffälligen gebildet, deren Strafen unter fünf Jahren liegen (Statut für Strafarbeitslager, § 14).

C. Die Praxis der Zwangsarbeit

§ 8. ÜBERSICHT Daß es in der Sowjetunion und in den meisten kommunistisch beherrschten Ländern tatsächlich Zwangsärbeitslager gibt, ist nicht zu bezweifeln. Dies ist von Zehntausenden ehemaliger Häftlinge solcher Lager berichtet worden (s. Mora-Zwierniak, Dallin-Nikolaievski usw.; es besteht, eine reiche Literatur der Memoiren solcher Gefangener (siehe Dallin-Nikolaievski). Darüber hinaus bestellte im Jahre 1951 der Wirtschafts-und Sozialrat der Vereinten Nationen zusammen mit der internationalen Arbeits-Organisation eine Sonderkommission (das , Ad Hoc Committee on Forced Labor') zur Untersuchung der Strafgesetzgebung und Zwangsarbeit in verschiedenen Ländern. Nach einer gründlichen Untersuchung stellte die Kommission in ihrem Schlußbericht (veröffentlicht im Jahre 1953) zur Situation in der Sowjetunion fest: „Die sowjetische Strafgesetzgebung ... bildet die Grundlage eines Systems, in dem die Zwangsarbeit als Mittel politischen Druckes oder als Strafe für politische Überzeugungen und deren Äußerung benutzt wird; aus den vielen Zeugnissen, die die Kommission untersucht hat, geht eindeutig hervor, daß diese Gesetzgebung auch tatsächlich in diesem Sinne angewandt wird.“ „Personen, die von einem Gericht oder durch eine Verwaltungsbehörde zu Freiheitsentzug verurteilt sind, besonders politische Verbrecher, werden meist in Arbeitslagern oder Arbeits-Kolonien bei Großbauvorhaben zur Erschließung von Gruben-Revieren oder bisher nicht bebauten Gebieten oder bei anderen Arbeiten im öffentlichen Interesse verwendet; aus diesem Grund scheint dieses System innerhalb der Staatswirtschaft von einiger Bedeutung zu sein“ (Vereinte Nationen, Internationales Arbeitsamt. Bericht des , Ad Hoc Committee on Forced Labor', Genf, 1953, SS. 437— 8). Das gleiche gilt für das kommunistische China und die unter kommunistischer Herrschaft stehenden osteuropäischen Staaten; auch darüber gibt es eine umfangreiche Dokumentation; die Tatsache ist ebenfalls vom Wirtschafts-und Sozialrat in Dokumenten bestätigt worden, die weiter unten angeführt sind.

Größe und Art dieser Lager können folgendermaßen beschrieben werden: In der Sowjetunion gibt es eine große Zahl von Zwangsarbeitslagern, in denen Millionen von Arbeitssklaven beschäftigt worden sind; andere kommunistisch beherrschte Länder sind hierin der Sowjetunion in kleinerem Umfang gefolgt, bis auf China, wo ein gigantisches System von Sklavenlagern entstanden zu sein scheint.

Die Belegschaft dieser Lager setzt sich zusammen aus Kriminellen, politischen Verbrechern, Angehörigen der liquidierten Klassen, Führern von derzeit unterdrückten Volksgruppen und anderen.

Bis in die letzte Zeit waren die Sklaven äußerst harten Arbeitsbedingungen unterworfen (erst kürzlich ist die tägliche Arbeitszeit auf zehn Stunden verkürzt worden); sie sind schlecht ernährt und mangelhaft gekleidet gewesen und mußten die primitivsten Bequemlichkeiten eines zivilisierten Lebens entbehren; für ungenügende Arbeit und sogar für lächerliche Vergehen wurden sie grausam bestraft. Die Sterblichkeit in diesen Lagern war sehr hoch, wodurch die Notwendigkeit erklärt wird, sie mit neuen Sklavenmassen aufzufüllen.

Wir lassen hier einige Informationen über die nachstehenden Punkte folgen:

a) die Geschichte der Zwangsarbeitslager b) Aufbau und Ausdehnung des Systems c) Arbeitsbedingungen d) Lebensbedingungen e) Wirtschaftliche Bedingungen f) Veränderungen seit dem Jahre 1949.

§ 9. GESCHICHTE Das System der Strafarbeitslager in der Sowjetunion hat sich aus der Kombination zweier Einrichtungen entwickelt: Zwangsarbeit in Gefängnissen und Konzentrationslagern.

Bereits drei Monate nach dem sowjetischen Umsturz im November 1917 beschloß die neue Regierung in einem ersten Versuch zur Besserung der Verbrecher, daß alle in Gewahrsam befindlichen Gefangenen arbeiten müßten. Das erste amtliche Dokument über die Schaffung von Konzentrationslagern wurde am 15. April 1919 vom zentralen Exekutiv-Komitee (TsIK) veröffentlicht; es trägt den Titel . Dekret des TsIK über die Errichtung von Zwangsarbeitslagern'(Sbornik d ekretow 1919 g., Moskva, 1920, S. 80).

In den nächsten paar Jahren wurden in bestimmten Gefängnissen Werkstätten eingerichtet; die Ergebnisse dieses Programmes zur Besserung der Gefangenen waren völlig unbedeutend, inzwischen waren Konzentrationslager für . Gegenrevolutionäre', . Großgrundbesitzer und Kapitalisten’, Angehörige der Rechtsparteien, , weiße'Offiziere, Geiseln und einige andere Gruppen politischer Gegner eingerichtet worden. Die Bezeichnung . Konzentrationslager'wurde von den Behörden unverblümt benützt; in den Lagern wurde nicht gearbeitet.

Während des Bürgerkrieges dehnte sich das Netz der Lager aus und wurde auch nach Beendigung des Bürgerkrieges aufrechterhalten.

Unter den zahlreichen Lagern dieser Zeit waren die im hohen Norden gelegenen SLON-Lager (Nördliche Lager mit besonderer Bestimmung)

die wichtigsten; das bedeutendste unter ihnen war das auf den Solovetski-Inseln gelegene, in den Räumen des jahrhundertealten Soloveskij-Klosters untergebrachte SLON-Lager. Von 1921 bis 1923 wurde eine große Zahl von . Gegenrevolutionären'(Mitglieder der Rechtsparteien)

in diese Lager deportiert; seit 1923 kamen auch politische Gefangene dazu (in jener Zeit wurde dieser Ausdruck für die Mitglieder sozialistischer und anarchistischer Gruppen gebraucht). Die Gefangenen-Belegschaft von Solovki stieg von 4000 im Jahre 1923 auf 7000 im Jahre 1925 und 1927— 1928 auf 20 000; im Jahre 1930 war die Bevölkerung auf 100 000 angewachsen

Die Lebensbedingungen waren äußerst hart. Hunger und Seuchen dezimierten die Belegschaft, und unter den . politischen'und . gegenrevolutionären'

Gefangenen war der Selbstmord häufig. 1919 fand der erste Besuch eines sowjetischen Konzentrationslagers durch einen hochgestellten Gast statt: Maxim Gorkij besichtigte . Solovki'. Die Baracken wurden geputzt und gelegt und eine Nachmittags-Freizeit wurde eingeführt — aber nur für die kurze Zeit der Besichtigung. Das gleiche Schauspiel wiederholte sich später in anderen Lagern jedesmal, wenn die Besuche berühmter Persönlichkeiten bevorstanden (E. Lipper, ebd., S, 26— 29).

Die Jahre 1928— 1930 sahen den Beginn einer großangelegten Industrialisierung, Militarisierung und Kollektivierung in Rußland und den Anfang einer neuen Ära der Konzentrationslager. Der erste Fünfjahresplan bedeutete einen außerordentlichen Anstieg des Bedarfes der Sowjet-Industrie an menschlichen Arbeitskräften; der Bedarf an neuen Rohmaterialien bedeutete, daß mehr Arbeitskräfte für die Holzarbeit, den Bergbau und den Transport benötigt wurden. Die Hauptquelle für Arbeitskräfte, der russische Bauernstand, mußte jedoch in Kollektivbetrieben zusammengefaßt werden, während die wohlhabenden Bauern und ihre Familien, nachdem man ihnen ihr Land und das übrige Eigentum weggenommen hatte, e n mässe deportiert werden sollten.

Auf diese Weise sollte der soziale Umsturz auf dem Land das Problem der Beschaffung von Arbeitskräften lösen. Millionen von Bauern, die sich der Kolchosenbildung widersetzten, zogen die Abwanderung in die Städte vor, während Millionen Kulaken in weit abgelegene Gebiete deportiert wurden oder in Konzentrationslager und andere Verbannungsgebiete verbracht wurden, um dort in den Wäldern, in Goldund Kohlenminen, beim Straßenbau und in einer großen Zahl anderer Beschäftigungen zu arbeiten. Nach sowjetischen Statistiken gab es im Jahre 1928 5 889 000 Kulaken im Jahre 1932 waren sie restlos ausgerottet.

Das sowjetische Dekret vom 7. April 1930 bezeichnete zwei Gruppen von Personen, die in Konzentrationslager einzuweisen waren; 1. Personen, die durch ein Gericht zu Freiheitsentzug von nicht weniger als drei Jahren verurteilt wurden. 2. Personen, die durch Sonderentscheid der OGPU verurteilt waren.

Als Ergebnis des Kolchosen-Feldzuges und des neuen Dekrets erhöhten sich die Verurteilungen zu Zwangsarbeit von 21 °/o aller Urteile im Jahre 1927 auf 58 °/o im Jahre 1932 In Übereinstimmung mit der Theorie der . Besserung'der Gefangenen durch Arbeit wurden aus den Konzentrationslagern nun . Strafarbeitslager'. Einer neuen Abteilung der GB (GULAG-Hauptverwaltung der Arbeitslager und -kolonien)

wurde die Einrichtung und Überwachung der Zwangsarbeitsunternehmen übertragen (Belomorsko-Baltickijkanal im Sta-lina;

Istorija stratelstava, herausgeg. von M. Gorskij, Moskva, 1934, S. 118). Die Tätigkeit dieser Abteilung wuchs ins Riesenhafte.

Als Verwalter ihrer eigenen Unternehmungen ist diese Abteilung eine der größten, wenn nicht der größte Arbeitgeber der Welt geworden.

§ 10. EINRICHTUNG UND AUSDEHNUNG DES SYSTEMS Es gibt zwei Arten von GULAG-Unternehmungen: die Dauereinrichtungen, wie Kohlenbergwerke, Fischerei-und Forstbetriebe etc. und zeitlich begrenzte, wie der Bau einer Straße in irgendeiner Provinz, einer Brücke, eines Kanals oder einer Fabrik.

Bei den letzteren Vorhaben werden die Arbeitskräfte nach Erfüllung ihrer Aufgabe an einen anderen Ort gebracht. Unter den Dauereinrichtungen gibt es eine Anzahl von Großbetrieben; die dazu gehörigen Strafarbeitslager bestehen nun schon seit mehr als 20 Jahren, wie z. B. die Vorkuta-Lager, die Kohlen für die Leningrader Industrie fördern, die Karaganda-Kohlengruben in Zentral-Asien, Kolyma, eines der reichsten Goldfelder der Welt. Unter den zeitlich begrenzten Projekten befanden sich der Kanal vom Baltikum zum Weißen Meer, die sibirische (Taishet-) Bahn, der Wolga-Don-Kanal, Wasserbauvorhaben in der Umgebung Moskaus und andere Unternehmen. Die Sowjetregierung sorgt für eine dauernde Wiederauffüllung der Strafarbeitslager; sonst würde ihre Belegschaft sehr schnell zusammenschmelzen. Nach der Ermordung von Sergej Kirov, einem Mitglied des Politbüros, im Dezember 1934 kam es zu einer großen Verhaftungswelle im ganzen Land, die zahlreiche Deportationen in die Lager zur Folge hatte Die „große Säuberung" lieferte weiteres Menschenmaterial. Der Besetzung von Ost-Polen und der baltischen Staaten durch die Sowjets folgten Massendeportationen verschiedener Gruppen der Bevölkerung dieser Länder (VII §§ 14 und 17). Während des zweiten Weltkrieges ging die Belegschaft der Gefängnisse zurück, aber nach Kriegsende kam es zu einer neuen Welle von Verhaftungen und Verurteilungen zu Zwangsarbeit durch die GB: die illoyale Bevölkerung der Ukraine und bestimmter Gebiete des Kaukasus (VII § 9), russische . Kollaborateure", sowjetische Kriegsgefangene und aus Deutschland zurückkehrende Zwangsarbeiter und dazu die verschiedensten Opfer von Stalins letzten politischen Wutausbrüchen: sie alle wurden in Zwangsarbeitslager verschickt. Während der fast drei Jahrzehnte ihres Bestehens hat die Zahl der Strafarbeitslager und die der Gefangenen zugenommen. Um 1940, am Vorabend des Krieges, sprachen Berichte von etwa 125 großen und kleinen Lagern in der Sowjet-Union. Eine 1955 veröffentlichte eingehende Studie führte 255 Strafarbeitslager in Rußland auf. Die größten Systeme von Strafarbeitslagern sind die folgenden: ABEZ-INTA an der Eisenbahnlinie Kotlas-Vorkuta: Kohlenbergwerke. VORKUTA, in der Komi-Republik, wahrscheinlich das größte Strafarbeitslager. Bergbau, Eisenbahnbau und andere Projekte. DJEZKAZGAN bei Akmolinsk. Kupferminen und Gewinnung anderer Metalle, , sovehozen‘. KOLYMA, Nordostsibirien. Hauptsächlich Goldminen. NORYLSK, im Norden der Provinz Krasnoyarsk. Gewinnung von Gold, Platin und anderen Metallen, Kohlengruben; Uranvorkommen sind kürzlich entdeckt worden. PECORA in der Komi-Republik. Holzfällerei, Eisenbahnbau. SACHALIN. Holzfällerei, Bergbau, Fischerei. SVERDLOVSK, eine Reihe von Lagern im Ural-Gebiet umfassend. Kohlen- und Metallminen, Bau von Industriebetrieben, Aluminiumwerk und Torfgewinnung. TAISET-BRATSK in Sibirien auf der Eisenbahnlinie Krasnojarsk-Irkutsk. Eisenerz-Bergwerk und Holzfällerei. Die Zahl der Gefangenen schwankte stark; diesbezügliche Statistiken werden von den Sowjetbehörden geheimgehalten; sowohl die Gefangenen, als auch die freie Well können nur schätzungsweise Zahlen nennen. Für die Zahl der Gefangenen in den Strafarbeitslagern schwanken die Schätzungen zwischen 3 und 20 Millionen; die richtige Zahl liegt zweifellos irgendwo zwischen diesen beiden Extremen. So nennt N. Jasny eine Zahl von 3 000 000 (Journal of Political Economy, 59 (5), 1951, S. 405— 419), -S. Prokopovic zählt 5 000 000 (Novoje Russkoje Slovo, New York, 14. IX. 1946); Brooks Atkinson berichtet von Schätzungen zwischen 10 und 15 Millionen (New York Times, 7. VII. 1946); Victor Kravcenko rechnet mit 20 Millionen (I Chose Freedom, New York, Charles Scribner' s Sons, 1946, S. 104) und Matthew Woll vom amerikanischen Gewerkschaftsbund AFL mit 10— 15 Millionen (American Federatio n i s t, April 1949). Seit dem Ende des zweiten Weltkrieges ist das System der Zwangsarbeitslager auf eine Anzahl anderer Staaten — die sogenannten Sowjet-Satelliten — ausgedehnt worden; dort wurde die Einrichtung einer . Volksdemokratie'regelmäßig von gleichzeitiger politischer Verfolgung und weitgehender Planwirtschaft begleitet. Die Verbindung dieser beiden Faktoren begünstigte die Einrichtung ganzer Netze von Konzentrationslagern, die für gewöhnlich nach dem Sowjet-Vorbild organisiert und verwaltet werden. Die Internationale Liga für Menschenrechte zählte im Jahre 1952 in Osteuropa über 400 Lager mit einer schätzungsweisen Belegzahl von 1 000 000 bis 1 200 000 Zwangsarbeitern , In der Mitte des Jahres 1952 begannen sich die Lebensbedingungen in diesen Lagern zu bessern, offensichtlich als Ergebnis der weltweiten Entrüstung der öffentlichen Meinung; 1954 begann die Zahl der Lager und diejenige der Gefangenen abzunehmen. Im kommunistischen China hat sich das genau nach sowjetischem Muster eingerichtete Zwangsarbeitssystem seit 1949 stark ausgedehnt. Zuverlässige Statistiken über die chinesischen Zwangsarbeitslager sind nicht erhältlich. Die folgenden Zahlen sind Dokumenten der Vereinten Nationen entnommen.

Personen, die im Zug der Maßnahmen zur . Unterdrückung von Gegenrevolutionären'zu Sklavenarbeitern wurden: 1 560 000: gefangene Angehörige der chinesischen Regierungstruppen, die als Sklaven-arbeiter verwendet wurden: 1 000 000; Menschen, die infolge verschiedener anderer Unterdrückungsaktionen der Regierung zu Sklaven-arbeitern wurden: 9 940 000; Opfer von Naturkatastrophen, die als Sklavenarbeiter: verwendet wurden: 3 000 000; ins Ausland verschickte Sklavenarbeiter: 1 500 000; zu Zwangsarbeit verurteilte Zivilisten:

8 000 000; das entspricht einer Gesamtzahl von 25 000 000 (Wirtschaftsund Sozialrat der Vereinten Nationen . Bericht vom 15. Dezember 1955, S. 46— 247; ebenso Newsletter of the Committee of One MillionAgainsttheAdmissionofCommunistChina to the United Na t i o n s , New York, Bd. I. Nr. 2, S. 3— 4).

§ 11. ARBEITSBEDINGUNGEN Die Insassen der Konzentrationslager werden zur Arbeit angehalten. Ihre Tätigkeit hängt von ihrer Berufsausbildung und ihrer körperlichen Eignung ab. Sie werden folgendermaßen eingestellt: (i) für jede Arbeit verwendungsfähig; (ii) für mittelschwere Arbeit verwendungsfähig; (iii) nur für leichte Arbeit; (iv) arbeitsunfähig, Gruppe 1;

(v) arbeitsunfähig, Gruppe 2.

Praktisch kümmern sich die Lagerverwaltungen wenig um die Unterscheidung zwischen den ersten drei Gruppen. Wer als arbeitsunfähig registriert ist, wird auf Hungerrationen gesetzt, die häufig zu langsamem Tod führen. Die Gefangenen sind in Brigaden von 20 bis 30 Mann eingeteilt. Jede Brigade hat ihren aus den Gefangenen genommenen Führer. Während der Arbeit wird die Brigade von einem Vor-mann überwacht, der ebenfalls Gefangener ist. Der Gruppenaufseher notiert am Ende des Tages die Arbeitsleistung seiner Brigade. Der . Brigadeführer'und der Aufseher stellen zusammen für jeden Gefangenen ein Arbeitszeugnis aus. Diese Berichte gehen zu den Normen-Prüfern', die nach einem Prozentsystem feststellen, wieviel der Gefangene im Vergleich mit der für ihn vorgeschriebenen Tagesnorm geleistet hat. Dann gehen diese Zeugnisse zur Verpflegungsstelle und dienen dort als Grundlage zur Festlegung der Lebensmittelration des nächsten Tages für jeden Gefangenen (s. unten § 17).

Aufgabe des Vormannes ist es, die Gefangenen zur Arbeit zu bringen. Diese Vormänner sind für gewöhnlich besonders brutal und rücksichtslos. Ungefähr eine halbe Stunde vor dem Ausrücken (5— 6 Uhr früh) erscheint der Vormann in den Baracken und beginnt, die Gefangenen zu den Toren zu treiben, nötigenfalls indem er sie von ihren Pritschen zerrt.

Jeder Mann mußte zwischen 2, 33 und 9, 34 Kubikmeter Holz schneiden, je nach der Dicke der Stämme. Die Bäume durften nicht höher als 20 cm über dem Boden geschnitten werden; sie mußten alle nach einer Richtung fallen, um den Transport aus dem Wald zu erleichtern. Die Zweige mußten glatt abgeschnitten werden, so daß keine Aststümpfe stehen blieben; sodann wurden die Äste aufeinandergeschichtet und verbrannt. Die Bäume mußten dann in Stücke von 2, 73 bis 5, 46 m Länge zerschnitten werden, je nach ihrer Dicke. Nichtbefolgung dieser Bestimmungen wurde mit Aufenthalt im Karzer bestraft (s. unten § 16). Nichterfüllung des Arbeitssolls war gleichbedeutend mit Kürzung der Essensrationen (N. Prychodko, S. 118).

Eine Unterschreitung der durchschnittlichen Abeitsnorm von mehr als 30 °/o wird oft als Arbeitsweigerung betrachtet und mit den entsprechenden Maßnahmen bestraft § 12. LEBENSBEDINGUNGEN Die Lebensbedingungen in den Strafarbeitslagern wechseln je nach der gegenwärtigen Wirtschaftssituation und der Regierungspolitik in Rußland. Allgemein war die Verpflegung ungenügend und ohne Nährwert; Fleisch war in den Lagern so gut wie unbekannt und Fett wurde nur in sehr kleinen Mengen abgegeben. In schlechten Zeiten bestand das Essen aus Wassersuppe, Kohl und einer Art Kascha (Haferbrei).

In den dreißiger Jahren wurde bei der Verpflegung zwischen den verschiedenen Kategorien der Häftlinge eine Unterscheidung eingeführt; Qualität und Menge der ausgegebenen Nahrungsmittel richtete sich nach der Arbeitsleistung, so daß junge und gesunde Arbeiter fast so viel bekommen konnten, als sie brauchten, während die Gefangenen mit dem . geringsten Einkommen', also die Alten, Kranken und Schwachen, zum Hungertod verurteilt wurden (s. unten § 17). Die Verpflegung der den Lagern angeschlossenen Krankenstationen ist besser; dafür war die Nahrungsmittelmenge in den Invaliden-Kolonien’, die Personen ohne Arbeitswert beherbergen, so klein, daß in diesen Einrichtungen eine schnelle . Liquidation'nur durch einen langsamen Tod ersetzt wurde. Die allgemeine Art der Unterbringung bestand in Holzbaracken mit Pritschen, die häufig in zwei Stockwerken übereinander lagen; die Heizung im Winter war ungenügend. Die Macht der Gefängnisverwaltung im Lager ist nahezu unbegrenzt; diese Lager liegen weit von den großen Städten des Landes und sind von der Zentrale fast unkontrolliert, so daß die lokalen GB-Lagerverwaltungen die Macht über Leben und Tod ihrer Gefangenen ausüben. Für schlechtes Verhalten werden die Insassen der Strafarbeitslager in einen kalten Bunker (Karzer) gesperrt (s. unten § 16); die Bestrafung für ernste Vergehen ist streng, wobei auch die Todesstrafe verhängt wird. Während der großen Säuberungsaktion von 1937— 1938 kam es zu , Massen-liquidationen'politischer Gefangener.

Die Situation der Frauen in den Strafarbeitslagern ist tragisch. Junge. Frauen, verheiratete nicht ausgenommen, sind durch die Lagerverhältnisse gezwungen, ihren Kerkermeistern zu Willen zu sein; andere fallen aus den gleichen Gründen der Prostitution anheim.

„Zur Nachtzeit verwandelten sich die Frauenbaracken gewöhnlich in öiientliche Häuser; die sogenannten , sozial Gehobenen', bestehend aus den Mitgliedern der Lagerverwaltungen, die infolge gestohlener Lebensmittelrationen wohl genährt waren, benützten sie für ihre Liebesunterhaltungen. Die Lage der weiblichen politischen Häftlinge war noch unerträglicher, wenn sie anziehend waren; eine Weigerung gegenüber diesen Liebesforderungen bedeutete die Versetzung in völlig unerträgliche Arbeitsbedingungen." (B. Jakovlev, Koncentracjonnyje lageri, München, 1955, S. 33.)

Eine der übelsten Einrichtungen des Lagerlebens ist die privilegierte Stellung gemeiner Verbrecher gegenüber den . Politischen'. Weil der gemeine Verbrecher nach kommunistischer Auffassung . sozial verwandt'ist und sich außerdem das Verwaltungspersonal vor den verzweifelten Elementen unter den Verbrechern fürchtet, genießen diese verschiedene Vorteile und manchmal sogar Straflosigkeit; sie stehlen, prügeln und töten. Die Unterordnung der politischen Häftlinge unter diese Räuber und Mörder hat unendlich viel Leid mit sich gebracht; die Trennung der beiden Gruppen ist von den politischen Gefangenen immer wieder auf das dringendste gefordert worden, wo immer sie Gelegenheit hatten, ihre Stimme zu erheben.

„Die Erziehung in den Lagern erschöpft sich in billiger, unüberzeugender Propaganda — leeren Phrasen, von denen jede einzelne offensichtlich erlogen ist. Die den Berufsverbrechern (urk. il gewährte Unterstützung, die schamlose Duldung ihres üblen Treibens, das System der Bestechung und Verführung — alle diese Bräuche haben einen tiefen Einfluß auf alle Gebiete des Lagerlebens. Nur sehr selten vermag der Einzelne dem zersetzenden Eintluß dieser Lagermoral zu widerstehen. . . . Die Lagerleitung ist nur daran interessiert, dem Häftling ein Höchstmaß an Arbeitsleistung abzupressen; sein Wert bemißt sich nach der Zahl der von ihm geschaufelten Kubikmeter Erde oder der Menge des von ihm gefällten Bauholzes. Und da der Nachschub von Lagerinsassen fast unerschöpflich reich ist und die Ausgemergelten und Erschöpften leicht durch frisches Menschenmaterial ersetzt werden können, kümmert sich kaum jemand um Leben und Gesundheit der Gefangenen. Der Mensch, das Individuum, ist nur eine unbedeutende Einheit, eine tote Zahl in der Bilanz dieser Art von Planwirtschaft." (J. Gliksman, Teil the West, An Abridgement, S 45.)

§ 13. WIRTSCHAFTLICHE BEDEUTUNG Das System der Zwangsarbeitslager in der Sowjet-Union (und das gleiche scheint zumindest für einige andere kommunistisch beherrschte Länder zu gelten) wird nicht nur als Instrument der Unterdrückung und . Liquidation'gebraucht; es ist auch ein wichtiger Teil des kommunistischen Wirtschaftssystems (siehe unten, Kap. X). Die wirtschaftlichen Vorteile des Zwangsarbeitssystems sind die folgenden:

Projekte, die einen großen Bedarf an menschlichen Arbeitskräften haben, wie Kanal-, Straßen-und Eisenbahnbau, sind schwer zu versorgen, wenn zur gleichen Zeit die Industrie die verfügbaren Arbeitskräfte absorbiert. Während des ersten Fünfjahresplanes, als Maschinen fast unerhältlich waren und der Großteil der Arbeit an den Projekten von Hand geleistet wurde, schien es die einfachste Lösung des Problems zu sein, sich der Arbeitskraft von Hunderttausenden -von Gefangenen zu bedienen. Ein weiterer Vorteil ist die Beweglichkeit der Gefangenenarbeit; die Insassen eines Gefängnisses können leicht und schnell von einem Ende des Landes zum anderen gebracht werden. Zwangsarbeit ist gehorsam und streng diszipliniert .. und sie ist viel billiger, als die Arbeit sogar der untersten Schichten der freien Arbeiterklasse. Natürlich bedeutet das System die moralische Zerrüttung und das Opfern von Menschenleben; aber die Regierung betrachtet diese menschlichen Wesen, besonders die Angehörigen der politischen Abteilungen, als entbehrlich.

§ 14. ÄNDERUNGEN SEIT 1949 Im Jahre 1949 begann die Sowjetregierung mit der Einführung bestimmter Änderungen in der Verwaltung der Arbeitslager und den Lebensbedingungen ihrer Insassen. Nach den Flungerjahren begann sich die Versorgungslage des Landes zu bessern; die Empörung der westlichen Welt über die sowjetischen Konzentrationslager (übe, die sich seit etwa 1946-1947 zuverlässige Nachrichten verbreiteten) hatte dem Ansehen der Sowjets geschadet; vor allem aber begann nach einem Krieg, in dem Millionen junger Männer gefallen waren, und in einer Zeit, in der auch die Nachkriegsstreitkräfte der Sowjets sehr stark gehalten wurden, die Verschwendung der menschlichen Arbeitskräfte — die bis dahin unbeachtet geblieben war — zu zählen.

Unter den Reformen der Arbeitslager-Verwaltung, die unter Stalin durchgeführt wurden, war die wichtigste die Trennung der Kriminellen von den politischen Gefangenen in einer Reihe von Lagern Für die politischen Häftlinge wurden . Sonderlager'geschaffen, während die gewöhnlichen Strafarbeitslager gemeinen Verbrechern vorbehalten blieben. Die Trennung wurde jedoch nicht strikt eingehalten und die Neuerung wurde nicht überall eingeführt.

Stalins Tod hatte in der sowjetischen Innenpolitik im allgemeinen und im Strafrechtssystem im besonderen Änderungen zur Folge Als Reaktion auf eine Terrorwelle, die während der letzten Monate vor dem Tode des alten Führers begonnen hatte, gab der neue Kurs vor, sich um Befriedung, Beruhigung und erhöhte persönliche Sicherheit für den Sowjetbürger zu bemühen. Alle Reformen wurden jedoch innerhalb des Rahmens der kommunistischen Diktatur und ohne wirkliche Änderungen in der Sozial-, Wirtschafts-und Außenpolitik durchgeführt.

Die am 27. III. 1953, drei Wochen nach Stalins Tod, verkündete Amnestie war zwar weit gefaßt, bezog sich jedoch nicht auf politische Gefangene. Für gewöhnliche Verbrechen, . Amtsvergehen’ usw. sah die Amnestie völligen Strafnachlaß vor, wenn das Urteil nicht auf mehr als auf fünf Jahre lautete; für Urteile über fünf Jahre wurde erheblicher Strafnachlaß gewährt Betagte Gefangene, gewisse Frauen und Minderjährige waren freizulassen.

Ein paar Tage später wurde der aufsehenerregende Fall der sowjetischen Ärzte abgeschlossen und die Angeklagten wurden öffentlich rehabilitiert; von den fünfzehn kurze Zeit vorher Verhafteten wurden die dreizehn, die sich noch am Leben befanden, in Freiheit gesetzt. Eine Anzahl von . Opfern der Säuberung’, die sich seit langem in Gefängnissen oder Lagern befunden hatten, wurden ebenfalls freigelassen;

darunter befanden sich einige zweitrangige Kommunistenführer, die vor etwa Jahren verschwunden waren. Die Sowjet-Presse berichtete über die Rehabilitierung oder die Rückkehr aus Verbannung, Gefängnis und Arbeitslagern einer Reihe führender Bolschewistenführer, darunter Andrei Bubnov, G. I. Okulov-Theodorovic, R. K. Katanjan, S I.

Gopner und L. A. Fotijeva (P r a w d a , 10. III. 1956).

Während der ersten zwei Jahre nach Stalins Tod (1953— 54)

wurden 20 bis 25°/o der Insassen der Arbeitslager freigelassen.

Am 17. IX. 1955 wurde eine neue Amnestie beschlossen; ihr IX. 1955 wurde eine neue Amnestie beschlossen; ihr zufolge wurde eine Anzahl politischer Gefangener (hauptsächlich . Kollaborateure’ aus der Kriegszeit) in Freiheit gesetzt, und den sowjetischen Flüchtlingen im Ausland versprach man, daß sie im Fall ihrer Heimkehr nicht verfolgt würden.

Eine weitere Umorganisierung des GB wurde durch die Verhaftung und Hinrichtung von Lavrenti Beria eingeleitet, der Chef der GB und Mitglied des Politbüros der KP gewesen war. Im Jahre 1953 und 1954 wurde eine Anzahl weiterer GB-Führer verhaftet und hingericbtet.

Die Machtbefugnisse wurden eingeschränkt und ein Teil ihrer bewaffneten Verbände wurde dem Verteidigungsministerium unterstellt.

Diese Veränderungen beseitigten jedoch weder die Autorität der Geheimpolizei, noch die Strafarbeitslager. Trotz der Säuberung in der zentralen und örtlichen Führerschaft blieb der Großteil der GB-Offiziere in den alten Stellungen 15).

Die politischen Erdbeben, die die Sowjetunion in der nach-stalinistischen Ära erschütterten, hatten ihre Auswirkungen auf die empfindlichste Stelle des heutigen Rußland — die Konzentrationslager. Die Amnestie vom März 1953 erweckte große Hoffnungen, machte die Gefangenen anspruchsvoller und stärkte ihr Selbstvertrauen. Die Hinrichtung des höchsten Polizeichefs erhöhte die Erwartungen, und die Verbesserungen der Lagerordnungen reizten zur Verstärkung der Proteste und Forderungen. Das Ergebnis war eine Streikwelle in den Strafarbeitslagern zu verschiedenen Malen in den Jahren 1953, 1954 und 1955.

In Norylsk begann ein Streik im Mai 1953, wurde dann abgebrochen und im August des gleichen Jahres wieder ausgenommen, -er wurde mit militärischer Gewalt unterdrückt. Nach Berichten aus Norylsk waren dabei unter den 2500 Gefangenen des Lagers 1500 Tote und Verwundete zu beklagen 15). In den Karaganda-Lagern kam es 1952 zu den ersten Streiks; weitere folgten zwischen dem 15. und 17. V.

1954; dabei gab es etwa 200 Tote und 140 Verletzte 16). Im Sommer 1954 brachen in Kinguir (Kazachstan) Streiks aus 17). Auch auf der Insel Sachalin kam es in den Jahren 1953 bis 1955 zu Streiks, ebenso in den Taiset-Lagern (an der sibirischen Bahn) im Mai 1955 Von großer Bedeutung waren die wiederholten Streiks in den ausgedehnten Vorkuta-Lagern, wo eine große Masse politischer Gefangener zusammengezogen war; die Streiks ereigneten sich im Sommer 1953, im Herbst 1954 und im Sommer 1955; eine große Zahl von Vorkuta-Gefangenen wurde im Kampf mit den Wachen getötet. Die Kolyma-Lager mit mehr als 150 000 Insassen revoltierten im Mai 1954; durch die Wachen wurden 200 Gefangene getötet und 180 verwundet

Die Veränderungen in den Lagerordnungen, die das Ergebnis dieser Unruhen und anderer Umständen waren, waren nicht unbedeutend. Die alten, schmutzstarrenden Baracken wurden durch neue ersetzt.

Die Betten sind sauber und die Elite der Insassen hat das Privileg einzelstehender Betten. Die Ernährung der verhältnismäßig , gut bezahlten’ männlichen Arbeiter ist zufriedenstellend. Die Arbeitszeit ist auf zehn Stunden täglich herabgesetzt worden; in jedem Monat gibt es drei bis vier arbeitsfreie Tage. In den größeren Lagern stehen ärztliche Betreuung und Medikamente, wenn auch in unzureichendem Maß, zur Verfügung. Auch die Haltung der Lagerleitung hat sich gebessert; für gewöhnlich werden die Insassen nicht geschlagen und die Bestrafung durch Einsperrung in Bunkern ist nicht so häufig wie früher. In der Mehrzahl der Lager verbreiten Lautsprecher Nachrichten aus Moskau;

die Moskauer und Lokalzeitungen sind erhältlich. Die Gefangenen, unter denen sich auch politisch Interessierte befinden, sind für gewöhnlich über die Weltereignisse orientiert.

Während der Jahre 1955 bis 1956 wurden weitere Häftlinge freigelassen. Man erlaubte Tausenden von ihnen außerhalb der Stacheldrahtumzäunung zu leben, sich Häuser zu bauen oder solche, die seitens der Verwaltung errichtet wurden, zu bewohnen. Es wurde ihnen erlaubt zu heiraten bzw. mit ihren Familien zusammen zu leben. Sie erhielten eine höhere Belohnung als die Zwangsarbeiter. Gebrauchsgegenstände ihnen gestellt. wurden zur Verfügung Jedoch bedeutete ihre Entlassung aus den Zwangsarbeitslagern keine volle Freiheit, und zwar aus wirtschaftlichen Gründen. Aus Häftlingen wurden sie zu halbfreien Menschen, aus Sklaven zu Leibeigenen. Sie mußten weiter für dieselbe Anstalt arbeiten. Sie wurden gezwungen, in der Nähe der betreffenden Gruben, Fabriken usw. sich niederzulassen. Ohne Erlaubnis der Polizei bzw.der Verwaltung der Anstalt durften sie die Gegend nicht verlassen.

Diese Reformen waren ein Bestandteil des Versuches, das Problem der Arbeitskräfte in der Sowjetunion zu lösen — des Problems, welches die größte Sorge der sowjetischen Wirtschaft bildet und während der nächsten Jahre bilden wird (X § 17). Es hat sich nämlich gezeigt, daß das System der Sklavenarbeit vom Standpunkt der Arbeitskräfte ein mörderisches System ist. Rußland leidet heute nicht nur an den Folgen des Krieges gegen Deutschland, sondern auch an jenen des Krieges gegen seine eigene Bevölkerung.

Im Zuge der genannten Reformen wurden einerseits viele Häftlinge aus den Zwangsarbeitslagern in gewöhnliche Gefängnisse gebracht (obwohl die letztgenannten schon unter Stalin und Vysinskij abgeschafft sein sollten); andererseits wurden einige Zwangsarbeitslager, in welchen die Arbeitsbedingungen besonders schwer sind, beibehalten. Diese Lager liegen im Fernen Osten und Fernen Norden; sie sind für Bestrafung von Delikten, welche in anderen Zwangsarbeitslagern begangen wurden, bestimmt.

Seit dem Winter 1956/57, als die allgemeine „Entstalinisierung" zu Ende ging, beobachtet man neue Tendenzen; zur Zeit (Mai 1957) kann aber noch niemand sagen, inwieweit diese zu einer Reaktion führen werden. Jedenfalls wurden Tausende Ungarn seit dem Aufstand (Oktober/November 1956) nach der Sowjetunion deportiert.

Zusammenfassend darf gesagt werden, daß, obwohl es letztens zu einer gewissen Liberalisierung im Hinblick auf die Zwangsarbeit kam, das politische System der Sowjetunion eine strenge Diktatur geblieben ist. Solange aber eine Diktatur herrscht, bleibt die Polizei allmächtig. Deportation und Zwangsarbeit bleiben bevorzugte Methoden dieser Polizei.

D. Anhang. Zeugnisse § 15. UNTERSUCHUNGSMETHODEN „Das Verhör dauerte achtzig Stunden ohne Unterbrechung, ohne daß man mir erlaubte zu essen oder zu schlafen. Alle zwölf Stunden wechselten die Untersuchungsrichter. . . . physisch und psychisch erschöpft konnte ich nicht weiter widerstehen und habe alles zugegeben, was man von mir verlangte, Richtiges und Unrichtiges." CK. F. Aussage Nr. 1732, geb. 1890; aus: S. Mora — P. Zwierniak, Giustizia So-v i e t i c a , Roma 1945, S. 260 f.)

„Ich wurde in das Zimmer des Untersuchungsrichters geführt, welcher mir befahl, mich mit dem Gesicht zur Wand zu stellen. Es vergehen ungefähr zwanzig Minuten, ohne daß er mir eine Frage stellte. . . . auf einmal höre ich Weinen und einen Schrei: die Stimme meiner Frau. Ich hörte auch ganz deutlich Ohrfeigen. Ich verstand, daß sie meine Frau schlugen." (J. D. Nr. 3677, 22 Jahre alt; ebd. S. 263.)

„(Einer der Untersuchungsrichter) schaute mich durch seine Gläser immer näher an, fast Gesicht an Gesicht. Auf einmal murmelte er durch die Zähne: , In der Geschichte der UdSSR ist es noch nie vorgekommen, daß jemand nicht gesprochen hat. Du wirst sprechen, meine Taube.

Wir wissen, wie mit dir zu sprechen ist. Und wenn nicht, dann eine Kugel in deinen Kopf ..." (P. T. Nr. 615, 33 Jahre alt; ebd. S. 265.)

Chruev zitierte in seiner geheimen Rede vor dem XX. Parteitag am 25. Februar 1956 die Fälle der alten Kommunisten Kredow und Eiche, die aus dem Gefängnis folgendes an das Zentralkomitee und an Stalin selbst schrieben:

„Ich leide unschuldig, bitte glaubt mir. Die Zeit wird die Wahrheit erweisen. Ich bin kein Agent provocateur der zaristischen Ochrana;

ich bin kein Spion; ich bin nicht Mitglied einer antisowjetischen Organisation, was man mir auf Grund von Denunziationen vorwirft. Ich habe mich auch keiner anderen Verbrechen gegen die Partei und die Regierung schuldig gemacht. Ich bin ein alter Bolschewik, frei von jedem Makel; ich habe fast vierzig Jahre lang ehrenhaft in den Reihen der Partei für das Wohl und das Gedeihen des Landes gekämpft. . . .

Heute bedrohen die Untersuchungsrichter mich, einen 62 Jahre alten Mann, mit noch schärferen, grausameren und erniedrigenderen Methoden der körperlichen Folter. Sie — die Richter — sind gar nicht mehr imstande, ihren Irrtum einzusehen und zu erkennen, daß ihre Art der Behandlung meines Falles ungesetzlich und unzulässig ist. Sie versuchen, ihr Tun dadurch zu rechtfertigen, daß sie mich als einen verhärteten und wütenden Feind hinstellen, und fordern noch größere Repressalien. Aber laßt die Partei wissen, daß ich unschuldig bin und daß es nichts gibt, was einen treuen Sohn der Partei in ihren Gegner verwandeln könnte, selbst bis zu seinem letzten Atemzuge nicht.

Aber für mich gibt es keinen Ausweg mehr. Ich kann die neuen furchtbaren Schläge, die ich kommen sehe, nicht von mir abwenden.

Alles aber hat seine Grenzen. Meine Qualen haben das Äußerste erreicht. Meine Gesundheit ist zerrüttet, meine Kraft und Energie schwinden, das Ende rückt heran.“ (Rede Chruevs über Stalin auf der Geheimsitzung des XX. Parteitages der KPdSU am 2 4. und 2 5. Februar 1956; engl. Text s. Boris Meißner, Das Ende des Stalins-Mythos, Frankfurt/M. 1956, S. 192; deutscher Text nach Chruschtschow gegen Stalin, Sonderdruckreihe der Hessischen Landeszentrale für Heimatdienst, Heft 5. S. 43 f)

§ 16. DER KARZER Dr. J. Scholmer, deutscher Arzt und aktiver Anti-Nazi, ohne Grund verhaltet; sollte gestehen, ein Agent der Gestapo gewesen zu sein; später nach Vorkuta deportiert „Sie werden sich selbst wundern, in welchem Umfang sie uns demnächst zusätzliche Erklärungen machen werden.'Er nimmt den Teletonhörer und spricht mit dem Chef des Kellers. Ich verstehe das Wort Karzer. . . .

Ich entkleide mich im Baderaum. . . . Nur die Unterhose bleibt mir.

. . . Der Karzer ist etwa einen Meter breit, drei Meter lang und zwei Meter hoch, ein Sarg, grell erleuchtet von einer mehrhundertkerzigen Glühbirne. Oberhalb einer vergitterten Öffnung in der Decke surrt ein Ventilator, der die Kaltluft in einem ununterbrochenen Strom nach oben saugt. . . . Der Ventilator läuft. Ich beginne zu frösteln. Man muß sich bewegen. Ich gehe auf und ab: drei Schritte vor, zwei zurück. Um mich zu erwärmen, reibe ich die Haut. . . . Alles ist vergeblich. Es ist unmöglich, nicht zu frieren. Nach einer Stunde schon sind die Fußsohlen ohne Empfindung. Tvyrdy hat in diesem Karzer achtundzwanzig Tage ausgehalten. Das ist ein Rekord. Er war körperlich gut in Form, als er entführt wurde. Ich selber bin krank. . . .

Im Karzer gibt es keine normale Verpflegung. Morgens und abends reicht der Posten einen Becher Wasser. Jeden zweiten Tag erhalte ich 300 Gramm Brot. Ich weiß, daß diese Form des Karzers noch milde ist.

Es gibt Gefangene, die gefesselt werden. . . . Man kann den Kerker in eine Art Planschbecken verwandeln. Er läßt sich ungefähr 10 cm hoch mit Wasser füllen. Es gibt Gefangene, die von den Posten in regelmäßigen Abständen mit kaltem Wasser begossen werden. Ich weiß von einer Frau, die drei Wochen lang, nackt, die Hände auf dem Rücken gefesselt, in diesem Kerker verbracht hat.

. . . Die Beine schwellen an, die Haut spannt sich prall über riesigen Ödemen, zeitweise bin ich an der Grenze des Bewußtseins.

... In der neunten Nacht höre ich Stimmen vor der Tür des Karzers.

Es ist eine Ansammlung von Menschen, die sich über eine vorzunehmende Exekution unterhält, deren Opfer ich sein soll. . . . Später begreife ich, daß all dies eine gut vorbereitete Komödie ist, inszeniert, um mich zu demoralisieren. Aber damals, benommen nach neun Nächten ohne Schlaf, bin ich nicht mehr in der Lage zu beurteilen: ob es Ernst oder Scherz ist.“

(J. Scholmer: Die Toten kehren zurück. Bericht eines Arztes ausWorkuta, Berlin 1954, S. 28— 30.) § 17. ARBEITSBEDINGUNGEN IM LAGER Dr. Hellmut Gollwitzer, deutscher evangelischer Theologe, als Wehrmachtsgeistlicher gefangen genommen und nach Rußland deportiert. Er schreibt:

„Hundert Mann ziehen in den Wald zum Holzfällen. Sie teilen sich in Brigaden zu je vier Mann und bekommen je Brigade ein Quadrat zugewiesen, das sie im Kahlschlag abzuholzen haben. Schon hier ein erstes Risiko: ist das Stück sumpfig oder trocken, ist es mit Stangen-holz bestanden, das viel Arbeit macht und wenig Kubikmeter ergibt, oder mit ein paar gesunden, großen Bäumen für hochbezahltes Nutzholz, mit niedrig bewerteten Pappeln oder mit hochbewerteten Eichen?

. . . Unter den hundert sind — ihrem Berufe nach — Waldarbeiter, Bauern, Handwerker, Bankangestellte, Lehrer, Abiturienten, Musiker.

Jede Brigade wird einzeln verrechnet und lebt von den Prozenten, die sie verdient: bleibt sie unter 100 %, so bekommt sie von den täglichen 600 g Brot noch einiges abgezogen, bewegt sie sich knapp um die 100 %, bekommt sie wenigstens die Normalverpflegung, bei der sie aber noch hungert, kommt sie aber über 110% hinaus, dann hat sie Aussicht, satt, ja schließlich gut satt zu werden. Was wunder, wenn sich bei so lockendem Ziel diejenigen zusammentun, die sich gegenseitig für tauglich halten, es zu erreichen! So bilden sich ein paar Stoßbrigaden aus Bauern und Holzarbeitern und sonstigen Kraftkerlen. Die letzten beißen die Hunde: am Schluß stehen dann ein paar Brigaden aus Frisören und Büromenschen, die noch nie eine Säge mit ihren dünnen Armen bewegt haben . . . Wie sollen sie es je schaffen? Der russische Meister aber erkennt seine Chance: er wird nun den Stoßbrigaden die besten Quadrate geben, die besten Werkzeuge, die günstigsten Verrechnungen;

er wird mit ihrem Beispiel die anderen . moralisch fertigmachen':

, Die können es, also müßt ihr es auch können!'Und er wird so durch Ausspielen der einen gegen die anderen aus allen das Letzte herausholen. Dabei werden die einen platzen vor Kraft, und die anderen werden immer mehr abbauen. Am Abend aber in der Baracke sitzen Max, Karl und Paul, die beste Brigade, und wenn die anderen die letzte Kartoffelschale aus der alten Konservenbüchse gekratzt haben, fangen sie erst richtig zu essen an: Zusatzbrot, Prozente-Kascha, ein Stück Prämien-Schinken . . .

über der Barackentür hängt groß ein Plakat: , Der Sozialismus ist der Weg zu Frieden und Freiheit!'"

(H. Gollwitzer: „. . . und führen, wohin du nicht willst, Bericht einer Gefangenschaft", München 1954, S. 59— 61.)

Quellen. Die Quellen für das Strafrecht sind dieselben, die oben in Kapitel VIII für das sowjetische Recht angeführt worden sind. Die wichtigsten davon werden in den unten angeführten Gesamt-darstellungen zitiert.

Literatur. Die besten Gesamtdarstellungen des Strafsystems, insbesondere des Systems der Zwangsarbeitslager, sind: S. Mora — P. Zwierniak: La j u s t i c e so vie tiqu e , Rome 1945; Giustizia sovietica, Roma 1945 (auf Grund von mehr als 30 000 Zeugnissen ehemaliger polnischer Häftlinge bearbeitet; mit vielen Dokumenten). — D. J. Dallin — B. I. Nikolaievsky, F o r c e d Labour in Soviet Russia, Yale University Press 1947; Zwangsarbeit in Sowjetrußland, Wien o. J. (enthält u. a. eine kritische Bibliographie der wichtigsten Schriften und Zeugnisse). — B. Jakovlev, Koncentracjonnyje lageri SSSR, München 1955. — Livre blanc sur les camps de concentration so vi e t i ques , hrsg. durch die Commission internationale contre le regime concentrationnaire, Paris 1951 (Bericht über eine eingehende Untersuchung unter Verwendung der älteren Veröffentlichungen und vielen neuen Zeugnissen). Dieselbe Kommission gibt seit 1954 die Monatsschrift Saturne heraus, die vor allem den hier behandelten Fragen gewidmet ist und viel wertvolles Material enthält. Ein Livre blanc über die Zwangsarbeitslager in China wird durch diese Kommission augenblicklich vorbereitet.

Unter den Zeugnissen, die teilweise auch zusammenfassende Darstellungen enthalten, sind zu nennen: K. I. Albrecht, Der verratene Sozialismus, Berlin 1939. — The Dark Side of the Moon, New York 1947. — E. Gliksman, Teil the West, New York 1948. — E. Lipper, Eleven Years in Soviet Prison Camps, Chicago 1951. — J. Margolin, La c o n - dition Humaine, Paris 1949. — V. Petrov, Soviet Gold, New York 1949. — J. Scholmer, Die Toten kehren zurück, Berlin 1954. — A. Schwarz, In Wologda's weißen Wäldern, Altona 1937. — I. Solonevich, Russia in Chains und Escape from Russian Chains, beide New York und London 1938. — V. Tschernavin, I Speak for the Silent Prisoners of the Soviets, Boston 1935.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zeugenaussagen von Petr Sergeev (S. 29), Antoni Eckart (S. 55), Erick Mueller (S. 60), Boris Podolak (S. 67), Fritz Schulz (S. 111), Jadwiga Kowalska (S. 118), Friedrich Prenzlau (S. 126), Suzanne Leonhard (S. 131), Ivan Minishki (S. 148) vor der . Commission Internationale contre le Regime Concentrationnaire'(Livre Blanc sur les Camps de Concentration Sovietiques. Paris. Le Pavois, 1951).

  2. A. Gertsenson, Borba s prestupnostiju v RSFSR, Moskva, 1928 SS. 20. 89, 105.

  3. Bo 1 s e v i k , Nr. 4, 1947, S. 54.

  4. I. T. Golijakov, Ugolovnoje pravo, Moskva, 1947, SS. 121— 123.

  5. K. P. Garsenin, Instoriceskijakt, Moskva, 1947, SS. 121— 123.

  6. Verordnung des Präsidiums des Obersten Sowjet v. 11 I. 1950.

  7. Verordnung des Präsidiums des Obersten Sowjet v. 30. IV. 1954.

  8. David J Dallin und Boris I. Nikolaievsi, Forced Labor in Soviel Russi a , 1947, SS. 168— 190.

  9. Sotsialisticeskoje stroitelstvo, Moskva, 1936, S. xxx,

  10. S o v e c k a j . i j u s t i c i j a , 1930, Nr. 13; 1934, Nr. 2.

  11. David J. Dallin und Boris I. Nikolaievsly, Forced Labor in Soviel Russi a , 1947, SS. 62— 71; B. Jakovlev, Konzentracjonnyje lageri, SSSR, München, 1955, SS. 65— 70.

  12. Verordnung des Präsidiums des Obersten Sowjet vom 27. III. 1953; V. Gsovski, I n l Problems o f Communism, Nr. 6, 1953.

  13. Ost-Europa, August 1954, SS. 285, 286.

  14. I n t e r n a t i o n a 1 Commission Against Concentration Camp Eractices, (Internationale Kommission gegen das Konzentrationslaqer-System), Monthly Information Bulletin, Frankreich, August-November 1955 Nr. 4, S. 28.

  15. Socialist Courier, New York, Juli 1955.

  16. I n t ernational Commission Against Concentration Camp Practices, Monthly Information Bulletin, Frankreich, August-November 1955, Nr. 4, S. 20.

  17. Tribune, 19. IV. 1955.

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