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Artikel 10 | APuZ 33/1957 | bpb.de

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APuZ 33/1957 Artikel 1 Artikel 2 Artikel 3 Artikel 4 Artikel 5 Artikel 6 Artikel 7 Artikel 8 Artikel 9 Artikel 10 Verbrechen und Strafrechtsystem

Artikel 10

b. Dr Richter sind weder in Theorie noch in Wirklichkeit unabhängig Die Stellung eines sowjetischen Richters entbehrt der Voraussetzungen, die seine Unabhängigkeit garantieren. Die Richter eines Gerichtes niederer Instanz, des sogenannten Volksgerichtes sind die einzigen Richter, welche direkt von der Wählerschaft des Wahlbezirkes gewählt werden. Ihre Amtsdauer ist jedoch sehr kurz, nur drei Jahre; und das Recht, Richterkandidaten zur Wahl vorzuschlagen, ist der Kommunistischen Partei und den von diesen kontrollierten Organisationen vorbehalten. Das Wahlgesetz trat zum erstenmal am 25. September 1948 in Kraft.

Außerdem kann jeder Richter von der Wahlkörperschaft seines Amtes enthoben werden. Ein solcher Widerruf kommt nicht einer Anklage gleich; es brauchen keine besonderen Anschuldigungsgründe vorzuliegen. Widerruf heißt einfach Enthebung vom Amte durch ein Mißtrauensvotum der Wahlkörperschaft, die dem gewählten Richter das Vertrauen entzieht.

Die Richter der höheren Gerichte werden „gewählt", d. h. sie werden von den höheren Räten (Sowjets), von den Lokalräten, den Sowjets der Republiken und vom Obersten Sowjet für die Dauer von fünf Jahren ernannt und sind ebenfalls einer möglichen Absetzung durch die Vollzugsausschüsse der Sowjets unterworfen.

Der sowjetische Richter ist Berufsrichter in dem Sinne, daß das Richteramt während der kurzen Amtszeit eine vollamtkche Stelle mit festem Gehalt bedeutet. Eine Ausbildung in der Rechtswissenschaft ist nicht erforderlich. Weder ist eine solche Ausbildung von ihm durch ein Gesetz verlangt, noch besitzen die Mehrzahl der Richter eine solche Befähigung. Fast ausnahmslos sind alle Kommunisten (95, 5 Prozent im Jahre 1935; die letzten zugänglichen Ziffern); aber im Jahre 1947 genossen nicht mehr als 14, 6 Prozent ein hochschulmäßiges Rechts-studium und 21, 8 Prozent erhielten eine Rechtsausbildung. Somit scheint der Mehrheit (64 Prozent) überhaupt jegliche Rechtsausbildung zu fehlen. (SocialisticeskajaZakonnost, 1947 Nr. 2 S. 11.)

c. Die Richter sind nicht unparteiisch Die Richter gelten nicht für unparteiisch. Vysinskij stellte nachdrücklich selbst die Möglichkeit einer Unparteilichkeit des Richters gemäß sowjetischer Theorie in Abrede:

„Die kapitalistischen Theoretiker ... wollen das Gericht als eine Institution hinstellen, welche über den Gesellschaftsklassen und jenseits von Politik steht ... und den allgemein-menschlichen Normen des Rechts und der Gerechtigkeit unterstellt ist. Ein solches Verstehen des Wesens der Gerichtsbarkeit ist von Grund auf trügerisch. Die Gerichte sind immer Instrumente in den Händen der herrschenden Klasse gewesen, die dieser ihre Herrschaft sicherte und ihre Interessen in Schutz nahm." (Sovetskoje gosudazstrennoje pravo, 1938, S. 449.)

Somit war der sowjetischen Gerichtsbarkeit eine vorbehaltlose politische Aufgabe von den sowjetischen Theoretikern zugewiesen. Sie wurde von Vysinskij im Jahre 1941 mit folgenden Worten umrissen:

„Weder die Gerichtsbarkeit noch das gerichtliche Verfahren stehen oder können jenseits der Politik stehen. Dies besagt, daß Inhalt und Form der gesamten den Gerichten zugewiesenen Tätigkeit einer Unterordnung unter politische Klassenziele und Klassenbestrebungen nicht entrinnen können." (Vysinskij, Teorija sudebnych dokazatelstv v sovetskom prave, 1941, S. 31.)

Der Justizminister wandte sich im Jahre 1947 an die sowjetischen Richter mit folgenden Worten über die Art und Weise gerichtlichen Vorgehens:

„Der Richter muß wissen, wie man Prozeßverfahren leitet und wie man Urteile abfaßt in einer Weise, die mit äußerster Klarheit die politische Bedeutung des Streitfalles aufzeigt, so daß sowohl dem Angeklagten wie auch allen anderen im Gerichtssaal Anwesenden die Regierungspolitik in der Gerichtsbarkeit ersichtig wird.“ (S o c i a 1 i -

s ticeska j a Zakonnost, 1947, Nr. 2, S. 5.)

§ 18. DAS GERICHTLICHE VORVERFAHREN Der Schutz des Unschuldigen, der nach anglo-amerikanischem Recht durch das „habeas corpus" und durch die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft (indictment by grand jury) zugesichert ist, war im Vorkommunistischen Recht Rußlands und in den Satellitenländern durch die gerichtliche Untersuchung (instruction, predvazitelnoje sledstvie) in allen größeren Fällen gewährt.

Diese wurde von einem Untersuchungsrichter (Sudebnyi sledovatel, Juge d'instruction) geführt, der die Stellung eines Richters innehatte und mit allen Garantien gerichtlichen Verfahrens vorging.

Unter den Sowjets wurde das Amt des Untersuchungsrichters zusammen mit allen Gerichtshöfen im Jahre 1917 abgeschafft. Der „Volksuntersuchungsbeamte" nahm dessen Stelle ein. Während der nachfolgenden Jahre gingen diesen . Untersuchungsbeamten'alle richterlichen Eigenschaften in ihrer Amtstätigkeit und Stellung mehr und mehr verloren; ihre Untersuchungen unterschieden sich kaum mehr von polizeilichen Ermittlungen, und deren Ergebnisse wurden als Beweismittel angeführt.

Wir zitieren eine sowjetische Abhandlung über das Strafverfahren:

„Im sowjetischen Strafverfahren besteht kein prinzipieller Unterschied zwischen polizeilichen Ermittlungen und der Voruntersuchung, obwohl beide Begriffe in der jetzigen Strafprozeßordnung sich behaupten. Polizeiliche Ermittlungen und die Voruntersuchung sind von gleicher gerichtlicher Bedeutung. Die Akten über die Ermittlungen sowie auch das Protokoll der Voruntersuchung sind Beweismittel und werden vom Gericht als Beweismittel zur Schöpfung des Urteils benützt. Der Unterschied zwischen Vernehmung und Voruntersuchung ist auf die Zuständigkeit der Ermittlungs-und Vernehmungsorgane zurückgeführt, woraus sich ergibt, daß die komplexeren und wichtigeren Straffälle der Gerichtsbarkeit der Voruntersuchungsorgane (Untersuchungsbeamten) zugewiesen werden und alle anderen Fälle den polizeilichen Ermittlungsorganen übertragen werden." (Strogovic U c e b n i k ugolovnogo processa, 1938, S. 118.)

Es sei auch darauf hingewiesen, daß die Anklage (obvinitelnoje zaklucenije) in der Regel vom Untersuchungsbeamten verfaßt wird. Hernach wird die Anklageschrifft nur noch vom Staatsanwalt geprüft und dient als automatisch zugelassene Anklage ohne nochmalige Überprüfung durch das Gericht. Somit steht der Angeklagte vor Gericht in einem öffentlichen Prozeß, nachdem er vorerst der harten Probe der Untersuchung im Stil der Geheimpolizei unterworfen wurde.

§ 19. DIE REVISION RECHTSKRÄFTIGER ENTSCHEIDE VON AMTS WEGEN Es ist bezeichnend für das sowjetische Appellationsverfahren, daß für die Revision eines rechtskräftigen Urteils den privaten Parteien (die streitenden Parteien in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten und der Angeklagte und sein Anwalt) einerseits und den Regierungsanwälten und Gerichtspräsidenten andererseits ungleiche Rechtsmittel zur Verfügung stehen. Regierungsanwälten steht nicht nur das Appellationsrecht zu, sondern auch das Recht, die Revision eines rechtskräftigen Urteils von Amts wegen zu beantragen. Dieses Recht besitzen auch die Präsidenten der Regionalgerichte und der obersten Gerichte. Die Revision muß nicht innerhalb einer bestimmten Frist nachgesucht werden.

Die Revisionen rechtskräftiger Entscheide werden in regioialen Gerichten von einem besonderen Richterkollegium, dem sogenannten Präsidium und von den Obersten Gerichten unter Ausschluß der Öffentlichkeit vorgenommen. Eine einmal vorgenommene Revision kann nochmals wiederaufgenommen werden. Eine Strafsache kann wiederaufgenommen werden selbst wenn das Urteil des Strafgerichtes oder des Appellationsgerichtes auf Freispruch lautete. Die gesetzlichen Gründe für eine Revision sind sehr weit gefaßt: Die Revision kann nachgesucht werden, wenn, in einer Zivilsache, der Entscheid eine besonders wesentliche Verletzung der Interessen des Staates oder derjenigen der werktätigen Masse in sich schließt. In Strafsachen sind die Gründe nicht ausdrücklich angeführt. Parteien haben kein Recht Revisionsgesuche einzureichen. Doch können sie (was tatsächlich auch unternommen wird) eine Wiederaufnahme des Verfahrens veranlassen, indem sie Regierungsbeamte, die zur Beantragung ermächtigt sind, mit ihren Beschwerden betrauen. Somit nimmt das sowjetische Appellationsverfahren seinen Anfang in einer öffentlichen Gerichtssitzung, unter Mitwirkung der Parteien, aber nachher kann es sich hinter geschlossenen Türen als eine rein interne Angelegenheit der Staatsanwälte und der Gerichte in die Länge ziehen.

Die Wiederaufnahme von Sachen von Amts wegen macht das gesamte sowjetische Gerichtsverfahren mehr einem administrativen Verfahren als einem Gerichtsprozeß ähnlich.

Fussnoten

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